Steinwurf - Walter Kaufmann - E-Book

Steinwurf E-Book

Walter Kaufmann

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Beschreibung

Steinwurf ... ein solcher Titel für eine Erzählung über eine Liebe in Deutschland? Kein anderer. Denn ohne den Potsdamer Prozess wegen jenes Steinwurfs hätte der Berichterstatter niemals von der Liebe zwischen einer jungen Deutschen und zwei Männern aus Jamaika erfahren: Da ist der Gerichtssaal mit der Pressebank vorn, und links davon die wegen versuchten Mordes Angeklagten, zwei stumpfe Kerle, der eine unter, der andere knapp über zwanzig Jahre alt, und deren Anwälte daneben; rechts von der Pressebank, bei den Fenstern, werden bald die geladenen Zeugen auftreten, zwei der drei schwarzen Bauarbeiter, die im Städtchen M. angepöbelt worden waren und danach mit dem Auto wegzukommen versuchten. Was misslang: Das Auto prallte gegen einen Baum, nachdem die Frontscheibe durch den Steinwurf zertrümmert worden war … Noch im Gerichtssaal bittet der Berichterstatter die junge Frau um ein Gespräch, und was sie ihm nach anfänglichem Zögern mitteilt, bei späteren Verabredungen in ihrem und auch seinem Haus offenbart, beginnt sich für ihn zu einer Erzählung nicht bloß über die Liebe dieser Frau zu formen, sondern auch über die Liebe jener anderen, die dem durch den Aufprall querschnittsgelähmten Fahrer aufopferungsvoll auf den Weg zurück ins Leben hilft ... Der Berichterstatter muss sich nicht fragen, ob er gestalten und öffentlich machen darf, was er in den Gesprächen erfahren hat — längst weiß er, dass die junge Frau ein Buch über den Anschlag und ihre Beziehung zu den Opfern für geradezu dringlich hält. Soll er denn schweigen über Fremdenhass in Deutschland, Gewalt gegen Ausländer in Deutschland, oder die Liebe von zwei Frauen verschweigen, die den Mut hatten, dem Gegenwind zu trotzen ...

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Impressum

Walter Kaufmann

Steinwurf

Über eine Liebe in Deutschland

ISBN 978-3-96521-284-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto des Autors: Barbara Meffert

Das Buch erschien erstmals 1998 in der edition reiher im Dietz Verl. GmbH

Aus jedem Verbrechen werden Kugeln geboren, die eines Tages den Sitz eines Herzens treffen werden.

Pablo Neruda

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

www.edition-digital.de

1

Bis zum Ausklang dieses sommerlichen Wochenendes hatte ich nichts von dem Geschehen erfahren; Curtis und Jerome ließen mich im Ungewissen, und als sie endlich bei mir anriefen, gaben sie vor, nicht zu wissen, wo Brent steckt – womöglich sei er mit dem Flugzeug nach England: „Du weißt ja, die Pferderennen.“ Wo auch immer er war und was auch immer ihn von mir fernhielt, Gedanken hatte ich mir gleich gemacht, und nach dem Anruf wuchs meine Unruhe noch: zumal sich Brent selbst nicht gemeldet hatte. Er wusste mich ja auch sonst immer zu erreichen. Und nie war er nur wegen irgendwelcher Pferderennen nach England geflogen –

Wetten für Epsom oder anderswo ließen sich auch in Berlin abschließen. Also, wo steckte er, bei welcher Frau?

Ich war aufgebracht, kopflos – womöglich! Hinter dem Wort verbarg sich doch was. Wo war Brent, mit wem betrog er mich? Illusionen, dass ich die einzige bleiben würde, hatte ich mir nie gemacht. Auf der Strecke, das hatte ich gleich gespürt, war kein Verlass auf ihn – wie das oft so ist bei schönen Männern. Und Brent – Brent E. Mallory war ein schöner Mann!

Das allein aber hatte den Ausschlag nicht gegeben – schon lange vor unserer Begegnung, das war auf der Baustelle, wo wir Vorbereitungen für die spätere Gartenanlage trafen, machte meine Ehe nur noch der Kinder wegen Sinn, und sie zerbrach dann auch jäh, nachdem Meister Raster von der Gärtnerei meinem Mann verraten hatte, was sich zwischen mir und Brent abspielte. Es war dem Alten nicht verborgen geblieben, war vielen nicht verborgen geblieben, und wohl schon Gesprächsstoff im Ort – die blonde Leni und der schwarze Bauarbeiter aus Jamaika.

Nicht in Worte zu fassen, wie mein Mann sich gebärdete, als er davon erfuhr – jähzornig war Werner schon immer gewesen, gewalttätig sogar, wenn er getrunken hatte –, jetzt aber steigerte sich das, er wurde so unberechenbar, dass ich mit den Kindern zu meinen Eltern floh und ich mich erst Wochen später wieder nach Hause wagte. Das war ein Fehler gewesen – zwar hielt er sich genügend im Zaum, mich nicht zu schlagen, was ich aber zu hören bekam, stand Schlägen kaum nach. Da war Niggerhure noch harmlos verglichen mit anderem, was er mir ins Gesicht schleuderte oder im Dunklen zuraunte, nachdem ich mich nachts – das Schlafzimmer teilten wir längst nicht mehr – ins Zimmer der Kinder zurückgezogen hatte! Und immer wieder entlud er seinen Fremdenhass auf Brent: Ich werde nicht wiederholen, was er alles ausspie – weit, weit Schlimmeres als bei einer anderen Beziehung, die ich vor Jahren einmal eingegangen war, um dem lähmenden Alltagstrott, der gleich nach der Heirat mit ihm eingesetzt hatte, zu entgehen. Er musste geahnt haben, was Brent mir bedeutete, und eben darum fühlte er sich doppelt gehörnt – er, der Deutsche, von einem Schwarzen gehörnt: unfassbar!

Sein Gespür trügte ihn nicht, ich hatte mich Brent ganz gegeben. Erst durch ihn hatte ich erfahren, wie das ist, für einen Mann wegzufließen, aufruschreien, zu vergehen. Kein Opfer schien mir zu groß für ihn, jedes Risiko nahm ich für ihn auf mich – seinetwegen hatte ich allen Giftmäulern, Klatschweibern, Lästerschnauzen die Stirn geboten. Und ich kann nur von Glück sagen, dass sich meine Kinder bei der Scheidung, die dann unweigerlich kam, für mich entschieden: Ben ohne zu zögern, Gerti erst, als ihr klar wurde, dass die Wohnung, in die ihr Vater umgezogen war, kein Eckchen für sie hergab – da blieb sie lieber, wo sie war, und duldete, dass Brent, wann immer er es möglich machen konnte, bei uns wohnte. Bis – ja, bis er dann verschwand.

Wurde mir schon schwach bei der Nachricht, dass ich für dieses Wochenende mit seinem Kommen nicht rechnen dürfe, so war mir, als müsste ich sterben, als mir aus der Montagsausgabe der Abendpost die Schlagzeile ins Auge sprang: ANSCHLAG AUFAUTO VON DREI BRITEN. SCHWARZER BAUABEITER SCHWER VERLETZT.

Später schienen mir die Ausflüchte von Curtis und Jerome erklärlich genug. Nicht von ungefähr hatten sie England erwähnt, mit Pferderennen aber hatte das rein gar nichts zu tun, und mein Verdacht wegen einer anderen Frau bestätigte sich.

Erst aber muss ich verdeutlichen, was sich an dem Samstag zugetragen hatte: Anschlag auf Auto von drei Briten. Blasse Worte – es war ein Mordanschlag gewesen! In voller Fahrt hatten zwei Kerle aus ihrem Golf einen Feldstein durch die Windschutzscheibe von Brents Jaguar geschleudert, er hatte die Kontrolle verloren und war gegen einen Baum geprallt – bei dem Rest stockte mir der Atem.

Wäre nicht diese Frau aus England erwartet und ihr Bleiben auf der Station, wo Brent lag, schon geregelt gewesen, nichts hätte mich davon abhalten können, rund um die Uhr für ihn dazusein – anstelle der Schwestern sozusagen, so mühevoll sich das auch angelassen hätte: eine Mumie an Schläuchen, wie Curtis ihn später beschrieb: gelähmt vom Hals abwärts und mit Bandagen um den Kopf

Curtis und Jerome dagegen – ein Schutzengel muss über sie gewacht haben – hatten sich aus eigener Kraft aus den Autotrümmern befreien können, angeschlagen und benommen zwar, doch ehe noch jemand zu Hilfe gekommen war. Und wen hatten sie als erstes zu Brent gerufen? Die Frau aus England, Sybil O’Connor mit Namen, von der ich nichts gewusst, die mir Brent verschwiegen hatte und nach der er, kaum dass er wieder zu Bewusstsein gekommen war, verlangt haben soll.

Die beiden taten also nur, was Brent wollte, und ich musste noch dankbar sein, dass Curtis nach all der Plackerei, die nach dem Unfall auf ihn zugekommen war – ärztliche Behandlung seiner Prellungen und einer Knieverletzung, Polizeiprotokolle hier, Polizeiprotokolle da, und schließlich die nächtliche Taxifahrt kreuz und quer auf der Suche nach einer Unterkunft für sich und Jerome –, schon Montagnacht die Kraft und die Zeit aufbrachte, zu mir nach Wilhelmsheide zu fahren.

Da saß er dann, erschöpft, aufgewühlt, das lädierte rechte Bein vorgestreckt, und brachte lange kein Wort heraus. Ich ließ ihm Zeit, und was er sich am Ende abrang, hätte er auch lassen können: Bei der Redaktion der Zeitung hatte ich längst erfahren, in welches Krankenhaus Brent eingeliefert worden war, und schon der Stationsarzt hatte mir gesagt, dass wegen Brents Zustand nur die Lebensgefährtin, eine englische Krankenschwester, zu ihm gelassen werden könne – auch von dem für die Frau bereitgestellten Gästezimmer wusste ich längst. Curtis brauchte also auf all das nicht weiter einzugehen, was ihn sichtlich erleichterte.

„Natürlich wussten wir von Sybil“, gestand er. „Aber hätten wir dir das sagen sollen?“

„Oh ja, das hättet ihr“, entgegnete ich verhalten, dabei war mir zum Schreien. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und verlangte, dass er mir nun endlich, endlich, den verhängnisvollen Samstag genauer schildert. Ich merkte, wie schwer er sich dabei tat, und das nicht bloß, weil er nach einfachen, mir verständlichen englischen Worten suchte. Was sich als erstes in mein Bewusstsein brannte, war Brents langes Telefonat aus einer Zelle beim Mühlauer Bahnhof – die hatte er besetzt gehalten, bis mehrere Telefonkarten aufgebraucht waren, und die ganze Zeit über hatten irgendwelche Jugendlichen aus einer Clique, die sich auf dem Bahnhofsvorplatz herumtrieb, zu ihm herübergebrüllt: „Nigger – he, du, Nigger, wie lange quatscht du noch!“ Brent hatte ihnen, aufbrausend wie er sein kann, den Stinkefinger gezeigt und war dann mit Curtis und Jerome zu seinem nahebei geparkten Jaguar gegangen und weggefahren.

„Sprach also all die Zeit mit dieser Frau in England?“, sagte ich.

„Woher willst du wissen, mit wem er sprach?“

„Mit wem sonst“, gab ich zurück, winkte dann aber ab. „Doch das ist ja nun nicht mehr wichtig.“

Das war nicht geheuchelt. Nach allem, was ich schon wusste, und was ich dann noch erfuhr, schien es wirklich nicht mehr wichtig – vor allem nicht nach Curtis’ Darstellung, wie sie im Jaguar von dem Golf verfolgt worden waren und nach ein paar Kilometern, kurz hinter einer Brücke, der Stein mit fürchterlichem Knall durch die Windschutzscheibe krachte – dann der Aufprall gegen den Baum, das Auto zertrümmert und Brent eingequetscht hinterm Steuer, bewusstlos lange und schließlich querschnittsgelähmt auf der Krankenhausstation: „Eine Mumie an Schläuchen …“

Inzwischen habe ich Zeit gehabt, über diese Sybil O’Connor nachzudenken. Ich stellte sie mir vor – eine zierliche Frau. Brent mochte nur zierliche Frauen, rothaarig womöglich: O’Connor ist wohl ein irischer Name; eine Krankenschwester, wie ich ja wusste – warum ich mich auch nicht über ihre Entschlossenheit, alles und jeden von Brent fernzuhalten wunderte, noch dass sie ihr Möglichstes für seine baldige Abreise nach England zu tun gedachte. Wie sie es geschafft hatte, die Behördenwege abzuschreiten, für rechtlichen Beistand zu sorgen und mit der Ausländerbehörde über die Verpflichtung eines Anwalts zu verhandeln, wunderte mich dann doch – beherrschte sie zu allem anderen auch noch Deutsch? Wie auch immer, was sie geleistet hatte, gewann mir Achtung ab; und nur aus Liebe konnte sie sich derart für Brent eingesetzt und erklärt haben, ein Leben lang für ihn sorgen zu wollen – sie waren nicht verheiratet, zu nichts war sie ihm verpflichtet. Betrübt erkannte ich Anrechte, die älter als meine waren, und ich fragte mich, ob ich wie sie entschlossen gewesen wäre, ein Leben lang für Brent dazusein.

Für lange Zeit bestimmt!

Denn Brent war mehr als nur ein schöner Mann, auf seine Weise war er einmalig: sanft und zupackend zugleich, geistig rege, lebhaft, klug und lebenstüchtig, stets auch darauf bedacht, seine Träume wahr zu machen – das Auto sollte ihm ein Stück Freiheit sein, ihm ferne Länder, fremde Landschaften erschließen; das ersehnte Rennpferd nicht bloß Gewinne bringen, sondern (stolzer Schwarzer aus Jamaika!) seinen Namen in die weiße Welt tragen; das geplante Haus am Palmenstrand von Montego Bay, wo er schon ein Grundstück gekauft hatte, würde er mit der Frau seines Lebens teilen wollen. Wieder und wieder hatte er solche Vorstellungen und Hoffnungen in mir geweckt, und wohl auch in Sybil. Plötzlich begriff ich sie besser, fühlte mit ihr, und war ihr – wie seltsam das auch klingen mag – auf eine Art verbunden.

Zugegeben, anfangs hatte sich alles in mir gegen die Frau aufgelehnt, ich fand mich abgedrängt und konnte nicht vergessen, noch verwinden, dass ich Brent mit ihr hatte teilen müssen. Erst als mir Curtis bei dem letzten seiner Besuche näherkam, sehr behutsam und nicht ohne Befangenheit, was gar nicht zu seiner meist lebensfrohen, offenen Art passte, hatte sich meine Haltung mehr und mehr gewandelt – unbewusst zunächst, dann bewusster, bis ich mich irgendwann zu Curtis sagen hörte:

„Sie wird es nicht leicht mit ihm haben. Und überhaupt, worauf kann sie denn noch hoffen?“

„Unterschätze Brent nicht“, hatte er erwidert. „Der ist unglaublich willensstark.“

Das wusste ich aus Erfahrung – und doch fragte ich mich, ob Brent zu den Männern gehören würde, die ein Rollstuhldasein verkraften und sich dazu durchringen konnten, auch weiterhin viel zu erreichen. Er war, wie er selbst immer betont hatte, ein outdoor Mann, sehr sportlich, dazu einer, der sich ausarbeiten, sich bis zur Erschöpfung fordern musste und Leistungen für zwei brachte. Und immer hatten seine Ambitionen Höhenflüge ausgelöst – nicht bloß ein Auto war nötig gewesen, es musste ein Jaguar sein; nicht bloß ein Rennpferd, ein champ musste her, ein Seriensieger; und das geplante karibische Haus war in seiner Vorstellung niemals nur eine Bleibe für sich und die zukünftige Frau, sondern eine Zuflucht, ein Hort, seine Burg.

„Gott geb’s, dass er mit sich zurechtkommt“, sagte ich, und fügte übergangslos hinzu: „Den beiden wär’s zu wünschen.“

Curtis sah mich an. „Some woman!“

Ich ließ mir nicht anmerken, wie gut mir die Anerkennung tat, widmete mich weiter der Nadelarbeit in meinem Schoß, und während ich Stich für Stich die Fäden durch eins von Bens bunten Stirnbändern zog, die er immer beim Fußball trägt, spürte ich den Hauch einer Berührung im Nacken. Curtis stand hinter mir, und wie ich zu ihm hochblickte, ließ er augenblicklich die Hand sinken.

„Du“, sagte er leise. „Ich halt das nicht länger aus.“

Ich schwieg, obwohl mich, was er sagte, nicht überraschte.

„Das hält kein Mann aus.“

Er beugte sich zu mir herab, doch als er mich wieder zu berühren versuchte, streifte ich die Nadelarbeit vom Schoß und stand auf.

„Verzeih mir, Leni.“

„Schon gut“, erwiderte ich leichthin.

Verstand er denn nicht, dass mir sein Annäherungsversuch nicht bloß überraschend kam, sondern auch unangenehm war? Darum machte ich mich doppelt deutlich: „Curtis, das nicht!“

„Nein? Und nie?“, fragte er.

Ich blickte ihn an. „Ausgeschlossen!“

Ich will es gleich sagen: Es kam anders.

Noch ehe Brent in die Klinik bei Folkestone an der Ostküste von England verlegt wurde, waren Curtis und ich ein Paar – vieles trug dazu bei, was aufzuzählen die wirkliche, die innere Wahrheit kaum erhellen würde. Gefühle waren aufgekommen, die schwer in Worte zu fassen sind, und die ich besser für mich behalte – wer denn würde meinen Wechsel von Brent zu Curtis vorurteilsfrei akzeptieren: erst der eine, dann der andere.

Wie sich dagegen rein äußerlich alles anließ, braucht nicht verschwiegen zu werden – erst gewann Curtis die Kinder für sich: Ben fand ihn seinen Worten nach Klasse, und Gerti, so schien es mir, verliebte sich ein bisschen in ihn – teils Vaterersatz, teils das Erwachen erotischer Gefühle einer Vierzehnjährigen. Und wie Curtis sich nützlich machte im Haus! Was zu reparieren war, ging er an, und eine Freude war es, ihm dabei zuzuschauen: ein Mann mit goldenen Händen und ein guter Koch dazu. Bei jedem Besuch belegte er die Küche – und wir drei, Ben, Gerti und ich blieben Hilfskräfte, bis er seine karibischen Gerichte auftischte: Gemüseeintopf zumeist, würzig und schmackhaft.

Liebe soll ja durch den Magen gehen – für diesen oder jene mag das stimmen. Was mich angeht, wäre treffender, dass ich froh war, wieder einen Mann im Haus zu haben, der mir zur Hand ging. Dazu kommt: Curtis brauchte mich – und ich bin nun mal eine Frau, die es braucht, gebraucht zu werden. In wie vielen Lebensbereichen sich Curtis als hilflos erwies – ganz anders als Jerome, der ein Eigenbrötler und total unabhängig ist. Wo immer Curtis es mit Behörden zu tun bekam, zeigte er sich verunsichert: bei der Polizei, der Ausländerbeauftragten, der Staatsanwaltschaft, selbst bei Verständigungen mit Anwalt Gösler, der als Nebenkläger im Prozess gegen die Attentäter vorgesehen war.

Kurzum, für Curtis wurde ich in vieler Hinsicht unentbehrlich und mein Haus ein Ort der Geborgenheit, wo er nach seiner Schufterei auf den Baustellen unterschlüpfen und den tristen Schlafcontainern aus Blech, kalte Käfige, wie er sie nannte, etwas entgegensetzen konnte. So blieb nicht aus, dass wir uns näherkamen und ich irgendwann seinem Werben nachgab.

Und doch: Es ist schon merkwürdig, wie das Vergangene in einem weiterlebt – ich konnte Brent lange nicht vergessen. Aber weil ich nun einmal so beschaffen bin, dass ich brauche, gebraucht zu werden, und mich Curtis, bei all der Fürsorge für mich und die Kinder, wirklich zu brauchen schien, brachte uns das tägliche Miteinander zunehmend zusammen, und schließlich wandte ich mich ihm ganz zu und wurde seine Frau.

2

Auf Curtis’ Rat, geradezu sein Drängen hin, blieb ich zu Hause, nachdem ich aus personaltechnischen Gründen aus der Gärtnerei entlassen worden war – personaltechnische Gründe, eine Wendung, hinter der sich ganz sicher die eigentlichen verbargen: Bis heute bin ich überzeugt, Opfer einer Intrige geworden zu sein, in der Meister Raster den Ton angab. Die blonde Leni und ihre Schwarzen aus Jamaika … Finanziell berührte mich der Stellenverlust zunächst nicht allzu sehr – was Curtis zulegte, reichte für uns vier, und dass ich die langen Arbeitsstunden loswar und mehr Zeit für die Kinder hatte, war sogar ein Segen: Ben brauchte mich bei den Schularbeiten, und Gerti war dabei, mir aus der Hand zu gleiten – mütterliche Zügel waren nötig.

Dann aber wurde es doch knapp im Haushalt, als nämlich Curtis wegen unregelmäßiger Lohnauszahlungen in Bedrängnis geriet und ich ihm öfter aushalf, als er mir aushelfen konnte – kurzum, ich musste mich wieder auf Arbeitssuche machen, lief mir die Hacken ab und schrieb mir die Finger mit Bewerbungsschreiben wund, belegte am Ende sogar einen Computerkurs, um einen Nebenjob in einer kleinen Werbeagentur antreten zu können. Was es dort zu verdienen gab, beeinträchtigte das Arbeitslosengeld nicht, und die Arbeit erwies sich als ein Kinderspiel: Adress- und Telefonbücher waren nach möglichen Interessenten für die Angebote diverser Firmen zu durchforsten und Rundschreiben zu verschicken.

Ein neues Leben hatte begonnen, ein neuer Anfang gerade noch zur Zeit – aus dem blonden outdoor girl mit verarbeiteten Händen war eine modisch gekleidete, gepflegte Frau geworden. Und weil es sich ergab, dass mir in der Agentur ein eigenes Auto weiterhelfen würde, ließ ich mir Werners Trabant, der seit der Wende aufgebockt in unserem Schuppen verkommen war, von Curtis auf die Räder bringen und meldete ihn in Potsdam neu an.

Dorthin musste Curtis ohnehin wegen einer polizeilichen Gegenüberstellung, und ich begleitete ihn. Nie zuvor hatte ich ein solches Verfahren erlebt, und man bezog mich auch nur ein, weil ich mich als Übersetzerin nützlich zeigte. Mein Englisch geht zwar kaum über das Schulenglisch hinaus, doch ahne ich fast immer, was Curtis sagen will (bei Brent ging es mir nicht anders), und der Polizei genügte das. Für die war ich eine brauchbare Vermittlerin. So kam es, dass wir an jenem Nachmittag in einem düsteren Saal des Polizeipräsidiums durch eine Spiegelglasscheibe sieben Männer musterten, die vor einer kalkig-weißen Wand aufgereiht waren. Obwohl man uns versichert hatte, wir seien für die Männer nicht erkennbar, war ich froh, dass Curtis nur Sekunden brauchte, einen stämmigen Brillenträger mit schütterem Haar und einen blonden Burschen von circa siebzehn oder achtzehn Jahren zu identifizieren.

„Sind Sie sich sicher?“, fragte ihn Kommissar Mansfeld, und Curtis sagte, der Brillenträger sei vermutlich der Fahrer des Golfs und der andere zweifelsfrei der Kerl, der den Stein geworfen habe. Damit war er entlassen, und wir konnten gehen.