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Eine gute Gelegenheit, den Menschen, Reporter und Schriftsteller Walter Kaufmann näher kennenzulernen. In insgesamt 105 autobiografischen Geschichten lässt der Autor, damals 80 Jahre alt, sein abenteuerliches und mutiges, trauriges und schönes Leben Revue passieren. Sein Leben als Schriftsteller beginnt in Australien, wo der mit Glück aus Deutschland vor den Nazis zunächst nach England geflüchtete und dann nach Australien deportierte jüdische Junge in einem Arbeitsbataillon Dienst tut. An einem milden Sommersonntag, einem dienstfreien Tag, beginnt er im Camp im australischen Albury aufzuschreiben, was er während eintöniger Verladearbeiten am Bahnhof und im Munitionsdepot durchdacht hatte. Damals ahnte er noch nicht, dass diese Notizen einen begehrten Literaturpreis erringen und binnen eines Jahres in viele Sprachen übersetzt um die Welt gehen würden … In seinen autobiografischen Geschichten erzählt Kaufmann von kleinen und großen Dingen seiner Kindheit und Jugend in Deutschland, in dem Juden das Leben immer unerträglicher gemacht wurde, von seiner Heimatstadt Duisburg, von Schule und erster Liebe und von den Schrecken und Schikanen dieser Zeit, von der Abreise aus Deutschland, bei der er das letzte Mal seine Mutter sehen kann, von dem Aufenthalt in England, wo er nicht mehr Deutsch sprechen darf, und von der Verbannung nach Australien, wo er in einem Lager eingesperrt wird und in einem Arbeitsbataillon Dienst tun muss – und wo er zu schreiben beginnt. Er erzählt aber auch über seine späteren Jahre in Australien und wie es ihm nach seiner Heimkehr nach Deutschland erging. Im Jahre 1955 war er nach siebzehn Jahren im Ausland zurückgekehrt. Berlin war ihm so fremd wie die Sprache und der Tonfall hier … INHALT: Die einfachen Dinge Neugier Im Herbst Die Eidechse Die Taschenuhr Bonbons Menschenjagd Geranien und Rosen Spinat Schulweg Paradies St. Vinzenz Dreiundsiebzig Die Papageienkrankheit Mutprobe Das Buch Schwester Julchen Zito Die Musikstunde Inquisition Der Unfall Sein Fahrrad Entdeckung Der Geiger in Holland Helden X, Ypsilon und die Wohltätige Der Arier Hass Onkel Markus Bahnwärterhaus Miriam Flucht Das Gemälde Der Schrei der Krücken Ruth Die Abreise In London Die Münze English, Markus Epstein Jene Stunden im Internat Whiteladys Die Guernsey Lektion Verbannung Der Dichter Das Lineal Nacht über Shepparton Absent without leave Colin Elaine Margie Postausgabe Wo ist Tommy? Pit & Monica Out of Bendigo Bill & Henry Dunkelkammer Der Inspektor Eppi Carrigan ..
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Seitenzahl: 406
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Walter Kaufmann
Die Welt des Markus Epstein
ISBN 978-3-86394-576-3 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 2004 in ddp goldenbogen, Dresden.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Er saß neben dem Armeezelt auf einer Kiste und schrieb mit Bleistift in ein Heft, das er seit jüngster Zeit unterm Strohsack seines Feldbettes aufhob, eine in schwarzes Wachspapier gebundene Kladde, die - zerfleddert zwar und mit losen Seiten - die Zeitläufte bis ins einundzwanzigste lahrhundert überdauern sollte. Es war ein milder Sommersonntag im australischen Albury, ein dienstfreier Tag für die gesamte Truppe. Er hatte sich rasiert, geduscht und, in frischem Kakihemd, sauberer Kakihose, blanken Stiefeln, abgewartet, bis Stille lag über dem Rennplatz, der seit Kriegsbeginn für Arbeitsbataillone requiriert war, und er nutzte die Stille, um zu Papier zu bringen, was er während eintöniger Verladearbeiten am Bahnhof und im Munitionsdepot durchdacht hatte - und nicht träumen ließ er sich, dass, was er da schrieb, einen begehrten Literaturpreis gewinnen und binnen eines Jahres in etlichen Sprachen um die Welt gehen könnte ...
Georg ist noch immer mein Freund. Das mag seltsam klingen, denn Georg ist nirgends, wo ich ihm die Hand reichen könnte. Jahre und Welten trennen uns voneinander - vielleicht ist er tot, im Krieg gefallen. Er ist noch immer mein Freund - im symbolischen Sinn. Ich erinnere mich genau: elf Jahre war ich alt, und Georg wartete am Ende unserer Straße auf mich. Er wollte unser Haus nicht betreten. Hielt Stolz ihn zurück oder Befangenheit, die Scheu, sich einer fremden Umgebung stellen zu müssen? Ich weißes nicht. Ich weiß nur, dass ich mich immer nur draußen mit ihm traf und dies hinter mir ließ:
Unser Haus mit der gewundenen Treppe zur Eingangstür, an der Tür die Klingel, deren Läuten hell durch den Vorraum tönte und Käte herbeirief, die dann lautlos durch die mit Teppichen ausgelegten Flure lief; hinter ihr schwangen Glastüren zu, mit einem Geräusch, als würde Luft aus Schächten gesogen; Käte öffnete die Haustür und ließ die Besucher in die Stille des Hauses - führte sie in Vaters Arbeitszimmer oder die Bibliothek, die Vaters strengen Ordnungssinn erkennen ließ; wollte der Gast zur Mutter, wies Käte den Weg ins helle Biedermeierzimmer, wo Landschaftsaquarelle in schlichten Rahmen das Sonnenlicht zurückwarfen, das durch die Flügeltüren flutete, die zum Balkon überm Garten führten; in den Vitrinen glänzte Mutters Porzellansammlung, die Glasscheiben glitzerten und schwarz hob sich der Bechsteinflügel von den hellbraunen Möbeln ab, den vier zierlichen Stühlen und dem Tischchen.
Ich warf die Haustür hinter mir zu, dass es durch den Flur hallte, rannte die gewundene Steintreppe hinunter und dann die Straße entlang bis hin zur Ecke, wo ich atemlos auf Georg stieß. “Hallo! Gut, dass du da bist.”
“Ja", sagte Georg. “Hab Kastanien dabei."
Ein paar davon klaubte er aus der Hosentasche und warf sie von einer Hand in die andere.
“In Ordnung”, rief ich, “die werden wir rösten."
“Machen wir.”
Wir zogen los. Georg ließ die Kastanien wieder in die Hosentasche gleiten, schob die Hand nach, damit sie unterwegs nicht rausfielen. Sein Haar war vom Wind zerzaust, das Hemd über der Brust offen. Seite an Seite rannten wir durch die Straßen zum Wald hin.
Wenn ich heute an Georg denke und mir jene fernen Tage ins Gedächtnis rufe, formt sich vor meinen inneren Augen aus vielen Bildern das Mosaik unserer Freundschaft, die mit den Jahren an Bedeutung gewinnt.
Wir hockten vor dem Feuer, das wir auf einer Lichtung im Wald entfacht hatten und sahen zu, wie die Kastanien sich in den Flammen verfärbten, hörten die Schalen in der Hitze knacken. Eine Weile lang schwiegen wir. Über den Wipfeln der Bäume rings um uns, Eichen und Ulmen und Birken, schimmerten Flecken klaren Himmels, Sonnenstrahlen stachen durch das sanft zitternde Laub. Georg schürte das Feuer, und ich wendete die Kastanien in der Glut.
Schließlich brach Georg das Schweigen. “Vater hat was gegen das Jungvolk - will nicht, dass ich mich da blicken lass.”
“Na und?”, sagte ich. “Du weißt doch, mich würden die nicht nehmen.”
“Dich nicht - klar. Schade, dass du Jude bist.”
“Wieso. Bin nicht scharf aufs Jungvolk.”
“Gilt auch für mich.”
“Also, was gibt’s da noch.”
Georg schwieg. Dann sagte er: “Die hacken auf einem rum, wenn du nicht dabei bist.”
“Wer ist die?”
“Verdammt, Mark, du kapierst nichts.”
Er spießte sich eine Kastanie aus dem Feuer, schälte sie und biss ein Stück ab. “Was ist eigentlich mit den Juden los”, fragte er plötzlich, als hätte er die ganze Zeit darüber nachgedacht. “Erkläre mal, warum die Nazis Wut auf die Juden haben.”
Das traf mich. Mich verwirrte, dass ich es nicht wusste.
"Keine Ahnung”, sagte ich. "Kann ich nicht sagen.”
Einen Augenblick lang sah mich Georg prüfend an. Dann schob er mir eine Kastanie zu und sagte: “Brauchst du auch nicht - so oder so, wir bleiben Freunde.” Er wartete, und weil ich schwieg, fügte er mit Nachdruck hinzu: ‘‘Oder etwa nicht?”
Jetzt, da ich dies niederschreibe, liegen die Jahre zwischen mir und Georg und dem vom Krieg zerrütteten Deutschland. Ist es nicht längst zu spät, so zu schreiben? Ich weiß es nicht. Oder sage ich nicht gerade zur rechten Zeit: Georg ist noch immer mein Freund, und seine Leute sind mir nah.
Es gibt Dinge, die man früh lernt und die in einem bleiben und mit den Jahren wachsen. Und stets sind es die einfachen Dinge. Sie wiederholen sich, sie verbinden sich zu einer Kette, die von der Kindheit bis in die Mannesjahre reicht.
“Mutter, das ist Mark."
“Guten Tag”, sagte ich, vor Georgs Mutter stehend, die Arme steif an den Seiten, und ich verbeugte mich.
Sie kniete im Gemüsebeet und jätete. Jetzt unterbrach sie ihre Arbeit und musterte mich von unten her, prüfend zuerst, doch sehr bald zeigte sich in ihren Augen ein freundlicher Ausdruck.
“Ah, guten Tag. Du bist also Georgs Freund. Er hat viel von dir gesprochen.”
Mit dem Rücken ihrer Hand schob sie sich eine Strähne grauen Haares aus der Stirn und streckte müde die Schultern.
“Geh schon mit Mark rein", sagte sie zu Georg und deutete auf die Holzlaube. “Und setz Wasser auf. Ich komme gleich nach.”
Dann fing sie wieder zu jäten an, auf den Knien vorwärts rutschend, Stück für Stück, eine hagere Frau im verblichenen Schürzenkleid, die jetzt jünger wirkte, weil die herabfallende Haarsträhne ihr Gesicht verdeckte.
Und dies ist mir geblieben, unbewusst bis heute, da ich ganz bei dem Augenblick dieser Begegnung bin: Die ruhige Art von Georgs Mutter, ihr Stolz, der auch in Georg war, der prüfende Blick, mit dem sie mich musterte, die Vorbehaltlosigkeit, mit der sie mich dann aufnahm und an allem, was sie hatten, teilhaben ließ. Hier zählte weder mein Elternhaus, noch welcher Religion ich angehörte. Ich spürte, dass für sie nur der Freund etwas galt, Georgs Freund, sonst nichts. Das war ein gutes Gefühl.
November neunzehnhundertachtunddreißig, Stadt Duisburg im Rheinland: Unser Haus mit der steinernen Treppe zur Eingangstür - das Schloss gesprengt, die Tür eingeschlagen, sie hängt lose in den Angeln; neben der Tür die Klingel - aus der Wand gerissen und nur noch an zwei Drähten fest. Käte ist nicht mehr bei uns - das Gesetz verbot uns eine Hausangestellte. Die schwingenden Glastüren in den Fluren - in Scherben, auf den Teppichen, die Glassplitter knirschen unterm Schuh. Vaters Arbeitszimmer und die Bibliothek - ein Chaos: die Möbel zertrümmert, die Bücherregale umgekippt, juristische Fachbücher und Romane der Weltliteratur auf dem Boden verstreut. “Der Zauberberg", “Krieg und Frieden", das Buch “Deutsche Justiz” mit zerrissenem Einband in die Ecke geschleudert. Mutters Biedermeierzimmer - überall das gleiche Bild: die Porzellansammlung ein Scherbenhaufen, die Landschaftsaquarelle mit Messern zerschnitten. Unten im Garten, in einem Blumenbeet, liegt der Bechstein-Flügel wie eine gigantische Schildkröte auf dem Rücken. Die Flügeltüren zur Veranda sind zerschlagen, die Fenster zersplittert.
Ich schreibe dies nieder wie im Traum, ohne Erregung jetzt, beschreibe die Zerstörung, die über uns kam, plötzlich, auf Befehl, und mit einer solchen Wucht, dass es die ganze Zeit unwirklich schien - nicht fassbar. Viel Hass war in jenen Jahren gesät worden, sehr viel Hass, der an diesem Tage ungehindert tobte. Und dennoch habe ich Hoffnung.
Sturmabteilungen brechen in ein Haus ein, trampeln alles nieder, demolieren, was ihnen in den Weg kommt, schlagen in Stücke, verhaften - das ist eine Ordnung, die wir zerstören. Ja, wir zerstören sie: in unserem Herzen, unserem Geist, jeder einzelne von uns, zerstören sie durch unsere Art zu leben, zu denken und zu handeln. Vielleicht wurde meine Hoffnung an diesem Tag geboren, an dem Novembertag jenes Jahres. Ich habe sie in mir bewahrt.
Es war ein langer Tag. Es war ein furchtbarer, ein grausamer Tag. Unser Volk, das jüdische Volk, wurde erniedrigt, verwundet, versprengt. Es dauerte lange, bis der Abend kam.
Bei uns zu Haus gab es keine Tränen. Wir waren wie versteinert, vielleicht waren wir auch zu stolz für Tränen. Unsere Gedanken waren beim Vater, der am Morgen verhaftet worden war, und wir beteten für ihn.
Dann, in der Nacht, kam ein Mann in unser Haus. Er ging durch die verwüsteten Zimmer, und er sah alles, und er war eine lange Zeit still. Er legte mir seine Hand auf die Schulter und sagte: “Das währt nicht ewig.”
Zu Mutter sagte er: “Ich finde keine Worte für diese Schande."
Er nahm einen zerbrochenen Tisch und einen Stuhl, trug beides hinaus und lud Tisch und Stuhl auf einen Handwagen, mit dem er ins Dunkel der Nacht verschwand.
Der Mann war Tischler - war Georgs Vater.
Der Briefkasten an der Bushaltestelle hatte es ihm angetan - was bloß verbarg sich darin? Markus fragte den Vater, und der antwortete ihm zu ausführlich. Er war noch nicht vier und seine Neugier schnell abgelenkt. Was für eine riesengroße runde Schachtel sich plötzlich über ihm türmte, bunt eingewickelt auch.
“Das ist keine Schachtel, sondern eine Litfaßsäule", bekam er zu hören. “Und ist nicht hohl wie eine Schachtel, sondern aus Beton ...” Darüber dachte er nach, ehe er sich nach was Neuem umsah. So erfuhr er binnen einer halben Stunde, dass der rote Feuerlöscher im Bus eine schäumende Flüssigkeit enthielt, die Kästen in der Straßenbahn, in die sie dann umstiegen, mit Sand gefüllt waren und die glänzenden Apparate vor den Bäuchen der Schaffner mit allerlei Münzen.
Auch zu Hause gab es immer was zu untersuchen. Allein schon in der Küche standen Behälter, die ihm keine Ruhe ließen. Neugier plagte ihn, und er plagte seine Mutter und Käte, die Hausgehilfin, mit Fragen. Er forschte die Männer von der Müllabfuhr aus, den Laufburschen von der Wäscherei, Hausierer, Bettler und Lieferanten, einfach jeden, der an der Wohnungstür schellte.
Mit der Zeit erwachte in ihm ein leidenschaftliches Interesse für die Ursache von Geräuschen - was ließ die Türklingel läuten, wie kommt die Musik ins Radio, ins Klavier, ins Grammofon? Er begann, alles, was klingelte, quietschte, pfiff oder knarrte, zu untersuchen. Das Glöckchen aus der Porzellansammlung seiner Mutter schlug er entzwei, die Kaffeemühle, den Wecker, er zerlegte die Pfeife am Wasserkessel. Er wurde verwarnt, bestraft, doch es half nicht. Sowie er einen Gegenstand entdeckte, der einen Laut von sich gab, übermannte ihn die Neugier, und er zerriss, verbog, zerschnitt oder zerbrach ihn, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Es musste ein Zwerg darin verborgen sein, der brummte oder eine Glocke läutete, auf einem Kamm oder eine Pfeife blies! Sein Suchen wurde stets enttäuscht, er aber glaubte weiter an einen geheimnisvollen Zwerg. Eine Kindergeige, eine Trommel, ein kleines Akkordeon erlagen seinem Forschungsdrang, weil sie ihm den Zwerg vorenthielten, den er unbedingt finden wollte.
Er wurde getadelt, ermahnt, man redete auf ihn ein, drohte ihm am Ende - er versprach Besserung, doch wurde so oft rückfällig, dass er an seinem vierten Geburtstag kein Spielzeug bekam, nur Obst und Kleidungsstücke, und das waren für ihn gar keine Geschenke. Wem konnte er von dem kleinen Zwerg erzählen, den er eines Tages entdecken würde? Keiner begriff ihn, keiner würde ihm glauben.
An einem strahlenden Sonntagmorgen im Frühling - seine Eltern hatten am Abend zuvor Gäste, Lachen und Gläserklingen war zu hören gewesen - wachte er zeitig auf und traute seinen Augen nicht. Neben seinem Bett stand ein Spielzeugelefant, fast so groß wie er selbst. Der war grau, hatte einen Rüssel und Stoßzähne und war auf Messingräder montiert, die ihn schon beim geringsten Stoß quer durchs Zimmer rollten.
Markus sprang aus dem Bett und dem Elefanten nach, umarmte ihn entzückt, streichelte ihn, zog ihn am Schwanz, an den Ohren, am Rüssel und schob ihn von Wand zu Wand vor sich her. Ein Elefant, sein Elefant! Von wem war der? Und warum war keiner wach, ihn zu bewundern?
Behutsam öffnete er die Tür und schlich auf Zehenspitzen durchs Haus. In der Küche roch es nach Essen und Alkohol, viel Geschirr lag im Abwasch. Beharrlich tickte die Wanduhr, doch niemand rührte sich. Markus schien es, als hätte ein Zauberer die Eltern und Käte in einen tiefen Schlaf versetzt. Wenn er wenigstens an die Uhr herankönnte. Er kletterte auf einen Stuhl, doch die Uhr blieb unerreichbar. Enttäuscht verließ er die Küche. Ich habe einen Elefanten, dachte er, doch keiner will das wissen! Beim Schlafzimmer der Eltern lauschte er an der Tür, spähte durchs Schlüsselloch und kehrte dann in sein Zimmer zurück. Sein Herz schlug heftig. Es war anstrengend, still zu bleiben!
Grau und groß stand der Elefant im Licht der Morgensonne unterm Fenster. Er schwang sich auf seinen Rücken wie auf ein Pony und presste die Schenkel zusammen. Da quiekte es laut. Er ritt den Elefanten vom Fenster zum Bett, und wieder presste er die Schenkel zusammen. Und wieder quiekte es. Er horchte auf. Er stieg ab, hockte sich neben den Elefanten, betrachtete ihn rundum und knuffte ihn. Kein Laut war zu hören. Erst als er wieder aufstieg und mit den Schenkeln presste, quiekte es erneut - einmal, zweimal, dreimal ...
Als ihn seine Mutter eine Stunde später wecken wollte, fand sie ihn verkrümmt unter der Bettdecke, die er sich über den Kopf gezogen hatte. Überall auf dem Fußboden lagen Sägespäne, und auf dem Fensterbrett blinkte das Küchenmesser. Die Stoffhaut des Elefanten war über den Messingrädern in sich zusammengefallen.
Sie zog die Bettdecke weg und rüttelte Markus an der Schulter. Er warf sich auf den Bauch und drückte das Gesicht ins Kissen. Unter der Brust hielt er einen Gegenstand umklammert, den er erst freigab, als die Mutter ihn zwang, die Faust zu öffnen. Eine kleine Gummiblase fiel aufs Laken.
“Mark, Mark - was bloß hast du da angerichtet!”
“Sei mir nicht böse, bitte nicht”, rief er kaum hörbar. “Ich verspreche ...”
“Was versprichst du?”
Er wandte der Mutter das tränennasse Gesicht zu.
“Dass ich nie wieder nach dem kleinen Zwerg suche.”
Die Balkongitterstangen standen so dicht, dass Markus sich jedes Mal die Ohren wund rieb, wenn er den Kopf durchsteckte. Schließlich gab er das auf und langte nur noch die Faust durch. Er wusste ohnehin, was ablief, wenn er das Ende der Papierschlange losließ, die er seit dem letzten Fasching den ganzen Frühling und den Sommer über aufgehoben hatte - jeden sonnigen Nachmittag passierte es. Die Papierschlange würde über dem Balkon unten im Wind flattern, bis es einen leichten Ruck gab, wie wenn ein Fisch nach dem Köder schnappt, und die wachsbleichen Hände von Herrn Opitz würden das wehende Ende gefasst haben.
“Prima, Herr Opitz”, rief er auch jetzt, ließ aber sein Ende nicht eher los, bis er von unten die asthmatische Stimme gehört hatte: “Loslassen, min Jung.”
Vor seinem inneren Auge sah er, wie Herr Opitz, gut zugedeckt im Korbsessel, die Papierschlange sorgfältig zusammenrollte - was immer viel länger dauerte, als er selbst dazu gebraucht hätte, ihm aber auch Zeit ließ, das Treiben auf dem Marienplatz zu verfolgen: Schwere Gäule zogen gemächlich ihre Fuhrwerke, Radfahrer radelten vorbei, Autos rollten im Kreisverkehr, alte Frauen in dunklen Kleidern stiegen langsam die Stufen von St. Marien hoch, und unten spielten Kinder.
Das Läuten der Türklingel ließ ihn aufhorchen. Er hörte Herrn Opitz's Pflegerin zu Käte sagen: “Ich bring die Papierschlange für den jungen Herrn und schöne Grüße vom Geheimrat”, und er glühte vor Stolz, dass man ihn jungen Herrn nannte, wo es doch bis zur Schule noch lange hin war - ein ganzes Jahr und ein halbes dazu, wie Käte sagte.
Er rief “Vielen Dank, Herr Opitz" durchs Balkongitter, und als von unten her matt die Antwort kam: “Schon gut, min Jung”, war wieder einmal das Spiel zu Ende.
Eines strahlenden, warmen Herbstnachmittages aber - es war fast wie im Hochsommer, nur die gelbbraunen Blätter fielen schon - wartete Markus vergebens auf Antwort. Dabei hatte er zweimal laut gerufen: “Herr Opitz, Herr Opitz, unsere Papierschlange ist weg!” Die hatte ihm ein Windstoß aus der Hand zu einem der Bäume vor dem Haus getragen, wo sie unerreichbar an einem Ast flatterte: Er zwängte den Kopf zwischen den Eisenstangen hindurch, was wehtat, schlimmer aber war, dass der Korbsessel unten auf dem Balkon leer stand.
“Wo sind Sie, Herr Opitz?”
Er zog den Kopf zurück und hielt sich die schmerzenden Ohren. So hörte er nur schwach, dass die Glocken von St. Marien zu läuten anfingen. Als er durch die Baumkronen schwarz gekleidete Menschen aus der Kirche kommen sah, Herren mit Zylinderhüten und verschleierte Damen, gab er seine Ohren frei. Er sah staunend, wie vier stämmige Männer einen großen Holzkasten mit Messingbeschlägen auf den Schultern zu einer gläsernen Kutsche schleppten, die dann von Pferden so langsam über den Platz gezogen wurde, dass die Menge dahinter gut nachkam.
Noch einmal rief er nach Herrn Opitz - wieder vergebens. Leuchtend blau in der Sonne wehte die Papierschlange am Ast, und dann riss ein plötzlicher Windstoß ein Stück ab und wehte es über den Marienplatz, der Markus wieder vertraut schien, weil die gläserne Kutsche mit den Menschen dahinter verschwunden war.
Macht nichts, dass die olle Papierschlange hin ist, dachte er trotzig, Herr Opitz hat mich sowieso vergessen. Und ging vom Balkon in sein Zimmer.
Er drückte die schwere Klinke herunter und stemmte sich gegen das eiserne Tor, bis es knarrend einen Spalt weit aufging, zwängte sich nach draußen und rannte blindlings die Straße hinunter. Die Kinderstimmen vom Schulhof her wurden schwächer, und bald klangen sie wie ferne Musik. Am Ende der Straße bog er links ab und folgte einem Pfad über den Schuttplatz hinter der Schule. Die Sonne schien warm, über ihm der Himmel strahlte leuchtend blau. Er fühlte sich froh und frei.
In seiner Vorstellung verwandelte er den Schuttplatz zu einem eigenen Reich. Im trockenen Gras die Flaschen und Büchsen spiegelten die Sonne, ihm gefiel das Grün der Flaschen, das matte Rotbraun der rostigen Büchsen und wie es silbern in den Glasscherben glitzerte und das Gras gelb im Licht stand. Es war angenehm unter der Sonne. Die Zeit gehörte ihm. Er ging langsamer, setzte sich auf einen Stein und kratzte mit einem Stock Linien und Kreise in den Boden. Er war allein auf der Welt. Die Zeit schien endlos. Plötzlich huschte etwas Geschmeidiges, Braunes, Biegsames vorbei. Ein Schwänzchen, dünn wie ein Halm, schwang hin und her. Vier Füße schnellten den schlanken Körper vorwärts.
“Eidechse”, flüsterte er.
Auf einem Sonnenfleck verharrte sie und wandte ihm den Kopf zu. Ihr Zünglein schoss vor und zurück. Er streckte die Hand aus, sofort verschwand die Eidechse im Gras.
“Wo bist du hin?"
“Wer?”, fragte hinter ihm eine Stimme.
“Meine Eidechse.”
“Was soll das! Einfach die Schule schwänzen ... Bloß gut, dass ich dich gefunden hab", hörte er den Jungen sagen. Markus kannte ihn nicht - wer war das? Er war nicht mehr allein auf der Welt.
“War ich lange weg?”
“Warst du. Fräulein Stanek hat mich losgeschickt, dich zu suchen. Dein Schulzeug hast du auch vergessen. Los, komm jetzt!”
Sie rannten los. Markus hielt den Kopf gesenkt, sah im Innern die Lehrerin mit streng erhobenem Kopf, dass ihr Haarknoten den Nacken berührte, sah die große graue Schule mit den vielen Fenstern. Als er hochblickte, ragte die Schule wie eine Festung vor ihm auf. Sein Herz klopfte.
“Mach zu”, drängte der Junge, als sie über den Schulhof liefen. "Schnell jetzt.”
Durch die offenen Fenster hörten sie die Stimmen der Lehrer. In einer Klasse wurde gesungen: “Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg ...” Im Treppenhaus umfing sie Kühle. Kleine Schweißperlen standen Markus auf der Stirn. Seine Verwirrung war groß. Sie rannten die Steintreppen hoch, ihre Sandalen klapperten, dass es hallte. Oben stürmte der Junge in die Klasse. Markus folgte ihm zögernd. Alle Kinder sahen zu ihm hin.
“Auf dem Schuttplatz war er", hörte er den Jungen zu Fräulein Stanek sagen.
Die wandte sich ihm mit strengem Blick zu, die Lippen schmal.
“Was bloß wolltest du da?”
“Ich hab eine Eidechse besucht”, sagte Markus.
Fräulein Stanek lächelte, die Strenge wich aus ihren Augen. Sie zog Markus an sich und strich ihm übers Haar.
Die Kinder staunten.
Wenn die Glastüren des Krankenzimmers offenstanden, konnte er vom Bett aus über die Terrasse weg auf einen kleinen See blicken. Es war Spätsommer. Die Kiefern und Silbertannen rochen würzig, ein frischer Wind strich übers Wasser. Das Sonnenstrahlenspiel in den Baumkronen beobachtend, das Gezwitscher der Vögel im Ohr, fühlte er sich wohl. Versuchte er aber aufzustehen, versagten ihm die Beine, er taumelte und musste sich festhalten, weil alles um ihn sich drehte, langsam erst, dann schneller. Es zeigte ihm, wie krank er noch war.
Eines Tages wurde ein zweiter Patient ins Zimmer gelegt, ein kleiner Vierjähriger, zwei Jahre jünger als Markus. Rainer hatte strahlend blaue Augen, Grübchen im Gesicht und eine flinke Zunge, die selten stillstand. Es war, als murmelte ständig ein Bach durch seine Träume.
“Ich hab ein Dreirad, du auch? Und eine Eisenbahn hab ich und einen großen Ball und eine Matrosenmütze und ein Indianerkostüm! Du auch? Und bald werden wir in ein großes Haus einziehen, und wo wohnst du?”
"Wir ziehen auch in ein großes Haus", sagte Markus.
Das ließ Rainer für kurze Zeit verstummen.
Mit der Zeit lernte Markus den Fragen ein beharrliches Schweigen entgegenzusetzen. Zur Ruhe aber kam er immer noch erst, wenn Rainer, vom eigenen Geplapper erschöpft, den Kopf aufs Kissen sinken ließ und einschlief. Dann hörte er wieder die Vögel singen, sah er die Eichhörnchen durch die Bäume huschen und konnte den Lauf der golden glänzenden Sonne im See verfolgen. Er dachte an die Eltern und an Käte und sehnte sich danach, wieder mit Zito, dem Hund seiner Vettern, durch den Wald zu rennen. Manchmal dachte er an die Schule und fragte sich, ob er je nachholen würde, was er in all den Wochen versäumt hatte.
“Ich hab geträumt”, sagte plötzlich Rainer, setzte sich im Bett auf, blinzelte und rieb sich die Augen. “Von einem Schornsteinfeger, der hat mich in einen Schornstein gesteckt, und ich konnte nicht mehr raus. Ich hab Angst vor Schornsteinfegern. Du auch?”
“Nein”, sagte Markus.
“Aber ich. Schornsteinfeger sind schwarz."
“Sind sie nicht. Bloß rußig.’’
“Ach ja?” Eine Weite dachte Rainer darüber nach, doch sehr bald fuhr er fort: “Du hast kein Indianerkostüm, oder? ich hab auch einen großen Bär und einen Goldfisch im Becken und einen Kanarienvogel und ein Schaukelpferd. Und was hast du?”
Markus wandte sich zum Nachttisch und holte aus der Schublade die Taschenuhr aus Nickel, die ihm die Tante geschenkt hatte. Die Uhr hatte ihm bisher so wenig bedeutet wie die Zeit selbst. Doch nun glaubte er, etwas vorweisen zu müssen. Vorsichtig zog er die Uhr auf und hielt sie ans Ohr.
“Weißt du, was ich hier habe?"
Rainer machte Augen und hielt den Atem an.
“Das ist eine Taschenuhr, und sie gehört mir”, sagte Markus.
"Zeig mal."
“Nein. Du machst sie bloß kaputt.”
“Mach ich nicht. Zeig doch mal.”
Markus schlang die Uhrkette um den Bettpfosten, sodass Rainer die Uhr zwar sehen, aber nicht greifen konnte. Die Uhr tickte hörbar, und Rainer betrachtete sie begehrlich. Er presste die Lippen zusammen, seine Augen verloren den Glanz.
“Gib sie mir!”
Markus blieb hart, und Rainer vergrub das Gesicht im Kissen, bis er endlich wieder einschlief. Als die Schwester das Abendbrot brachte, rührte er es nicht an. Er suchte nach der Uhr am Bettpfosten, und weil sie verschwunden war, sah er Markus vorwurfsvoll an.
“Onkel Markus”, sagte er, “wie spät ist es, bitte?”
Markus holte die Uhr unter dem Kopfkissen hervor, warf einen Blick darauf und legte sie wieder weg. “Genau halb sechs", beschied er, obwohl die Zeiger auf drei Viertel eins standen - er hatte noch nicht herausgefunden, wie man die Uhr nach dem Aufziehen stellt.
“Danke, Onkel Markus”, sagte Rainer leise.
Von da an belästigte er Markus nicht mehr mit seiner Geschwätzigkeit - wenigstens nicht mehr so viel wie bisher.
Mittagssonne lag über der Prinzenstraße. Stille umfing die stattlichen Villen in prächtigen Gärten, kein Windhauch bewegte die Blätter der Bäume. Markus war allein in der Straße. Er war über einen Zaun geklettert und hatte dabei Hemd und Hose zerrissen, die Kniestrümpfe waren zu den Knöcheln gerutscht. Jetzt saß er auf dem Bordstein, die Arme um die Knie geschlungen, regungslos im Sonnenlicht, das auf seinem zerzausten Haar spielte. Wie so oft gestaltete er für sich die Umwelt neu: Aus dem Feuermelder wurde ein Ritter in voller Montur, die Bäume wurden zu Palisaden einer Burg und die makellos polierten Autos zu Karossen. Plötzlich drangen zwei Fremde in seine Traumwelt ein. An der Hand ihrer Mutter kam ein kleines Mädchen in einem rosa Kleid den Bürgersteig entlanggehüpft. Ihre goldbraunen Locken wippten wie Sprungfedern, und ihr Geplapper durchbrach die Stille wie ein Glöckchen.
Markus blickte auf. Augenblicklich verstummte das Mädchen und sah ihn an. Sie löste sich von der Mutter, kam auf ihn zu und hielt ihm eine prallvolle Tüte hin. Markus nahm die Tüte und schob sie ungerührt unter sein Hemd - er tat, als wäre ihm so etwas nicht neu.
Zufrieden wandte sich das Mädchen um und lief weg. Aus einiger Entfernung sah sie noch einmal zu Markus hin. Sie lächelte. Ernst schaute er ihr nach und erst, als die Prinzenstraße wieder leer war, holte er die Tüte unter seinem Hemd hervor und schob ein Bonbon in den Mund. Da hörte er aus dem Garten hinter sich die Stimme seiner Mutter.
"Wie siehst du nur wieder aus. Man muss sich schämen!”
Er sah sie mit einem seltsam reifen Ausdruck des Erstaunens an.
“Was isst du denn da?”
“Bonbons.”
“Und woher hast du die?”
Er erklärte es ihr.
“Wahrscheinlich hielt sie dich für einen dahergelaufenen Betteljungen.”
“Nein”, sagte Markus mit Bestimmtheit. “Ich war der Prinz.”
Plötzlich war Käte bleich geworden und hatte ihn an der Haltestelle aus der Straßenbahn gezerrt. Markus begriff den Grund nicht - was hatte das alles mit ihm zu tun ... Ein Arbeiter war längs der Fabrikmauer die Straße hinuntergelaufen, sich immer wieder umdrehend, seine genagelten Stiefel hatten laut aufs Pflaster geschlagen, noch vor dem Fabriktor war er mit einem Satz zum Sims hochgesprungen, wobei ihm die Mütze vom Kopf gefallen war, oben hatte er sich festgekrallt, sich hochgezogen und war dann hinter der Mauer verschwunden. Eine Pfeife hatte geschrillt. Männer in braunen Uniformen und Schaftstiefeln, Gummiknüppel in den Fäusten waren aufgetaucht. Wo die Mütze lag, hatten sie laut fluchend angehalten.
Während Markus jetzt an Kätes Hand die Straße entlanglief, hörte er hinter sich noch immer die SA-Männer fluchen, und er stellte sich vor, was sie dem Arbeiter antun würden, wenn sie ihn fingen. Ein Windstoß blies ihm Ruß ins Gesicht, seine Augen tränten, alles um ihn her verschwamm - die Mauer, der rauchende Schornstein mit der großen weißen Schrift auf rotem Stein: NIEDER MIT HITLER!
“Renn nicht so, Käte!”
Käte aber zerrte ihn weiter bis hin zu dem Reihenhaus am Ende der Straße. Schnell schloss sie die Tür auf.
“Komm jetzt. Komm rein.”
Als sie von innen wieder abgeschlossen hatte, fragte Markus, was wohl der Mann, der da über die Mauer verschwunden war, getan haben mochte. Käte stand gegen die Tür gelehnt und zitterte.
“Wen tot gemacht, oder so?”
“Wie du redest", rief Käte, ‘‘Das war doch Helmut. Hast du Helmut nicht erkannt?”
Das hatte er nicht - an dem Sonntag, als Helmut Käte in der Prinzenstraße besucht hatte, war ihm nur dessen kleiner Terrier wichtig gewesen, mit dem er hatte spielen dürfen.
“Das war wirklich Helmut?"
“Aber ja, doch."
“Sie haben ihn nicht gekriegt”, tröstete er Käte. Sie drückte ihn an sich. Er löste sich von ihr und sah zu ihr hoch. "Bloß gut, dass sie ihn nicht gekriegt haben.”
Markus hatte Sinn für Blumen.
Besonders Rosen mochte er, aber auch Maiglöckchen, Nelken, Kornblumen. Bei festlichen Anlässen aber schenkte er der Mutter meist nur Geranien, die er von seinem Taschengeld bei Herrn Papenbrecht besorgte - ein weiter Weg bis hin zur Gärtnerei. Er bewunderte den hageren Alten mit dem Pferdegesicht und den großen, knorrigen Händen, weil er so geschickt mit Pflanzen umgehen konnte.
Selten nur sah er dort Kunden und hatte sich längst zu fragen begonnen, wie Herr Papenbrecht eigentlich zurechtkam. Es war, als verprellte der fast blinde Wachhund mit seinem bösen Kläffen jeden Fremden. Stets war das Tor zur Gärtnerei geschlossen, und allein schon wenn der Hund zu knurren anfing, kostete es Markus Überwindung, um auszuharren und nicht gleich kehrtzumachen.
Bei seinen Blumenkäufen kam er sich wie der Ritter aus dem Märchen vor, dem erst Einlass ins Zauberland gewährt wird, wenn er das Ungeheuer erlegt hat. Sobald er am Tor nach Herrn Papenbrecht rief, geriet der Hund in Wut, und bis der Gärtner zwischen den Gewächshäusern auftauchte, hatte sich meist die Fehde derart zugespitzt, dass Markus die Flucht ergriffen hätte, wäre der Hund imstande gewesen, über den Zaun zu springen.
Umständlich begann Herr Papenbrecht mit einem überlangen Schlüssel das Tor aufzuschließen und den grollenden Hund zu besänftigen. Vorsichtig trat Markus ein, wobei er darauf achtete, den Gärtner zwischen sich und dem Tier zu haben. Sein Herz schlug heftig. Und er sagte kein Wort, bis er im Gewächshaus war.
“Na, junger Mann, was soll’s denn heute sein?”, fragte Herr Papenbrecht wie immer, und Markus gefiel das - er war ja erst sieben.
“Kann Ihr Hund hier rein?”
“Und wenn schon, der tut dir nichts”, beruhigte ihn der Gärtner. “Hat dich doch immer bloß angeknurrt?”
“Vielleicht lassen Sie doch besser die Tür versperrt”, sagte Markus und erzählte von einem Zirkushund, der neben anderen Kunststücken auch Türklinken bedienen konnte. Herr Papenbrecht hörte aufmerksam zu.
“Könnte mein Gamzo auch", sagte er. “Der ist gelehrig und gefügig - nie tapst der auf Blumenbeete oder reißt Pflanzen aus. Jetzt ist er alt und ein bisschen streitsüchtig, doch solange du meine Blumen nicht anrührst, tut er dir nichts.”
“Ich rühr doch Ihre Blumen nicht an, Herr Papenbrecht. Will bloß welche kaufen."
Prompt zählte der Gärtner sein Blumenangebot auf. Markus unterbrach ihn. Schnittblumen welkten zu schnell, während Topfpflanzen länger hielten.
“Ich bleib bei Geranien”, entschied er. “Wie viel kosten die heute?”
Herr Papenbrecht verzog das Gesicht. Es verdross ihn, dass der Junge auch diesmal wieder mit einer Geranie abziehen wollte. Heute würde er ihm Rosen verkaufen, das verlangte sein Berufsstolz. Die Arme in die Seiten gestemmt, den Strohhut so weit zurückgeschoben, dass über seinem wettergegerbten Gesicht ein Streifen weißer Stirn zu sehen war, ließ er sich über etliche Rosenarten aus - er benannte sie, und dabei fielen Worte wie stolz, prinzlich, erlesen.
“Aber Rosen verwelken so schnell”, protestierte Markus.
“Das mag schon sein, junger Mann”, sagte Herr Papenbrecht, “aber eine Geranie ist eben nur eine Pflanze, während Rosen Seelen haben. Willst du denn deiner Mutter immer nur Geranien schenken?”
Markus gab sich geschlagen und legte seine Ersparnisse in sieben tiefroten Rosen an. Die ließ er sich einwickeln und trug sie vorsichtig an dem tückischen Hund vorbei auf die Straße. Zu Hause stellte er sie in eine mit Wasser gefüllte Milchflasche, die er in seinem Zimmer hinter dem Bett versteckte.
Hätte er bloß den Rat des Gärtners nicht vergessen, ihre Stiele unten einzuschneiden - denn als er am folgenden Morgen erwachte, waren die Rosen aufgeblüht und hatten die ersten Blätter verloren. Es trieb ihm Tränen in die Augen. Er riss die Vorhänge auf, und weil er erkannte, dass bis zum Schulbeginn noch Zeit war, zog er sich schnell an und rannte durch die Hintertür aus dem Haus den ganzen Weg bis hin zur Gärtnerei. Außer Atem, den Hund kaum noch fürchtend, der kläffend am Zaun hochsprang, hämmerte er gegen das Tor.
“Herr Papenbrecht, Herr Papenbrecht!”
Sein Rufen hallte durch die Morgenstille, und weil er in der Stube hinter den Gewächshäusern Licht brennen sah, hörte er zu rufen nicht auf. Endlich schlurfte der Gärtner im Pyjama und Hausschuhen zum Tor.
“Wo brennt's denn, junger Mann.”
“Was Sie mir alles erzählt haben", rief Markus. “Und jetzt sind all die Rosen hin. Bitte verkaufen Sie mir eine Geranie? Mit dem nächsten Taschengeld bezahle ich alles.”
Kurz vor dem Frühstück war er wieder zu Hause, verschwitzt, das Haar zerzaust. Auf dem Küchentisch wickelte er die Geranie aus.
“Alles Gute zum Geburtstag", rief er und umarmte seine Mutter.
Sie betrachtete die Topfpflanze und dankte ihm lächelnd.
“Wieder eine Geranie - wie schön.”
Er sah sie an und glaubte ihr nicht.
“Geranien haben auch Seelen. Wie Rosen”, versicherte er ihr. Und als sie erfahren wollte, wie er darauf kam, gestand er sein Missgeschick.
“Bring mir deine Rosen, Mark”, sagte sie.
Aber erst Jahre später, als er beinahe zwölf war und sich die ersten Freundschaften mit Mädchen anbahnten, begriff er, warum seine Mutter über die verwelkten Rosen froher gewesen war als über die blühende Geranie.
Niemand musste Markus davon überzeugen, dass Spinat gesund ist, ihm brauchte man nicht zuzureden - ginge es nach ihm, könnte es täglich welchen geben. Aber nein. Meist musste er gut und gern zwei Wochen auf seine Lieblingsspeise warten, und immer beklagte sich Käte, dass Spinat so viel Mühe machte. Man tat das Gemüse nicht einfach in den Topf, oh nein, jedes Blatt musste einzeln gepflückt und gewaschen werden - “so will es deine Mutter" - wirklich mühsam, wenn man bedachte, wie sehr so ein Korb voll Spinat zusammenkochte. Es reichte gerade zu einer normalen Portion für jeden der drei Erwachsenen und einer für Markus. Also begann er zu handeln.
“Hör mal zu, Käte! Was kann ich für dich tun, damit du öfter Spinat kochst?”
“Es gibt ihn oft genug.”
“Ein Junge in meiner Klasse hat dauernd Spinat auf dem Brot - sicher kocht seine Mutter jeden Tag welchen. Also kann das nicht so furchtbar viel Arbeit machen!”
“Geh spielen und stör mich nicht.”
Er ließ nicht locker. “Ich will auch einen Monat lang für dich einkaufen gehen, wenn du öfter Spinat kochst."
“Was hast du gegen Kraut, Erbsen oder Bohnen?”
“Ich mag Spinat. Sogar zum Schulfrühstück.”
“Sei dankbar für Leberwurst, Sardinen, Eier und Anchovispaste - und was sonst noch."
“Anchovispaste", sagte er. “Kann ich dafür, dass ich Spinat mag? Wenn du mir keinen kochen willst, dann mach deine Einkäufe selber.”
Aufgebracht verließ er die Küche, ging auf sein Zimmer - und grübelte: Zigarettenbilder, Murmeln, Streichholzschachteln, alles wird in der Schule getauscht. Tut Käte mir den Gefallen nicht, tausche ich meine Frühstücksbrote mit Stoppelkopf.
Am nächsten Morgen aber kamen ihm Bedenken: Vielleicht verweigert sich Stoppelkopf. Was da nicht alles über die Leute aus Dörnerhof, wo Stoppelkopf herkam, geredet wurde - eine Arbeitslosensiedlung aus alten Eisenbahnwaggons hinterm Wald. Er wusste nicht einmal genau, wie Stoppelkopf richtig hieß. Hieß er Paul? Alle nannten ihn wegen seiner kurz geschorenen Haare Stoppelkopf. Selbst Fräulein Stanek rief ihn nicht beim Namen, sondern zeigte bloß auf ihn. Wann war Stoppelkopf zum letzten Mal an die Tafel gerufen worden - ewig her! Immer saß er nur mürrisch in der letzten Reihe, und die Mädchen meinten: "Er stinkt.” Mochte stimmen, sagte sich Markus. Stoppelkopfs Sachen waren alt, nur eine Hose besaß er und dieses geflickte Hemd. Einen Pullover hatte er wohl auch nicht, denn wenn es kalt war, behielt er seinen Mantel auch im Klassenzimmer an. Um eines aber war er zu beneiden - Spinat zum Frühstück!
Auf dem Schulweg bedauerte Markus, dass er sich nie groß um Stoppelkopf gekümmert hatte - niemand tat das, weil Stoppelkopf obendrein auch noch stotterte. Immer wurde er rot im Gesicht, wenn er zu sprechen ansetzte, sein Unterkiefer bebte, die Zunge schien ihm schwer im Mund zu liegen. Mit einmal spürte Markus Mitleid - bis ihm wieder Stoppelkopfs Spinat einfiel. Wenn der nun auch gern Spinat isst und meine Leberwurst und Anchovisbrötchen gar nicht will?
Unnötige Bedenken: Stoppelkopf, der in der Pause in der Ecke des Schulhofs hockte und gerade sein Frühstücksbrot aus dem braunen Packpapier wickelte, nahm das Angebot prompt an.
"W-warum nicht?”, sagte er und wurde wie immer rot beim Sprechen. “W-wenn du willst.”
Er gab Markus für Eier- und Anchovisbrötchen vier Schwarzbrotschnitten mit kaltem Spinat. Das Anchovisbrötchen klappte er misstrauisch auf. ”W-was ist das?"
“Fischpastete mit Ei”, antwortete Markus. “Schmeckt gut. Bloß ich esse lieber Spinat.”
Stoppelkopf biss ins Brötchen, kaute und erklärte dann: “Kannst du wieder tun, w-wenn du willst."
“Morgen gibt’s Leberwurst oder Salami”, versprach Markus.
“W-w'as ist Salami?"
"Kennst du nicht?”
Stoppelkopf schüttelte den Kopf.
Die Salami, die er am nächsten Tag kostete, schmeckte ihm, auch die Leberwurst und der Käse und am übernächsten Tag die Sardinen, am liebsten aber aß er Anchovispaste mit Ei.
“Dieses Fischzeug", stotterte er, “w-wie heißt das noch?”
“Anchovis", sagte Markus, und Stoppelkopf wiederholte das Wort, um es sich einzuprägen.
Am Wochenende machte sich Markus über den Tauschhandel schon keine Gedanken mehr - er war fair zu Stoppelkopf, und Stoppelkopf war fair zu ihm. Ohne Käte zu bedrängen, würde er jetzt jederzeit zu Spinat kommen.
“Heute kannst du dir’s aussuchen”, sagte er am Montag zu Stoppelkopf. “Ich hab Salami und Anchovispaste.”
Zu seiner Überraschung winkte Stoppelkopf ab.
“Was ist los?”
“Nichts. Kannst dein Frühstück behalten."
“Hast wohl heute kein Spinatbrot für mich?”
“Nein.”
Aus der Manteltasche zog Stoppelkopt zwei in sauberes Papier eingewickelte Brötchen. Eins klappte er auf. “Anchovis”, behauptete er. “Krieg ich jetzt auch, sagt meine Mutter." Er redete aut einmal fließender, stotterte kaum noch. “Sie hat die Wolldecke verhökert, aus der sie ‚nen Pullover stricken wollte - Schafwolle."
“Schön dumm”, sagte Markus. “Hättest du nicht zulassen sollen.”
Stoppelkopf zuckte die Achseln. “Hab doch meinen Mantel", sagte er. “Und Anchovis, wie du. Das ist besser als ein Pullover, auf jeden Fall."
Damit verfiel er in trotziges Schweigen, wandte sich ab und begann zu essen.
Weil er von der Religionsstunde befreit war, hatte Markus bis zur großen Pause nach Hause gehen können - als er sich das zweite Mal auf den Weg zur Schule machte, blieb er auf halber Strecke stehen. Was trieb der Mann auf dem Dach der alten Fabrik, ihrem Räuber-und-Gendarm-Versteck, was hatte all diese Männer und Frauen in den Hof gelockt, warum starrten sie nach oben?
Markus sah genauer hin und erkannte, dass der Mann auf dem Dach kein Schornsteinfeger sein konnte, allein schon, weil er ein schwarzes Trikot und biegsame Schuhe trug und vom Fabrikdach zum Quergebäude gegenüber ein Drahtseil gespannt war. Von irgendwo drang der dumpfe, rhythmische Schlag eines Tamburins und blechernes Klirren an sein Ohr. Er sah, wie sich durch die Menge eine Zigeunerin in den Hof drängte, die fing plötzlich zu tanzen an, langsam erst, dann schneller, bis ihr schwarzer Zopf und ihre Röcke flogen. Dabei rief sie etwas, das er nicht verstand und zeigte nach oben. Er sah den Mann im schwarzen Trikot zu einer Stange greifen und prüfend einen Fuß auf das Seil setzen, das heftig zu wippen begann.
Im Hof tanzte noch immer die Zigeunerin zum Takt ihres Tamburins. Was mehr Menschen anlockte. Endlich bestieg der Mann auf dem Dach behutsam das Seil. Es war, als hielt er sich beim Vorwärtsschreiten an der Stange fest, die er quer zum Körper vor sich hertrug. Auf halbem Weg zum Quergebäude strauchelte er. Markus stockte der Atem. Er spürte ein Sausen im Kopf und sah weg, während ein vielstimmiger Schrei aus der Menge drang. Als er wieder nach oben blickte, sah er den Mann mit nur einem Fuß auf dem Seil schwanken. Markus hielt die Hand vor die Augen, um den Absturz nicht erleben zu müssen. Erst als ein erleichtertes Raunen durch die Menge ging, sah er wieder hoch. Der Mann hatte sich zum Dach des Quergebäudes gerettet. Dort stand er jetzt mit ausgebreiteten Armen wie ein großer schwarzer Vogel.
Die Zigeunerin hatte aufgehört, das Tamburin zu schlagen. Sie sammelte Geld. Die Menge begann sich aufzulösen, bis nur noch wenig Leute übrig geblieben waren. Markus sah die Zigeunerin die Münzen im Tamburin zählen, und als sie fertig war, hörte er sie schrill aufschreien.
“Drei Mark siebzehn - mehr ist sein Leben wohl nicht wert!"
Da ließ er die Schule Schule sein und ging nach Hause zurück - die paar Groschen, die er in das Tamburin werfen konnte, hatten die Summe auf nicht einmal vier Mark gebracht - genau waren es drei Mark und siebenundvierzig Pfennig.
Zunächst ging es Markus nicht allzu gut - das Bücken fiel schwer, aufrecht gehen auch, ständig schmerzte die Blinddarmnarbe, und das ließ erst am dritten Tag nach. In der Folgezeit aber war er im Krankenhaus so froh und glücklich wie lange nicht - keine Schule oder Schulaufgaben, kein Schulhofdrill, den Lehrern unerreichbar, unerreichbar auch diesem feindseligen Hauswart Gumpert in seinen polternden Schaftstiefeln.
Das Krankenzimmer war sonnig und luftig, Frühlingswärme umgab ihn, wenn er vom Balkon auf blühende Bäume sah. Er hatte zu lesen, der Bücherstapel auf dem Nachttisch bot eine große Auswahl. Da waren die Abenteuer der beiden Jungen aus Missouri in Amerika, Huck Finn und Tom Sawyer, die in einer Räuberhöhle zwölftausend Dollar entdeckt hatten, ein Vermögen, das ihnen täglich einen Dollar Zinsen einbrachte - toll! Mit dem Buch hatte er derart zu tun, dass an die anderen Bücher nicht zu denken war.
Plus die Meerschweinchen.
Die kamen auch aus Amerika, hatte ihm Schwester Hedwig erklärt, aus einem Land mit Namen Peru und waren vor Urzeiten Haustiere der Inkas gewesen - aber warum die jetzt tief im Krankenhauskeller in Käfigen gehalten wurden, hatte sie verschwiegen. Ihm genügte, dass er dort Zutritt hatte und sie mit Rüben, Salatblättern und was sonst noch füttern durfte, und das zweimal täglich. Die graubräunlich gesprenkelten Meerschweinchen waren schwer auseinanderzuhalten, sie glichen sich zu sehr, aber da waren auch schwarze, rotgelbe und weiße - und das größte der schwarzen nannte er Huck, nach diesem Huckleberry, und ein rotgelbes taufte er Tom. Ihm war, als parierten sie auf die Namen - aber das konnte auch falsch sein, sie parierten ja alle, wenn er sie lockte, und krabbelten ihm entgegen.
Wirklich, ihm gefiel es im Krankenhaus. Besonders Schwester Hedwig mit der sanften Stimme, den strahlend blauen Augen, der hohen weißen Stirn unter der Haube hatte es ihm angetan. Er liebte es, wenn sie ihm übers Haar strich, und wäre ihr auch ohne Zugang zu den Meerschweinchen zugetan gewesen - es war nicht so sehr, was sie ihm sagte oder erlaubte, sondern wie sie das tat: ihre Art! Und den Professor Branstner, der täglich mit einer Schar von Ärzten Visite machte, mochte er auch - allein schon, weil er sich immer seinem Vater empfahl. Sie waren im Krieg bis 1918 in einem Regiment, und das schien dem Professor bedeutsam zu sein. Er war kein bisschen so grimmig wie er mit seinen Schmissen über der rechten Wange wirkte, und immer sprach er mit viel Wärme von seinen Vinzentinerinnen, womit er die Krankenschwestern meinte. Besonders Schwester Hedwig schien er auserkoren zu haben - er besprach sich mit ihr wie mit einer Gleichgestellten. Nur dass er ihr dabei vertraulich die Hand auf den Arm legte, missfiel Markus. Warum eigentlich? Es missfiel ihm eben. Gut aber fand er, dass der Professor sich die Zeit nahm, ihm von Vinzenz von Paul zu erzählen, nach dem das Krankenhaus benannt war, einem französischen Priester, der vor mehr als dreihundert Jahren ein Pflegewesen für Kranke aufgebaut hatte. “Auch für Jungen mit Blinddarmentzündung?'’ - “Klar, kleiner Mann - auch für die", hatte ihm der Professor versichert und war dann mit seiner Ärzteschar in der weißen Wolke entschwunden.
Markus war den Tränen nah, als er am Wochenende nach Hause entlassen werden sollte - wegen der Meerschweinchen, wegen Schwester Hedwig, wegen Professor Branstner? Ohne Frage. Aber auch, weil er spürte, etwas Unwiederbringliches würde ihm verloren gehen - hier drinnen war das Paradies, draußen die raue Welt.
Mit gereckten Hälsen blickten sie der Maschine hinterher, die über ihren Köpfen dahinzog. Ein Passagierflugzeug, vermutete Markus, und sah es stetig kleiner werden, bis es nur noch ein dunkler Punkt am blaugrauen Horizont war.
“Wassergekühlte Doppelmotoren", sagte Hans Merker. “Ich schätze, sie fliegt jetzt mit einer Geschwindigkeit von hundertachtundsiebzig Stundenkilometern.”
“Möglich", bestätigte Jürgen Foster. “Planmäßig müsste sie vor genau vier Minuten in Düsseldorf gestartet sein."
“Dieser Typ braucht eine mindestens vierzig Meter breite und über tausend Meter lange Rollbahn”, behauptete Werner Kolb.
“Sollte das alles stimmen, müsste die Entfernung zwischen dem Flugplatz und unserer Ecke hier genau vierundzwanzig Kilometer ausmachen”, überlegte Klaus Amendt. “Ich hab zwei Minuten für den Start zugegeben und fünf Minuten, bis sie die notwendige Höhe erreicht hat.” Markus hielt es für das klügste, sich nicht zu äußern: Warum sollte er sich wieder eine Blöße geben - wie gestern? Natürlich hatte er gewusst, dass im Mai auf der Avus Manfred von Brauchitsch mit seinem Mercedes Caracciola geschlagen hatte, aber als er ihm eine Durchschnittsgeschwindigkeit von "mindestens hundert” zugetraut hatte, mussten sich die anderen vor Lachen krümmen.
“Hundert!", hatte Hans Merker gerufen. “Menschenskind, da hat ja meine Oma mit ’m Kinderwagen mehr Tempo drauf! Brauchitsch ist mit hundertvierundneunzigkommavier über die Strecke gezischt. Das war doch was! Avus-Rekord und Weltrekord. Und Caracciola fuhr einen Alfa Romeo!”
“Weiß ich ja”, hatte Markus erwidert, aber es war nichts mehr zu retten gewesen. Wieder einmal hatte ihm seine grässliche Unfähigkeit, Zahlen im Kopf zu behalten, einen Streich gespielt.
Gewiss - Nurmi lief schnell, aber wie schnell? Jarvinen warf den Speer weit, aber wie weit? Bausch war großartig im Zehnkampf, aber wie viele von den zehntausend möglichen Punkten hatte er erzielen können?
Markus hatte keine Ahnung, und selbst wenn, hätte er es im nächsten Augenblick wieder vergessen. Die anderen aber, alle vier, kannten die Ergebnisse bis auf die Zehntelpunkte: 8 462,23. Was blieb ihm also übrig, als den Mund zu halten und so zu tun, als wüsste er Bescheid? Er hatte das dunkle Gefühl, dass er wohl niemals imstande sein würde, auch nur die einfachste Rechenaufgabe zu lösen, auch wenn er eines Tages das reife Alter von sechzehn Jahren erreichen sollte, also annähernd doppelt so alt war wie jetzt. Ein Zug hat eine Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern - wie lange braucht er bis Düsseldorf? Während die anderen rechneten, würde er an einen bestimmten Sonntag denken müssen, einen Ostersonntag vielleicht, als die Familie ausgezogen war, Tante Erna zu besuchen - an den Weg zum Bahnhof im strahlenden Sonnenschein, die Fahrt mit der Bahn und dann weiter im Taxi über die Rheinbrücke ...
"Etwa fünfundzwanzig Minuten”, würde er sagen, wenn alle anderen die Antwort längst wussten: Genau neunzehn Minuten und dreißig Sekunden!
Dann aber kam der Augenblick seiner Rechtfertigung. Es war an Werner Kolbs Geburtstag, der jedes Jahr im großen Garten seines Elternhauses gefeiert wurde - ein buntes, sehnsüchtig erwartetes Fest mit Lampions, Wettspielen, Chaplinfilmen und leckeren Speisen, die auf Tischen angerichtet waren. Markus vergaß diesen Augenblick nie, und noch lange Zeit sonnte er sich im Glanz seines Triumphs - was beinahe wörtlich zu nehmen war, denn er gewann eine große, weithin leuchtende Stablampe als Preis. Dabei hatte er nichts weiter getan, als nach einigen Sekunden scheinbaren Nachdenkens die Zahl Dreiundsiebzig zu rufen. Warum gerade dreiundsiebzig? Markus wusste es nicht. Ebenso gut hätte er hundertdreiundsiebzig oder siebenunddreißig rufen können. Die Zahl Dreiundsiebzig fiel ihm rein zufällig als erste ein - das Nachdenken war nur Schein gewesen. Das Ergebnis aber war verblüffend. Von der Eiche her wurde ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet - es dunkelte bereits, zwischen den Bäumen und rings um das Schwimmbecken brannten schon die bunten Lampions - und er stand überrascht und vor Freude strahlend auf der Veranda, umringt von zwei Dutzend festlich gekleideter Jungen und Mädchen. Werner Kolbs Vater ging die Treppe zum Garten hinunter und schritt den Mittelweg ab, die Umrisse seiner stattlichen Gestalt verloren sich in der Dämmerung. Dreiundsiebzig Schritte machte er, und genau dreiundsiebzig Meter zeigte auch das Bandmaß an.
Niemand hatte die Länge richtig schätzen können, weder Hans Merker, der sich bis in die technischen Einzelheiten mit Flugzeugmotoren auskannte, noch Werner Kolb, das Geburtstagskind, der alles über Rollbahnen wusste, weder Klaus Amendt, der die Entfernung zwischen dem Flugplatz und jedem beliebigen Punkt exakt errechnen konnte, noch Jürgen Foster, der nicht nur die Geburtstage aller Mädchen aus der Nachbarschaft im Kopf hatte, sondern auch die Abflugzeiten aller in Düsseldorf startenden Passagierflugzeuge - keiner von den vielen, die es versucht hatten. Er allein hatte die Länge des Bandmaßes richtig geschätzt. Geschätzt? Erraten hatte er sie. Aber wer konnte das wissen, solange er es nicht zugab?
Langsam ging Werners Vater den Weg zurück, den er abgeschritten hatte, und der Gärtner, der an diesem Tage als Mann für alles eingesprungen war und den geplagten Dienstmädchen zur Seite stand, rollte hinter ihm das Bandmaß auf.
“Gratuliere, Markus!”, rief Herr Kolb mit sonorer Stimme. “Erstaunlich, wirklich erstaunlich ...“
Markus stand kerzengerade und regungslos da und lächelte wie ein Schauspieler im Rampenlicht.
“Wie hast du das erraten, mein Junge?”
“Ich habe es nicht erraten”, erwiderte er, dass alle es hören mussten, “ich habe es geschätzt!”
Und einen kurzen, herrlichen Augenblick lang klangen ihm die anerkennenden Zurufe wie stürmischer Applaus in den Ohren.
Beim Frühstück hatte Vater der Mutter etwas in der Morgenzeitung gezeigt, und plötzlich fingen sie an, französisch zu reden - Markus wusste, dass jetzt über ihn gesprochen wurde oder über etwas, das er nicht hören sollte. Er forschte in ihren Gesichtern. Schließlich wandte sich der Vater ihm zu und sagte ernst: "Traurig, traurig - aber es hilft nichts. Du wirst dich von deinen Wellensittichen trennen müssen.”
Ihm stockte der Atem. Er sah den Vater an.
“Die Vögel müssen vernichtet werden.”
Sein Wellensittichpaar, ein Geburtstagsgeschenk, sollte vernichtet werden - das war so ungeheuerlich, es verschlug ihm die Sprache.
"Es gibt dafür sehr ernste Gründe”, fuhr der Vater fort, und er begann zu erklären, wie ansteckend die Papageienkrankheit sei und dass man daran sterben könne. “Aus Mülheim wurden in letzter Zeit mehrere Fälle gemeldet, und gestern musste ein Mädchen deines Alters ins Krankenhaus - stand alles in der Zeitung."
“Aber Mülheim ist weit!”, protestierte Markus, und es überzeugte ihn nicht, als der Vater ihn darauf hinwies, wie oft sie schon zu Fuß dorthin gewandert waren - jene Sonntagnachmittagausflüge waren ihm stets endlos vorgekommen. "Du weißt, wie weit Raffelberg von hier aus ist - und nach Mülheim ist es auch nicht viel weiter. Nein, die Vögel müssen weg.”
Er nahm sich zusammen - nie je hatten Tränen den Vater umgestimmt. Er stürzte vom Frühstück weg auf sein Zimmer. Die Wellensittiche zwitscherten auf den Stangen im Käfig, lebensfroh wie immer - wer im Haus würde die Untat über sich bringen? Selbst der Vater nicht. Sie würden wieder diesen Kerl herholen müssen, der einmal vor seinen Augen ein lebendes Huhn geköpft hatte. Aber der war Hals über Kopf nicht aufzutreiben. Vater ging jetzt ins Büro, und bis die Schule aus war, würde kaum was geschehen - alles ließ sich verhindern, wenn er die Vögel einfach wegbrachte. Aber zu wem? Nur Herr Papenbrecht, der Gärtner, kam infrage, der war alt und einsam und würde die Wellensittiche hüten, bis man sie wieder nach Hause holen konnte.
“Ja, so machen wir das”, versicherte er den Vögeln und streichelte ihr Gefieder mit den Fingerspitzen.
Doch als er aus der Schule kam - er war den ganzen Weg gerannt! - stand auf dem Fensterbrett statt des Vogelkäfigs ein Goldfischbecken.
“Mutti!”, rief er gellend durchs Haus. “Wo sind meine Wellensittiche?”
“Wir haben sie vor einer Stunde beerdigt”, sagte die Mutter, als er sie endlich gefunden hatte,
“Ihr habt sie umgebracht!”
“Nein, sie sind eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Sie müssen schon lange krank gewesen sein.”
“Lüge!"
Er raste die Treppe hinunter und in die Küche.
“Wer hat meine Wellensittiche umgebracht?"
“Deine Mutter hat dir Goldfische gekauft", sagte Käte. “Hast du die noch nicht gesehen?"
“Goldfische, Goldfische! Wo sind meine Wellensittiche?”
Als Käte nicht gleich antwortete, rüttelte er am Küchentisch und stieß dabei eine Kristallvase um, die auf den Fliesen zerschellte.
“Wo sind meine Wellensittiche?”
Seine Mutter, die herbeigeeilt war, konnte nicht an ihn heran, weil der Tisch sie trennte, und Käte wagte nicht, sich einzumischen - Markus war kreidebleich und schien zu allem fähig.