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Greifen wir eine dieser Geschichten heraus, die in Duisburg und Havanna, in Berlin und New York, in einem Hafen an Brasiliens Ostküste und auch auf DDR-Frachtschiffen spielen, die in der Welt unterwegs sind. Diese hier, die mit dem Krokodil, die spielt in der DDR und in London. Kaufmann, der auch als DDR-Bürger seinen australischen Reisepass behalten hatte, und daher in der Welt umherfahren konnte, war nach London gereist und hatte ein Versprechen im Gepäck. Und Versprechen haben für den Ich-Erzähler besondere Bedeutung: Wem nie versichert wurde, dass es in London, dieser Weltstadt, „weiß Gott alles gibt“, wird schwerlich mein Unbehagen nachempfinden können, als ich am Tag meines Rückflugs nach Berlin noch immer mit leeren Händen dastand. Für mich ist ein Versprechen ein Versprechen. Ich hatte Hans Albert Pederzani, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der im Kulturbund vereinigten Terrianer, ein Krokodil zugesagt und damals keinen Augenblick am Erfolg gezweifelt. „Nur ein kleines Exemplar, nicht größer als die Länge einer Hand“, hatte er mir aufgetragen, „du kannst es mühelos in einem Kistchen transportieren.“ Auf eine Karte hatte er die lateinische Bezeichnung des Reptils geschrieben - es durfte nicht irgendein Krokodil, sondern ein bestimmtes brasilianisches sein, und ich hatte die Karte zuversichtlich weggesteckt. „Jede größere Zoohandlung im Zentrum Londons wird die Sorte haben“, hatte er mir versichert. „Überhaupt kein Problem, du wirst mir und damit auch vielen Terrianern in der DDR die größte Freude machen!“ Spätestens nach dem Besuch der fünften Zoohandlung war mir klar geworden, dass Pederzanis Gewissheit jeder Grundlage entbehrte. Es gab zwar Krokodile, aber nirgends ein caiman crocodilus. Verwirrt, fußmüde und den Auftrag verfluchend, hatte ich mich schließlich in eine irische Kneipe am Piccadilly Circus gerettet. Dort gab es vortrefflichsten irischen Whisky und mitfühlende Iren, die auch nicht helfen können. Dann hat Kaufmann doch noch Glück. Mit einer Faust voll Wechselgeld, durchweg Pennies, zog ich mich schließlich in eine Telefonzelle zurück und erreichte von dort (nichtige Bestellung hin, nichtige Bestellung her!) eine Reihe mir noch unbekannter Zoohandlungen, die ich im Branchenbuch verzeichnet fand. Es waren nicht wenige und überall Absagen! Bis dann - o Wunder - in dem an die zwanzig Meilen entfernten Croyden eine freundliche Stimme verkündete: „Ja, auch ein caiman crocodilus - sogar drei von der Gattung. Ganz prächtige Jungtiere!“
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Seitenzahl: 151
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Walter Kaufmann
Kauf mir doch ein Krokodil
Geschichten
ISBN 978-3-86394-565-7 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1982 in der EDITION HOLZ im Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Als ich acht Jahre alt war, geriet ich einmal mit unserer Hausgehilfin Hilde, die ich liebte, so sehr in Streit, dass sie schließlich rief: „Nun aber genug! Du hast mir überhaupt nichts zu sagen - Adoptivkind, du!"
Ich verstummte. Etwas Unheimliches lag in dem Wort, dessen Bedeutung ich nicht verstand. Ich bedrängte meine Eltern, die sich aber auf keine Erklärung einließen - „später, Junge, wenn du älter bist." Ihr Ausweichen stimmte mich nachdenklich, noch nachdenklicher machte mich, dass die Mutter von Ungehörigkeit, ja geradezu einer Anmaßung der Hausgehilfin sprach. Was konnte sie nur so aufgebracht haben?
Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte und die Sache zu vergessen suchte. Fortan aber lag ein Schatten über meinem Verhältnis zu ihr - auch mein Verhältnis zu Hilde blieb getrübt, obwohl sie das Wort Adoptivkind in meinem Beisein nie wieder fallen ließ. Doch einmal vernommen, musste es jahrelang in mir nachgewirkt haben, denn als ich, fünfzehnjährig, mit einem Flüchtlingstransport jüdischer Kinder den Nazis entkommen konnte, sagte ich beim Abschied auf dem Bahnsteig zu meiner Mutter: „Brauchst nicht traurig sein - ich bin doch gar nicht dein Kind!"
Sie wird diese Worte bis zu ihrem tragischen Ende nicht verwunden haben - dabei wollte ich doch nur, dass sie meinen Verdacht endgültig beseitigt. Inzwischen aber weiß ich, dass sie das nicht konnte. Urkunden, die nach meiner Rückkehr aus der Emigration an mich gelangten, bestätigten, dass ich knapp drei Jahre nach meiner Geburt in Berlin von einem Ehepaar in Duisburg adoptiert worden bin.
„Ein Junge mit dem Namen hier in der Mulackstraße? Nicht dass ich wüsste!" Der kleine Mann in Schiebermütze und Lederjacke, der sich als Alfons Hinze vorgestellt hatte, Angestellter in einer Zoohandlung am Alexanderplatz, beäugte mich misstrauisch. „Dabei hab ich mein Leben lang hier gewohnt."
Nicht lang genug, sagte ich mir, zeigte aber doch auf das Haus, zu dem wir inzwischen gelangt waren - eine jener vielen Kriegsruinen, die es im fünfundfünfziger Jahr noch in Berlin gab. Nur der Keller des Hauses schien bewohnbar zu sein, schwaches rötliches Licht schimmerte durch den Vorhang eines der dicht über dem Bürgersteig liegenden Fenster.
„Dieses Haus war es wohl!"
„Muss vor meiner Zeit gewesen sein", sagte Hinze. „Die da noch wohnt aber, wohnt da schon ewig - und kennt auch jeden. Fragen wir sie doch." Schon wollte er an die Scheibe klopfen, da besann er sich. „Sie wird Besuch haben", sagte er.
Ich fragte, ob wir stören würden. Hinze nickte bedeutungsvoll. „Ist zwar nicht mehr die Jüngste, schafft aber noch immer an. Besser ist, wir warten."
Nieselregen fiel. Mich fröstelte in der kalten Novembernacht und dem viel zu leichten, noch aus Sydney stammenden Mantel. Ich zog die Schultern ein, schlug den Kragen hoch; auch dass ich die Hände in die Taschen schob, half wenig.
„Hocken wir uns doch eine Weile in die Kneipe Ecke Gormann", schlug Hinze vor. „Dort kommt sie immer mal hin."
„Könnte irgendwann sein."
„Ach was", meinte Hinze, „die taucht schon noch auf."
Wir waren erst beim zweiten Bier und Korn, als eine vollbusige Frau, die trotz ihres schlohweißen Haars kaum älter als fünfzig wirkte, die Kneipe betrat und an einem Ecktisch Platz nahm, an dem schon ein vierschrötiger Mann saß, den sie offensichtlich kannte. Ihr Gesicht war gerötet - nicht so sehr vom Wetter, schien mir, als von der reichlich aufgetragenen Schminke. Ringe glitzerten an ihren Händen, und als sie ihren Mantel abgestreift hatte, den sie hinter sich auf die Bank gleiten ließ, sah man auch eine Brosche an ihrer Seidenbluse glitzern. Hinze versuchte, die Frau zu uns herüberzuwinken, doch sie sah ihn nur an. Der Mann guckte unwirsch und reckte die Schultern dabei.
„Wäre richtig nett, wenn Sie mal herkämen", bat Hinze die Frau jetzt höflich. Mit einem kurzen Seitenblick holte er mein Einverständnis ein und wandte sich dann an den Wirt. „Eine Lage für drei!"
Die Frau ließ sich erweichen, sagte ein paar Worte zu dem Mann an ihrem Tisch und setzte sich dann zu uns - ihren Mantel ließ sie zurück. Sie musterte mich kurz.
„Auf Ihr Wohl!", rief Hinze.
„Wäre das alles?", fragte die Frau. „Oder was gibt's noch?"
Sie wartete. Hinze aber wirkte plötzlich befangen. Nur an mich gerichtet, sagte er: „Das ist sie. Erklären Sie's ihr doch selbst."
Ich zögerte. Hemmungen waren in mir aufgekommen. Ich verschanzte mich hinter Andeutungen. Vor dreißig Jahren habe in ihrem Haus mal ein Kind gelebt, nach dem ich jetzt suche.
Damit konnte sie nichts anfangen. „Wie soll es denn geheißen haben?", fragte sie.
Noch immer zögerte ich. Hinze fixierte mich noch misstrauischer als anfangs. Auf was hatte er sich da eingelassen? schien er zu fragen. Die Frau trank ihr Glas leer und stand auf.
„Was soll das?", meinte Hinze zu mir. „Kommen Sie doch endlich zur Sache!"
„Finde ich auch", sagte die Frau.
Ich überwand mich. Nicht um irgendein Kind ging es, sondern um eins, das Jizchak Filter hieß, bis es adoptiert wurde.
Die Frau setzte sich plötzlich. Es war, als könne sie stehend nicht ertragen, was sie da gehört hatte. Trotz ihrer Schminke war zu erkennen, dass sie blass wurde. Einen Augenblick lang schwieg sie, dann fragte sie: „Sind das etwa Sie?" Ich nickte. Da breitete sie impulsiv die Arme aus und presste mich an sich. „Mein Jizchak!", stieß sie hervor.
Der Geruch ihres Körpers, der sich mit dem Duft des süßlichen Parfüms vermischte, drängte sich vor jede andere Wahrnehmung meiner Sinne. Erst als ich mich von ihr befreit hatte und ihr in die Augen sah, durchfuhr es mich: Könnte das meine Mutter sein?
Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, wehrte sie ab und hob die Hände dabei. „Rachelas kleiner Jizchak!", beteuerte sie leise. „Nur Rachelas."
Hatte mich ihr Ausruf „mein Jizchak!" in Vermutungen gestürzt, so lösten jetzt der Name Rachela und das Wörtchen „nur" andere Überlegungen in mir aus - die Frau musste meine Mutter gekannt und sie auch um das Kind beneidet haben. Warum sonst dieses so wehmütige „nur"? Aus den Adoptionsurkunden ging hervor, dass zur Zeit meiner Geburt Rachela Filter eine siebzehnjährige ledige Verkäuferin gewesen war - um etliche Jahre jünger also als die Frau da vor mir. War es nicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass Rachela Hilfe und Rat bei ihr gesucht hatte? Als ich der Frau das andeutete, wurde ihr Ausdruck weich, ja geradezu mütterlich.
„Wie wäre Rachela denn sonst zurechtgekommen mit ihren siebzehn Jährchen?", sagte sie. „Ein Kind ... ihre Arbeit bei Tietz, und sie ganz allein in Berlin. Ja, sie hat mich schon gebraucht!"
„Und ihr Mann, der Vater des Kindes, wo war denn der?"
„Männer", entgegnete sie, wobei in der Betonung ein Leben voll Erfahrungen mitklang, „die Männer!"
„Könnte es sein, dass es mein wirklicher Vater war, der mich später adoptierte?"
„Wer auch immer", entgegnete sie unwirsch, „ich hab ihm die Pest gewünscht, weil er uns den Jizchak genommen hat - dich weggenommen hat. Fast drei Jahre warst du bei uns. Und dann auf einmal nicht mehr. Das war nicht nur schlimm für Rachela. Auch für mich war's schlimm."
Sie schwieg so lange, dass ich sie schließlich bitten musste, weiterzusprechen.
„Brauchst nicht Sie zu mir zu sagen, ich heiße Else", sagte sie. „Else Nowack. Du also bist der Jizchak!"
Es war, als könnte sie es noch immer nicht fassen.
„So heiße ich längst nicht mehr."
„Ich weiß, ich weiß!", rief die Frau. „Aber damals, als du noch bei mir unten in der Kellerwohnung auf der Fensterbank gesessen hast, riefen wir dich Jizchak."
Kindheitserinnerungen - mein Gott, ganz vage und sehr verschwommen erinnerte ich mich wirklich an eine Fensterbank mit Geranien und an Füße, die draußen auf dem Bürgersteig an mir vorübergezogen waren. Ich nickte stumm.
„Und was ist aus meiner Mutter geworden?", fragte ich dann.
„Sie war schön", rief die Frau und wich damit meiner Frage aus. „Rachela war schön und gut gewachsen. Dunkle Augen, dunkles Haar. Ja, sie war schön!"
„Was ist aus ihr geworden?", wiederholte ich.
„Oh", sagte die Frau und blickte jetzt verstört von mir weg. „Wir haben sie retten können. Es ist ihr nichts geschehen."
„Nichts geschehen", hörte ich da plötzlich den Mann vom Ecktisch rufen. „Was erzählst du da, Else!"
Ich erschrak. Einen Augenblick lang erwog ich, den Mann zu befragen, ließ es aber und setzte mich stattdessen so, dass die Frau mich anblicken musste.
„Ich vertrage die Wahrheit", versicherte ich ihr. „Also sag mir bitte, was aus meiner Mutter geworden ist!"
„Wir haben sie retten können", beteuerte sie wieder.
Da hielt es den Mann am Ecktisch nicht länger. Er schob hastig seinen Stuhl zurück, kam mit schweren Schritten auf mich zu und reichte mir die Hand.
„Du bist der Jizchak", sagte er, „aber ich bin der, der immer auf der Straße die Prügel gekriegt hat, weil ich nämlich aussah wie ein Jud."
Das zwang mich, ihn genau zu betrachten - es war denkbar, dass er in der Nazizeit wegen seiner krausen Haare, der dunklen Augen und der gebogenen Nase zu leiden hatte. Sosehr ich mich auch bemühte, erinnern konnte ich mich nicht an ihn. Wie sollte ich auch - das alles lag ja Jahrzehnte zurück!
„Sie kannten mich?"
„Klar kannte ich dich!"
„Und meine Mutter auch?"
„Auch", sagte er. „Und was die Else da erzählt, ist alles Mumpitz. Du wolltest doch die Wahrheit wissen - oder?" Er wandte sich an die Frau. „Jüdischer Friedhof in der Großen Hamburger - so war's doch, Else! Also, warum sagst du's ihm nicht?"
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Ist meine Mutter etwa dort begraben?", fragte ich.
„Nein!", schrie sie - es war zu spüren, dass sie litt.
„Von dort gingen doch die Transporte ab", meldete sich Hinze, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Er blickte unsicher in die Runde. „Von dort hat man doch die Juden ..."
„Das versteht er schon", unterbrach ihn der Mann, der zu uns getreten war.
„Wie könnte ich es nicht verstehen", erwiderte ich dumpf und dachte an meine Eltern, die von Duisburg den Weg nach Auschwitz gehen mussten - sie blieben meine Eltern, was auch immer ich jetzt über das Leben und Schicksal meiner wirklichen Mutter erfahren hatte.
„Woran denkst du?", fragte mich leise die Frau.
Ich sagte es ihr.
„Mein Gott", rief sie aus, „was waren das nur für Zeiten!"
„Blumen pflücken während der Fahrt verboten", sagte mein Vater.
Nicht einmal ein Lächeln konnte ich mir abringen. Ich starrte aus dem Abteilfenster und ließ die Landschaft an mir vorbeiziehen - schneebedeckte Alpenketten und in den Tälern Wiesen, auf denen bunt der Krokus blühte. Nicht ein Wölkchen trübte den strahlendblauen Himmel, das Gras und die Krokusblüten glänzten frisch in der Sonne. Doch in mir sah es trüb aus. Mit jedem Meter, den die stetig höher kletternde Zahnradbahn zurücklegte, wusste ich mich meinem Schicksal näher - dem Kinderheim! Dieses verruchte Kinderheim zwischen den bayrischen Bergen - Weißkäse mit Schnittlauch zum Frühstück und hartes, schwarzes Brot, Frühsport und Mittagsruhe, lange Fußmärsche und kurz nach dem Abendbrot - ja, auch dann wieder Käse, Lauch und hartes Brot! - die strenge Stille des Schlafsaals. Noch vor Einbruch der Dunkelheit lagen wir in den Betten, sechzehn Sechsjährige in einem Raum, acht unter den Fenstern, die anderen gegenüber an der kalkweißen Wand, und - mucksten uns nicht, wagten nicht, uns zu mucksen. Und das sollten Ferien sein! Für mich waren es keine gewesen und würden es auch diesmal keine werden, obwohl ich, jetzt drei Jahre älter, nicht zu fürchten brauchte, in diesen Schlafsaal verbannt zu werden.
„Was ist mit dir?", fragte mein Vater.
„Mir geht es gut", sagte ich.
„Mutter und ich werden dich sonntags besuchen", versprach er.
„Braucht ihr nicht", ließ ich ihn wissen.
Jetzt schwieg er. Mir war's recht so. Sollte ihn doch das Gewissen plagen. Er und die Mutter würden weiter in dem schönen Gasthaus wohnen, im großen Zimmer mit dem Blick auf den Bach und die Alpen - Frühstück auf der Veranda: Eier und Speck und würziger Kaffee, die fette Milch von den Kühen im Stall und das knusprig-braune, mit guter Butter bestrichene Brot. Sie würden wandern, wenn sie die Lust dazu hatten, oder in den Liegestühlen ruhen, und wenn die Sonne im Sinken war, würden sie einkehren in die Gaststube mit dem Edelweiß über der Tür und den Geweihen an den Wänden. Was die Bauern, die dort abends aus großen Krügen ihr schaumiges Bier tranken, zueinander sagten, hatte ich nie verstehen können. Doch es war gut gewesen, ihnen zuzuschauen, wenn sie an den rauen Holztischen würfelten oder Karten spielten, und gut, ihnen zuzuhören, wenn sie zur Zither ihre Lieder sangen. Ins Bett hatte ich immer erst später gemusst, zuweilen erst gegen elf - oh, diese Wonne, einschlafen zum Klang der Stimmen aus der Gaststube unten. Morgen, so hatte ich träumen können, wird mich Alfons, der Knecht, wieder in der Kutsche ausfahren, wenn's an der Zeit ist, neue Gäste vom Bahnhof zu holen oder abreisende dorthin zu bringen. Jetzt aber ... Was hatte ich eigentlich verbrochen, dass die Eltern sich wieder für dieses Kinderheim entschieden? Blumen pflücken während der Fahrt verboten - eine abgetakelte Floskel, für die mir jeder Sinn fehlte.
„Es kann nicht immer alles nach deinem Willen gehen", sagte mein Vater.
„Aber nach deinem", gab ich trotzig zurück.
„Allerdings!"
Ich sah ihn an. Jetzt hasste ich ihn. Was wusste er denn, wie's gewesen war. Ihn hatte keiner je in ein dunkles Blockhaus gesperrt, endlos lang und mitten am Tag -weshalb eigentlich war mir das passiert? Weil ich mal ein paar Worte geflüstert hatte während der Mittagsruhe? Ihm hatte auch keiner die Schokolade versagt (die eigene Schokolade!), während die anderen sich vor dem süßen Schrank anstellen durften und ihr Stück bekamen. Kein Schlafsaal je für ihn mit dieser Pritsche von einem Bett. Und auch kein fader weißer Käse mit Lauch.
„Nun hör mal gut zu!", sagte mein Vater.
Doch ich starrte schon wieder zum Fenster hinaus, blind für die Landschaft - blöde Berge, blöde Täler, und was für stumpfsinnige Biester sind diese Kühe auf den Wiesen!
„Steig ruhig aus und pflück Blumen", riet ich meinem Vater. „Ich finde schon allein hin. Weiß noch ganz gut wo's ist."
„Den Ton kannst du dir sparen!", sagte er.
„Ihr wollt mich doch beide bloß loswerden", entgegnete ich. Das Gesicht hielt ich abgewandt. Er sollte nicht sehen, wie ich mit den Tränen kämpfte.
„Das bildest du dir ein", sagte er. „Andere Kinder wären ..." „... froh und dankbar", fiel ich ihm ins Wort. „Richtig", sagte er.
„Bin ja so froh und dankbar", sagte ich leise. „Richtig froh und dankbar."
Und das Schlimmste war: Er schien es mir zu glauben - das war noch schlimmer als unser Abschied beim Tor des Kinderheims, diesem mit einer Kette gesicherten Eisentor, das mir so hoch schien wie ein Haus, und unüberwindlich dazu.
Zito war nicht mein Hund - doch als ich nach der Auswanderung meiner Vettern seine Pflege übernahm, betrachtete ich mich bald als sein Herrchen. Mir, und niemandem sonst, sollte jetzt dieser schöne, braunschwarze, oft preisgekrönte Schäferhund gehören. Weit mehr noch als die Preise aber beeindruckte mich, dass er mir aufs Wort parierte. Und wie geduldig er sich von mir zausen ließ, ohne je auch nur nach meiner Hand zu schnappen. Selbst wenn ich mich übermütig auf ihn warf, ihn balgend auf den Rücken rollte, biss er nicht zu, gab er nur, kam ich ihm gar zu bunt, ein warnendes Knurren von sich. Streichelte ich ihn dann, war er gleich wieder friedlich. In meinem zehnjährigen Leben hatte sich mir kein anderes Wesen so bedingungslos ergeben. Nach kurzer Zeit schon hätte ich mich eher von jedem meiner Freunde als von dem Hund getrennt. Ich liebte Zito. Was Wunder, dass ich bis heute die Leere nachempfinde, jene tiefe Traurigkeit, die mich befiel, als mich eines Tages kein freudiges Bellen mehr begrüßte. Wo war Zito, was war geschehen?
„Es ist über ihn verfügt worden", sagte mein Onkel.
Ich begriff diese Worte nicht. Und allein schon deswegen gab ich keine Ruhe, bis ich erfahren hatte, dass tags zuvor zwei Männer gekommen waren, um Zito abzuholen. Er sollte als Polizeihund abgerichtet werden. Zito - ein Polizeihund! Damit wollte und konnte ich mich nicht abfinden. War das nicht rückgängig zu machen? Irgendwie! Vielleicht half es, wenn ich hinlief und inständig um den Hund bat. Und so fragte ich schließlich den Onkel nach dem Aussehen der beiden Männer.
„Das musst du mir sagen, bitte!"
„Sie trugen Hüte und Ledermäntel mit Hakenkreuzen in den Aufschlägen."
Das schien mir eher eine Warnung als eine Beschreibung zu sein, und ich sagte verwirrt: „Und mit denen ist Zito einfach so mitgelaufen?"
„Am Ende schon", erwiderte mein Onkel, und dann deutete er auch an, wohin sie den Hund gebracht hätten. „Nach Essen, wie ich hörte."
„So weit!", rief ich. Nur einmal war ich in diese Stadt gekommen, nach einer schier endlosen Zugreise durch düstere Industrielandschaften mit rauchenden Schloten, und der Gedanke, dass Zito nun irgendwo zwischen Bergwerken und Fabriken verschollen war, bestürzte mich. „Dort finde ich ihn nie!"
„Es hat ja auch keinen Sinn", meinte mein Onkel.
Vorwurfsvoll sah ich ihn an. Dann aber verriet mir sein Mienenspiel, dass er sich nicht hatte fügen wollen, sondern fügen müssen - etwas von der Macht, die es den beiden Männern ermöglicht hatte, Zito abzuholen, hatte sich auch auf mich übertragen. Wortlos wandte ich mich ab und hockte mich auf die Hundehütte neben dem Haus. Ich weinte nicht, ich starrte ins Nichts und dachte so sehnsüchtig an Zito, dass ich glaubte, ein Winseln zu hören und zu sehen, wie der Hund die Schnauze hob und mich mit leicht geneigtem Kopf musterte. Als ich ihm zurief, spitzte er die Ohren. Und dann liefen wir wie gewohnt aus meines Onkels Garten bis hin zum botanischen Garten und in den Stadtwald hinein. Zito hielt sich dicht an meiner Seite, leichtfüßig und locker auf Wegen, über denen die Blätter im Winde rauschten. Wir liefen, bis wir das Waldhäuschen erreicht hatten, in dem wir unterschlüpften. Hier sind wir sicher, stieß ich atemlos hervor. Der Hund schien mich zu verstehen, er presste sich an mich, und ich barg meinen Kopf in seinem Fell. Jetzt erst kamen mir die Tränen. Denn ich fühlte ja nichts, roch nichts, vernahm nicht den leisesten Hundelaut. Die Vision von Zito zerstob. Es gab keinen Zito mehr, kein Balgen auf der Wiese mit ihm, keine Jagd durch den Wald, und niemals mehr würde er für mich über Zäune und Gräben setzen oder, kraftvoll schwimmend vor der weit gezogenen V-Spur seiner Rute, auf dem Fluss einen Stock apportieren. Er war unter die Fuchtel geraten - endgültig! Mit der Peitsche oder mit Tritten gar würden sie ihn abrichten, bis er ein Polizeihund und nicht mehr mein Zito war. Essen! Wie weit entfernt war diese Stadt, wo sollte ich ihn suchen, und was war auszurichten gegen Männer mit Hakenkreuzen in den Aufschlägen von Ledermänteln!
Doch dann - schwacher Mensch, starkes Tier! -, nach vier langen Tagen, als längst auch ich mich jener ruchlosen Verfügung unterworfen hatte ...
„Zito, bist du das? Bist das wirklich du?"