Begegnung mit Amerika heute (1965) - Walter Kaufmann - E-Book

Begegnung mit Amerika heute (1965) E-Book

Walter Kaufmann

0,0

Beschreibung

Die USA nach dem Mord an John F. Kennedy, im Zeichen der Präsidentschaftswahlen und der Bürgerrechtsreform – Walter Kaufmann, ein vorzüglicher Kenner der englischsprechenden Welt, durchreiste die Vereinigten Staaten 1964 erneut und berichtet über seine Erlebnisse in der Steinwüste der New Yorker City, in der Künstlerboheme von Manhattan, im brodelnden Negerviertel Harlem, in dem größten, automatisierten Werk der General Electric in Louisville, auf den Farmen zwischen Atlanta und Albany im Staate Georgia, erzählt von den „schwarzen Moslems“ und einer mutigen Studentin aus Connecticut, die sich vor dem Gericht des weißen Mobs in Atlanta verantworten muss – er zeichnet das Bild eines reichen und schönen Landes, dessen Bewohner durch eine ebenso primitive wie aktive Minderheit in den Strudel offener Gewalttätigkeiten gezerrt werden sollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Walter Kaufmann

Begegnung mit Amerika heute (1965)

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik

ISBN 978-3-96521-294-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto des Autors: Barbara Meffert

Das Buch erschien erstmals 1965 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

www.edition-digital.de

Erster Satz

Unter dem dumpfen Röhren der Nebelhörner gleitet der Ozeanriese an der Freiheitsstatue vorbei nordwärts in die Mündung des Hudson. Der aufgewühlte Fluss schlägt gegen die Rümpfe der Frachter an den Kais von Manhattan und Jersey City, wo kreischende Kräne Frachten aus den Laderäumen hieven: Kaffee aus Brasilien, Gummi aus Sumatra, Bananen aus Costa Rica … Unsichtbare Fähren treiben tutend auf Hoboken und Weehawken zu. Allmählich verschwindet die Silhouette des Ozeandampfers im Nebel, die gespenstischen Rufe der Nebelhörner übertönen den Lärm des Hafens und steigern die Spannung der Passagiere – des farbigen Musikers, der aus Paris wiederkommt, des Werkzeugmachers aus Dortmund, der als Auswanderer Zwischendeck reist, des schwedischen Professors der Soziologie, der amerikanischen Millionärswitwe, die zu ihrer Zimmerflucht im Waldorf-Astoria zurückkehrt …

Hinter den Kaianlagen von New Jersey, weit drinnen im Land, rasen die Schnellzüge aus Waco, Mobile, Los Angeles, Kansas City pfeifend durch nebelverhangene Ebenen, Manhatten entgegen. Westlich des Hudson donnern sie in die Tunnel tief unter dem Fluss, tauchen inmitten ragender Wolkenkratzer wieder auf – Grand Central und Pennsylvania Railroad Station. Bald werden der angehende junge Schriftsteller aus Gary, die hübscheste Schauspielerin des Dramatischen Klubs von Erie, der Bankangestellte aus der Provinz, dessen Ziel Wall Street ist, der tüchtige Mechaniker aus Buffalo – einige Neuankömmlinge unter ungezählten anderen – sich in dem riesigen Labyrinth aus Glas und Beton im Herzen der Stadt verlieren.

Überall in Manhattan gehen müde Nachtarbeiter, Wächter, Kellnerinnen, Drucker, Barmädchen, Docker, Postangestellte nach Hause. Ein Sprengwagen rollt über den Asphalt. In einem Dutzend Nachtklubs spielen noch die Bands. In der oberen East Side, in der oberen West Side, rings um den Union Square, in Chelsea und Greenwich Village schreckt das schrille, unbarmherzige Läuten der Wecker die Schlafenden auf. Ein neuer Tag, ein neuer Dollar. Vergiss nicht, meinen Anzug in die Reinigung zu geben, und bring von Macy ein paar Hemden aus dem Ausverkauf mit …

Mit zunehmender Helligkeit füllen sich die Straßen. In Bussen und U-Bahn-Zügen strömen eine Million, zwei, drei Millionen Menschen durch die Stadt zur Arbeit – die Gesichter von New York; italienische, mexikanische, jüdische, schwarze, irische, deutsche, puertorikanische … Schritte auf Granit, hohe Absätze, flache Absätze – ihr Geräusch verschmilzt mit dem anschwellenden Verkehrslärm. Am bleigrauen Himmel schießt ein Düsenflugzeug gen Westen, zieht einen Silberstreifen durch den Nebel. Unter der Erde schwanken donnernd U-Bahn-Züge über Stahlgleise, rasen durch die Tunnels – Crosstown von Queens her, Shuttle zum Times Square, die Broadway-Linie nach South Ferry – einmal quer durch Manhattan innerhalb einer Stunde. Greif dir eine Tasse Kaffee und renne los! Frühstück zwischen zwei Zügen. Draußen, auf der Fifth Avenue, geht die Stimme eines Mädchens im Heulen der Sirenen unter – er war mit mir im Rainbow Room, und es wurde so spät, dass wir im Taxi nach Hause fahren mussten –, geht unter im Kreischen der Autobremsen.

Die aufgehende Sonne enthüllt die Spitze des Empire State Building, die Türme des Rockefeller Centre, des Chrysler-Gebäudes, den Hubschrauber-Flugplatz der Pan American über Grand Central Station. Bald erstrahlen die oberen Stockwerke des Hotels und Apartement-Häuser in der Park Avenue im Licht, die Morgensonne spiegelt sich in zahllosen Fenstern, dringt durch die Luken der Dächer. Unten in den Straßenschluchten eilen die Menschen noch im Zwielicht dahin, verschwinden in den Gebäuden, als wollten sie dem Verkehr entfliehen, drängen sich in die Fahrstühle, die zum zehnten, dreißigsten, sechzigsten Stock aufsteigen und in Sekunden wieder unten sind. In einem Büro nehmen sechzig junge Stenotypistinnen die Schutzhüllen von sechzig Schreibmaschinen. Diese Schuhe bringen mich noch um, sagt eine und setzt sich. Habt ihr von dem Flugzeugunglück gelesen? Was sie auf der einen Seite verlieren, kommt auf der anderen wieder ein – Eisenbahnaktien steigen. Die Fenster klirren – war das wieder ein Düsenflugzeug, oder wird der alte, halbverfallene Speicher gesprengt, um Platz zu schaffen – wofür? Für ein Warenhaus, ein neues Hotel, eine Bank, eine Versicherungsgesellschaft …

In Harlem, in der 125. Straße, kaum einen Häuserblock östlich der Eighth Avenue, bleibt der Negermusiker ein paar Augenblicke vor dem Apollo-Theater stehen, betrachtet die Fotos in den Schaukästen, studiert den Programmzettel, fragt sich, wie man wohl am besten Eindruck macht auf die Weißen in der Direktion – zehn Jahre Paris scheinen ihm plötzlich fast eine Lebenszeit: Neue Sterne sind aufgegangen, neue Namen. Werden sie mir da überhaupt eine Chance geben? – Der Werkzeugmacher, Auswanderer aus Dortmund, schleppt seinen Kunstlederkoffer durch den Central Park über die Lexington Avenue, die Third Avenue, die Second Avenue zum Ostende der 86. Straße. Zuweilen fühlt er sich in die Heimat zurückversetzt – seine Umgebung ist eine seltsame Mischung von New York und Dortmund: Die niedrigen, hässlichen braunen Sandsteinhäuser enden an einer altdeutsch aufgemachten Eckkneipe, „Heidelberger Fass“; eine andere Kneipe, „Im kühlen Grunde“, hat deutsche Bierkrüge im Fenster. An den Kiosken kann man deutsche Zeitungen kaufen. Frakturschrift auf den Schildern über den Feinkostgeschäften – SCHÄFERS DELICATESSEN auf den sauberen Kacheln im Schaufenster Bockwurst, Mettwurst, Leberwurst, Knackwurst, Blutwurst. Ein Stück weiter eine Musikalienhandlung: deutsche Schallplatten. Hansa Lloyd Reisebüro: Fotografien von bayrischen Berglandschaften, von Schlössern am Rhein … Er stellt den Koffer hin, fragt auf deutsch nach dem Weg. Hör zu, old man, die Sprache versteh ich nicht, frag doch einen von den Krauts! – Der schwedische Soziologe hat den Ozeandampfer noch nicht verlassen – in einem Salon des Schiffes beantwortet er Fragen von Korrespondenten der „Nation“, der „New Republic“, des „National Guardian“. Es kann nicht meine Aufgabe sein, den Wahrheitsgehalt der Behauptung zu untersuchen, dass ein einzelner Mann, Lee Oswald, den Präsidenten erschossen habe, erklärt er in tadellosem Englisch; das ist Sache des FBI. Was mich interessiert, ist das moralische und soziale Klima, das diese Tragödie möglich machte. – Im Schlafzimmer der Millionärswitwe, in ihrem Luxusapartement in einem der Türme des Waldorf-Astoria, zieht die Zofe die schweren Chintzvorhänge an den Fenstern zu: erloschen das Sonnenlicht, versperrt der Blick auf die Gartenterrasse, gedämpft das Tosen der Stadt. Stille. Der Raum liegt im Halbdunkel. Wünschen Sie noch etwas, Madam, bevor ich gehe? – Nein, meine Liebe. Es war alles etwas viel für einen Morgen. Ich bin ganz erschöpft – und so müde! Ich könnte jetzt nichts und niemanden mehr ertragen, nicht jetzt, keinesfalls in den nächsten Stunden …

Der Doktor Becker, der als Beruf author angegeben, wird gefragt, was er denn für ein Schriftsteller sei.

„Novellen und Romane schreibe ich.“

„Und Politik?“

„Not at all!“, erwidert er lächelnd.

So darf er hinunter in die Landungshalle, hinein nach Amerika.

Egon Erwin Kisch: „Paradies Amerika“

Unser Autor – er wird nicht versuchen, sich hinter ein Pseudonym zu verbergen – brauchte keine derartigen Fragen zu beantworten, als er am ersten Mittwoch im Februar 1964 auf dem John-F.-Kennedy-Flugplatz in New York dem freundlichen, älteren Einwanderungsbeamten gegenüberstand. Sein Pass war in Ordnung, sein amerikanisches Visum ebenfalls. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Wenn man ihn im letzten Augenblick noch zurückschickte? Er war ja nicht irgendein Tourist: Die Ereignisse in Dallas hatten ihn zu dieser Reise veranlasst, und wenn er auch nicht vorhatte, etwas über die Hintergründe des Mordes an Kennedy zu schreiben (darüber war in Europa ausgiebig berichtet worden), so wollte er doch das Leben in Amerika schildern, wie er es sah.

„Der Zweck Ihres Besuches?“, wurde er von dem Einwanderungsbeamten gefragt.

„Ein kurzer Aufenthalt in den Staaten“, antwortete er unverbindlich.

„Wie lange gedenken Sie zu bleiben?“

„Ungefähr vier Wochen.“

Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass sein Visum früher ablief – doch Amerika nahm ihn mit Gleichmut auf. Der Einwanderungsbeamte empfahl ihm lediglich, das Visum so bald wie möglich verlängern zu lassen; es sei immer gut, sich für alle Fälle zu sichern – er könnte krank werden, oder andere unvorhergesehene Ereignisse könnten ihn aufhalten. Und auch für spätere Reisen sei es besser.

Damit durfte unser Autor zur Zollabfertigung weitergehen, wo ihm Sekunden später seine Koffer auf einer Gleitbahn entgegenkamen. Praktische kleine Karren standen bereit, mit denen er sein Gepäck zu einem Förderband fuhr, das es zum Ausgang weitertransportierte. Nach einer flüchtigen Kontrolle wurde er schließlich in eine riesige Halle entlassen – und glaubte in einen Basar geraten zu sein. Er sah schreiende Leuchtreklamen, Läden, Zeitungsstände, Glasschaukästen, Reisebüros, Auskunftsschalter und Büros der Flugverkehrsgesellschaften, und überall wimmelte es von Menschen. Unzählige Türen führten in alle Richtungen, Fahrstühle glitten in obere Stockwerke, und Rolltreppen verschwanden nach unten. Doch gelangte er schneller, als er es für möglich gehalten hätte, ins Freie und fand sich einem Strom von Taxis und langen Reihen von Autobussen gegenüber: Willkommen in New York, Fremder, fahr nur herum und lass dich beeindrucken!

Er stieg in einen Bus und hatte nach wenigen Minuten das Flughafengelände mit seinen Kontrolltürmen, den unter dem Motorenlärm erdröhnenden Rollbahnen, den von fieberhafter Geschäftigkeit erfüllten modernen Gebäuden, den gewundenen Straßen und dicht besetzten Parkplätzen hinter sich gelassen. Er fuhr aufs Geratewohl in Richtung Manhattan und überließ sich ganz den Eindrücken des Augenblicks – ohne zu ahnen, dass er kaum vierzehn Tage später wieder hier sein und durch ein Labyrinth von Gängen („Folgen Sie dem grünen Licht … Folgen Sie dem roten … Versichern Sie Ihr Leben für einen Dollar …“) einem Flugzeug zustreben würde, das Anschluss nach Louisville, Kentucky, hatte.

In Louisville, wo er rasende Zahnschmerzen bekam, die ihn für unbestimmte Zeit aufzuhalten drohten, erinnerte er sich dankbar an den ersten Amerikaner, mit dem er auf amerikanischem Boden gesprochen hatte – an jenen wohlmeinenden Einwanderungsbeamten, für den er ein gewöhnlicher Tourist unter Millionen anderen gewesen war …

Doch unser Autor greift vor: Es ist wohl besser, wenn er seine vielen und sehr verschiedenartigen Erlebnisse in den Vereinigten Staaten der Reihe nach erzählt.

Nachrichten

Drei Neger wurden durch Schrotladungen verwundet, als die Polizei gegen Demonstranten vorging … Jack Rubys Anwalt will während des Mordprozesses im Gerichtssaal die Zurechnungsfähigkeit seines Mandanten untersuchen lassen … „Er hat mir leid getan“, versuchte Mrs. Oswald einem Freund gegenüber ihre Heirat zu begründen. „Er war überall unbeliebt – sogar in Russland.“ … Geld ist, was man dafür kaufen kann – Kleidung, Essen, Autos, Versicherungspolicen. Oder noch mehr Geld … Auf der Straße wälzten sich Neger vor den Gefangenenwagen, Polizisten führten Demonstranten ins Gefängnis ab, und Weiße und Schwarze fluchten und gingen mit den Fäusten aufeinander los … John-Fitzgerald-Kennedy-Amulette aus 14-karätigem Gold (ab 10,95 Dollar) sind ein bleibendes Andenken an einen großen Präsidenten. Wir senden sie Ihnen gern mit der Post zu – Amulette & Souvenirs, 1201, Avenue of the Americas, New York 36, New York … Der neunzehnjährige Pfadfinderführer Augustus Paino, der von dem sechzehnjährigen Salvatore Ortiz, Anführer der Miracle Diamonds, erstochen wurde, war als Bandensprenger bekannt … Das John-F.-Kennedy-Gedächtnis-Nummemschild mit dem berühmten Ausspruch des Präsidenten: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frag, was du für dein Land tun kannst!“ ist für den Staat New York zugelassen und passt auf Ihre Stoßstange. Schicken Sie 3 Dollar zuzüglich 50 Cents für Porto ein …

Der Bus fährt auf einer Schnellstraße durch einen unscheinbaren, ziemlich düsteren Vorort, der streckenweise hinter langen Reklamewänden verborgen liegt. Auf den Plakaten preisen lächelnde Frauen mit überdimensionalen Busen alle möglichen Waren an. Riesige Aufschriften verkünden prahlerische Superlative. Der Bus kommt am Gelände der Weltausstellung vorbei, über dem das Gerüst für einen enormen Globus ragt, dann rollen seine schweren Reifen über das Betonpflaster durch den jetzt dichteren Verkehr dem westlichen Teil des Stadtbezirks Queens zu – rechts eine Industrielandschaft, links ein öliger Fluss, auf dem treiben Schiffe aller Art, und ganz weit vorn Überspannen gewaltige Brücken einen Strom. Plötzlich taucht der Bus in einen Tunnel unter, und das flüchtige Bild der Insel Manhattan mit den im Sonnenlicht leuchtenden Silhouetten der Hochhäuser hinter dem östlichen Ufer verschwindet wie eine Traumvision: Es ist, als hätte eine übernatürliche Macht die Stadt unter die Erde versinken lassen. Der Bus rollt weiter, und die Gesichter der Fahrgäste wirken jetzt fahl in dem gelben gespenstischen Neonlicht. Das Dröhnen des Motors wird von den Wänden des Tunnels zurückgeworfen, und der Lärm wird erst erträglicher, als der Bus in den East Side Airline Terminal auf der First Avenue hineinfährt.

Ich werde zu einer Rolltreppe verwiesen, die mich in eine unterirdische Halle bringt, und frage mich, wohin der schwarze Dienstmann mit der roten Mütze mit meinen Koffern verschwunden sein mag – die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Ich zünde mir eine Zigarette an, dann folge ich dem Beispiel der Menschen ringsum und ziehe eine Nummer aus einem Automaten. Nun bin ich berechtigt, eines der vielen Taxis zu benutzen, die wie Raubvögel aus dem Licht die Einfahrt entlanggeschossen kommen. Die Anzahl der Wartenden verringert sich. Bald werde ich an der Reihe sein. Aber was nützt mir ein Taxi, solange ich mein Gepäck nicht wiederhabe! Außerdem weiß ich nicht, wohin ich eigentlich will. Eins nach dem anderen, denke ich erleichtert, als ich den Dienstmann erspähe, der breit grinsend meine Koffer eine Rampe herunterrollt.

„Bitte, Sir.“

„Vielen Dank.“

Ich gebe ihm einen Vierteldollar Trinkgeld, er wirft einen Blick auf meine Nummer und reißt bei dem Aufruf „87!“ die Tür eines Taxis auf, das neben uns gehalten hat. Ich trete meine Zigarette aus, und da kommt mir der Gedanke, dass es doch sicher ein Hotel „Peter Stuyvesant“ gibt – nach dem Mann benannt, der 1653 New York gegründet und Jahrhunderte später meiner Zigarettenmarke seinen Namen geliehen hat.

„Kann sein“, meint der Fahrer auf meine Frage hin und beginnt in einem Adressbuch zu blättern. „Na so was – das gibt’s tatsächlich, in der sechsundachtzigsten Straße, am Central Park. Wollen Sie dorthin?“

„Ja.“

Und so kommt es, dass ich an diesem kalten, strahlenden Februarnachmittag gegen vier Uhr durch Wolkenkratzerschluchten in den Westen von Manhattan fahre – froh, ein Ziel gefunden zu haben, dem der Taxifahrer jetzt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entgegensteuert. Er ist ein stämmiger Mann in den Fünfzigern, und ein am Armaturenbrett angebrachtes Lizenzschild verrät mir seinen Namen: Sydney Enders. Wie die meisten seines Berufs erweist er sich als gesprächiger Mensch, der bereitwillig jede meiner Fragen beantwortet, obwohl der brodelnde Verkehr seine ständige Aufmerksamkeit erfordert.

„Das war wirklich ’n starkes Stück, wie dieser Verrückte den Präsidenten abgeknallt hat“, sagt er und schiebt nachlässig die Schirmmütze aus der Stirn, so dass ich im Rückspiegel sein zerfurchtes Gesicht betrachten kann. „Oder vielleicht war der Oswald auch gar nicht verrückt, vielleicht war er einer von denen, die für ’ne Idee leben und sie mit Gewalt durchsetzen wollen. Immerhin, es war ’n starkes Stück. Und was den Ruby angeht: armer Kerl, ich glaub nicht, dass er noch ’ne Chance hat, wo doch hundert Millionen Menschen gesehen haben, wie er auf den Oswald zielte. Der Ruby muss rösten – daran gibt’s keinen Zweifel! Blödsinn! Die Polizisten haben den Mann nicht festgehalten, damit der Ruby ihn umlegen kann, sie haben ihn für die Fernsehkameras festgehalten. Die Polizei wusste ja gar nicht, dass der Ruby da war. Und er wäre auch niemandem aufgefallen – wo er doch dort im Gefängnis ein und aus gegangen ist und sozusagen zum Inventar gehörte. Ja, Bruder, da fragen Sie mich zu viel: Ich war für Kennedy und auch wieder nicht. Jedenfalls hab ich ihn nicht gewählt. Ich hab meine Stimme für Nixon abgegeben, weil ich dachte, er ist der bessere Mann – mit mehr Erfahrung und mehr Praxis. Aber nach ’ner Weile war ich zufrieden mit John, er machte seine Sache ganz gut. Was nicht heißen soll, dass ich etwa drei Dollars für eins von diesen albernen J.-F.-K.-Nummernschildern ausspucke, für die sie jetzt überall Reklame machen. Der Spruch da drauf klingt recht gut, solange man nicht genauer hinsieht. Mich interessiert schließlich nur das eine: Was kann mein Land für mich tun? Ich will arbeiten und essen, und ich will, dass auch alle andern arbeiten und essen können. Weiter interessiert mich nichts … Aber sagen Sie mal, warum kommen Sie ausgerechnet um diese Jahreszeit nach New York? Jetzt ist es doch viel zu kalt in unserm Städtchen! Fahren Sie lieber nach Florida, da ist’s richtig! Im März will ich selbst dorthin: kostet vierzig Dollar in bar und den Rest auf Raten. Bei uns kriegen Sie alles auf Raten, sogar ’ne Reise nach Florida. Ja, meine Frau nehm ich mit, wenn ich auch nicht weiß, wozu: In Miami gibt’s genug Frauen. Aber hol’s der Teufel, man ist schließlich nicht mehr der Jüngste, also nehm ich eben meine Alte mit. Jugend, Bruder, ist das einzige, was noch zählt in dieser Welt. Jugend – und Geld!“

Er bringt das Taxi vor dem Hotel zum Stehen. Es ist ein mehrstöckiges Eckhaus gegenüber von einem Park – für meine Begriffe recht ansprechend, aber ihm scheint es kaum zu imponieren.

„Nie was von der Bude gehört“, sagt er abfällig. „Wie sind Sie nur darauf verfallen?“

Ich zeige ihm meine Zigarettenpackung, und er lacht. „Ist vermutlich auch nicht schlechter als irgendein anderes Hotel“, räumt er ein, während er das Fahrgeld kassiert. „So long!“

Er fährt an, und bevor noch die Ampeln Grün zeigen, braust er um die Ecke, nach Süden, zu den zerklüfteten Türmen hin – es sind die Spitzen der Wolkenkratzer im Zentrum von Manhattan, die, jetzt mächtiger und realer wirkend als vorhin von Queens aus, durch das Zwielicht der untergehenden Sonne gen Himmel ragen.

Der Marathonläufer hat das Zielband durchrissen – so schnell er konnte, hat er die vorgeschriebene Strecke zurückgelegt (von Berlin nach London und von London über den Atlantik), und nun wollen ihm die Beine den Dienst versagen, sein Körper hat jegliche Spannkraft verloren. Doch seine Sinne sind überwach. Er hört den tosenden Lärm der Menschenmenge (das ist der Fünf-Uhr-Hochbetrieb am Central Park), er sieht in der Ferne eine Million Fackeln aufflammen (das sind die Neonlichter an den Häuserfassaden der Innenstadt und über den Dächern der Apartment-Hochhäuser im Süden), und von weitem vernimmt er ein rollendes Donnern (das sind die U-Bahn-Züge, die durch die Tunnels tief unter dem Hotel rasen).

Obwohl mein Zimmer hoch über der Straße im siebenten Stock liegt, spüre ich den heißen Atem der Metropole New York bis hierher; die Stadt ist allgegenwärtig, die Luft ist förmlich mit Spannung geladen. Und als ich, auf dem Bett ausgestreckt, mich allen Eindrücken verschließe und gerade einschlafen will, reißt sie mich mit einem durchdringenden Geheul aufs neue in ihren Bann. Ich fahre auf, stürze ans Fenster, schiebe es hoch und sehe das blinkende Blaulicht eines Polizeiautos, das mit gellender Sirene durch den Verkehr schießt. Ich ziehe das Fenster wieder herunter, und das Heulen klingt allmählich ab. Aber es hat eine Unruhe in mir wachgerufen, die mich bald danach aus meinem Zimmer heraus wieder auf die Straße treibt. Was suche ich dort? Etwas zu essen, ja, denn ich bin hungrig, vor allem aber die Antwort auf eine Frage, die mich beschäftigt, seit ich dieses Hotel betreten habe.

Was bedeutet das nicht zu übersehende Schild an der Eingangstür zur Halle: „Dieses Haus steht unter Kontrolle. Polizeipräsidium New York.“ Warum hat ein Polizist in der Halle Posten bezogen? Warum war der Empfangschef so sehr bemüht gewesen, mir dieses große, modern eingerichtete, helle und gut geheizte Zimmer für einen Bruchteil des normalen Preises zu vermieten? Von ihm, einem kleinen polnischen Juden, der eine Mischung von schlechtem Englisch und noch schlechterem Deutsch sprach, hatte ich ebenso wenig erfahren können wie von dem Schwarzen, der den Lift bediente, oder dem Mädchen in der Telefonzentrale. Und der Polizist hatte mich nur verdrossen gemustert und dann in die Luft gestarrt.

Doch eine Stunde später treffe ich diesen Polizisten, einen gutgewachsenen jungen Burschen mit frischem Gesicht, in einer Cafeteria unweit des Hotels wieder. Bei meinem Eintreten springt der farbige Koch, der vor dem Büfett auf einem Stuhl vor sich hin gedöst hatte, auf und sprudelt hastig hervor, als ob er mir diese Erklärung schuldig wäre, dass er nicht die ganze Zeit in der Küche stehen könne, weil der Fußboden dort zu nass sei. „Sofort, Sir!“, verspricht er, nachdem ich meine Bestellung aufgegeben habe, und eilt hinaus. Ich setze mich zu dem Polizisten an den Tisch.

„Guten Abend.“

„Guten Tag auch.“

Wir kommen bald ins Gespräch, und als er merkt, dass er mit mir auch über Sport reden kann, wird er zugänglich. Sport ist das Hobby des Polizisten – es gibt keinen Spitzensportler, dessen Rekorde er nicht auf Anhieb herunterrasseln könnte, sei es ein Russe, ein Australier oder ein Amerikaner …

Schließlich wechsle ich das Thema. „Sagen Sie mal, was bedeutet eigentlich das Schild an der Eingangstür des ‚Peter Stuyvesant‘?“

Ich kann ihm seine Gedanken förmlich vom Gesicht ablesen: Was ist denn der für ein Greenhorn! „Genau das, was draufsteht“, erwidert er. „Das Haus steht unter Kontrolle.“

„Warum?“

„Weil wir vor kurzem in einer Nacht fünf Weiber dort rausgeholt haben!“

„Und jetzt wird das Hotel Tag und Nacht von der Polizei bewacht?“

„Ja. Bis Sonntag.“

„Das ist sicher schlecht fürs Geschäft.“

„Was geht mich denen ihr Geschäft an!“, entgegnet er mit schärfer werdender Stimme. „Ich weiß nur, dass es verdammt schlecht für mich ist.“

Und er versucht, mir wortreich zu beweisen, wie zwecklos es sei, dieses Hotel zu bewachen, und wie langweilig: Man darf nicht einmal Zeitung lesen, geschweige denn sich mit jemandem unterhalten. Man muss da herumsitzen und die Daumen drehen, und die Zeit schleicht. Und das alles wegen lächerlicher fünf Nutten, was doch überhaupt keine Zahl ist, wenn man bedenkt, dass das Hotel 128 Zimmer hat!

„Hol’s der Teufel, ich könnte jetzt meine Runde machen, mit ein paar Leuten reden, vielleicht sogar einen oder zwei Kerle festnehmen …“ Er bricht ab. „Na ja, das geht auch vorüber. Am Sonntag ist Schluss.“

Wir sprechen wieder vom Sport. Er weist mich auf einige Veranstaltungen im Madison Square Garden hin, die ich auf keinen Fall versäumen dürfte.

„Sind Sie ganz allein in New York?“, erkundigt er sich dann.

Ich nicke.

„Kein Mädchen?“

„Nein.“

Sein Gesicht nimmt einen mitfühlenden Ausdruck an. „Für ein bisschen Geld können Sie ganz nette Puppen haben“, klärt er mich auf. „Fünfzehn Dollar, vielleicht auch zwanzig – die besseren Sachen kosten fünfzig.“

Ich schaue ihn an. Er lacht. „So ist es eben hier. Wenn Sie ein paar Telefonnummern haben wollen …“

„Im Augenblick will ich nichts als schlafen“, antworte ich. Plötzlich hat mich eine bleierne Müdigkeit überfallen – ich bin so müde, dass ich mich kaum dazu aufraffen kann, die warme Cafeteria zu verlassen und zehn Minuten durch die kalte Nacht zu laufen, zurück in mein unter polizeilicher Kontrolle stehendes Hotel.

Ich erhebe mich. „Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Das ist richtig“, sagt der Polizist. „Na, dann schlafen Sie mal gut!“

Sie ist siebzig Jahre alt und stammt aus Wien, aber jetzt verkauft sie schon seit zwanzig Jahren Zeitungen in der Halle des „Peter Stuyvesant“ – eine lebhafte kleine Frau trotz ihres hohen Alters, wenn auch im Augenblick etwas beunruhigt durch die Ereignisse, die zur Überwachung des Hotels geführt haben.

„Als ich damals herkam, war hier alles viel vornehmer“, vertraut sie mir mit einem verstohlenen Blick auf den Polizeiposten neben der Tür an. „Das ganze Haus war mit Teppichen ausgelegt, und wir hatten einen Portier in Uniform, und in der Bar spielte eine Musikkapelle zum Tanz.“

„Ein uniformierter Portier ist zweifellos angenehmer als ein uniformierter Polizist.“

„Da haben Sie recht! Wir hatten immer nur die beste Kundschaft – in der Halle sah man stets die elegantesten Menschen aus aller Welt. Aber vielleicht wird es wieder wie früher, wenn erst die Weltausstellung eröffnet ist. Werden Sie dann noch hier sein?“

„Ich glaube kaum.“

„Wie schade! Nun, welche Zeitungen wünschen Sie? Ich kann sie Ihnen alle aufs Zimmer schicken lassen.“

Ich mache meine Bestellung für die nächsten Tage und kaufe dann ein Exemplar von jeder Publikation, die sie an diesem Morgen anzubieten hat. „Natürlich kann ich das nicht immer tun.“

„Gewiss nicht, aber es ist nett von Ihnen, dass Sie mir so viel abnehmen. Das Geschäft war schlecht in den letzten Tagen.“

Eifrig, mit geschickten Fingern, legt sie die von mir ausgesuchten Zeitungen zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Eine Strähne ihres weißen Haares fällt ihr dabei in die Stirn, und sie schiebt sie zurück, dann rückt sie den Spitzenkragen ihres hochgeschlossenen Kleides zurecht, bevor sie sich wieder hinsetzt.