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Ein Kaleidoskop, dessen Name aus dem Griechischen stammt, ist im engeren Sinne ein optisches Gerät, das auch gern als Kinderspielzeug Verwendung findet. In einem weiteren Sinne kann es aber auch als Betrachtungsmaschine verstanden werden. Und genau als eine solche Betrachtungsmaschine ist dieses Buch von Walter Kaufmann zu verstehen – als eine Betrachtungsmaschine des ebenso abenteuerlichen wie spannenden Lebens eines Jahrhundertzeugen, der allen Widrigkeiten und tödlichen Bedrohungen zum Trotz, die das 20. Jahrhunderts für einen jüdischen Menschen bereithielt, dennoch überlebt hat. Wie in fast allen Texten von Walter Kaufmann verarbeitet er auch hier viele Erlebnisse und Ereignisse seiner eigenen Biografie, in der er nicht immer aus eigenem Antrieb viel in der Welt herumgekommen war und sich oft genug irgendwo und irgendwie durchschlagen musste. Und so wechseln die Schauplätze und Zeiten seiner Geschichten zum Beispiel zwischen Melbourne 1948 und Kleinmachnow 1998, zwischen Düsseldorf 1970 und Duisburg 1990, zwischen Arraba, Israel 1979 und London 1968 und vielen anderen Orten und Ländern auf fast allen Kontinenten. Immer aber zeigen sie einen sehr aufmerksamen Beobachter und Schilderer, einen engagierten Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit und nicht zuletzt einen, der sein Handwerk hervorragend versteht - das Handwerk des Geschichtenerzählers. Kaleidoskop eines gelebten Lebens, dargestellt in spannenden Geschichten, die Auskunft geben über ein Jahrhundert und über den Menschen, der darin gelebt und überlebt, geliebt und gekämpft hat – Walter Kaufmann (1924 bis 2021).
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Seitenzahl: 124
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Walter Kaufmann
Gelebtes Leben
Ein Geschichten-Kaleidoskop
ISBN 978-3-86394-575-6 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 2000 in der edition reiher im Karl Dietz Verlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Barbara Meffert
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Melbourne 1948
Donnerstags, nach Ladenschluss, schrieb Mr. Markowitz die Lohnabrechnungen säuberlich mit hartem Silberstift, dass auch die für uns bestimmten Durchschläge gut lesbar waren, und weder Bert, der dienstälteste Hochzeitsfotograf, ein hochaufgeschossener schlaksiger Mann, noch Alfons, der wegen seines Buckels - Bucklige bringen Glück - bei vielen Jungvermählten gut ankam, bezweifelten, was der Chef da zusammenrechnete. Seine makellos aufgereihten Ziffern wirkten unumstößlich.
»You can’t fault them«, sagte Bert.
Jüngst dazugekommen und noch auf Probe, wunderte ich mich nicht wenig, dass ich am Zahltag kaum schlechter abschnitt als die ausschließlich auf Bestellung, on request, arbeitenden Kollegen, während ich auf gut Glück zu Hochzeiten geschickt wurde, die Mr. Markowitz den Vorankündigungen in Zeitungen entnommen hatte. Anders als bei mir, gab es bei Bert und Alfons einen gewissen Kaufzwang - hätten sie mir da nicht weit mehr als nur ein paar Schillinge voraus sein müssen? Nun, schlafende Hunde soll man nicht wecken, und auch ohne dass der Chef mir jedes Mal zuraunte: »Behalt’s für dich, sag’s keinem«, hätte ich sicher kein Wort zu den beiden gesagt.
Das ging so bis hinein in den Sommer und Herbst. Bert und Alfons vertrauten ihrem good old Abe, wie Mr. Markowitz sich leutselig nennen ließ, nach wie vor, zumal auch für sie ein Wochenverdienst von rund zwanzig Pfund (der Durchschnittslohn lag in jener Zeit bei der Hälfte dieser Summe) beachtlich war. Keiner der beiden rechnete auf, wie oft sie eingesetzt gewesen waren. Nur ich tat das: Hatte mich mein Verdienst während der Probezeit verwundert, jetzt, da ich weit mehr Hochzeiten als zu Anfang fotografierte, verwunderte mich, dass meine Einnahmen nicht stiegen. Wirklich stutzig aber wurde ich erst nach jenem Samstag im Spätherbst, als mich der Chef zu der Trauung einer verflossenen Freundin von mir schickte - was er wohl vermieden hätte, wäre ihm die Verbindung bekannt gewesen. Auch ich war ahnungslos, und es war schon ein merkwürdiges Gefühl, als ich nicht irgendeine Frischvermählte, sondern Yvonne zu den Orgelklängen aus der Kirche schreiten sah, strahlende Braut, stolzer Bräutigam, und dass ich die Fassung bewahrte und mir meine Aufnahmen gut gelangen, war unter den Umständen bemerkenswert.
Tage später allerdings geriet ich dann doch außer Fassung. Nämlich als mich ein Brief von Yvonne erreichte, in dem sie mir für die »really lovely photos« dankte und meinte, dass mich die Bestellung von über hundertundvierzig Pfund, »die mein Papa spendiert hat«, sicher freuen würde. Ich rechnete meinen jüngsten Verdienst durch - und wurde zornig, War mir nicht von allen Einnahmen ein zwanzigprozentiger Anteil zugesagt gewesen, und war ich nicht auch diesmal wieder mit nur zwanzig Pfund bedacht worden: »Behalt’s für dich, sag’s keinem!«
Albury, Australien 1945
Die Standfotos in der Eingangshalle zum Kino versprachen viel, und was sonst bot sich an in dieser öden australischen Kleinstadt, wo die Lichter ausgingen, noch ehe es richtig dunkel wurde - nichts, außer der verräucherten, lärmerfüllten Soldatenkantine am Bahnhof, wonach mir der Sinn nicht stand.
Ich zählte mein Geld und war entschlossen. In der Kasse die Kartenverkäuferin lächelte mir durch die Glasscheibe zu - poor lonesome soldier on leave, dachte sie, das war ihr anzusehen. Ich zahlte, und mit der Eintrittskarte in der Hand ging ich erwartungsvoll nach drinnen. Es lief sich gut auf dem Teppich im Gang, ganz anders als draußen auf dem Straßenpflaster - es war, als wären meine Armeestiefel um Pfunde leichter.
Auch die Platzanweiserin war freundlich, und im Halbdunkel fiel mir gleich die junge Frau auf, neben der ich zu sitzen kam. Ich musterte sie verstohlen, ihr Gesicht, ihre Augen und wie ihr Haar im Nacken geknotet war, alles an ihr gefiel mir. Sie spürte, dass ich sie musterte, und ich wandte mich ab, erwog sogar ein paar Sitze wegzurücken, verwarf das aber gleich wieder. Das Gefühl, sie neben mir zu wissen, veränderte alles, machte den Kinobesuch zu einem Abenteuer.
Noch begann die Vorstellung nicht, noch füllten die Klänge der Kinoorgel den Saal, denen die Frau hingebungsvoll lauschte - birds fly over the rainbow, why, oh why can’t I ... Leise summte sie mit und klopfte auf der Sitzlehne den Takt.
Als die Lichter ausgingen und auf der Leinwand die Werbung ablief, erschien mir die Frau im Widerschein der Leinwand noch verführerischer. Ich sah nur sie, und hoffte, meine Blicke würden bewirken, dass sie sich zu mir hingezogen fühlte. Die Spannung brach, als weitere Kinobesucher sich störend durch die Reihe zwängten. Der Augenblick sie anzusprechen schien vertan.
Und schien erst wieder gegeben, als es im Spielfilm in einer nebligen Hafengasse, über der wie bleiche Monde die Laternenlichter schwammen, zu einem mörderischen Zweikampf zwischen zwei Seeleuten kam - so zu kämpfen für eine Frau ... Ich sah Messer blinken, Fäuste zuschlagen, ein Messer fiel klirrend zu Boden, eine Bartür flog auf, schrille Pfiffe gellten im Nebel, und noch immer kämpften die Männer. Ein dumpfer Schrei war zu hören, einer der Männer stürzte, ich sah den anderen fliehen, und die Schläge genagelter Stiefel tönten auf dem Kopfsteinpflaster. Der Gestürzte wälzte sich stöhnend in der Gosse. Im Lichtkegel lief aus der Bar eine Frau zu ihm hin, beugte sich über ihn und bettete seinen Kopf in ihre Hände ...
Die Frau neben mir blickte mich an. Ich sah ihre dunklen Augen groß und angstvoll auf mich gerichtet. Es war, als suche sie Schutz, und ich schob meine Hand in die ihre. Sie ließ es zu, lehnte sich an mich, und augenblicklich war ich von Hoffnungen berauscht - wir würden zusammenbleiben, ja, nach der Vorstellung würden wir zusammenbleiben. Ich wähnte mich in zwei Welten zugleich jetzt - in die der Frau neben mir und die der Frau aus der Hafenbar, und sah mich vorbei an dunklen Schiffsleibern den Kai entlanglaufen, die Hand jener Frau in meiner und zugleich auch die Hand der Frau neben mir.
Im Film dämmerte Morgenlicht über dem Hafen. Ratternd hievte die Schiffskette den Anker aus dem Wasser. Auf dem Pier trennte sich der Seemann von der Frau aus der Hafenbar, schweren Schritts stieg er das Fallreep hoch. Das Schiff legte ab, glitt seewärts im Schlepptau, und von der Reling her sah der Seemann die Frau seinem Blick entschwinden. Bald schon verschmolzen fern am Horizont die Umrisse des Schiffes mit dem Himmel und dem Meer, und dann senkte sich der Vorhang über die Leinwand.
Im Saal strahlten die Lichter auf. Nur kurz noch sah mich die Frau an, sie lächelte fremd, ihr Ausdruck blieb leer, schnell wandte sie sich ab und eilte dem Ausgang zu. Ich ließ sie gehen, nichts anderes blieb mir, und was gerade erst begonnen hatte, war vorbei ...
Melbourne 1950
So viel wusste ich natürlich - zu tun gibt’s immer für den Decksmann eines Schleppers, auch im Hafen: Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben. Und wer poliert die Messingbeschläge, scheuert das Deck, macht klar Schiff im Ruderhaus und reibt die Scheiben blank? Mochte Kapitän Maloy auch Pfeife schmauchend den nächsten Einsatz abwarten und Spinks, der Maschinist, sich auf Deck im Schatten der Aufbauten ausstrecken, mochten sich auch die beiden Leichtmatrosen Pat und Jim hin und wieder an Land verkrümeln, nichts davon galt für den Decksmann - und der war ich.
Also suchte ich mir Arbeit und bald glänzte es an Bord, dass ich mir einbildete, auch ich hätte mir inzwischen ein paar Vorrechte verdient - nicht gerade lange Rauchpausen oder ein Schläfchen in der Kammer oder gar beim Chinesen vor den Hafentoren ein Süppchen schlürfen, aber doch ab und zu in einem Buch blättern.
Immer hatte ich irgendeinen Roman dabei: London, Melville, Crane, Bret Harte - bewunderte Autoren jenes Jahres, aber dass ich durch Martin Eden meinen Posten auf dem Schlepper verlor, ausgerechnet wegen meiner Anteilnahme an einem tagsüber hart schuftenden und nachts zäh an seinen Büchern schreibenden Helden, traf mich hart.
Total in die Handlung vertieft, die Stimme Jack Londons im Ohr, überhörte ich die Stimme des Schlepperkapitäns, der von der Brücke zu mir herunterrief: »Kommen Sie mal hier rauf, Decksmann!«
Und eben dort, wo ich sechs Wochen zuvor angemustert hatte, sprach er mir die fristlose Entlassung aus: Sacked on the spot!
»An Bord«, ließ er mich wissen, »liegt immer was an« - und dann zählte er all die Pflichten auf, womit ich mich längst abgeplagt hatte: »Rostklopfen, Farbewaschen, Labsalben - und den gottverdammten Rest!«
Jack London, dachte ich aufgebracht, was zum Teufel hast du mir da eingebrockt!
Melbourne 1952
Zerknitterter blauer Anzug, zerknitterter Hemdkragen und unterm Kragen immer dieser fadenscheinige, dürftig geknotete Schlips - Ralph Gibson, vierzig Jahre alt oder fünfzig, sein Alter war schwer zu bestimmen: forscher Schritt, schlanker Wuchs, blassblondes Haar, das ihm bei jedem Windhauch um die Stirn blies. Er war Geschichtsprofessor gewesen, Sohn aus einer Dynastie alteingesessener Melbourner Akademiker, die rund um die Universität zwischen Parkville und Carlton ihr Zuhause hatten.
Als unsere Wege sich kreuzten, war er schon seit Jahren ein full time party fanctionary mit maßgeblicher Verantwortung in der Leitung der Kommunistischen Partei, Theoretiker, Redner auf Foren und an Sonntagnachmittagen auf der Yarra Bank, einer Wiese am Fluss, wo die Arbeiter zusammenkamen und er mit der Zeit zu einer regelrechten Einrichtung geworden war - kein Tribun, keiner von jenen robusten australischen Gewerkschaftsführern, sondern schlicht ein Intellektueller aus dem Bürgertum, der getreulich der Arbeitersache diente. Für jedermann, das merkte auch ich sehr bald, hatte er Zeit und Ohr und kam dabei meiner Vorstellung von Lenin nahe. In seiner Erscheinung, seiner Haltung waren Ähnlichkeiten mit dem Russen zu erkennen, er wirkte wie aus Leninschem Holz geschnitzt. Unterm Arm trug er überallhin eine Aktentasche, die so abgewetzt wie sein Anzug war und die er auf dem Podium am Rednerpult vor sich hinzulegen pflegte, um notfalls darin nach einer Notiz oder Pressemeldung suchen zu können. Solcher Art Unterbrechungen sahen ihm die Arbeiter geduldig nach - lass ihn, was der auskramt, macht Sinn. Da ist Verlass drauf.
Verlass war auf Ralph Gibson nicht bloß bei Recherchen - wer, wenn nicht er, hatte sich die Schuhsohlen durchgelaufen, um für die jüngst gegründete Australasian Book Society, dem australischen Arbeiter Buchklub, Spenden einzutreiben. Und es sprach für ihn, dass ihm das sogar unter Geschäftsleuten gelang, die aus Litauen und Polen eingewandert waren und in seinem Wohnbezirk Carlton mit Kleidern und Schuhen handelten, mit Lebensmitteln und Gebrauchtwaren aller Art, und von denen kaum einer die Landessprache beherrschte, allesamt also mit Büchern einer australischen Buchgemeinschaft wenig im Sinn haben konnten. Sie gaben ihm Geld, weil sie Gibson für redlich hielten und seinen Ratschlägen vertrauten, und sie lächelten bloß, wenn er ihnen versicherte, dass auch Bücher Lebensmittel seien - food for thought. Seine Aktentasche mit den Broschüren des Buchklubs brauchte er nicht erst zu öffnen: »Schon gut, Mr. Gibson - lassen Sie’s nur.« Ein Menschenfreund, der Mann, sagten sie sich - für wen hatte der sich nicht schon eingesetzt. Warum also nicht auch für Schreiber und Bücher?
Die größte Spende trieb Ralph Gibson bei einem Jacov Meir aus dem polnischen Czerniewice ein, Hersteller von Damenblusen und Zulieferer von Boutiquen, der sich Jake Myer nannte und eine Schwäche für Literatur hatte.
»Sie sammeln für Schreiber«, hatte der Mann ihn gefragt, »auch jiddische?«
»Das nicht. Aber ein jüdischer ist dabei.«
Und Ralph Gibson hatte von mir erzählt - meiner Flucht vor den Nazis, dem Schicksal meiner in Deutschland zurückgebliebenen Eltern und dass ich einen Roman aus jener finsteren Zeit geschrieben hatte.
»Jüdisch, aber nicht in Jiddisch«, hatte Jake Myer gefolgert und bedauernd den Kopf gewiegt.
Auch Gibson hatte den Kopf gewiegt und den anderen nicht weiter bedrängt.
»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«, hatte Jake Myer anerkennend bemerkt. »Sie reden mir nichts ein - und das ist Gold wert.«
Doch dass die Goldmünze, die er dann aus der Westentasche zog und dem anderen zusteckte, hundertundzwanzig Pfund bringen würde, was damals ein kleines Vermögen war, hatten weder Ralph Gibson noch sonst wer vom Buchklub sich träumen lassen.
Kleinmachnow 1998
Und dann, das war am vergangenen Sonntag, beschrieb mir Rudi Güttner vom Verband der Antifaschisten das Schicksal von drei Söhnen deutscher Kommunisten, einer davon der Sohn des Spanienkämpfers Hans Beimler, die Mitte der dreißiger Jahre in die Sowjetunion geflüchtet und bald darauf nach Sibirien verbannt worden waren - beschuldigt, der Hitlerjugend angehört und versucht zu haben, deren Gesinnung auch in Moskau zu verbreiten. Er sprach nüchtern, unaufgeregt, alles lag mehr als ein halbes Jahrhundert zurück - durch Verleumdungen, ein Zeichen jener Zeit, war die Odyssee der Deutschen ausgelöst gewesen, doch hatte sie nicht, wie bei ungezählten anderen Opfern stalinistischer Willkür, mit dem Genickschuss geendet. Die drei überlebten die Schreckensherrschaft Stalins ...
Mir aber war wieder jenes heisere Gebrüll im Ohr - get back to Russia, you! Ich sah mich, sechsundzwanzigjährig und damals Hafenarbeiter in Melbourne, am Pier stehen, neben mir auf den Bohlen ein Stapel Zeitschriften, die aufwendig im Vierfarbendruck herausgegebene Monatszeitschrift SOVJET UNION, und es prallte an mir ab, dass mich ein paar mir unbekannte Kerle nach Russland verbannten: Klassenfeinde, Handlanger der Bosse - was sonst! Ich blieb auf dem Posten - bellende Hunde beißen nicht, und hatte ich bis zum Ende der jeweiligen Mittagspause ein halbes Dutzend Zeitschriften verkauft, war ich mit mir und der Welt im reinen. Die da gegen mich antraten, wurden ja nicht tätlich, und ihr Gebrüll war weit eher zu verkraften als das, was sie mir immer mal wieder zuraunten: Stalin kills more Communists than Hitler - get that into your skull, you idiot!
Ich roch sie förmlich, wenn sie mir hautnah die Hiobsbotschaft von den unter Stalin ermordeten Kommunisten ins Ohr bliesen. Alles sträubte sich in mir, auch nur ein Wort davon zu glauben. Nur, sie auch wegen ihrer Gegnerschaft zu Stalin als Handlanger der Bosse abzustempeln, verfing nicht - so dringlich sie mich nach Russland verbannten, immerhin warnten sie mich auch gegen das, was mir, wie sie meinten, dort blühen würde: Stalin bringt mehr Kommunisten um als Hitler ... Begreif das endlich, du Holzkopf.
In meiner Verunsicherung besprach ich mich mit Gewerkschaftern, die zu Kongressen in die Sowjetunion geschickt worden waren.
»Mit Verachtung strafen«, rieten sie mir samt und sonders. »Klassenfeinde allesamt und verdammte Lügner.«
Das genügte mir. Damit gab ich mich zufrieden - zu lange! Bis hin zu dem Jahr der Chruschtschowschen Enthüllungen in Moskau.
Düsseldorf 1970
Alljährlich rollen sie über den Bildschirm - die Mainzer, Köllner, Düsseldorfer Narren in ihren Faschingswagen, und unten jubelt die Menge in der Februarsonne: helau, helau! Und schon der flüchtigste Blick aus Berliner Ferne versetzt mich in die Kindheit, als ich zehnjährig, elfjährig, zwölfjährig mit fröhlichem Helau aus meines Vaters Bürofenster Papierschlangen in die Königstraße schleuderte, bis ich es, dreizehnjährig, aufgab und verstummte. Das war im siebenunddreißiger Jahr, als unter mir ein Wagen mit fünf Gestalten vorbeirollte: schwarze Bärte, Hakennasen, Schläfenlocken und tellerrunde schwarze Hüte, und ich das Spruchband über ihren Köpfen las: MER HAUE AB NACH PALÄSTINA.
Da war Fasching für mich abgemeldet.
Erst zwei Jahrzehnte später ließ ich mich wieder auf solcherart Gaudium ein: Ostberliner Studentenfasching, Künstlerfasching, Fasching in der Möwe, dem Klub der Theaterschaffenden - unbeschwerte Feste alle, ausgelassene, mit jungen Frauen, viel Flirt, viel Tanz, und keine Spur von jenem Gift meiner Kindheit.
Weiberfastnacht?