Reisen ins gelobte Land - Walter Kaufmann - E-Book

Reisen ins gelobte Land E-Book

Walter Kaufmann

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Beschreibung

Der Autor reiste bis 1980 viermal nach und durch Israel. Jede seiner israelischen Reisen wurde von einem „anderen Walter Kaufmann“ angetreten – dem Vorstoß ins Unbekannte musste die genauere Prüfung seiner ursprünglichen Erfahrungen und Haltungen folgen, und erst während seines dritten Aufenthalts war er in der Lage, zielstrebig vorzugehen, wusste er, wo er „fündig werden würde“. Bewegte ihn schon von Anbeginn die Frage, was aus ihm geworden wäre, hätte es ihn in seiner Jugend aus Hitlerdeutschland nach Israel verschlagen, nach den Geschehnissen des Kriegssommers 83 brannte sie förmlich in ihn. Sabra und Chatila! Hätte auch er sich auf der Straße vor Saida die Schulterstücke vom Hemd gerissen, wäre auch er vor der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in den Hungerstreik getreten oder mit einem Warnschild gegen Begin in Demonstrationen aufgetaucht – er hoffte es! Sicher aber ist, sein Weg zu Schmuel Rubinstein, Shlomo Szmelcman, Jaacov Guterman war folgerichtig. Denn seine vierte Reise in den Nahen Osten stand im Zeichen der Verbundenheit mit jenen vierhunderttausend Israelis, die sich mit ihrem Bis hierher und nicht weiter! einer kriegerischen und zugleich verhängnisvollen Entwicklung entgegengestellt hatten.

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Impressum

Walter Kaufmann

Reisen ins gelobte Land

Mit Zeichnungen von Angela Brunner

3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, erschienen 1980 im VEB F.A. Brockhaus Verlag Leipzig.

ISBN 978-3-96521-312-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto des Autors: Barbara Meffert

In einigen Episoden wurden die Personennamen geändert

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

www.edition-digital.de

Ich bin selber viel zu tief und viel zu gut Jude, um schweigen zu können, wenn ich das Verbrechen sehe, das die jüdische Bourgeoisie ständig an den jüdischen Massen begeht. Aber die Tendenz der jüdischen Massen, der jüdischen Bourgeoisie zu glauben und nicht uns Marxisten, ist einfach nicht umzubringen. Was, frage ich mich, gehen mich die Juden an? Weil ich selber einer bin, habe ich eine Art persönlichen Interesses daran, dass ihre Tragödie einmal endet. Kann sie anders enden, als auf dem Weg, den wir den Juden zeigen?

Louis Fürnberg

Erste Reise

Zwei Wochen in der Fremde

Leichter Seewind, der über die schmale Sichel des Strandes blies, ließ die Blätter des Notizblocks flattern, in den ich schrieb – Worte nur, Andeutungen von Eindrücken, Dialogfetzen, den Kern von Antworten auf Fragen, Gedächtnisstützen für später, wenn ich Abstand gewonnen haben und überblicken würde, was zwei Wochen in einem fremden Land herzugeben vermochten – vierzehn israelische Tage, gegensätzlich und so wechselhaft wie das Wetter, das in den Sandebenen zwischen Jerusalem und Jericho wüstenheiß gewesen war und schneidend kalt auf den Gebirgshöhen von Hermon.

An diesem meinem letzten Tag in Tel Aviv jedoch war es warm wie an einem Sommertag auf Rügen – ein strahlender Dezembermorgen, der kaum ausgeglichener hätte sein können. Als ich aufbrechen musste, stand die Sonne steil im klaren Himmel. Wellen rollten mit schäumenden Kämmen dem Ufer entgegen, heftiger jetzt im zunehmenden Wind. Sie brachen sich am Strand, überfluteten und glätteten ihn bis zu den Steinstufen, die hinauf zur Promenade führten. Oben angekommen, blickte ich mich ein letztes Mal um und ging dann schnell davon.

Wenige Stunden später – die bis zum letzten Platz besetzte Boeing hatte Höhe gewonnen und sich in weitem Bogen von der leuchtendgelben Küste entfernt – war es bereits müßig, dass ich mir vorwarf, zu früh abgereist zu sein. Hatte ich denn mehr gewollt? War der Zweck meines Aufenthalts nicht erreicht? Er war erreicht, das immerhin spürte ich. Und so machte es mir auch nichts aus, dass ich jetzt eng eingezwängt in fensterloser Ecke auf einem Notsitz hockte – eine Unbequemlichkeit, die gleich nach der Landung vergessen sein würde.

Natürlich war es der Zollbeamtin auf dem Flugplatz von Lod, die mich so lange aufhielt, dass ich am Ende Mühe hatte, überhaupt noch an Bord der Maschine zu kommen, nicht um Schmuggelware in meinem Gepäck gegangen. Zu arglos wohl hatte ich der jungen Frau bestätigt, nur drei Nächte in dem Hotel verbracht zu haben, in dem ich gemeldet gewesen war. Sie wurde streng, ihr blauer Rock und die straffe graue Bluse erschienen mir plötzlich als das, was sie waren, nämlich Teile einer Uniform, und sie befasste sich jetzt genauer mit mir. Mit welchem Ziel war ich zu wem in welche Städte gereist?

Den braun gebrannten, bärtigen jungen Männern, Urlaubern durchweg, die sich vor und hinter mir eingereiht hatten, Gitarren über der Schulter, Kameras und Tauchgeräte in den Tragetaschen, hatte sie mich wohl von Anfang an nicht zugerechnet. Jetzt aber fühlte sie sich veranlasst, mich an einen Offizier höheren Rangs weiterzuleiten. Der prüfte aufmerksam jede Seite meines Passes und fragte mich schließlich nach meinem Beruf.

„Dann werden Sie vermutlich auch über Israel schreiben?“

„Nicht unbedingt“, antwortete ich ausweichend – was einen zwiespältigen Eindruck hinterließ und den Mann bewog, mir klarzumachen, dass man mehr über mich wisse, als ich wohl annähme. Mit frostiger Miene händigte er mir schließlich meinen Pass aus und verwies mich zur Sperre, hinter der inzwischen mein Gepäck genauestens geprüft worden war.

„Sie können gehen. Einen angenehmen Flug noch!“

Heute, da mir mit dem Abstand von Wochen bewusst geworden ist, wie stark gerade wegen der Kürze meines Aufenthaltes jede meiner israelischen Begegnungen auf mich gewirkt hatte, würde ich jenem Offizier die Antwort nicht schuldig bleiben. Ich würde ihm sagen, dass mein Aufenthalt den Vorarbeiten für ein Buch diente, und würde ihm wohl auch, falls es sich so ergäbe, die Erlebnisse und Erfahrungen vorzuhalten wissen, aus denen sich vor meinem inneren Auge in schnell hingeworfenen, noch unvollständigen Strichen ein Bild des Landes zu formen begann.

Der alte Mann schiebt vorsichtig den laut tickenden Regulator unters Bett – während des Fluges von Berlin hatte er ihn sorgsam auf den Knien gehütet –, streift die Riemen seines Rucksacks von den Schultern und lässt ihn zu Boden fallen. Dann nimmt er den breitkrempigen schwarzen Hut ab und wischt sich die Stirn. Ein Seufzer entweicht ihm, die Augenlider flattern müde, während er die Festigkeit des Bettgestells prüft und sich behutsam niederlässt. Den Kopf auf die Hände gestützt, blickt er zum Fenster hin, gegen das jetzt der Regen klatscht wie ein nasses Tuch. Ein sintflutartiger Wolkenbruch ergießt sich über die Dächer, die vom Sturm gejagten Wolken verdüstern den Abendhimmel, schnell fällt die Nacht nieder, und hoch über die Straße peitscht die Meeresbrandung. Die Gischt schäumt über die parkenden Autos, strömt die Böschung des Parkplatzes hinunter und zwischen die Häuserzeilen gegenüber dem Fenster. Das alles sieht der alte Mann nicht. Er starrt auf das Rinnsal, das unaufhörlich von der Fensterbank fließt, und sein Blick folgt der immer größer werdenden Lache auf den Fliesen. Er greift nach seinem Rucksack und hebt ihn auf den Stuhl, zieht den Regulator wieder unter dem Bett hervor und vergleicht die Zeit.

„Oi“, sagt er. „Weh ist mir!“

Es ist kalt und zugig im Zimmer, und trotz des Wintermantels friert er jetzt, stampft mit den Füßen und reibt sich die Arme.

„Verzeihung“, sagt er. „Sie werden wollen schlafen.“

Ich wende mich ihm zu und schüttle den Kopf.

„Wer wird können schlafen bei dem Wetter?“ Er stellt sich vor. „Heiß ich Gerson, Schmul Gerson. Hab ich Sie schon gesehen auf dem Flugplatz in Berlin und mir gedacht, das ist einer von unsere Leut. Lauter Gojim sonst – was die alle werden machen, hier in Israel?“ Er zuckt die Schultern. „Werd ich mir zerbrechen deren Kopf. Hab ich genug, worüber ich muss zerbrechen mir meinen Kopf. Der Sohn. Ist er gekommen zum Flugplatz, zu holen den Vater? Ist er nicht. Wird er kommen zum Hotel bei dem Wetter? Wird er nicht. Kann sein, ich werd mit Ihnen müssen teilen dieses Zimmer ganze sieben Tage, weil der eigene Sohn hat vergessen den Vater. Hat er vergessen den Vater, werd ich nehmen die Uhr zurück nach Kassel. Ob ich komm von da? Warum nicht? Achtundzwanzig Jahre hab ich gelebt in Tel Aviv und Schuhe geflickt mit diese Hände, und was ist mir geblieben? Leere Hände. Also, was soll ich machen? Leb ich in Kassel von der Rente, die mir zusteht, weil ich bin gewesen im Lager. Gut oder schlecht – ich leb! Besser als in Israel. Bist du alt in diesem Land, bist du vergessen. Das ist die Wahrheit. Sogar der eigene Sohn hat vergessen. Dabei hab ich ihm geschickt das Telegramm aus Kassel, wo ich hab ein Zimmer bei einer Frau. Kocht sie, macht sie sauber, ist sie mir eine Hilfe auf meine alten Tage. Ich hab mein Auskommen bei ihr, tu keinem was, und keiner tut mir was. Wo also ist meine Heimat? Bereu schon, dass ich gekommen bin, wo keiner mich will – nicht mal der eigene Sohn! Oder glauben Sie, er wird nicht haben das Telegramm?“

„Möglich wäre das“, sage ich.

„Weh ist mir“, antwortet er leise. „Wie wird er mich finden, wenn er nicht hat das Telegramm?“

Wo bin ich? Riviera oder Chelsea, Tel Aviv oder New York – wo ich vor Jahren unterwegs zu Angela Davis war. Die Atmosphäre ist ähnlich. Ein billiges Hotel, ein winziges Empfangsbüro hinter der Theke mit der Rechenmaschine und dem lauten Kofferradio, und am Glas der ständig pendelnden Flügeltüren klebt ein Schild: THE CHEAPEST ROOMS IN TOWN! Yakov, der gewiefte Empfangschef, wendet seinen Kaugummi auf der Zunge, tippt sich an die Stirn beim Anblick des Alten von Zimmer 123, der (zum wievielten Mal?) nach seinem Sohn fragt. „Search me, Mr. Gerson“, antwortet er in unverfälschtem Amerikanisch. „I don’t know.“ Das Frühstück rechnet Yakov in Dollars ab, für die entsprechenden Dollars würde er auch nach Orangen oder Pampelmusen über die Straße laufen. Ist dies die Haryakon-Straße in Tel Aviv oder irgendeine Straße des östlichen Manhattan, wo die Luft so wie hier von den Abgasen oder Autos verpestet ist? Der geschäftige kleine Gemüsehändler im Laden gegenüber, mit dem verrutschten schwarzen Käppi auf dem kahlen Kopf, erinnert mich an Sam Finkelstein aus der 23. Straße, den ebenso kahlköpfigen New Yorker Juden mit der Nickelbrille und der Lederschürze, der bis spät in die Nacht hinein Obst und Gemüse verkauft.

Es ist jetzt zehn Uhr vormittags – die Sonne strahlt, es wird wärmer, und die vier platinblonden Frauen an dem runden Tischchen vor der Beach Bar, Zigaretten in den Mundwinkeln und vor sich in kleinen Tassen den schwarzen Kaffee, könnten auch in der Honey Bar am Times Square ihrer Kundschaft harren. Lichtreklamen: Singer-Nähmaschinen und Sony TV, die Mietwagen von Avis und ein Drugstore namens Skylab, Shangri-La Massage Parlours und Bourbon Whisky aus Kentucky. Das Spruchband quer über die Scheibe des Reisebüros Tour-Tel verspricht: PLEASE REST, WE’LL DO THE REST! Fern über den Parkanlagen am nördlichen Strand ragen die Dächer des Hilton und des Sheraton, und fast an jeder Ecke im Umkreis von mehreren Kilometern findet sich ein Bankinstitut, Barclay’s Discount, First International, Hapoalim, Israel Discount, Leumi, United Mizrahi – Change, Change, Change. Tel Aviv oder Manhattan – wer, wenn nicht die Fremden, der Tourist aus Stockholm oder aus Düsseldorf, wird in der Lage sein, all die Waren zu kaufen, die Souvenirs, Antiques, Juwelen, Ledermäntel, Lederjacken, die Jeans aus Frisco, Chicago und New York? Supermärkte, Kaufhäuser, lange Reihen von Taxis in der Yehudastraße, „Taxi, Sir – Taxi!“ Gab es nicht auch in Manhattan Mercedeswagen in Fülle und Volkswagenbusse und Siemens-Waschmaschinen, AEG-Kühlschränke, Rasierer von der Firma Braun? Das große Kino am Novemberplatz präsentiert „All the President’s Men“ – Schatten von Watergate über Tel Aviv, und das Kino gegenüber lockt in roten Leuchtbuchstaben mit „Carnal Love“. Wo bin ich – setzt sich diese Stadt nur aus Teilen von New York zusammen?

Ich entsinne mich an kein einziges Wort, das ich als Junge mit meinem Vetter Arnim gewechselt hätte, während der Schulpausen etwa auf dem Hof des Gymnasiums. Der Altersunterschied zwischen uns war zu groß. So wird er nie geahnt haben, wie sehr ich ihn bewunderte: ihn, den in allen Fächern leistungsstarken Primaner, der auch im Sport überragte, besonders im Reiten. Sicher hat er mich an jenem Sommersonntag nicht bemerkt, als er hoch zu Ross den Waldweg entlangpreschte, der an der Stelle, wo ich stand, von einem Holzstapel versperrt war. Ich aber sehe noch heute deutlich, wie er dem Pferd die Sporen gibt, wie das Tier sich aufbäumt und vor dem Hindernis scheut, doch Arnim ist sattelfest und zwingt das Pferd, den Sprung zu tun, und dann galoppiert er zwischen den Bäumen davon – und hinaus aus meinem Leben.

Vierzig Jahre lang bin ich ihm nicht mehr begegnet. Mich verschlug es nach Australien, wo mich nur einmal über Umwege ein Lebenszeichen von ihm erreichte. Er war nach Palästina ausgewandert und dort Landarbeiter auf einem Kibbuz geworden. Arnim, der Sohn des Bankdirektors, ein einfacher Landarbeiter! Danach sah ich ihn im Geiste die Wüste urbar machen, den braun gebrannten, von der Arbeit gestählten Pionier, hoch auf dem Sitz seines Traktors, zu Pferde auch, Wind und Wetter trotzend …

Fünfzig Minuten dieses Sonntagabends reichen – auch fünf hätten gereicht –, die Kluft, die uns trennt, deutlich zu machen. Schon die Begrüßung war ernüchternd. Ich hatte Arnim gestört. Täglich nach dem Abendgebet liest er religiöse Schriften, wie er sagt. Und so steht er nun unter der Tür seines kleinen Hauses und betrachtet den Besucher mit Unmut. Wäre ich ihm zufällig begegnet, ich hätte in dem ergrauten Mann mit den schwammigen Backen und dem schlaffen Mund nie das Idol meiner Jugend erkannt, und da er weder das Käppi vom Kopf noch den Gebetschal von den Schultern genommen hat, verstärkt sich die Entfremdung.

„Ich suche meinen Schutz in der Lehre Gottes“, erklärt er mir später mit müdem Blick. „Die Gefahr, die uns umgibt, hat mich in seine Nähe gedrängt. Die Religion ist mir zum lebendigen Erlebnis geworden.“

Unser Gespräch kommt nur stockend voran. Arnims Worten ist allmählich zu entnehmen, dass er es damals nicht auf dem Kibbuz ausgehalten hat. Das romantisch verklärte Bild, das ich mir von seinem Leben als Landarbeiter machte, löst sich zu kleinbürgerlicher Banalität auf: Von dem Geld, das sein Vater ihm aus Deutschland übermitteln konnte, kaufte Arnim eine Hühnerfarm.

„Indische Juden, die ich als Pächter einsetzte, haben sie nach und nach ausgebaut, und der Ertrag war einigermaßen.“ Er seufzt. „Seit den Kriegen der letzten Jahre aber machen mir die Steuern zu schaffen. Alles ist viel schwerer jetzt. Ich gehöre wohl doch nur zu den kleinen Leuten, mit mir können sie es machen.“

Besonders schwer, berichtet er, sei es für ihn wegen der Kinderlähmung seiner Tochter geworden, vor deren Hilflosigkeit seine Frau zu kapitulieren begonnen habe. „Alle Last und Verantwortung liegt auf mir.“ Selbst mein Besuch, wie ich sähe, habe sie nicht daran gehindert, sich früh zurückzuziehen. Sie sei weltfremd geworden und nehme wohl nichts mehr so recht wahr. „Sie bemerkt auch nicht, was es mich an Kraft und Überwindung gekostet hat, in meinem Alter noch einmal ins Berufsleben zurückzukehren. Ich habe bei einer Maklerfirma als Buchhalter angefangen. Mit den Einnahmen aus der Hühnerfarm waren ja zuletzt gerade noch die Arztrechnungen und der Unterhalt für die Tochter zu decken, unser eigener längst nicht mehr.“

Er verfällt in Schweigen, ein resigniertes Schweigen, wie mir scheint, und da er die ganze Zeit mit keinem Wort nach meinem Leben in all den Jahren gefragt hat, spreche ich von baldigem Aufbruch und erkundige mich nach der Abfahrtszeit des Busses nach Tel Aviv.

„Du willst schon gehen?“, sagt er. „Nun, dann auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Arnim.“

Kaum je zuvor habe ich diese Worte als sinnloser empfunden, und noch ehe er die Haustür hinter mir geschlossen hat, ist mir klar, dass es zu keiner weiteren Begegnung zwischen uns kommen wird.

Ein Saxofon für Baruch

Dem Professor Wilfried Markus, einem Naturwissenschaftler voller reger Interessen und Entdeckerfreuden, waren seine sechsundsechzig Jahre nicht anzumerken. Wenn er mit heller Stimme lachte oder sich durch Neuigkeiten in Erstaunen versetzen ließ – was er gern tat –, haftete ihm etwas Jungenhaftes an. Sein Gang und seine Bewegungen wirkten forsch, ich hatte Mühe, ihm zu folgen, als er sich auf dem Karmel-Markt behände durch die Menge zwängte, den wachen Blick auf die Verkaufsstände gerichtet, an denen er „für seine Kinderchen“ das Mittagessen besorgte.

Ach ja, die Kinderchen – seine jüngste Tochter erwies sich als ein zierliches blondes Geschöpf von sechzehn Jahren, schweigsam und zurückhaltend; ihr beredtes Minenspiel aber verriet, dass ihr wenig entging. Ihre um ein Jahr ältere, im Wesen weitaus reifere Schwester war ein schönes, fast schon zu selbstbewusstes Mädchen, das dem achtzehnjährigen Bruder Baruch wenn nicht an Intelligenz und vielseitigen Interessen, so doch an bestimmten Lebenserfahrungen einiges vorauszuhaben schien. Der schlanke Junge überragte um einen Kopf seinen Vater, dem er allein der klaren blauen Augen wegen beträchtlich ähnelte, und er missbilligte es stets, wenn der Vater ihn Söhnchen nannte. „Muss ich dich wieder tadeln?“, fragte er dann streng in vorzüglichem Deutsch.

Wie sich herausstellte, waren die drei Geschwister in aufeinanderfolgenden Jahren geborene Frühlingskinder, alle hatten zwischen dem 20. und 25. März das Licht der Welt erblickt, und sie fanden, der Vater habe das so eingerichtet, damit ihre Geburtstagsfeiern mühelos zusammengelegt werden konnten – drei Fliegen mit einer Klappe.

„Allerdings“, bestätigte Professor Markus lachend. „Und dazu gewann ich auch noch die Wette um einen Kasten Sekt gegen einen befreundeten Arzt, der nicht hatte glauben wollen, dass sich so etwas derart genau planen lässt.“

Andere Dinge in seinem Leben hatten sich weniger genau planen lassen, und als er davon sprach, verging ihm das Scherzen. Seine um fast dreißig Jahre jüngere Frau hatte ihn nach langer Ehe verlassen, ihm war das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen worden. Es hatte den Anschein, als wollte er sich und der Welt beweisen, dass er der Aufgabe gewachsen war. Mir schien sogar, dass er seine Kinder in fast sträflicher Weise verwöhnte. Er kochte für sie, tischte ihnen eigenhändig auf, räumte nach dem Essen ohne ihre Hilfe ab und war bestrebt, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

„Welch glücklicher Umstand, der Sie und uns zusammengeführt hat“, sagte er beim Kaffee. „Das Saxofon für Baruch – da könnten Sie vielleicht helfen!“

Sein Sohn, der dieses Instrument virtuos beherrschte und in einem Ensemble spielte, hatte während der Sommerferien an einer Konzertreise durch Europa teilgenommen. Bei seiner Rückkehr nach Israel aber war er gemaßregelt worden. Zur Begründung wurde nicht etwa seine inzwischen bekannt gewordene Mitgliedschaft im Kommunistischen Jugendverband herangezogen, so plump hatte man nicht vorgehen wollen, sondern eine Störung, die er während der Begrüßungsansprache des Kulturministers verursacht hatte.

„Tote reden nicht“, soll er dazwischengerufen haben, als der Minister mit Bezug auf die israelischen Streitkräfte das Bibelwort von den schnellen Adlern und den starken Löwen zitierte. „Adler und Löwen liegen zu Tausenden im Wüstensand von Sinai verscharrt. Den gefallenen Soldaten hat weder ihre Schnelligkeit noch ihre Stärke genützt!“

Der Aufruhr im Saal war groß gewesen. Noch am selben Tag hatte man Baruch das Saxofon entzogen – es war staatliches Eigentum – und ihm bedeutet, dass er fortan weder für das Ensemble noch überhaupt für Auslandsreisen in Betracht komme.

„Daran wird wenig zu ändern sein“, sagte der Vater. „Doch es muss nicht das Ende seiner Musikerlaufbahn bedeuten, wenn Sie uns helfen!“ Er brachte ein französisches Guthaben zur Sprache, das sich durch Veröffentlichungen seiner wissenschaftlichen Arbeiten angesammelt hatte. Für dieses Geld sollte ich ein Instrument beschaffen und es bei meiner nächsten Reise mitbringen. In Israel nämlich müsste er den dreifachen Preis bezahlen, und gut und gern zweitausend Pfund davon würden als Steuer in die Staatskasse fließen. „Für die Rüstung! Dagegen sträubt sich alles in mir.“ Er sah mich an. „Vielleicht retten Sie damit meinem Sohn sogar das Leben.“

Ich blickte verwundert auf.

„Im nächsten Jahr“, sagte er, „wird der Junge zur Armee eingezogen. Wenn er dann ein eigenes Saxofon vorweisen kann, wer weiß, vielleicht teilt man ihn einer Militärkapelle zu – statt zum Beispiel einen Panzersoldaten aus ihm zu machen.“ Wieder hielt er inne. „Wissen Sie, wie viele Panzersoldaten Oktober 73 im Jom-Kippur-Krieg gefallen sind? Und dieser Krieg wird nicht der letzte gewesen sein!“

„Hätte Hitler sie alle vernichtet, sie wären uns erspart geblieben!“

Der diesen ungeheuerlichen Fluch gegen die deutschen Juden ausstieß, war nicht etwa ein Araber. Er gehörte auch nicht zu den ärmsten unter jenen jemenitischen Juden, mit denen ich am Rande von Tel Aviv zusammengetroffen war. Nicht Yusef Cohen sagte das, der schmächtige Gärtner mit dem Klumpfuß, der mit Frau und zwei Kindern in einer Wellblechhütte hauste, die kleiner war als ein Eisenbahnabteil. Der Mann, der so sprach, Aaron Menachim, war dreiundzwanzig Jahre alt, ledig und weder mit Verantwortung für Frau und Kinder belastet noch körperlich behindert. Wie die anderen, so war auch er aus dem Jemen eingewandert, zusammen mit seinem um zehn Jahre älteren Vetter, der ihn aber bald als lästig abgeschüttelt hatte. Damals war Aaron Menachim zwölf, aus ihm wurde ein obdachloser Straßenjunge, der nichts gelernt und nirgends Fuß gefasst hatte, bis man ihn zur Armee einzog. Dort brachte man ihm das Kriegshandwerk bei. Mit Panzerfaust und Maschinenpistole verstand er bald umzugehen, und so hatte er, seinen Worten nach, sich durch die sechs blutigen Tage des Jom-Kippur-Kriegs hindurchretten können.

Sein Hass auf die deutschen Juden aber war wie ein Krebsgeschwür in ihm gewachsen, seit er zu erkennen begonnen hatte, dass er ein sogenannter „schwarzer“ Jude war und damit ein Mensch zweiter Klasse, ein ewig Benachteiligter. Er hasste die Geschäftsleute, von denen er stahl, die Eigentümer der Häuser, in die er einbrach, die Besitzer der Autos, die er plünderte und deren Reifen, Außenspiegel, Rücklichter er abmontierte, um sie zu verkaufen. Dabei erschien ihm die Klassenhierarchie, deren Opfer er war, in merkwürdiger Verzerrung. Alle Vermögenden waren in seinen Augen deutsche Juden; sie oder ihre Söhne waren es auch, die ihn in der Armee befehligt und dort den Ton angegeben hatten. Als Judenjunge aus dem Orient hatte er immer auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter gestanden. Daran änderte sich nichts, als er Soldat wurde, und ebenso wenig nach seiner Ausmusterung. Was nur war in seine Eltern gefahren damals, als sie ihn gedrängt hatten, mit dem Vetter auszuwandern! Das Land, in das er gekommen war, konnte er nicht als seine Heimat empfinden, und die Araber, gegen die er in den Krieg ziehen musste, nicht als seine Feinde.

„Eher lande ich hinter Gittern, als dass ich noch einmal auf fremdem Boden den Besatzer mache“, sagte er zornig. „Mit mir nicht mehr, verdammt! Wozu? Für wen? Für die vielleicht, die alles haben und nichts geben?“

Verbittert, ewig gejagt, hatte er schließlich bei Landsleuten Unterkunft gefunden, die wie er vor Jahren Opfer einer sich steigernden Furcht vor den Arabern geworden und aus dem Jemen ausgewandert waren. Aber waren es denn Araber, die jetzt den jemenitischen Juden in Israel die Gleichberechtigung verweigerten? Nein, es waren Juden, und als Jude hatte Aaron Menachim – ohne zu unterscheiden, woher einer stammte, was er wollte oder tat – andere Juden zu hassen begonnen, die selbst einst, von deutschem Hass verfolgt, nach Palästina gekommen waren.

Nach Jerusalem

Tel Aviv liegt hinter uns, zügig rollt der Bus die Autobahn entlang nach Osten. Aus den Lautsprechern klingt slawisch anmutende Musik zu einem hebräischen Lied, das der stämmige, kraushaarige Fahrer kräftig mitsingt. Die Sonne scheint hell über den Weizenfeldern, den Orangenhainen, den Hügelketten mit den grünen Tannen auf steinigem, zerklüftetem Boden. Das Beduinenlager verschwindet aus dem Blickfeld, armselige Hütten aus Pappe und Holz mit Säcken vor den Fensterlöchern, jetzt ein Zeltlager der Armee, Lastwagen, Traktoren und Panzer hinter hohem Stacheldraht, weithin sichtbar die weiße Fahne mit dem sechseckigen Stern. An beiden Seiten der Autobahn ziehen Soldaten, kleine Trupps meist bärtiger junger Männer mit Maschinenpistolen, barhäuptig, die Barette unter die Schulterklappen der Kakihemden geschoben. Es sind auch Frauen unter ihnen, schwarzhaarige, dunkeläugige Sabras in Uniform. Selbstsicher halten die Soldaten die in Richtung Jerusalem, Richtung Tel Aviv jagenden Autos an. Sie bringen den Bus zum Stehen, hocken sich hin, wo sie Platz finden, auch auf dem Boden im Gang. Der Bus rollt weiter. Niedrig über das Zeltlager jagen in enger Formation drei Düsenjäger von den Hügeln her einem Stützpunkt zu. Ihre Schatten huschen über die Dächer der Beduinenhütten, den Asphalt der Autobahn, über die Tankstelle, die Silos, die lang gestreckten, flachen Fabrikgebäude eines Kibbuz. In der Ferne sind die Kontrolltürme des Flughafens von Lod zu erkennen, und ich kann mir ausrechnen, dass wir in weniger als einer halben Stunde Jerusalem erreichen werden. Immer stärker setzt sich der Eindruck fest, dass ich ein Land mit weit mehr als drei Millionen Bewohnern bereise – wie auch immer, durch wessen Hilfe und auf wessen Kosten geschaffen wurde, was ich bislang gesehen habe, der Eindruck will nicht weichen, dass hier zehnmal drei Millionen Israelis am Werke gewesen sind. Mir kommt ein jahrzehntealtes Foto von Tel Aviv in den Sinn, auf dem eine Kamelkarawane zu erkennen ist, die durch eine öde Wüstenlandschaft zur Küste zieht. In fünfzig Jahren stetigen Aufbaus entstand dort eine dicht besiedelte Großstadt mit Hochhäusern, Hotels und Warenhäusern, die im Osten von der vielstöckigen Diamantenbörse überragt werden, im Zentrum vom Amerikahaus und zum Strand zu von der amerikanischen Botschaft. Was, so frage ich mich mit steigender Spannung, erwartet mich in Jerusalem?

Angekommen im Busbahnhof in der Jaffastraße und umgestiegen in einen Bus, der mich bis zum Zionplatz im Zentrum bringt, erkenne ich bald, dass ich von einer Stadt ureigensten Gepräges umgeben bin, die wenig mit Tel Aviv und gar nichts mit jenen westlichen Hochburgen der Industrie gemein hat, die ich kenne. Hier erhebt sich eine Stadt, die als „die goldene“ gepriesen wurde und von der es, zu Recht oder Unrecht, im Talmud heißt, dass sie die schönste unter der Sonne sei.

Pinchas Schapiro, kahlköpfig und von stämmigem Wuchs, schultert das schwere Bündel Zeitungen und trägt es die Treppe hoch ins Haus. Oben schneidet er mit einem Messer die Stricke auf, und nachdem er vier Dutzend Exemplare des Parteiorgans abgezählt und in Packpapier zusammengerollt hat, zieht er einen Stuhl von der Wand, setzt sich und stopft seine Pfeife.

„Nun, was ist?“, fragt er.

Zuerst hatte er in Jiddisch mit mir zu reden versucht, dann ist er zu dürftigem Deutsch übergegangen. Ich erfahre, dass er in Odessa geboren ist. Dort hat er das Schmiedehandwerk erlernt und die Tochter des Schmieds geheiratet. Sie hieß Chana und gebar ihm einen Sohn, den sie David nannten. Warum er irgendwann zu Anfang der Dreißigerjahre seine Familie im Stich gelassen und wie es ihn dann nach Wien verschlagen hat, bleibt unklar, weil er offenbar nicht bereit ist, die Gründe für die Trennung näher zu erörtern. Schon die Erinnerung daran scheint ihn zu quälen, und es fällt ihm auch nicht leicht, seine Flucht vor den Nazis zu schildern, die ihn aus Österreich vertrieben. In Paris dann schloss er sich nach der Besetzung dem Widerstand an, und als er in die Fänge der Faschisten geriet, befreiten ihn Partisanen. Die letzten Kriegsjahre müssen zu den tatenreichsten seines Lebens gezählt haben, er war an Bombenanschlägen auf Truppentransporte, Güterzüge, Brücken und Munitionslager beteiligt. Verständlich deshalb seine Erbitterung gegen die französischen Behörden, die ihm nach dem Krieg die Einbürgerung verweigerten, seiner sowjetischen Herkunft wegen. Auch aus seinem Hass gegen die Engländer, die eine Landung des Marseiller Flüchtlingsschiffes an der palästinensischen Küste verhindern wollten, macht er kein Hehl. Die Besatzung musste das Schiff bei Haifa auf Grund setzen, um den Passagieren die Möglichkeit zu schaffen, das Festland schwimmend zu erreichen. So gelangte Pinchas Schapiro in seine neue Heimat, staatenlos, mittellos, ohne Gepäck, ohne Anhang.

„Nun“, sagt er, „noch mehr Fragen?“

„Im Ernst, Pinchas, wie alt bist du wirklich?“

Er lacht, dass ihm der Pfeifenrauch in die Atemwege gerät. Hustend erklärt er, dass Lew Tolstoi sein Alter erst von dem Jahr ab zu zählen begonnen habe, in dem er die Arbeit an „Anna Karenina“ vollendet hatte. „Bin ich kein großer Dichter. Und doch mach ich’s wie der.“

Als sein Geburtsjahr, erklärt er, befrachte er das Jahr, in dem er in die Partei aufgenommen wurde. Das war vor zweiunddreißig Jahren, in Haifa, wo er am Hafen arbeitete.

Ich schätze, dass er auf die Siebzig zugeht. Er zuckt nur die Schultern, als ich ihm das sage, steckt die Pfeife weg, schiebt den Stuhl zurück und klemmt die in Packpapier eingerollten Zeitungen unter den Arm.

„Gehen wir!“

Ich folge ihm aus dem Haus. Es ist jetzt Mittag, und die Sonne strahlt auf die Dächer Jerusalems herab. Doch es bleibt kühl, ein kalter Wind bläst uns in den Nacken, als wir von der Koresh- in die Heshinstraße einbiegen und, an den Gerichtsgebäuden vorbei, durch die Parkanlagen gehen. Tief unter uns im Osten, umgeben von hohen Mauern, erstreckt sich die Altstadt mit ihren Moscheen, Minaretten und Kirchen, und fern am Horizont leuchten die gelben Hügel der Wüste. Im silbergrauen Dunst verschwimmen die Berge Moabs mit dem Blau des Himmels.

„Ein biblischer Anblick!“

„Ja“, sagt Pinchas Schapiro. „Ist schön.“

Wir wenden uns nach links, und da erst sehe ich die Russische Kathedrale hoch oben im Park. Hat er, der in Odessa Geborene, mich mit Bedacht hierher geführt? Er bestreitet es – unser Weg, sagt er, führe ohnehin in diese Richtung. Doch er bleibt unerwartet lange bei der Kathedrale stehen. Zwangsläufig bringe ich die Sprache auf Odessa, und mir ist dabei, als kreuzten sich unsere Gedanken. Dass seine damalige Frau inzwischen gestorben ist, hat er mir gesagt, doch den Sohn David hat er mit keinem weiteren Wort erwähnt. Als ich trotzdem nach ihm frage, ziehen sich seine buschigen Brauen zusammen.

„Nun“, sagt er schließlich, „ist er in Israel.“

„Seit wann, Pinchas?“

„Seit drei Jahren.“

Ich spüre, wie schwer es ihm fällt, das zuzugeben, und ahne, was er jetzt sagen wird.

„Sind wir uns begegnet, und das war schlecht. Trifft der Vater, der ist geworden Kommunist in Haifa, den Sohn aus Odessa – und der ist geworden Kapitalist. War in der Roten Armee, war Architekt in Odessa und ist geworden Kapitalist! Wie – ich weiß nicht. Willst du sprechen mit ihm?“

„Das wäre nicht falsch.“

„Falsch, richtig“, sagt er. „Was wird dir sagen einer, der ist geworden Kapitalist? Er wird dir sagen, Kommunismus schlecht. Mehr wirst du nicht hören von ihm.“

Er wirkt plötzlich so alt, wie er ist, ein kahlköpfiger Siebziger, dem man die Jahre voller Bedrängnis und harter Arbeit ansieht, und erst als geraume Zeit verstrichen ist und er beim Damaskustor den Packen Zeitungen an arabische Genossen übergeben hat, weicht der nachdenkliche Blick aus seinen Augen.

Jerusalem – der Klang beschwört Kindheitserinnerungen an den Religionsunterricht herauf, an Wintermorgen im grauen Klassenzimmer und das Bild des gekreuzigten Jesus an der Wand, an sein leidendes Antlitz unter der Dornenkrone und die sanften Augen.

Jerusalem. Via Dolorosa, Kirchen und Kapellen hinter hell erleuchteten Ständen mit Heiligenbildern, Tand und Talmi glitzernd im Kerzenlicht. Menschen, Menschen, christliche Pilger aus aller Welt. Was denken sie, wenn sie Schritt für Schritt dem Leidensweg Jesu folgen? Die Via Dolorosa mündet in eine enge Gasse, die zum Arabermarkt führt, wo unter den Arkaden noch buntere, schreiendbunte Stände aufgebaut sind vor weiträumigen, in goldenes Licht getauchten Läden mit Teppichen, funkelnden Messingschüsseln, Pfannen, Tellern, vielfarbigen Stickereien, Kleidern, Tüchern, edelsteinbesetzten Dolchen und Degen, Lederkissen und Schafspelzen, Pelzmützen und Pantoffeln. Die Luft ist durchdrungen vom Geruch orientalischer Gewürze, dem lauten Gewirr arabischer Stimmen. Der dürre Bettler am Boden streckt die Hand aus: Bakschisch, Bakschisch. Er weicht zurück vor den Hufen eines schwer beladenen Esels, den ein Araber im Burnus durch die Menge treibt. Geradewegs zur Klagemauer führt der Khan-Ez-Zait, die Marktstraße, und durch die Menge auf dem Markt geleitet ein junger Soldat in Fallschirmjägeruniform einen alten Juden im Kaftan bis hin zur Mauer; dort bleibt der Alte stehen, hält starr die Hände vor sich, er ist blind, kann die Mauer nicht sehen und nicht die leuchtende Kuppel der Omar-Moschee, den betenden Mohammedaner auf den Steinfliesen nicht, die Nonnen, die Priester. Das Gesicht zur Klagemauer, beugt sich der betende Blinde vor und zurück, seine Stimme ist sehr fern und nur schwach zu hören …

Ganz deutlich aber, sehr nah und hallend im Gewölbe des Grabmals der Rachel, sind die Stimmen der klagenden Juden von Bethlehem zu hören; durch puren Zufall bin ich dorthin gelangt.

Unweit des König-David-Hotels vor der Jerusalemer Altstadt hatte der zerbeulte Araberbus plötzlich angehalten. Glaubte der Fahrer, ich sei ein Araber? Er rief mir etwas zu, wovon ich nur das Wort Bethlehem verstand; ich nickte, die Tür flog auf, ich stieg ein, zahlte den Fahrpreis, und jetzt erst schien er mich als Ausländer erkannt zu haben. Kaum zwanzig Minuten danach sehe ich mich am Grabmal der Rachel abgesetzt, wohin ich nie gewollt hatte. Rachels Grabmal – warum hat der Fahrer nicht vermutet, dass die Geburtsstätte Jesu mein Ziel war? Vor dem Eingang sitzt lässig ein bärtiger Soldat in der Sonne, die Maschinenpistole auf dem Knie; er beachtet mich kaum, hat mich auf den ersten Blick als einen Fremden erkannt, und dieser Fremde steht nun verwirrt in dem Gewölbe, das innen durch eine Wand geteilt ist, er hört zur Rechten die jüdischen Frauen klagen und zur Linken die jüdischen Männer. Sie klagen, als sei Rachel, die mütterliche, Jakobs geliebtes Weib und die Mutter Benjamins, soeben erst zu Grabe getragen worden. Es ist ein gewöhnlicher Wochentag, drei Uhr nachmittags, und ich finde keine Erklärung für das Bedürfnis der Juden, an diesem Donnerstag im November das Knie zu beugen und über das Hinscheiden von Rachel vor Tausenden von Jahren wehklagend aufzuschreien.

Weit besser begreife ich den jungen Araber, dem ich zwei Stunden später in der Hebronstraße begegne. Für wen hält mich der schmächtige Mann mit dem schmalen Gesicht und dem weichen Blick in den dunklen Augen? Sieht er den Juden in mir oder nur den Ausländer, der aus fernen Welten nach Bethlehem gekommen ist? Ich weiß es nicht, und ich gebe hier nur wieder, was er mir, die Hand aufs Herz gelegt, in stockendem Englisch sagt: „Mein sehnlichster Wunsch ist Frieden. Ich möchte Frieden im Land und dass wir Araber mit den Juden in Eintracht leben. Die Welt ist mir nicht fremd, ich bin durch viele Länder gereist, aber verweilen möchte ich nur in Bethlehem, der Stadt meiner Väter, meiner Heimatstadt. Es ist mir eine Ehre, Ihnen hier begegnet zu sein. Sie sollen wissen, nichts wünsche ich sehnlicher, als dass eine sanfte Hand über dieser Stadt liege.“

In der Ferne ist der Bus zu erkennen, grau mit blauem Dach hebt er sich schwach vom Horizont ab, rollt langsam näher, und jetzt schweigt der Araber. Zwischen den Hügeln vor uns zieht eine Kamelkarawane ihres Weges, stetig schreitende Tiere, die sich im Gegenlicht der Sonne dunkel gegen die Landschaft abheben. Der Araber gibt dem Fahrer ein Zeichen, der Bus hält. In dem fast voll besetzten Fahrzeug finden wir nur auseinanderliegende Plätze. Nach kurzer Zeit aber spüre ich eine Hand auf der Schulter: Der Araber deutet auf den neben ihm frei gewordenen Sitz. Ich komme zu ihm. Lange schweigt er, und ich frage mich, warum er mich zu sich gebeten hat. Erst kurz bevor er am Stadtrand von Bethlehem aussteigt, wendet er sich noch einmal zu mir, leise und eindringlich: „Friede sei mit Ihnen!“ Wieder legt er die Rechte aufs Herz, verbeugt sich, schlüpft dann durch die Tür ins Freie und ist gleich darauf in einer Gasse verschwunden, die steil zwischen den gelben Häusern nach oben ansteigt.

Mein Bericht von der Begegnung mit dem Araber hat Miriam Halevi nachdenklich gestimmt, mir ist sogar, als läge ein Ausdruck von Betroffenheit in ihren Augen. Dann aber verschwindet dieser Ausdruck. Nicht nur ihr Vater, auch sie selbst wünsche nichts sehnlicher als ein friedliches Miteinander von Juden und Arabern. Ihr Verlobter, den ich gestern kennengelernt habe, sei vom Krieg fürs Leben gezeichnet. „War das nicht zu merken?“

Nein, ich hatte nichts bemerkt. Der junge Offizier einer Panzereinheit, ein hochgewachsener, braun gebrannter Mann, war mir durchaus gesund vorgekommen und wirkte ruhig und besonnen. Wie denn und wodurch war er fürs Leben gezeichnet?

„Seit dem Sinai-Einsatz ist Ezra auf dem linken Ohr taub. Es muss Ihnen doch aufgefallen sein, wie er den Kopf wendet, wenn er angesprochen wird.“

Es läutet an der Wohnungstür. Miriam eilt, um zu öffnen. Augenblicke später kommt sie mit ihrem Verlobten zurück. Er hat den Arm um sie gelegt. Zierlich, wie sie ist, verschwindet sie förmlich neben ihm. Ich stehe auf, um zu gehen, doch beide drängen mich zu bleiben.

Ezra Kaplan, der Panzeroffizier, wirkt angenehm unsoldatisch, wie er da sitzt, die Ärmel des Kakihemdes hochgerollt, die Bänder der Schnürstiefel gelockert. Er hat eine jungenhafte Art, das Haar zurückzuwerfen und dann lächelnd aufzublicken. Jetzt aber, während ich auf Miriams Bitte hin noch einmal die Worte des Arabers wiedergebe, lächelt er nicht. Den Kopf leicht nach links gewendet (nun, da ich darauf achte, fällt es mir auf), betrachtet er mich skeptisch.

„Doch das Messer sieht man nicht“, sagt er, ohne die Stimme zu heben. „Arabisches Geschwätz aus Tausendundeiner Nacht!“

Da er wohl spürt, dass ich zum Widerspruch ansetze, fährt er ohne Pause und um einiges heftiger fort: „Der Hass ist mit Worten nicht aus der Welt geschafft. Wir stehen gegen die Araber mit dem Rücken zur Wand. Für uns geht es um Sein oder Nichtsein!“

„Für die Palästinenser in den Lagern etwa nicht?“, wirft Miriam ein.

„Kleine Taube“, sagt er mit leiser Eindringlichkeit. „Echo deines Vaters! Die Palästinenser, diese armen Teufel, sind die Opfer zwischen den Fronten – um sie geht es am wenigsten.“

„Sind wir etwa besser dran?“, fragt Miriam.

„Ich meine doch“, sagt er. „Sollten wir noch immer die Opfer sein, wäre ja alles umsonst gewesen!“

„Alles wäre umsonst gewesen, wenn wir aus den Verfolgungen, die wir selbst erlitten haben, nichts gelernt hätten“, erwidert sie.

Er fällt ihr ins Wort: „Nämlich der Gewalt muss mit Gewalt begegnet werden, und Angriff ist die beste Verteidigung. Ob wir das Blatt aber tatsächlich wenden konnten, steht noch nicht fest. Fest steht nur …“ Als er weiterspricht, verrät der Ton seiner Stimme, dass er sich zu rechtfertigen versucht: „Was mich angeht, so werde ich jedenfalls nicht abwarten, bis die Zukunft mir recht gibt.“

„Wie soll ich das verstehen, Ezra?“

„Sechs Jahre im Panzer und halb taub dazu, das reicht doch, oder nicht?“

„Was hast du vor? Was verbirgst du vor mir?“

„Es ist schon mancher in Amerika geblieben, der eigentlich nur einen Besuch dort machen wollte. Den nächsten Nahostkrieg erlebe ich am Bildschirm, in New York oder in Chicago!“

„Bei wem?“, fragt sie bestürzt. „Mit wem?“

„Du studierst hier zu Ende und kommst dann nach“, höre ich ihn noch sagen. Sie sprechen jetzt hebräisch weiter und bemühen sich nicht länger, mich durchs Englische einzubeziehen. Ich schiebe meinen Sessel zurück und stehe auf.

„Auf Wiedersehen.“

Nur Miriam antwortet. Der Soldat, so scheint es, hat mich weder gehört, noch bemerkt er, dass ich das Zimmer verlasse. Sein Blick bleibt, auch während er mit Miriam spricht, auf einen fernen Punkt gerichtet.

Schon die Gestik der Hände Felicia Langers, besonders aber der Ausdruck ihrer Augen lassen erkennen, dass sie eine gefühlsbetonte Frau ist. Langjährige Kommunistin, langjährige Anwältin, Israelitin polnisch-jüdischer Herkunft, bestreitet sie keinen Augenblick, dass sie leidenschaftlich Anteil nimmt am Schicksal der gedemütigten, geschundenen, oft zu verzweifeltem Widerstand getriebenen Palästinenser, die sie seit dem Sechstagekrieg vor vielen Militärgerichten verteidigt.

„Dass wenigstens die gestrige Verhandlung gut endete!“, sagt sie seufzend. Ihr Mitgefühl schlägt auf mich über und bezieht mich in das Schicksal des Arabers ein, dessen sie sich angenommen hatte. „Versuch dir vorzustellen, was es für ihn bedeutet, am Vorabend der höchsten mohammedanischen Feiertage zu seiner Familie zurückzukehren – das ist, wie wenn einer in Nazideutschland am Heiligabend aus dem KZ entlassen wurde. Nach achtzehn ungewissen Monaten hinter Gefängnismauern muss das Urteil für ihn eine Erlösung gewesen sein.“

Issam al-Quish war in Ost-Jerusalem unter dem Verdacht, Mitglied der Befreiungsbewegung zu sein, verhaftet worden. Eine Haussuchung hatte jedoch nichts ergeben, und auch während der langen Untersuchungshaft konnten keine Beweise gegen ihn zusammengetragen werden. Trotzdem hatte man ihn festgehalten, denn im Hause seines am selben Tag wie er verhafteten Bruders waren Waffen und Flugschriften gefunden worden.

Unter diesen Umständen war sich Felicia Langer darüber klar gewesen, dass man Issam al-Quish mit aller Härte vernehmen würde, selbst Folterungen waren nicht auszuschließen.

Nun war der Prozess gelaufen, der Fall entschieden. Issam al-Quish hatte seine schon während der Vernehmungen gemachte Aussage wiederholt – nämlich, dass ihm die Aktionen seines Bruders bekannt gewesen seien, er sich aber nicht daran beteiligt und auch nicht beabsichtigt habe, sich daran zu beteiligen. Er wurde dennoch verurteilt, man hatte ihm aber die lange Untersuchungshaft angerechnet und ihn „zur Bewährung“ freigelassen.

Ich spüre, dass Felicia Langer nicht uneingeschränkt froh über diesen Verlauf des Prozesses ist. Ob die Aussagen von Issam al-Quish nicht vielleicht Weiterungen für seinen Bruder haben könnten? Als ich das andeute, zuckt die Anwältin nur die Schultern.

„Der Bruder“, sagt Felicia Langer, „ist längst in einem Schnellverfahren zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Gleichzeitig ist sein Haus gesprengt und der Boden, auf dem es stand, beschlagnahmt worden. Ich denke nicht, dass die Aussage, zu der ich Issam al-Quish geraten habe, irgendwem schaden kann. Auch seine Eltern sind sich da sicher. Der Araber, den Sie in meinem Vorzimmer gesehen haben, war der Vater von Issam al-Quish. Er ist den weiten Weg von Ost-Jerusalem gekommen, um mir zu danken.“

Ich horche auf. Fast eine Stunde lang habe ich im Vorzimmer der Anwältin neben dem greisen, mit einem Burnus bekleideten Araber auf der Bank gesessen. Seiner Sprache nicht mächtig, musste ich stumm bleiben. Sicher hätte ich sonst zu ergründen versucht, was ihn herführte, und durch den direkten Kontakt mit ihm vieles über das Schicksal seiner Familie erfahren.

Den Kopf zur Seite geneigt, sodass ihr blondes Haar die Schultern berührt, betrachtet Felicia Langer mich prüfend. Sie scheint meine Gedanken zu erraten.

„Natürlich“, sagt sie, „man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, mindestens muss man mit den Menschen sprechen, die es betrifft, wenn man sich ein Bild machen will, wie es in den besetzten Gebieten zugeht. Ich verstehe sehr gut, dass es dir nicht genügen kann, alles nur aus zweiter Hand zu erfahren.“

„Da ich doch jetzt den Namen der Familie weiß, müsste es mir eigentlich gelingen, sie zu finden“, sage ich.

„Versuche es. Aber nicht auf eigene Faust. Du brauchst Hilfe.“

Ich will es vorwegnehmen, meine an Ahmed Safadi gerichtete Bitte löste zunächst wenig Entgegenkommen aus. Ich hatte den Araber tags zuvor in Gesellschaft von Pinchas Schapiro kennengelernt, und er hatte sich erboten, mir jede benötigte Hilfe zu leisten. Jetzt schien er das plötzlich vergessen zu haben. Nein, nicht der Umstand, dass es sich um eine Fahrt ins besetzte Gebiet handelte, sei das Haupthindernis. Die Israelis betrachteten ja das von ihnen eroberte Land bereits als annektiert, sodass keine Grenzsperren mehr bestanden. Was also ließ ihn zögern? War er misstrauisch geworden? Oder standen die heiligen Feiertage unserem sofortigen Aufbruch nach Ost-Jerusalem entgegen? Er gab mir keine Erklärung, und auch zwei Tage später trennten wir uns wortlos, nachdem ich ihm für die erfolglose Taxifahrt die horrende Summe von achtzig Pfund ausgehändigt hatte.

Es war eine kurze Fahrt, aber ich werde mich lange an sie erinnern, nicht nur weil sich die Wege, über die wir fuhren, so gefahrvoll schmal und steinig an den Hängen der Hügel in die Tiefe schlängelten, sondern vor allem wegen des Ziels, dem wir zustrebten.

Als mein Begleiter einen einsamen Ziegenhirten nach der Familie al-Quish fragt, scheint der alte Mann zu stutzen. Er zieht das schwarze Wolltuch straff um die Schultern, wobei sein Gesichtsausdruck hart und undurchdringlich wird, und entgegnet dann in Worten, die Safadi mir übersetzen muss: „Geht nicht hin! Ein Vetter von Issam al-Quish ist in der Nacht getötet worden. Es heißt, er war ein Spitzel der Juden.“ Schon will Ahmed Safadi den Taxifahrer anweisen, er solle wenden. Ich hindere ihn daran, bin fest entschlossen, die Suche notfalls auch allein fortzusetzen.

„Das wäre Wahnsinn!“, sagt Ahmed leise, aber mit Schärfe. „Niemand darf das jetzt wagen!“

Ein kleines Arabermädchen kommt den Hang herabgeklettert. Ich schlage Ahmed vor, das Kind mit einer Nachricht zum Hause der Familie al-Quish zu schicken.

„Vielleicht“, räumt er ein, „ist Issam bereit, sich irgendwo mit Ihnen zu treffen. Wer ich bin, weiß er, und was Sie von ihm wollen, wird das Mädchen ihm ausrichten.“

Der Fahrer hat das Taxi in eine Ausbuchtung des Weges gelenkt. Wir können von hier aus hinunter ins Tal und weit über die Wüste bis hin zu den blauen Wassern des Toten Meeres blicken. Am Horizont flimmert die Luft unter der Sonne, und es wird wärmer.

Wir warten.

Längst ist das Mädchen unseren Blicken entschwunden. Die Nachricht muss bereits übermittelt sein. Doch alles bleibt still, niemand kommt aus einem der Lehmhäuser den Weg zu uns herauf. Aber von oben sind Motorengeräusche zu vernehmen, aus der Kurve rollt ein Fahrzeug auf uns zu, es bremst hart, kommt neben dem Taxi in der Ausbuchtung zum Stehen. Vier Männer steigen aus, Araber, nicht mehr jung, mit braunen, von Wind und Sonne gegerbten Gesichtern. Langsam gehen sie auf die Häuser im Tal zu. Nur der Fahrer bleibt zurück. Er sichert die Räder seines Wagens mit Steinen und hockt sich rauchend neben den Fahrer unseres Taxis. Ein Gespräch kommt zwischen ihnen in Gang, und bald wendet sich Ahmed Safadi brüsk an mich: „Es hat keinen Sinn zu warten. Issam al-Quish kommt bestimmt nicht.“ Die vier Männer, das sei dem Gespräch zu entnehmen, seien auf dem Weg zu der Familie al-Quish, und sie würden ganz sicher unsere Begegnung verhindern. „Vergessen Sie nicht“, fügt er hinzu, „ein Spitzel, der die Verhaftung der Brüder al-Quish auf dem Gewissen haben soll, ist beseitigt worden. Wird man sich da mit einem Fremden einlassen, von dem man nichts weiß?“

Der Sohn des Rabbiners

Der Kibbuz Hazorea ist vom Zentrum Haifas in einer viertelstündigen Autofahrt zu erreichen. Auch die fast hundert Kilometer von Tel Aviv oder die etwa hundertundsechzig von Jerusalem sind auf der Autobahn schnell zurückgelegt. Da fallen die zusätzlichen vierzig Kilometer, die ich von Jericho herübergekommen bin, wo ich kurz zuvor noch im buntschillernden Arabermarkt untergetaucht war, kaum ins Gewicht.

Chaim Bronstein aber, Sohn des Rabbiners, bei dem ich als Junge Religionsunterricht hatte, ist in vierzig Jahren außer in Haifa in keiner dieser Städte gewesen. Dabei wirkt er durchaus nicht weltfremd. Es scheint ihm auch an Interessen nicht zu fehlen. In seinem Zweizimmerhäuschen fällt die große Zahl literarischer und wissenschaftlicher Bücher auf, die die Wandregale füllen. Auch die Schallplatten auf dem Tisch zeugen von einem weitgefächerten Geschmack: Bach, Gillespie, Rachmaninow, Gershwin.

Wie er da vor mir steht, schmächtig, mit wachen blauen Augen unter hoher Stirn, braungebrannt bis tief in den Ausschnitt des weißen Hemdes, das Haar schlohweiß, macht er mehr den Eindruck eines aktiven, vermutlich weit gereisten Forschers als den eines anspruchslosen Plantagenarbeiters.

Der Eindruck trügt. Chaim Bronstein ist, seit er dem Kibbuz beitrat, sesshaft geblieben. Nie hat es ihn fortgezogen, sogar auf Urlaubsreisen hat er verzichtet. „Wen sollte ich besuchen? Ich habe keine Geschwister, und meine Eltern sind noch vor dem Krieg verstorben.“ Von dem Geld, das ihm jährlich aus der Kibbuzkasse zusteht, hat er sich immer nur auszahlen lassen, was er für seine Bücher und Schallplatten brauchte. Nach mehr verlangt es ihn nicht, Besitz ist ihm von Übel – wozu, sagt er, braucht er Geld in der Tasche oder Ersparnisse gar, wenn er alles Nötige vom Kibbuz bekommt?

Je länger ich mit ihm spreche, desto mehr gewinne ich den Eindruck, dass er sich mit den Jahren bewusst in diese Oase zurückgezogen hat – der Geborgenheit wegen und vielleicht auch, um sich abzuschirmen gegen Ereignisse, die draußen spürbarer und weit aufreibender wären. Der Kibbuz wurde das Zentrum seiner Welt, hier hatte sein zweites Leben begonnen, hatte er als Tischler zu arbeiten angefangen. „Damals arbeiteten wir wegen der Araberüberfälle noch hinter Palisaden, jetzt steht da eine Möbelfabrik, und wir beschäftigen Araber.“ Später erlernte er die Gartenarbeit, dann das Forsthandwerk, und schließlich wechselte er zu den Zitrusplantagen über, wo er mit seinen fünfundsechzig Jahren noch täglich sechs Stunden tätig ist. „Lange genug, nicht zu rosten – davor muss man sich besonders im Alter hüten!“

Obschon mich sein Leben und sein Zugehörigkeitsgefühl beeindrucken, die Art, wie er betont, dass die Araber, die sie einst bedrängten, dem Kibbuz inzwischen ihre Arbeitskraft verkaufen, gibt mir zu denken. Lohnarbeit im Kibbuz – was blieb da von Gleichheit und Brüderlichkeit, denen sie sich verschrieben hatten? War denn je erwogen worden, die beschäftigten Araber zu Mitgliedern des Kibbuz zu machen? Als ich ihn das frage, sieht er mich befremdet an. Es ist, als höre er nicht recht. Dann aber lächelt er nur vage und zuckt die Schultern. Ich dränge nicht in ihn. Mir widerstrebt es plötzlich, hier, zwischen den sorgsam gepflegten Blumenbeeten, auf dem schattigen Rasen unter den Eukalyptusbäumen, wo vorher Wüste war, seinem Stolz auf das von ihm Mitgeschaffene Abbruch zu tun. War ich denn nicht beglückt gewesen, ihn gefunden zu haben, einen Überlebenden, den Sohn meines alten Rabbiners! Ich strecke ihm die Hand entgegen.

„Chaim“, sage ich, „leb wohl.“

„Du auch“, erwidert er leise.

Ein Anflug von Unruhe zeigt sich in seinem Gesicht, ein Schatten von Resignation. Mir ist, als hinge er Gedanken nach, die ihn bedrücken.

„Sicher, auch die Möbelfabrik hat den Kibbuz reicher gemacht“, sagt er. „Aber sind wir der paar Araber wegen gleich …“ – er sucht nach Worten – „… Kapitalisten und Ausbeuter?“ Und er hebt abwehrend die Hand. „So weit, glaub mir“, fügt er schließlich hinzu, „hat sich noch keiner hier von den Zielen getrennt, die uns zusammenführten.“

Wir leben spartanisch hier, dort oben in dem kleinen Haus bei Safed, wohl an die tausend Meter über den klaren blauen Wassern des Sees Genezareth gelegen. Er hätte es bequemer haben können, doch so will er es, so ist er es von Jugend an gewohnt – ein Holztisch, ein Stuhl und eine Pritsche, und in dem anderen Zimmer, das er mir freimacht, nichts weiter als die Pritsche.

Frühmorgens, vor Sonnenaufgang, waschen wir uns unter kalter Dusche. Ihm macht die Kälte nichts aus, und den Kaffee, den ich brühe, rührt er nicht an, ihm genügt die Pampelmuse aus dem Sack, den sie uns auf dem Kibbuz Nof Ginossar mitgegeben haben. Nichts weiter als die Frucht und einen mit Margarine bestrichenen Brotkanten isst er zum Frühstück, obschon er weiß, dass wir bis zum Abend kaum noch etwas zwischen die Zähne kriegen werden.

„Nimm ein paar Scheiben Brot mit“, sagt er, „die treibt der Hunger auch trocken runter, verlass dich drauf!“

Ich glaube seit meiner Armeezeit zu wissen, was man aus einem Jeep herausholen kann. Er aber zeigt mir noch einiges während der mühevollen Fahrten über die steilen, steinigen Pfade der Gebirgsketten. Nie würde ich mich mit einem Fahrzeug hierher trauen, allein schon, weil es immer wieder nötig ist, den Weg von Geröll zu räumen – da hilft nur die Brechstange, hilft der Spaten und vor allem der zupackende Griff. Zuweilen, wenn mit dem Jeep absolut kein Weiterkommen ist, schultert er seine Maschinenpistole, „man weiß nie, wann man das Eisen braucht, hier im Grenzgebiet“, und verschwindet mit langen Schritten – ein Mann von Fünfzig, den man auf dreißig schätzt, kerniger Bauernsohn und Jude aus Kärnten, der nach dem Krieg in dieses Land kam und sich seitdem Herzl Kazir nennt, nach Theodor Herzl, dem Gründer des Zionismus. Als Landarbeiter hatte er auf dem Kibbuz Hazorea angefangen, dort heiratete er meine Cousine Golda, die später durch Wiedergutmachungsansprüche zu Geld kam und ihn in eine Eigentumswohnung nach Haifa lockte, wo es ihm eng war und stickig und trist. Er entkam, suchte und fand bei der Jewish Agency eine Arbeit, die ihn wieder mit der Landarbeit verbindet, wenn er allwöchentlich das Bergland Nordisraels und der Golanhöhen nach Erosionsschäden durchforscht.

„Golda wollte, dass ich mich auf meine Sprachkenntnisse besinne und für gutes Geld den Fremdenführer mache.“ Er lacht. Mit der Hand die Augen beschattend, steht er breitbeinig da und blickt weithin übers Tal zu den schneebedeckten, in der Morgensonne strahlenden Kuppen des Berges Hermon. Er bückt sich nach einem Klumpen feuchter Erde, den er prüfend auseinanderbröckelt, folgt mit den Augen dem Fluss des Wassers von der Bohrung bis hin zur Zitrusplantage unter uns. „Gut“, meint er und erklärt mir, wie es geschafft wurde, dass das Wasser, ohne Schaden anzurichten, versickerte. Er macht eine Eintragung in die Karte, die er in einer Ledertasche mit sich führt.

„Verdammt sinnvoller als den Fremdenführer für Leute zu machen, die im Grunde nur kommen, um sich an unseren Kriegen zu berauschen, und für unseren Kampf um den Boden und wie wir ihn urbar machen, kaum ein Ohr haben.“

„Auch ich habe dich nach den Kriegen gefragt“, erinnere ich ihn.

Er sieht mich an. Seine dunklen Augen blicken nachdenklich. „Dir aber brauchte ich keine Zugeständnisse zu machen, dir ging es nicht um die Kriege an sich, sondern um meine Sicht auf die Dinge. Eben weil der Boden hier mit so viel Blut getränkt ist, auch unserem, kann ich es nicht über mich bringen, irgendwelche Legenden zu schüren. Es ist ja nicht so, als hätten wir die Syrier besiegt wie einst David den Goliath. Bei allem Opfermut, aller Einsatzbereitschaft – wie weit wären wir denn gekommen ohne die Technik modernster Waffen?“ Er hält inne. „Was nicht heißt, dass ich nicht wüsste, was unsere jungen Soldaten leisten mussten und geleistet haben. Nur würde ich lieber ein Lebtag lang trockenes Brot essen, als ruhmredig aufzählen zu müssen, wie viele Tanks und Flugzeuge wir zerstören konnten – was sagt denn das aus, und wer garantiert uns denn, dass sich das Blatt nicht auch einmal wendet?“

In Nazareth

Es wird still jetzt in den Basars, die Mittagszeit ist nah, nur noch wenige Menschen bevölkern die Casa Nova. Im Reisebüro ist es schattig und kühl. Kühl ist jetzt auch die Haltung des Direktors, Herrn Antoine Shaheens. Eben noch hatte er sich überschwänglich erboten, mir nach einem gemeinsamen Essen Nazareth zu zeigen, „die Geburtsstadt von Jesus Christus, die Stadt, in der er dreißig Jahre lebte, die Stadt der mehr als fünfzig Kirchen und Kapellen zu Füßen des Berges Tabor“.

Hier, so fuhr Shaheen fort, sei er aufgewachsen und zu den Ehren und dem Einfluss eines langjährigen Mitglieds des Stadtrats gelangt. „Verzeihen Sie, dass ich davon spreche, doch es gehört ja zu den Fakten, und Sie wollten es wissen, nicht wahr?“

Nun aber, während er mich argwöhnisch über seinen Schreibtisch hinweg betrachtet, sind seine Augen schmal geworden – ungewöhnlich blaue Augen, wie ich sie bis dahin bei keinem Araber bemerkt habe. Als er schließlich ansetzt, auf mein eigentliches Anliegen zu antworten, schwingt in seiner Stimme deutlicher Unwille mit.

„Zunächst einmal sei festgehalten, dass man Sie falsch informiert hat. Mir liegt jede Absicht fern, unseren jetzigen Bürgermeister anzugreifen. Ich habe nur die Befürchtung geäußert, dass wir es nun schwerer haben werden, mit sozialen Forderungen durchzudringen. Oder glauben Sie, dass man in Regierungskreisen nicht weiß, wer Tawfiq Sayad ist?“