Wohin der Mensch gehört - Walter Kaufmann - E-Book

Wohin der Mensch gehört E-Book

Walter Kaufmann

4,8

Beschreibung

„In der Pause hatte ihm einer der beiden Jungen, der größere, seinen Tennisball weggenommen. Stefan hatte ihn zurückgefordert, aber da war der zweite Junge gekommen und hatte gesagt: „Wenn wir mit dir abgerechnet haben, dann kriegst du ihn wieder.“ „Wieso?“, fragte Stefan. „Ich kenne euch nicht.“ „Aber du wirst uns kennenlernen, Itzig“, sagte der Größere. „Ich will meinen Ball wieder.“ „Wenn du was willst, du Judenjunge, dann sag .bitte!“ Der Kleinere mit dem finsteren Gesicht trug einen schwarzen Sweater, der wie Haut an ihm haftete. Der Größere hatte ein Pferdegesicht voller Pusteln und trug ein braunes Hemd mit Schulterriemen. Sie drängten Stefan abseits von seinen Klassengefährten an eine Mauer. „Hör, Itzig“, fragten sie, „wieviel Prozent Jude bist du?" „Geht weg!“, fauchte Stefan. Sie lachten höhnisch: „Hat hier einer was gesagt?“ „Ist deine Mutter Jüdin?“, fragte der Große. „Ja.“ „Ist dein Vater Jude?“ „Ja.“ „Sag: Mein Vater ist ein dreckiger Jude!“ Stefan stieß den im schwarzen Sweater zurück. Sein Herz klopfte. Er versuchte nach der Seite zu entschlüpfen. Sie packten ihn und schleuderten ihn zurück an die Mauer. „Los, sag es!“ Stefan presste die Lippen zusammen. Es läutete, und Stefan sah seine Klassenkameraden ins Schulhaus zurückströmen. „Du hast nicht den Mut, es zu sagen“, stellte der Große fest. „Dann will ich es dir sagen: Dein Vater ist ein dreckiger Jude!“ In diesem erstmals 1957 im Verlag Neues Leben Berlin erschienen Buch erzählt Walter Kaufmann, der als Kind jüdischer Adoptiveltern mit viel Glück vor den Nazis aus Deutschland fliehen konnte, auf beeindruckende Weise, von seiner Kindheit in Deutschland und den immer schlimmer werdenden Erniedrigungen der Juden, von England und von Australien – ein erschütternder und trotzdem ermutigender Lebensbericht, der zeigt, wohin der Mensch gehört.

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Impressum

Walter Kaufmann

Wohin der Mensch gehört

Roman

ISBN 978-3-86394-561-9 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1957 im Verlag Neues Leben Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

ERSTER TEIL

1. Kapitel

Der Wind jagte Regenwolken über den Himmel. Die Waldbäume neigten sich. Herbstlaub tanzte in der Luft und irrte über den Boden. Der Wind trug eine schwermütige Weise zu ihnen herüber:

Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum ...

Als sie das Singen hörten, blieben sie stehen. Die junge Frau sah den Knaben an.

„Horch!“, sagte sie und begann leise mitzusingen:

Ich träumt’ in seinem Schatten ...

Der Junge war noch klein, sieben Jahre alt, und hatte einen matten olivbraunen Teint. Seine Durchsichtigkeit konnte darauf schließen lassen, dass er krank gewesen sei. Seine Haare, seine Augen waren ebenso dunkel wie ihre, aber er war nicht ihr Bruder.

Das Lied verklang, und es schien, dass die Sänger sich entfernt hatten. Aber nur der Wind hatte sich gelegt, wie immer, ehe Regen losbricht. Die wenigen Blätter an den Zweigen bebten, der Himmel hatte sich düster bezogen.

Der Junge sah hinauf und lief, um weit unten am Weg eine Schutzhütte zu erreichen, bevor die ersten Tropfen fielen. Sie eilte ihm nach.

In der Hütte saßen Männer; sie rückten zusammen, ihnen Platz zu machen. Es war dämmerig in der Hütte; trotzdem sahen sie, wie schäbig gekleidet die Männer waren und wie verhungert. Die Gesichter unter den abgetragenen Hüten und Mützen waren hager.

Eine tiefe Stimme sagte unvermutet: „Bist du das, Hilde?“

Sie schreckte auf. „Gerhart!“, sagte sie.

Der Junge betrachtete den Unbekannten und sah, dass er mager war und blonde Bartstoppeln die hohlen Wangen bedeckten. Das Jackett war ihm zu klein, und der Schal konnte nicht verbergen, dass er kein Hemd trug.

In Strömen begann der Regen von dem schrägen Hüttendach zu fließen, und dem Jungen war, als führen sie durch einen Wasserfall. Jemand riss ein Streichholz an, um einen Zigarettenstummel anzuzünden. Er warf das Streichholz auf die Erde, es brannte noch ein Weilchen, und in seinem Flackern sah der Junge, dass die Zehen des Mannes durch die Stiefelspitzen staken.

„Wir werden den ganzen Nachmittag hier sitzen“, sagte der Mann.

„Wenn schon“, sagte ein anderer, „zu versäumen hast du nichts. Oder doch?“

Der erste lachte bitter auf. „Nein“, antwortete er, „lass es regnen. Ich versäume nichts.“

Der Junge fragte sich, wer die Männer sein mochten. Hilde unterhielt sich immer noch ernst mit dem Unbekannten, ihn schien sie vergessen zu haben.

„Ich habe mich nicht verändert“, hörte er den Unbekannten sagen. „Ich hab’ dich immer gern.“

Der Regen ließ nach. Die Sonne stach durch die Bäume, Äste und Zweige schimmerten. Hilde drehte sich zu dem Jungen.

„Komm, Stefan“, sagte sie, „wir wollen gehen.“

Der Unbekannte begann zu singen:

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin ...

Dabei lächelte er Hilde an, und die anderen fielen mit Bass und Tenor in den Gesang ein.

„Es gefällt mir hier“, sagte Stefan.

Der Regen hörte auf, ehe das Lied zu Ende gesungen. Vom Dach fielen wie Perlen vereinzelt Wassertropfen auf die Erde.

„Wir müssen jetzt gehen“, sagte Hilde leise.

„Ich begleite euch“, sagte der Unbekannte, und zu den andern: „Bis morgen!“ Mit gleichmäßigen langen Schritten ging er neben Hilde und Stefan her.

Eine Weile fiel kein Wort. Eine Krähe flatterte zwischen den Bäumen, aus dem Unterholz erhob sich zarter Dunst. Schließlich hörte Stefan den Unbekannten sagen: „Ich liebe dich noch immer, Hilde.“

Hilde verlangsamte ihren Schritt nicht, aber ihre Wangen färbten sich rot.

„Ich möchte, dass wir heiraten“, sagte er. „Es geht, glaub mir. Ich verkaufe mein Fahrrad, dann haben wir ein bisschen Geld. Und Arbeit kriege ich schon, keine Angst.“

„Arbeit willst du kriegen?“, fragte Hilde erbittert. „Woher? Auf jede freie Maurerstelle ...“

„Aber ich bin kein Anfänger mehr.“

„Ich weiß nur ...“ Hilde unterbrach sich und hing ihren Gedanken nach. Endlich sagte sie: „Gerhart, du weißt, dass ich möchte. Du weißt, dass ich es sehr gern möchte. Aber ich bin noch keine Zwanzig und Vater wünscht, dass ich bei Hermanns bleibe. Jeden Monat bringe ich Geld nach Hause, und jetzt, wo Helmut auch keine Arbeit hat, brauchen sie jeden Pfennig. Außerdem habe ich die Hermanns gern, und sie haben mich gern. Für so vieles bin ich ihnen dankbar. Ich kann nicht so einfach von ihnen weglaufen.“

„Ist gut“, hörte Stefan den Unbekannten leise antworten, „ich mache dir keinen Vorwurf.“ Stefan sah zu, wie der Mann unter dem Jackett den Schal fester zog, als fröre ihn plötzlich. „Viel Glück“, sagte er, und dennoch lächelte er dabei. Stefan spürte die Enttäuschung wie einen Stich. „Viel Glück“, und damit trennte sich der Mann von ihnen.

Als sie aus dem Wald auf eine Lichtung traten, sahen sie die Prinzenstraße, wo Stefan wohnte. Es war eine vornehme Straße, breit und von Bäumen gesäumt. Der Regen verdunstete schon, der glatte Asphalt war unregelmäßig schwarz und grau gefleckt. In den Einfahrten zu den großen Villen parkten Luxusautos.

„Weißt du, wie viele Menschen arbeitslos sind?“, fragte Hilde Stefan, als sei sie ihm eine Erklärung schuldig.

„Nein“, sagte Stefan. Für ihn unterschied sich das Jahr 1931 in nichts von den vergangenen Jahren seines kurzen Lebens. Das Wort „arbeitslos“ war ihm nicht mehr als ein Begriff mit einem Beigeschmack wie „Scharlachfieber“ ...

Von dem unbebauten Grundstück neben dem Haus, wo Stefan wohnte, stieg Rauch auf. Er verteilte sich in der Luft und durchsetzte sie mit einem herben Geruch.

„Ich will sehen, was da los ist“, sagte Stefan zu Hilde.

Sie vermochte ihn nicht zu halten; seit seiner Krankheit fühlte er sich wie ein Vogel, der aus dem Bauer entlassen war. Er stieg durch ein Loch im Zaun und ging quer über das Grundstück über Ziegelsteine und Konservendosen und Marmeladengläser dahin, wo der Rauch herkam. In einer Höhle rösteten sechs Jungen verschiedenen Alters Kartoffeln. Einer, ein dunkelhaariger, schlanker, sah heraus. „Was willst du?“, fragte er.

„Nichts. Darf ich hier nicht stehen?“

„Wo kommst du her?“

Stefan zeigte in Richtung der stattlichen Villa in dem Garten neben dem Grundstück.

„Ich habe dich nie gesehen.“

„Ich bin krank gewesen.“

„Bring ihn herein, Werner!“, sagte eine andere Stimme.

Stefan kroch durch einen Gang und stand einem Jungen, doppelt so alt wie er, gegenüber, der auf einer Kiste saß und eine Kartoffel pellte. Die Ähnlichkeit mit dem, den er Werner rief, war unverkennbar - augenscheinlich waren sie Brüder.

„Wie heißt du?“, fragte der ältere ohne aufzusehen.

Stefan nannte seinen Namen.

„Wie alt?“

Stefan sagte es. Der andere pellte seine Kartoffel zu Ende, steckte sein Messer weg, dann erst betrachtete er Stefan. Sechs Augenpaare ruhten jetzt auf ihm.

„Du bist klein für dein Alter“, sagte der Junge mit der Kartoffel.

„Dafür kann ich nichts.“

„Kannst du laufen?“

„Ja.“

„Wie schnell?“

„Weiß ich nicht. Schnell genug.“

„Das werden wir feststellen. Geh hinaus und warte.“ Stefan gehorchte. Drinnen berieten sie über ihn, aber er vernahm nichts als undeutliches Gemurmel. Dann kamen alle heraus.

„Schön“, sagte der Junge, der in der Höhle mit ihm geredet hatte, „ich bin der Anführer. Das hier ist Fritz Falk.“ Er deutete auf einen untersetzten, derben Jungen in Stefans Alter, der Stefan verschmitzt, jedoch nicht unfreundlich anschaute. „Das ist Werner, mein Bruder, und der da Paul Jäger.“ Dieser, offensichtlich der Älteste, war ein dürrer Bursche mit wässrigen blauen Augen und einer Hautfarbe, die nur wenig blasser war als sein weißblondes Haar. Obwohl sein Gesicht fast ausdruckslos war, enthielt es doch etwas Unheimliches, und Stefan wusste nicht recht, ob es nur die spärlichen weißblonden Augenbrauen waren, die ihm ein Gefühl des Widerwillens einflößten, oder etwas, das in seinen Augen lag, etwas Kaltes, Grausames. „Das ist Hans Amendt, der Sohn von Major Amendt“ - dem Jungen schien die Erklärung zu gefallen - „und das Jan Förster.“ Der Sohn des Majors war blond und unauffällig, der andere schmächtig, fast mädchenhaft, sein Haar seidig und seine Kleidung vornehm. Außer Fritz waren sie alle älter als Stefan. „Und ich bin Franz Kolb. Also - wenn du in zwei Minuten so weit laufen und dich verstecken kannst, dass wir dich in einer Stunde nicht finden, dann nehmen wir dich in die Horde auf. Sonst ...“, er zuckte mit den Schultern, „sonst nicht.“

Er sah auf seine Armbanduhr und zählte. Bei 48 befahl er Stefan zu laufen. Stefan drehte sich um und rannte, die andern passten auf wie Schießhunde. Als er über den Zaun kletterte, taten ihm die Arme weh, aber den Zaun überklettern ging rascher, als durch das Loch kriechen. Als er sich auf die Straße herunterließ, schrammte er sich die Knie; sofort trat Blut hervor. Er achtete nicht darauf, sondern begann schneller zu laufen als je in seinem Leben. Er lief die Prinzenstraße hinunter, ohne sich umzublicken, bog um eine Ecke und noch eine Ecke, bis er an einen Fabrikzaun gelangte. Das Tor war mit Vorhängeschlössern versperrt und nicht übersteigbar, denn oben war es mit Stacheldraht besetzt. Nicht einen Augenblick zu früh entdeckte er eine Rinne, die unter dem Tor herausführte. Er robbte durch die Rinne auf den Fabrikhof, als auch schon auf dem Straßenpflaster das Gestampf von Füßen erscholl.

Er sah sich um. Alles war ruhig. Als er weiterging, flogen von einem Karren und von einem Stapel Kisten an einer Mauer mit blinden oder zerbrochenen Fensterscheiben erschreckte Spatzen auf. Am Ende des engen Hofes erhob sich gewaltig ein Schornstein. Mit großen schmutzig gelben Buchstaben war er beschriftet: Bauers Fruchtsäfte.

Mühsam schob Stefan eine Gleittür auf. Sie führte in einen dämmerigen Raum, dessen Boden einen widerwärtigen Geruch ausströmte. Eine quadratische Öffnung in der Decke, kreuz und quer von Spinngeweben überzogen, ließ vom Obergeschoss einen Schaft trüben Lichts hereinfallen. In der Mitte ihres Netzes, das voll war von Insektenleichen, saß - wie eine gespreizte Hand - eine große Spinne. Unter dem Netz standen Fässer mit faulenden Obstresten, die von Maden und Würmern wimmelten. Mit Kratzen und Scharren krallte sich an einem der Fässer eine dickbäuchige Ratte empor, ruhte einen Augenblick auf seinem Rande, mit hängendem dickem Hintern, Krallen in das Holz geschlagen; zog sich dann mit den Zähnen ganz hinauf und hastete davon. Stefan wurde übel von dem Anblick. Er floh aus dem Raum und schob die Tür hinter sich zu.

Auf der Suche nach einem andern Versteck stieg er die Holztreppe hinauf, die an der Außenwand im Zickzack zu der halb offenen Tür eines Lagerraums führte. Als er hineinging, wirbelte Staub auf und tanzte in den Sonnenstrahlen, die durch zerbrochene Fenster hereinbrachen. Auf Regalen schimmerten Reihen von Limonadenflaschen, und nachdem Stefan eine Falltür im Boden aufgehoben hatte, sah er in eine Werkstatt, wo auf Böcken geschnittenes Holz lagerte. Es roch angenehm nach Hobelspänen und Sägemehl. Stefan fischte eine Murmel aus der Tasche, warf sie hinunter und hörte sie fortrollen und das Gerenne von Mäusen. Dann setzte er sich an ein Fenster, sah über Dächer hinweg und an Türmchen vorbei und Schornsteinen und auf den nahe gelegenen Rathausturm und wartete, dass die Uhr die volle Stunde schlüge.

Plötzlich sah er einen Schopf schwarzer Haare sich durch die Rinne unter dem Tor schieben. Dem Kopf folgten ein Paar magere Schultern in einem Baumwollhemd, und dann stand ein barfüßiger Junge im Hof; aufmerksam wie eine Wildkatze sah er sich rasch nach allen Seiten um. Er war so alt wie Stefan und gleich groß. Seine langen Hosen waren mit Bindfaden befestigt und an den Knöcheln umgeschlagen. Das Gesicht war blass und hager, im Nacken ringelte sich wirres Haar. Flink überquerte der Junge den Hof, und als er dicht an der Mauer entlangschlüpfte, sah ihn Stefan nicht mehr. Nach einer Weile knarrte auf dem Treppenabsatz einen Stock tiefer eine Diele, eine Tür knirschte, nackte Füße klatschten, und dann war einen Augenblick lang Stille.

Stefan schlich an die Falltür. Auf den Zehen trat der Junge unten an einen Holzstapel, maß seine Höhe und zog sich mit großer Behändigkeit hinauf. Sogleich ließ er geräuschlos Bretter von dem Stapel auf den Boden gleiten. Schließlich hüpfte er wieder hinunter, geschickt federte er den Aufprall ab. Ein leiser Schrei entfuhr ihm. Er rieb seinen Fuß und hob die Murmel auf, auf die er gesprungen war, besah sie und steckte sie in die Tasche.

„Die gehört mir!“, rief Stefan. Seine Stimme hallte durch die Fabrik.

Sofort sprang der Junge hinter einen Stapel, aber Stefan rief: „Komm vor!“

Der Junge sah sich nach allen Seiten um und entdeckte die Falltür; er trat hervor und musterte Stefan, der auf ihn heruntersah.

„Was willst du mit den Brettern?“, fragte Stefan.

„Geht dich das was an?“

„Ich frage nur.“

„Wer bist du? Sohn vom Chef?“

„Sei nicht blöde.“

Die Haltung des Jungen wurde weniger feindselig. „Das Holz verkommt hier“, sagte er, „und wir brauchen es.“

„Wozu?“

„Wir bauen eine Hütte.“

„Zum Wohnen?“

„Was glaubst du? Für Kaninchen?“

Damit drehte sich der Junge um und fing an, das Holz zur Tür zu schleppen. Zur Sicherheit sagte er noch: „Mein Vater hat hier gearbeitet. Er hat ein Recht auf das Holz.“

„Ist mir egal, was du tust“, sagte Stefan. „Ich helfe dir.“

„Ich werde schon allein fertig“, sagte der Junge. Er quälte sich mit den Brettern ab, aber als Stefan hinunterging und mit anfasste, verwehrte er es ihm nicht. Zusammen mühten sie sich die Treppen hinauf und hinunter, stapelten sie das Holz im Hof.

Stefan sah die schwieligen nackten Füße des Jungen, die geflickten Hosen, die Haarsträhnen über dem Hemdkragen. „Wie heißt du?“, fragte er.

„Georg. Und du?“

„Stefan.“

„Wo wohnst du?“

„Prinzenstraße.“

Überrascht drehte Georg sich um. „Du brauchst mir nicht zu helfen“, sagte er zornig. „Weißt du nicht, dass ich das Holz klaue?“

„Doch.“

„Geh nach Hause! Mit Fatzken will ich nichts zu tun haben.“

„Ich bin kein Fatzke.“

„Du wohnst in der Prinzenstraße. Das genügt mir.“

Ohne ein weiteres Wort setzte Georg seine Arbeit fort, bis Schläge ans Tor ihn auffahren ließen. Als er unter dem Tor die Stiefel seines Vaters sah, war er beruhigt und lief hin.

Eine Stimme vor dem Tor fragte: „Wer ist bei dir?“

„Einer aus der Prinzenstraße“, antwortete Georg. „Als ich herkam, war er schon hier.“

„Hast du die Bretter beisammen?“

„Ja, Vater.“

„Schieb fünf Stück heraus, und lass die übrigen liegen.“

„Ist gut.“

Georg tat, wie ihm geheißen. Als er damit fertig, drehte er sich zu Stefan um und sagte: „Wir werden sehen, was du taugst. Sprich kein Wort hierüber.“ Damit verschwand er durch die Rinne.

Stefan beobachtete, wie Georg zurückkroch. Die Rathausuhr schlug die volle Stunde. Es war dämmerig geworden, und die Horde hatte ihn nicht gefunden. Aber das erschien ihm plötzlich weniger wichtig als diese neue Begegnung. Er kroch auch hinaus und ging nachdenklich nach Hause.

Um die Zeit, da die Bäume in der Prinzenstraße Knospen trieben, war Stefan als vollberechtigtes Mitglied der Horde anerkannt. An diesem Nachmittag saß er in seinem Zimmer und wartete, dass die Schauer aufhörten, und überlegte, was sie hinterher tun könnten. Sie konnten Fußball spielen oder auf dem Grundstück nebenan ein Feuer machen, vielleicht auch in der ehemaligen Fabrik von Bauer auf Entdeckungen ausgehen. In gewissem Sinne war es seine Fabrik, er hatte sie entdeckt, und immer noch konnten die andern nicht ohne seine Hilfe hineingelangen.

An seinem Fenster zog das wechselhafte Aprilwetter vorüber. In dem einen Augenblick regnete es, im nächsten zerfetzten heftige Windstöße die Wolken, und goldene Frühlingssonne schimmerte auf den Gardinen und funkelte in den Regentropfen an der Fensterscheibe. Dann wieder, als sei ein Vorhang heruntergelassen, waren die Gardinen ohne Glanz. Das Fenster klirrte. Irgendwo klappte eine Tür, und auf die Scheibe trommelte ein heftiger Schauer.

Stefan saß am Fenster und beobachtete den Zug der Wolken. Seine bunten Fische standen trag zwischen den Steinen und Pflanzen des Aquariums. Schläfrig balancierten seine Sittiche auf der Stange, die Köpfe eingezogen, die Federn gesträubt, sodass von ihrer Schlankheit nichts mehr übrig war. Die Standuhr im Flur schlug melodisch zweimal. Immer noch rann der Regen am Fenster herunter, aber schon färbte die Sonne das Wasser mit goldenem Schein. Plötzlich hörte er von fern rhythmische dumpfe Trommelschläge und in unregelmäßigen Stößen, wie der Wind ihn hertrug, den Klang von Trompeten. Nur die Trommelschläge waren dauernd da, ein immerwährendes Bum, bum, bum.

Stefan öffnete das Fenster. Jetzt hörte er die Musik deutlich, der Wind trug das Trompetengeschmetter heran. Er sah die Straße hinunter, sah aber nirgends eine marschierende Kolonne. Ein Kommando durchschnitt die Luft. Die Musik hörte auf, Füßegestampf blieb. Schwach markierte die Trommel den Tritt. Eine Pfeife schrillte. Die Trommelschläge hörten auf. Jetzt war nur noch das Füßegestampf vernehmbar.

Der Wind rauschte in den Bäumen, hoch über der Prinzenstraße kreiste ein Schwarm Tauben. Die Pfeife schrillte ein zweites Mal, wieder ein Kommando, und die marschierenden Männer begannen zu singen.

Stefan hörte, dass es ein Marschlied war; er mühte sich, den Text zu verstehen, aber der Wind vereitelte das. Dann plötzlich, als wollte der Wind ihn verhöhnen, waren die Worte deutlich:

Soldaten, Kameraden! Hängt die Juden! Stellt die Bonzen an die Wand!

Die Worte trafen ihn. Ihre volle Bedeutung war ihm nicht sogleich bewusst, aber das Wort „Juden“ klang in ihm nach. Stück für Stück setzte er den übrigen Text zusammen. Es klang rau wie von einem brüllenden Pöbelhaufen. Er fühlte sich gehetzt. Auf der Straße trieb im Rinnstein Fritz Falk einen Fußball vor sich her, er rief die Horde zusammen. Stefan war zumute, als ginge es ihn nicht an. Werner Kolb kam aus dem Haus seiner Eltern gelaufen.

Wenn's Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!

Stefan warf das Fenster mit einem Knall zu. Da sahen Werner und Fritz zu ihm auf. Werner sagte etwas zu Fritz, und Fritz zuckte gleichgültig mit den Schultern. Gemeinsam gingen sie fort. Stefan setzte sich und starrte auf die Fische, die zwischen den grünen Pflanzen des Aquariums trieben. Wieder peitschte ein Regenschauer gegen das Fenster ...

Beim Abendessen sagte sein Vater zu ihm:

„Die SA marschiert herum, als ob ihr die Welt gehörte. Lass es dich nicht stören. Sie haben nichts zu sagen, gar nichts.“

Dr. Hermann setzte sich zurück, strich über sein ergrauendes Haar, und indem er sich bei seiner Frau entschuldigte, bei Tisch von so unangenehmen Dingen zu sprechen, fuhr er ruhig fort: „Diese Strolche singen ihr Schwanenlied, Stefan, ihr Hitler ist bei der Wahl nicht durchgekommen. Die Leute da auf der Straße sind heute schon geächtet. Jeder anständige Mensch hat Hindenburg gewählt, und Hindenburg wird ihr Auftreten nicht dulden ...“

„Trotzdem, Vater ...“, begann Stefan; aber seine Mutter unterbrach ihn rücksichtsvoll:

„Dein Vater hat auf dem Gericht einen anstrengenden Tag gehabt. Ein andermal, Liebling, bitte!“

Und so nahm Stefan seine bösen Ahnungen mit ins Bett. Ein Traum verfolgte ihn. Er warf sich von einer Seite auf die andere, ihn abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Seine Augenlider bebten, das Haar klebte an der schweißfeuchten Stirn, die Lippen bewegten sich. „Vater“, flüsterte er, „Vater!“

Der Traum hatte ihn in einen grell erleuchteten kahlen Raum versetzt. In der Mitte des Raumes stand sein Vater, gekleidet in Richterrobe und Barett. Sein Gesicht war bleich in dem blendend hellen Licht, einzig seine Narbe von der Schrapnellkugel quer über die Backe war rot wie der Striemen von einem Peitschenhieb. Die Hände hielt er auf der Brust über dem Herzen zusammengekrampft, und wie beim Gebet wiegte er sich vor und zurück. Die Knie versagten ihm. Sein schwarzer Talar öffnete sich, und da sah Stefan, dass in der Brust seines Vaters ein Dolch stak. Jedes Mal, wenn sein Vater sich vor oder zurückbeugte, stürzte Blut über seine Hände. Er sank in die Knie, sein Barett rollte dahin. Jetzt floss das Blut ungehemmt und färbte den Boden in seltsamen Mustern. Sein Vater fiel aufs Gesicht, und der Aufschlag hallte wie ein Gong dumpf und lange nach.

Jäh setzte Stefan sich auf. Mit weitoffenen Augen starrte er in die Nacht. Die Standuhr auf dem Flur schlug den letzten von zwölf Schlägen.

Vater weiß vieles, dachte Stefan, aber vor einer Woche hat er sich geirrt, ganz und gar geirrt.

Hilde wusste es besser.

Und Mutter? Wenn er ihr erzählte, was ihm in der Schule begegnet war, würde sie dem Lehrer schreiben und es nur noch schlimmer machen. Und wenn sie dieses jetzt wüsste, würde sie außer sich sein und bei der Polizei anrufen und wahrscheinlich weinen, und er ertrug es nicht, sie weinen zu sehen.

Nach seinem Albtraum von dem Dolch hatte Vater gesagt: „Zu Befürchtungen ist kein Grund. Es geht vorüber.“

Jetzt war bei ihm die Fensterscheibe eingeworfen. Der Klumpen Blei lag auf der Fensterbank, und die beiden Jungen, die ihn in der Schule gequält hatten, standen unten auf der Straße und grienten. Wie konnte er sich ihrer erwehren? Wenn sie das Fenster noch einmal träfen, würde es völlig zu Bruch gehen, und dann? Wer waren sie? Was hatte er ihnen getan?

Wieder hob der kleinere von den beiden seine Schleuder und zielte nach dem Fenster. Stefan hielt den Atem an und beobachtete gespannt Hans Amendts Vater, Major Amendt, kam an dem Hause vorbei, sah die beiden Jungen scharf an, schüttelte den Kopf und ging weiter. Die Jungen pfiffen vor sich hin und warteten, dass der Major um die Ecke verschwinde. Der Größere schwang seinen Schulterriemen hin und zurück. Dann nahm der Kleinere seine Schleuder wieder auf, schloss ein Auge, zielte, straffte das Gummiband und - tapp, plumpste das Stück Blei unter Stefans Fenster auf das Blechdach des Hauseingangs. Der Größere riss seinem Gefährten die Schleuder aus der Hand und zielte selbst. Da kam mit einer Kiste auf Rädern ein schmächtiger Junge an ihnen vorbeigelaufen, machte plötzlich kehrt und schleuderte die Kiste heftig von sich. Der Größere schrie auf und rieb sich die Schienbeine, der schmächtige Junge sprang über die Straße davon.

Stefan riss das Fenster auf und rief: „Georg!“

So rasch sie konnten, liefen die beiden fremden Jungen hinter Georg her. Der eine stolperte über die Kiste, sie kippte um und entleerte ihren Inhalt, Pferdedung, über den Bürgersteig. Wie ein Eichhörnchen nahm Georg den Zaun des Nachbargrundstücks und war entwischt. Stefan rannte durch das Haus und zur Hintertür hinaus und war rechtzeitig im Garten, um Georg noch über eine Ziegelmauer klettern zu sehen. Da die beiden Verfolger nicht feststellen konnten, wohin Georg entschwunden war, stiegen sie über eine andere Mauer in eine Seitengasse. Stefan lief dahin, wo Georg über die Mauer geklettert war, krabbelte selber hinauf, sah sich um, wartete und rief leise: „Georg!“

Keine Antwort, nur Geraschel irgendwo unter einer Hecke.

„Georg!“

Auf der Erde lag eine kleine Schaufel, die hob Stefan auf. Er ging durch die Seitengasse in die Prinzenstraße, richtete Georgs Räderkiste auf und schaufelte den Dung wieder ein. Dann setzte er sich auf den Rinnstein und wartete. Und während er wartete, vergegenwärtigte er sich, was am Morgen in der Schule geschehen war ...

In der Pause hatte ihm einer der beiden Jungen, der größere, seinen Tennisball weggenommen. Stefan hatte ihn zurückgefordert, aber da war der zweite Junge gekommen und hatte gesagt:

„Wenn wir mit dir abgerechnet haben, dann kriegst du ihn wieder.“

„Wieso?“, fragte Stefan. „Ich kenne euch nicht.“

„Aber du wirst uns kennenlernen, Itzig“, sagte der Größere.

„Ich will meinen Ball wieder.“

„Wenn du was willst, du Judenjunge, dann sag .bitte“!

Der Kleinere mit dem finsteren Gesicht trug einen schwarzen Sweater, der wie Haut an ihm haftete. Der Größere hatte ein Pferdegesicht voller Pusteln und trug ein braunes Hemd mit Schulterriemen. Sie drängten Stefan abseits von seinen Klassengefährten an eine Mauer.

„Hör, Itzig“, fragten sie, „wie viel Prozent Jude bist du?"

„Geht weg!“, fauchte Stefan.

Sie lachten höhnisch: „Hat hier einer was gesagt?“

„Ist deine Mutter Jüdin?“, fragte der Große.

„Ja.“

„Ist dein Vater Jude?“

„Ja.“

„Sag: Mein Vater ist ein dreckiger Jude!“

Stefan stieß den im schwarzen Sweater zurück. Sein Herz klopfte. Er versuchte nach der Seite zu entschlüpfen. Sie packten ihn und schleuderten ihn zurück an die Mauer.

„Los, sag es!“

Stefan presste die Lippen zusammen. Es läutete, und Stefan sah seine Klassenkameraden ins Schulhaus zurückströmen.

„Du hast nicht den Mut, es zu sagen“, stellte der Große fest. „Dann will ich es dir sagen: Dein Vater ist ein dreckiger Jude!“

Stefan kämpfte mit den Tränen. Hasserfüllt sah er die beiden an. Sie ließen ihn gehen. Als er halb über den Schulhof war, warfen sie ihm den Tennisball hinterher. Er traf ihn wie eine Faust in den Nacken.

Während aller folgenden Stunden fragte er sich, ob sie ihm nach dem Unterricht auflauern würden. Aber er sah sie nirgends, bis er an die Ecke der Prinzenstraße kam. Da stürzten sie sich auf ihn und zwangen ihn zu laufen; der Große knallte mit seinem Schulterriemen wie mit einer Peitsche. Im Laufen erblickte Stefan Georg mit seiner Räderkiste und wollte stehen bleiben.

„Lauf!“, schrien die beiden hinter ihm.

Er kam nach Hause, rannte die Vordertreppe hinauf; er sah sich um und sah Georg ihm zuwinken und hörte einen der beiden drohen: „Denk daran, du Itzig: SA marschiert!“

Da er jetzt auf dem Rinnstein saß, fragte er sich, ob die beiden noch einmal auftauchen würden oder ob Georg käme, seine Räderkiste zu holen. Plötzlich erschienen zwei Hände oben auf dem Zaun des leeren Grundstücks, danach ragte Georgs Haarschopf darüber hinaus, und seine flinken Augen suchten das Gelände ab. Stefan pfiff. Georg schwang sich über den Zaun auf die Straße und kam zu Stefan,

„Wo sind sie?“, fragte er.

„Weg.“

„Hast du die Schaufel?“

„Ja.“

„Warum waren sie hinter dir her?“

Stefan sah zu Boden. Er sagte nichts.

„Los. Was hast du ihnen getan?“

„Nichts.“

„Sei nicht dumm.“

„Nichts. Sie sind verrückt.“

Georg sagte: „Als ich damals das Holz klaute, hast du dicht gehalten. Das war anständig von dir.“

„Wenn du nicht gekommen wärst, hätten die beiden mein Fenster ganz zerschossen. Jetzt ist nur die Scheibe gesprungen. Sieh!“ Er zeigte Georg das Fenster.

„Da wohnst du tatsächlich?“, fragte Georg. „In dem großen Haus?“

„Ja.“

„Hast du Brüder und Schwestern?“

„Nein.“

Georg pfiff durch die Zähne. „Na, auf Wiedersehen“, sagte er, „ich muss noch mehr Pferdeäpfel sammeln.“

„Ich komme mit“, sagte Stefan.

„Wenn die beiden dich treffen, verhauen sie dich“, sagte Georg.

„Dann hätten sie es mit uns beiden zu tun, nicht?“

„Wenn du willst, komm mit“, sagte Georg.

Miteinander zogen die beiden Jungen dem Walde zu ...

Seit die SA durch die Prinzenstraße marschiert war, spürte Stefan, dass die andern Jungen der Horde ihn mieden, besonders Fritz Falk und Paul Jäger, der viel älter war und Einfluss hatte. Mit Georg war es anders. Entweder war man sein Kamerad, oder man war es nicht. Aber Georg wohnte in Peikerfeld, der Erwerbslosensiedlung auf der andern Seite des Waldes.

Gestern hatte Georg gesagt: „Ich habe Arbeit in einem Boxerzelt. Schon mal so etwas gesehen? Ich lasse dich umsonst rein.“

Stefan ging auf den Jahrmarkt. Von Weitem bereits hörte er munter-traurige Drehorgelmusik, schrilles Pfeifen. Glocken, misstönende Trompeten.

Durch ein Megafon schrie ein fetter Mann: „Hier ist die Frau, die fünf Minuten unter Wasser bleibt und lebendige Frösche isst!“

Menschen wogten hin und her, Frauen kreischten, Schüsse peitschten, Karussells drehten sich, an Einzäunungen baumelten prunkhafte Masken.

Auf der Estrade von Boilers Boxpalast brüllte ein Anreißer mit steifem Hut durch ein Sprachrohr: „Wer will noch mal? Wer hat noch nicht? Es sind schlechte Zeiten, zwanzig Mark sind ein Haufen Geld! Außerdem ist’s möglich, dass ihr die Köpfe verliert, ohne dafür bezahlt zu kriegen! Wer hat den Mut, es mit Maxe aufzunehmen?“

Neben dem Anreißer führte ein muskulöser Boxer in rotem Bademantel Schattenboxen vor. Die Planken knarrten unter seinem Gewicht. Aus der Menge vor dem Zelt rief jemand: „Hau keine Löcher in die Luft, du Affe!“

Stefan drängte nach vorn, bis er unten vor dem Boxer stand. Vor einem Plakat, auf dem der Boxer abgebildet war, trainierte er jetzt mit dem Springseil. Auf dem Plakat stand: Joe Ohnefurcht Hummel - Champion der Champions!

Der Anreißer sagte: „Hummel, komm her!“

Der Mann warf das Springseil weg und trat neben den Anreißer.

„Schon mal knock-out geschlagen worden, Hummel?“

„Einmal.“

„Wo?“

„Zu Hause in Hamburg.“

„Sie sehen“, schrie der Anreißer, „wenn einer gut ist, schafft er es!“

Als niemand die Herausforderung annahm, erhöhte er den Einsatz auf fünfzig Mark. „Das ist mehr als ein Monat Arbeitslosenunterstützung!“, unterstrich er.

Ein Mann in fadenscheinigem Jackett drängte sich an Stefan vorbei und stieg auf die Estrade. Er schien ängstlich entschlossen, neben dem Boxer sah er kümmerlich aus. Das Gesicht war abgehärmt, aus den Schuhen sahen die Zehen.

„Der Herausforderer!“, brüllte der Anreißer, „Fünfzig Mark, meine Damen und Herren, fünfzig Mark!“

Stefan schlängelte sich hinter das Zelt. Da war Georg. Er hatte einen roten Sweater an, darauf groß der Buchstabe B genäht war. Er hielt einen Holzhammer in der Hand.

„Der Mann da draußen, meinst du, er kann boxen?“, fragte Stefan.

„Von Hummel beziehen sie alle Prügel", erklärte Georg.

„In der Waldhütte haben Hilde und ich ihn ...“

„Horch!“, unterbrach ihn Georg. „Willst du den Kampf sehen?“ Er zog einen Pflock aus der Erde und hob die Leinwand. „Rasch!“, sagte er.

Stefan schlüpfte ins Zelt. Einen Augenblick zögerte er, aber da niemand ihn anhielt, setzte er sich auf einen Platz am Ring. Durch den Eingang strömten die Leute herein.

Der Arbeiter, der Hummel herausgefordert hatte, saß in der Ringecke vor Stefan auf einem Stuhl, Rücken den Zuschauern zugewandt. Er war allein. Er legte Hosenklammern an, zog den Rock aus, hängte ihn über die Seile und wartete ab. Georg brachte ihm die Boxhandschuhe; sie waren so abgenutzt, dass die Polster herausschauten. Der Arbeiter zog sie an, Georg band sie zu. Der Arbeiter tätschelte Georg den Kopf und sagte etwas zu ihm, aber so leise, dass Stefan es nicht verstand.

Auf der Estrade draußen suchte der Anreißer immer noch Leute anzulocken: „Damen und Herren! Der erste Herausforderer hat sich heute gemeldet, ein Mann von hier! Kommen Sie herein und stärken Sie Ihren Mitbürger moralisch! Fünfzig Mark ... Fünfzig Mark, und für jede Runde, die er durchsteht, zehn Mark extra!!!“ Vornübergesunken saß der Arbeiter auf seinem Stuhl. Er sah auch nicht auf, als Hummel in den Ring trat und der Scheinwerfer anging. Stefan dachte an die Waldhütte, an den gießenden Regen, an die nackten Zehen, die aus den Schuhen des Arbeiters hervorgeschaut hatten. Er erinnerte sich seines bitteren: „Lass es regnen. Ich versäume nichts.“

Georg kam und setzte sich neben Stefan. „In zwei Runden ist es zu Ende“, verkündete er.

„Mir würde das keinen Spaß machen“, sagte Stefan.

„Zwanzig Mark kriegt er bestimmt. Das Zelt ist voll.“

„Und Prügel kriegt er auch“, sagte Stefan.

„Eine Schramme über dem Auge heilt von selbst, Löcher in den Schuhen nicht“, sagte Georg.

Jetzt standen der Arbeiter und Hummel unter dem Scheinwerfer. Der Schiedsrichter erklärte ihnen etwas. Hummels Bademantel leuchtete wie eine Orange, er winkte der Menge im Zelt zu. Der Arbeiter zuckte nervös am ganzen Leibe, schlaff hingen ihm die Arme herunter. Hummel warf den Mantel ab; es klang der Gong. Die beiden Männer reichten sich die behandschuhten Hände, und Hummel begann mit dem Arbeiter zu spielen wie die Katze mit der Maus: eine Gerade auf die Nase, aufs Kinn, aufs Herz, auf den Magen. Wie ein Betrunkener taumelte der Arbeiter im Ring umher. „Du musst kämpfen!“, schrie jemand, und Hummel streckte dem Arbeiter das Kinn hin. Die Menge lachte. Der Arbeiter hieb Hummel aufs Kinn. „Junge, Junge!“, rief Hummel und revanchierte sich mit einem Haken, der den Arbeiter zu Boden brachte.

Der Schiedsrichter zählte: „Eins - zwei - drei -“

„Bestimmt ist der Chef wütend“, sagte Georg. „Über zwei Runden soll Hummel seine Gegner leben lassen.“

Bei „sieben“ kam der Gong „Gut!“, sagte Georg. Der Arbeiter wankte zu seinem Stuhl, zog das Hemd aus und wischte sich das Gesicht damit. Blut rann ihm aus der Nase, er spuckte ins Sägemehl. Seine Haut war wachsbleich, die Rippen waren zu zählen.

In der zweiten Runde ging er sogleich in den Clinch, wie ein Sack hing er an Hummel. Jeder merkte, dass er die Runde überstehen wollte, ohne zu viel einstecken zu müssen. Der Schiedsrichter zerrte ihn von Hummel weg. „Schlag dich!“, zischte er. „Wofür bezahlen wir dich?“

„Die Sache ist nicht ehrlich“, sagte Stefan zu Georg.

„Sieh, jetzt!“, brüllte Georg.

Der Arbeiter hatte sich buchstäblich auf Hummel geworfen. Ohne Rücksicht darauf, was er selber einstecken müsse, schlug er auf Hummel ein, mit wilden Schwingern, ohne Sinn und Verstand. Einige aber saßen, und deutlich erkannte Stefan Hümmels Verblüffung: Sein Mund öffnete sich wie ein Blasebalg. Mit letzter Anstrengung, mit all seinem Gewicht, all seiner Kraft, stieß der Arbeiter Hummel vor den Magen, und Hummel sank vornüber ins Sägemehl. Die Zuschauer grölten, der Schiedsrichter zählte die Sekunden so langsam, wie nur einer vom Jahrmarkt es kann. Verzweifelt wanderte der Arbeiter um Hummel herum. „Bleib unten“, flehte er, „bleib unten! Dir macht es nichts aus.“

Bei „acht“ richtete Hummel sich auf und sah den Schiedsrichter an wie ein gekränktes Kind. Bei „zehn“ stand er wacklig auf den Füßen und war bereit weiterzukämpfen, aber der Arbeiter war in seine Ecke gegangen und mühte sich ab, die Bänder seiner Handschuhe mit den Zähnen zu lösen. Seine Lippen waren geschwollen, das linke Auge geschlossen.

„Was fällt dir ein?“, fragte der Schiedsrichter. „Der Kampf ist noch nicht zu Ende.“

„Für mich, ja“, sagte der Arbeiter. Er hustete und spuckte einen Zahn ins Sägemehl. „Gib mir mein Geld.“

Der Anreißer ging zu ihnen hin. „Was ist hier los?“, fragte er.

„Gib mir mein Geld“, verlangte der Arbeiter.

„Du hast die Runde nicht durchgestanden.“

„Dein Schiedsrichter hat zu langsam gezählt“, sagte der Arbeiter ruhig. „Ich habe ihn k.o. geschlagen, Tatsache.“

Der Anreißer schälte zwanzig Mark von einem Bündel Geldscheine. „Damit du wiederkommst“, sagte er grinsend. Er drehte sich zu den Zuschauern: „Dieser Kampf geht an Joe Hummel, Champion der Champions! Sieg durch technischen K. o.“

Die Menge johlte. Hummel hob die Hände über den Kopf und lachte. Der Arbeiter warf seine Handschuhe auf den Boden, zog Hemd und Rock an und schlüpfte aus dem Zelt, ohne sich umzusehen.

Stefan saß wie versteinert. Georg stieß ihm in die Seite. „Komm!“

„Mir würde das keinen Spaß machen“, sagte Stefan. „Wenn es einem dreckig geht“, sagte Georg, „tut man vieles, was einem keinen Spaß macht.“

„Hol einen Eimer Sägespäne!“, befahl der Schiedsrichter Georg. „Kriegst du dein Geld, um auf dem Hintern zu sitzen?“

Wie gejagt lief Georg aus dem Zelt.

„Wann sehe ich dich wieder?“, schrie Stefan ihm nach, aber Georg war bereits außer Hörweite.

Langsam verließ Stefan das Zelt und wanderte in den Jahrmarktslärm. Ein kühler Wind hatte sich erhoben An einem Pfad jenseits der Schaubuden saß auf einem Wägelchen ein zerlumpter Krüppel. Seine Beine waren Stümpfe, neben ihm lagen seine Krücken und sein Hut mit der Öffnung nach oben. In seinen Haaren spielte der Wind, auf der Brust trug er viele Kriegsauszeichnungen. „Schnürsenkel!“, rief er von Zeit zu Zeit, aber nur wenige Leute beachteten ihn.

Die Sonne ging unter, das Abendrot verblasste. An den Buden, den Karussells brannten die Lampen. Schon strömten die Leute nach Hause. Durch ein Tor in dem Eisengitter, das den Jahrmarktsplatz umgab, gelangten sie auf die Straße. Da stand ein großer hagerer Mann in abgetragenem Mantel, verteilte Flugblätter und rief: „Schlagt Hitler! Deutschland bleibt frei! Wählt Kommunisten!“

Augenblicksweise ward sein Ruf von Gelächter übertönt, vom Straßenlärm, von der Jahrmarktsmusik. Stefan zögerte. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Als er das magere Gesicht sah und die vorstehenden Backenknochen, das blonde Haar, da zweifelte er nicht mehr: Es war Hildes Gerhart.

Die einen steckten die Flugblätter in die Taschen, andere warfen sie weg. Ein alter Mann blieb stehen, setzte eine Nickelbrille auf und las das Blatt sorgfältig. Dann holte er aus einem alten Portemonnaie einen Geldschein hervor und reichte ihn Gerhart. „Für Ihren Kampffonds!“, sagte er. „Ich wollte, es wäre mehr!“ Ein anderer Mann drängte sich vorbei und murrte: „Hau ab nach Moskau, da gehört ihr hin!“ Ein Hitlerjunge zerriss ein Flugblatt in Fetzen, warf sie Gerhart ins Gesicht und lief davon. Dabei brüllte er zurück: „Euch machen wir fertig!“

„Schafft die Einheit der Arbeiterklasse!“, rief Gerhart ungerührt, „Schlagt Hitler!“

Die Atmosphäre war geladen, Stefan spürte das. Keine Minute war vergangen, als zwei SA-Männer auf einem Motorrad kurz hinter Gerhart scharf am Rinnstein bremsten. Sie sprangen von der Maschine und rannten auf Gerhart zu. Jeder Laut ging im Lärm des Motors unter. Einer der Nazis riss Gerhart am Mantelkragen herum, gleichzeitig schlug er auf ihn ein. Stefan sah eine schwarze Stahlschlange aus der Faust des Mannes schießen; ihr Kopf, wie ein Schlangenkopf, traf Gerhart unmittelbar über dem Ohr. Gerhart öffnete weit den Mund, als ränge er nach Atem. Er taumelte gegen das Gitter, sackte zusammen, hielt sich aber mit der einen Hand an einem Gitterstab fest. Der zweite Nazi trat ihm in den Bauch. Gerharts Griff lockerte sich, mit dem Gesicht nach unten fiel er auf das Pflaster. Seine Flugblätter flatterten davon. Die Nazis rannten zu ihrer Maschine zurück und zogen dabei die Kinnriemen ihrer Mützen fester. Innerhalb von Sekunden jagten sie die Straße hinunter und waren in die Dämmerung eingetaucht

Der Überfall war so rasch und so grausam gewesen, dass alle, die ihn gesehen hatten, wie gelähmt waren, Stefan war es, als hielte ihn jemand an der Kehle gepackt. Mit weitoffenen Augen sah er auf die Szene, zu sagen vermochte er nichts. Bevor sich die Leute um Gerhart zu versammeln begannen, sah Stefan den Arbeiter, der in dem Zelt mit Hummel geboxt hatte, zu Gerhart hinlaufen, neben ihm hinknien und sanft seinen Kopf aufheben. Sein Gesicht, vom Boxkampf verunstaltet, drückte mehr Mitleiden aus, als er je auf einem Menschenantlitz gesehen hatte.

Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sich Stefan in die Waldhütte versetzt. Wie in einer Prozession sah er sie alle wieder, die Männer in abgetragenen Hüten und Mützen und fadenscheinigen Röcken, deren Taschen sich bauschten von Thermosflaschen und Frühstücksbroten in Zeitungspapier. Er glaubte den Regen aufs Dach trommeln zu hören und wie ein schimmerndes Laken zur Erde stürzen zu sehen. Er strich mit der Hand über die Augen. Rasch ging er nach Hause.

Am folgenden Morgen regnete es tatsächlich. Die Regentropfen warfen tanzende Silberringe in die Pfützen. Sehr still war es auf der Straße wie immer an den Sonntagen. Alle Türen und Fenster waren vor der ersten feuchten Kälte dieses Winters fest verschlossen. Stefan sagte sich, dass jetzt nicht die Zeit sei, nach Georg zu suchen. Aber was er gestern erlebt hatte, machte ihm das Alleinsein unerträglich. Er schlüpfte aus dem Haus und rief die Jungen der Horde. Aber die Straße blieb verlassen.

Vor vielen Fenstern schwankten träge Fahnen, Stefan wusste, dass sie wegen einer bevorstehenden Wahl herausgehängt waren. Bei Landgerichtsrat Förster, bei Kolb, dem Getreidehändler; an den Häusern des Bankiers, des Glasfabrikanten, des Arztes und des Warenhausbesitzers wehte das kaiserliche schwarz-weiß-rot. An der schmucken Villa des Majors Amendt waren zwei Fahnen zu sehen, eine schwarz-weiß-rote und eine mit dem Hakenkreuz auf rotem Grund. In der konservativen Prinzenstraße wirkte diese Fahne wie eine Herausforderung, und nur am anderen Ende der Straße, wo Angestellte und kleinere Beamte wohnten, wehten aus Fenstern des Miethauses, in dem Fritz Falk und Paul Jäger lebten, noch zwei Hakenkreuzfahnen. Ihr Anblick verstörte Stefan, denn er wusste, was sie ihm verhießen. Er fing an zu begreifen, warum Frau Amendt ihn auf der Straße nicht beachtete und Major Amendt durch ihn hindurchsah, wenn er in seiner Reichswehruniform daherkam. Hans Amendt allerdings, ihr Sohn, war immer noch liebenswürdig, liebenswürdig aus schlechtem Gewissen, was indes nicht so weh tat wie die offene Feindseligkeit, die Fritz Falk unter dem Einfluss Paul Jägers manchmal an den Tag legte.

Als Stefan in die Horde aufgenommen worden war, hatte er sich mit dem gleichaltrigen Fritz angefreundet. Eine Zeit lang waren sie unzertrennlich gewesen; als Fritz von einer Schule in die andere wechselte und sie Klassenkameraden geworden waren, hatten sie sich allmorgendlich getroffen und waren gemeinsam zur Schule gegangen, hatten einander ihre Geheimnisse verraten und über vieles gesprochen. Plötzlich hatte Fritz begonnen, Stefan zu meiden. Vergebens hatte er auf ihn gewartet, ihn gesucht, nach ihm gerufen, bis schließlich Fritz schroff erklärt hatte: „Du brauchst gar nicht zu brüllen, ich gehe jetzt allein zur Schule.“ Ihre Freundschaft schien wie weggeblasen und lang zurückzuliegen.

Als er jetzt die beiden Hakenkreuzfahnen sah, eine aus Jägers Fenster und die andere aus Falks, packte ihn heftiger Groll auf Paul. Für einen Augenblick sah Stefan Paul Jäger deutlich vor sich: den schlaksigen Jungen mit dem weichlichen Gesicht, den wässrig blauen Augen und dem weißblonden Haar. Wenn er seine Hitlerjugend-Uniform anhatte, war er anmaßend. Ohne sie war er unterwürfig mit einem gemeinen Zug; er beschmutzte die Horde durch seine bloße Gegenwart.

Nie würde Stefan den Nachmittag vergessen, als alle Jungen in der Höhle gewesen waren und Paul das Foto einer nackten Frau herumgereicht hatte. Darauf war bedrücktes Schweigen eingetreten, während Paul über dem Bild gebrütet hatte, als wäre es lebendig. Dann hatte er sich zurückgelehnt, merkwürdig die Beine verdreht und tief geseufzt. Hinterher war er aus der Höhle gekrochen, und Franz Kolb, ihr Anführer, hatte gesagt: „Ekelhaftes Schwein! Wir sollten ihn loswerden.“

Stefan war froh, Paul lange nicht begegnet zu sein.

Er sah auf die Hakenkreuzfahne in Pauls Fenster, drehte um und ging im Regen allein die Straße zurück.

Im Schutz eines Hauseingangs rief er noch einmal nach der Horde. Er wartete, niemand erschien. Nach einer Weile ging er zu der Höhle und kroch hinein. Halbdunkel herrschte, leise hämmerte der Regen auf das Wellblech über ihm. Er setzte sich auf eine Kiste. Da fühlte er etwas Lebendiges neben sich, das atmete und kläglich wimmerte wie ein krankes Kind. Auf einem Jutesack lag ein kleiner Hund und sah ihn aus glänzenden Augen an. Nur in den Vertiefungen hinter den Ohren war sein struppiges Fell trocken. Da streichelte Stefan ihn vorsichtig, und wohlig drehte der Hund den Kopf von einer Seite zur anderen. Er hörte auf zu winseln und fing an, mit feuchter warmer Zunge Stefans Handgelenk zu lecken. Dann stand er auf und schüttelte sich, und Stefan fühlte leichte Spritzer auf seiner Hand und Kneifen von Zähnen.

„Hungrig, du Stromer?“, fragte Stefan.

Der Hund schien zu verstehen. Er kläffte eifrig und rieb sein struppiges Fell an Stefans Bein.

„Ist gut, ist gut, ich besorge dir was.“

Stefan ging aus der Höhle, und der Hund folgte ihm, schnupperte und begann am ganzen Leibe zu zittern.

„Dann komm mit, du lauter Haut und Knochen!“, sagte Stefan.

Wie ein Dieb schlich Stefan durch den Hintereingang in die Küche; es war niemand da; er nahm ein paar Stücke Fleisch aus der Speisekammer und gab sie dem Hund. Der Hund schluckte gierig, trotzdem hörte er Hildes Schritt eher als Stefan. Er bellte leise, Stefan nahm den Hund in die Arme und floh mit ihm in die Höhle zurück. Die verräterischen Tapfen von den Hundepfoten aber und von Stefans Absätzen blieben auf den Fliesen des Küchenfußbodens.

Kaum hatte er den Hund in der Kiste auf den Sack gebettet, als er Hilde rufen hörte. Er drückte den Hund fest an sich und meldete sich nicht. Sie warteten ab. „Stefan! Stefan!“, rief Hilde.

Nach einer Weile erschien ihr Gesicht im Eingang. Sie zündete ein Streichholz an. Als sie sah, dass der Hund und Stefan sie anstarrten wie ertappte Diebe, da lächelte sie und behielt ihre Vorwürfe für sich.

„Komm nach Hause“, sagte sie, „du holst dir hier den Tod.“

„Und der Hund?“

„Der Hund kommt mir nicht noch einmal in die Küche.“

„Aber du gibst mir zu fressen für ihn?“

»Ja“, sagte Hilde, „ja, ja.“

Der Hund knurrte. „Er ist jetzt mein Hund“, sagte Stefan. „Er heißt,Stromer.“

„Der Name passt auf euch beide“, sagte Hilde. „Komm jetzt nach Hause.“ Stefan gehorchte, und noch lange nachher besprachen sie, was mit Stromer werden solle.

Sogar als Stefan schon im Bett lag, war der Hund noch das Thema. Da er im Haus nicht geduldet wurde, wäre Stefan gern bei ihm in der Höhle geblieben, wenn Hilde es erlaubt hätte. Über der Entdeckung Stromers hatte Stefan fast vergessen, was er mit Gerhart erlebt hatte, aber als Hilde das Licht ausdrehte, sah er das Bild plötzlich in allen Einzelheiten wieder vor sich: Gerhart hingestreckt auf der Erde, Blut rinnt aus seiner Schläfe ...

„Mach heute Abend nicht die Tür zu“, bat er Hilde.

„Was hast du?“

„Hilde!“

„Was ist?“

Da sie aus seiner Stimme die Not heraushörte, ging sie zurück und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. „Erzähle.“

Stockend berichtete Stefan.

„... sie haben ihn geschlagen, er ist hingefallen. Viel habe ich nicht gesehen. Die Leute standen um ihn herum.“

„Weißt du genau, dass es Gerhart war? Ganz genau?“

„Ja“, flüsterte er.

„Mein Gott“, sagte sie, „mein Gott!“ und ging rasch aus dem Zimmer, ehe Stefan noch begriffen, wie tief es sie getroffen hatte.

„Hilde.“

„Gute Nacht, Stefan! Schlaf jetzt.“

Den Flur hinunter floh sie in ihr Zimmer. Leise schloss sie die Tür hinter sich.

In dieser Nacht war der Regen eisig, und Sturm rüttelte an Stefans Fenster. Lange konnte er nicht einschlafen. Vorstellungen von Stromer in der kalten Höhle mischten sich mit Vorstellungen von Gerhart. Er glaubte, Stromer winseln zu hören. Vor dem Fenster schwankten heftig nackte Äste. Er wollte aufstehen, aber seine Glieder waren wie Blei. Die beiden Nazis auf dem Motorrad nahmen furchterregende Proportionen an. Ihre Fäuste sausten durch die Luft und trafen erbarmungslos Gerharts Kopf. Brüllend sank Gerhart zu Boden. Schließlich verfiel Stefan in traumlosen Schlaf.

Am Montag in der Schule wartete Stefan unruhig, dass der Unterricht zu Ende sei und er noch einmal auf den Jahrmarkt gehen könne. Als er an den Platz kam, war er verlassen. Aus der Ferne hörte er Hämmern, und er stand am Gitter und sah zu, wie die Zelte abgebaut wurden und Männer in Overalls auf schwere Lastwagen Bretter verluden. Ohne Hülle sahen die Karussells nackt aus, ihre metallenen Zierrate grotesk. Stromer rannte hinter einer Feldmaus her, verlor sie aus den Augen und spürte ziellos umher. Am anderen Ende des Platzes rumpelten beladene Wagen davon, und als sie verschwunden, war es überall sehr still. Papier, Flaschen, Kartons und Stroh bedeckten den Ort des sterbenden Jahrmarkts. Wo Gerhart blutend gelegen hatte, lagen verstreut Flugblätter. Sie waren durchgeweicht und fast schon zu Erde geworden. Eine Fabrikpfeife schrillte, und bald darauf strömten Arbeiter über den Platz, um den Weg zur Hauptstraße abzukürzen.

Als sie nahe waren, hörte Stefan hinter sich eine Stimme: „Wählt nächsten Sonntag Kommunisten! Schlagt Hitler! Lest die Flugblätter, Kollegen, und gebt sie weiter! Wir müssen zusammenhalten, dann schlagen wir die Nazis!“

Stefan drehte sich um. Da stand, Rücken zum Fahrdamm, Gerhart und verteilte an die Arbeiter Flugblätter. Diesmal war er nicht allein, zwei andere Männer standen bei ihm. Sein Kopfverband war teilweise von seinem blonden Haar verdeckt.

Einer seiner Gefährten rief: „Am Sonnabend haben die Nazis unseren Genossen hier niedergeschlagen. Die Arbeiterklasse aber werden sie nicht niederschlagen, wenn wir zusammenhalten! Wir sind heute wieder hier und werden morgen wieder hier sein. Lest das Flugblatt, Kollegen! Eure Stimmen werden die Nazis schlagen!“

Die ersten Arbeiter, die an Gerhart vorüberkamen, nahmen das Flugblatt, und danach nahm fast jeder eins. „Nieder mit Hitler!“

„Schlagt die Nazis!“

Stefan rief seinen Hund, legte ihm seinen Gürtel als Leine um den Hals und trat zu Gerhart. Gerhart beachtete ihn nicht, viele Arbeiter standen um ihn herum. Hell und feurig rief er: „Bringt das Flugblatt in den Betrieb! Schlagt die Faschisten!“

Nach einigen Minuten erst hatte Stefan Gelegenheit, Gerhart mitzuteilen: „Ich werde Hilde sagen, dass Sie wieder da sind. Sie wird froh darüber sein.“

Gerhart lächelte und sagte: „Nett von dir. Tu das.“

Stefan war glücklich wie lange nicht

Mehrere Tage lang sah Stefan nichts von Georg. Da entschloss er sich, ihn aufzusuchen. Den Hund an den Fersen, wanderte er lange durch den Wald, durch eine Schlucht und an Eisenbahngleisen entlang, die er überqueren musste, um die Erwerbslosensiedlung Peikerfeld zu erreichen.

Die Siedlung bestand aus alten Eisenbahnwagen, worin Leute lebten wie die Zigeuner. Stefan tauchte unter Wäsche hindurch, die von Leinen zwischen den Wagendächern flatterte und beschmutzt war vom Ruß vorbeifahrender Züge. Frauen wuschen in Bottichen, beschäftigten sich mit abgerissenen Kindern, kochten auf offenen Feuern und musterten ihn misstrauisch, wenn er vorüberging. Der Hund zog andere Hunde an, die ihn beschnüffelten und bellend mit ihm zum Bahndamm flohen, auf dem jeden Augenblick unter Rauch und wirbelndem Dampf Züge fuhren.

Ein Mann in zerrissenem Sweater, der auf einem Trittbrett saß, sagte zu Stefan: „Lass ihn laufen, Junge. So ein Köter ist zu vernünftig, um sich überfahren zu lassen.“

Stefan sagte: „Mein Hund ist kein Köter.“

Der Mann lachte. „Hat einen Stammbaum, was? Genau wie du?“

Stefan war unschlüssig, dann sagte er: „Ich suche Georg Bredel.“

„Georg Bredel?“, sagte der Mann nachdenklich.

„Können Sie mir sagen, wo er wohnt?“

„Was willst du von ihm?“

Der Mann zündete einen Zigarettenstummel an. Aus den Wagen rundum kamen Kinder hervor, die sich um Stefan stellten.

„Er ist mein Freund.“

Die Kinder sahen ungläubig drein. In der Waggontür hinter dem Mann erschien eine Frau mit einem Baby an der Brust und starrte ihn an.

„Georgs Vater ist Zimmermann“, sagte Stefan, um seine Bekanntschaft mit Georg glaubhaft zu machen.

„War Zimmermann“, sagte die Frau höhnisch. „Bredels wohnen im letzten Wagen diese Reihe hinunter.“ Der letzte Wagen unterschied sich von den andern dadurch, dass er wohnlich aussah; er war mit grüner Farbe gestrichen und hatte blitzende Fenster, durch die man sehen konnte, dass eine geschickte Hand einen Teil der ursprünglichen Sitze in Bettstellen verwandelt und die Trennwände, um mehr Raum zu gewinnen, versetzt hatte.

Eine schlanke Frau in einem verschossenen Baumwollkleid rupfte in einem Gemüsebeet vor dem Wagen Unkraut. Wenn die Strähnen grauen Haars nicht gewesen wären, die ihr beim Bücken in die Stirn hingen, hätte sie für jung gelten können. Ein mageres Mädchen mit dunklen Zöpfen war beschäftigt, über ein frisch umgegrabenes Beet Dünger zu breiten.

„Mutter!“, rief sie, als sie Stefan erblickte.

Die Frau warf das Haar aus der Stirn und lächelte Stefan zu.

„Wohnt hier Georg Bredel?“

„Ja.“

Ein Zug donnerte vorbei, und Stefan hörte nicht, was die Frau sonst noch sagte. Als der Zug vorüber war, sagte er:

„Georg hat mir gesagt, ich könnte ihn besuchen.“

„Geh und hole Georg“, bat die Frau das Mädchen, die daraufhin rasch hinter dem Waggon verschwand.

Stefan hatte die Frau, deren Ähnlichkeit mit Georg unverkennbar war, vom ersten Augenblick an gern. Das Mädchen kam zurück, sah Stefan scheu an und berichtete, sie könne Georg nicht finden.

„Ich kann wiederkommen“, sagte Stefan.

„Warum suchst du ihn nicht selber?“, sagte Georgs Mutter. „Weit kann er nicht sein.“

Sie sprach mit ihm, als wäre er einer der Ihren, und Stefan spürte das. Als er fortging, rief das Mädchen ihm „Auf Wiedersehen!“ nach.