Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In zahlreichen Erzählepisoden, die kaleidoskopartig geordnet und durch dokumentarisches Material gestützt sind, gibt der Autor einen Einblick in das amerikanische Leben der Sechzigerjahre, schildert er seine Begegnungen mit amerikanischen Menschen, mit schwarzen und weißen Schauspielern des Free South Theatre, mit engagierten Künstlern und geschäftstüchtigen Verlegern, mit trinkfesten Seeleuten und routiniert fahrenden Taxichauffeuren, mit vereinsamten Einwanderern und mutigen Studenten, die sich für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner und für den Frieden in Vietnam einsetzen. Walter Kaufmann, ein hervorragender Kenner der englischsprechenden Welt, beschreibt den Glanz der amerikanischen Großstädte mit den Showgirls in der Bourbon Street von New Orleans und den Gestrauchelten, Dieben und Prostituierten, die im New Yorker Nachtgericht vor ihrem Richter stehen – die folkloristischen Traditionen der Südstaatler, wie sie die Jazzmusiker in der Preservation Hall bewahren, und die urwüchsigen Späße der Komödianten in Pat O'Brians Restaurant: ein Bild von der weniger bekannten Seite der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die sich in einer schweren sozialen und politischen Krise befinden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 247
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Walter Kaufmann
Hoffnung unter Glas
Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik
Die dokumentarischen Teile sind Ausschnitte aus Zeitungen, die in den USA im Jahre 1965 erschienen sind.
ISBN 978-3-96521-296-1 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto des Autors: Barbara Meffert
Das Buch erschien erstmals 1967 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.
2020 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
www.edition-digital.de
Wo ist das Großartige vom vergangenen Jahr, wo das Überwältigende – nur eine Spur von Unruhe ist geblieben: Vergangenes, Gegenwärtiges und Kommendes verschwimmen ineinander bei diesem zweiten Besuch in Amerika. Vier Uhr Eastern Time in New York – ein gewöhnlicher Mittwochnachmittag im März. Nichts erscheint fremd, ungewohnt – nur der Tag dauert an, wenn alle Sinne begehren, dass es Nacht wird, Zeit zum Schlafen, zum Atemholen. Müdigkeit überkommt dich jetzt nach der Landung. Das ist der Preis, den du zahlen musst, wenn du die Zeit überlistest, wenn du etwas so Übernatürliches erlebst wie diesen zwölfstündigen Flug, immer der Sonne entgegen. Es war ein Tag ohne Zwielicht, ohne Nacht – die Sonne ging niemals unter über dem weiten Atlantik, sie leuchtete herab auf glitzernde Eisschollen, weißschäumende Wellenkämme, grün-blaues Wasser, und dann auf die Küste des anderen Kontinents: die Sanddünen und den Strand von Cape Cod, das Panorama von Boston, die Berge, Wälder und Seen von Massachusetts und Connecticut …
Jetzt, auf der Fahrt vom Flughafen den Grand Central Parkway in Queens entlang, kommt es dir vor, als hätte die Erde allen Glanz verloren. Die Stimmung ist grau. Die Welt ist grau. Der Verkehrsstrom durch Corona, Jackson Heights, Elmhurst und Astoria ist nicht so gewaltig, wie du ihn in Erinnerung hattest, und als das Taxi auf der Triborough Bridge über den East River nach Harlem rollt, erscheint dir der Blick auf die Insel Manhattan wenig eindrucksvoll: die Stadt ist in Dunst gehüllt, in der Ferne regnet es, tief hängende Wolken verdecken die Türme der Wolkenkratzer. Wirst du das dir vertraute Bild von New York jemals wiederfinden? Sogar die Unruhe packte dich nur für einen Augenblick, als der Einwanderungsbeamte sich erkundigte, worüber du diesmal schreiben willst, vielleicht über den bevorstehenden Streik der Flugzeugführer? Du schütteltest den Kopf. Er hatte gelächelt bei seiner Frage, und du wusstest sofort, dass auch eine klarere Antwort Amerika nicht gehindert hätte, dich wiederum mit Gleichmut aufzunehmen.
Du bist jetzt ein Heimkehrender, kein Fremder mehr. Diesmal kannst du dem Taxifahrer genau sagen, wo du hin willst, und so erreichst du das Hotel „Peter Stuyvesant“ viel schneller als im vergangenen Jahr. Heute wird der Chauffeur auch nicht durch deine Fragen aufgehalten. In lockerer Haltung, zwei Finger am Lenkrad, sitzt er da, ganz konzentriert, und fährt den Wagen wunderbar flüssig, durch den Roosevelt Drive, die York Avenue, dann biegt er nach Westen ein in die 86. Straße, vorbei an der First Avenue, der Second Avenue, der Park Avenue und durch den Central Park.
„Da wären wir.“
„Danke, dass Sie mich so schnell hergebracht haben.“
„Okay.“
Du trägst dein Gepäck durch die Glastüren in die Halle und stellst es vor dem Empfang ab. Die Telefonistin erkennt dich wieder und lächelt. Wie heißt sie doch gleich? Du hast’s vergessen. Der Zeitungsstand ist geschlossen. Was ist aus der alten Wienerin geworden? Tony, der halb blinde griechische Fahrstuhlführer der Tagschicht, will deine Koffer nehmen. „Einen Augenblick bitte, Tony.“
Du wendest dich an Mr. V., den Empfangschef. „Kann ich mein altes Zimmer wiederhaben – Sie wissen doch, das mit dem Blick über den Park, in dem ich voriges Jahr gewohnt habe?“
Mr. V. (der dich ebenfalls wiedererkennt) verzieht bedauernd das Gesicht – die Zeiten hätten sich geändert, das Haus gehöre jetzt einem Syndikat, kein Polizist bewache mehr die Eingangstür, keine käuflichen Damen kämen mehr hierher, es ist wieder ein hochanständiges Hotel und fast immer voll belegt.
„Dieses Zimmer ist nicht frei, wir haben nur ein Zwei-Zimmer-Apartment zur Straße hin für Sie. Wollen Sie es nehmen?“
„Was kostet das?“
Mr. V. überlegt. Wie sich herausstellt, sind alle Räume renoviert und neu eingerichtet worden, und die Preise haben sich wesentlich erhöht. Selbst die Monatsmieten überfordern deine Brieftasche. Du sagst das Mr. V., doch er zuckt nur die Achseln.
„Versuchen Sie doch, in der Nähe etwas Billigeres zu finden.“
Er wirkt sehr selbstsicher – so als hätten sich die Hotelbesitzer untereinander abgesprochen. Zwei Stunden später – die Suche nach einem Zimmer zu einem vernünftigeren Preis war vergeblich gewesen (in wie vielen Hotels warst du, mit wie vielen Empfangschefs hast du verhandelt, wie viele Fahrstühle haben dich in wie viele Stockwerke geführt?) – bist du wieder im „Peter Stuyvesant“.
„Ich nehme das Apartment.“
„Das dachte ich mir“, entgegnet Mr. V. mit Befriedigung in der Stimme. „Hier ist doch beinahe Ihr zweites Zuhause, nicht wahr?“
„Ja, wenn ich wieder mein altes Zimmer bekomme.“
„Wir werden für Sie tun, was wir können, Sir“, versichert Mr. V., „wir werden unser Bestes versuchen.“
Die Freiheitsstatue wurde erdacht und errichtet als Symbol echter internationaler Verbundenheit. Im Verlauf der Zeit hat sich ihre Bedeutung immer mehr vertieft, und heute gilt sie gleichsam als Symbol der Vereinigten Staaten.
DIE USA REDEN MIT BOMBEN – PRÄSIDENT JOHNSON STEUERT AUF EINE AUSWEITUNG DES KRIEGES ZU
Die großen Rüstungsfabrikanten haben die Versicherung erhalten, dass keinerlei Absicht vorliegt, ihre Verträge mit dem Pentagon in nächster Zukunft zu verändern. Harold Brown, Leiter des Verteidigungsausschusses, berichtete auf einer Zusammenkunft von Mitgliedern dieses Ausschusses und vor dem Sicherheitsausschuss der Rüstungsindustrie in New York, „dass der allgemeine Stand des Verteidigungsprogramms in den nächsten Jahren stabil bleiben wird" – es sei denn, die internationale Lage würde sich grundlegend ändern.
J. Paul Getty, der reichste lebende Amerikaner und wahrscheinlich der reichste Mann der Welt, begann sein riesiges Ölmonopol mit 21 Jahren aufzubauen und hatte mit 23 seine erste Million beisammen. Bei einem früheren Versuch, Geld zu machen – im Alter von 12 Jahren – hatte er Zeitungen und Magazine gesammelt und jede Woche in Büros und Wohnungen verkauft.
DIE KAUFKRAFT DES DOLLAR IST IM VERGLEICH ZU FRÜHEREN JAHREN AUF ETWA 75 CENTS GEFALLEN! ES WIRD ERWARTET, DASS DIE VERBRAUCHERPREISE SICH 1965 UM ETWA 1,5 PROZENT ERHÖHEN
Nach dem gegenwärtigen und für die Zukunft zu erwartenden Stand der amerikanischen Wirtschaft befragt, zeigte sich Bankier Tilford C. Gaines aus Chicago zuversichtlich. „Die einzigen Worte, die ich dafür benutzen kann“, sagte er, „sind ‚hervorragend‘, ‚steigend‘ und ‚blühend‘.“
Die amerikanische Arbeiterschaft ist unruhig – das hat die amerikanische Bevölkerung in dieser Woche deutlich zu spüren bekommen. Der Streik der Piloten von Pan American World Airways legte den weltweiten Flugverkehr dieser Linie lahm, und in Manhattan streikten die Angestellten von zwei großen Warenhäusern. New York stand vor einem neuen Zeitungsstreik, und die Transportarbeiter drohten, das U-Bahn-Netz durch Streik stillzulegen …
LEHRERIN, 29, SPRINGT IN DEN TOD
Der Blumenhandel in den USA hat einen Jahresumsatz von mehr als 800 Millionen Dollar. Die Treibhausrose ist das ganze Jahr hindurch Bestseller, sie bringt jährlich mehr als 30 Millionen Dollar. In den meisten Teilen des Landes verkaufen sich kleine Arrangements am besten, während in Manhattan Blumengebilde in Form von Tieren ständige Mode sind. Pudel sind äußerst populär, Katzen kommen gleich danach, und zur Zeit der Wahlen erreichen Elefanten und Esel die Spitze.
JOHNSON SETZT BOMBENANGRIFFE FORT
„Ich hoffe“, sagte Mr. Goldwater, „Präsident Johnson wird seine Politik der Stärke weiterführen und damit die Ausbreitung des Kommunismus verhindern.“
DIE MÄNNER, DIE DIE SCHICKSALE DER WELT LENKEN, TRAGEN ROLEX-UHREN
„Einige von Ihnen denken, dass ich manchmal ein bisschen gereizt bin“, sagte Präsident Johnson zu seinen Beratern, „aber da geht es immer nur um unbedeutende Dinge. Wenn die Kugeln so richtig um meinen Kopf schwirren, bin ich ganz ruhig.“
Leg ins Gras einen brennenden Kranz, dass sich der Kampfflieger nicht verfranzt.
„Haben Sie schon mal einen Baum laufen sehen?“, fragt Major William W. McAllister, 36, Berufsoffizier der Air Force in Vietnam. „Well, aber ich, der Teufel hol’s. Da kam er einen Hügel herunter, mitten im Vietcong-Gebiet. Mich hat’s beinahe umgeschmissen. Ich kurvte über ihm und entdeckte noch mehr laufende Bäume. Dann ging ich im Sturzflug runter, und im Nu waren’s wieder unbewegliche Bäume. Ich funkte mein Geschwader ran, und dann haben wir den Wald knistern lassen.“
IMMER MEHR AMERIKANER KOMMEN UM, OBWOHL FAST JEDER SCHLACHTPLAN AUSPROBIERT WURDE
Mussolinis Sohn Vittorio berichtete einmal, mit welchem „Vergnügen" er eine Gruppe Äthiopier bombardiert hatte. Die gleiche bestialische Befriedigung drückt jetzt US-Captain Lee aus. Im nuklearen Zeitalter muss diese Art von Blutrünstigkeit mit Lees Vernichtung enden – und mit der DEINEN!
AUCH COCA COLA GEFÄHRDET DIE GESUNDHEIT
Hätte Napoleon Kings Men Rasierwasser benutzt, dann würde Josephine darauf bestanden haben, dass er zu Hause bleibt. Dann hätte er nicht all diese Kriege begonnen, die so viele Menschen töteten und so viele Städte zerstörten.
Die Moral: VERHÜTET KRIEGE!
Benutzt: KINGS MEN!
(auch in Kanada erhältlich)
DIE HARTE WIRKLICHKEIT DER MACHT FORDERT, DASS WIR WEITERKÄMPFEN
„Dies ist das reichste und mächtigste Land, das jemals auf diesem Erdball existiert hat. Die Macht vergangener Weltreiche ist gering im Vergleich zu der unseren. Aber ich möchte nicht in die Geschichte eingehen als der Präsident, der Weltreiche errichtete, der nach Größe strebte oder einem erweiterten Einflussbereich. Ich möchte der Präsident sein, der den Kindern die Wunder ihrer Welt offenbarte.
Ich möchte der Präsident sein, der mithalf, den Krieg unter den Menschen zu beenden.“
Präsidenten mit so mittelmäßigen Talenten wie Truman und Eisenhower haben das Militär daran gehindert, die Nation zu beherrschen, aber Johnson nicht.
LANG MÖGE UNSER LAND ERLEUCHTET SEIN VOM HEILIGEN LICHT DER FREIHEIT. SCHÜTZE UNS MIT DEINER MACHT, GROSSER GOTT, UNSER HERR
Wer ist Sarah? Die kleine, dunkelhaarige Frau mit Brille ist die Leiterin des weiblichen Personals, die Chefin der Marys und Margarets und der anderen Zimmermädchen im „Peter Stuyvesant“ – gescheit, lebhaft und resolut, lässt sie sich von niemandem etwas gefallen. Sie hat ihre Arbeit genauestens eingeteilt, und wenn sie bestimmt, dass ein Zimmer am Montag bezugsfertig ist, so heißt das auch Montag, und nicht Sonnabend – normalerweise!
Wie kommt es dann, dass ich bereits nach drei Tagen dieses Apartment im 12. Stock mit meinem früheren Zimmer vertauschen kann? Nein, ich habe keineswegs großzügig Trinkgelder verteilt, ich habe niemandem einen Gefallen getan und niemanden um einen Gefallen gebeten; ich habe bloß zu verstehen gegeben, dass ich mir verloren vorkomme in diesen Räumen, in denen es niemals richtig hell ist, weil die Hochhäuser auf der anderen Straßenseite das Licht wegnehmen. Und das war die reine Wahrheit, ich kam mir wirklich verloren vor: zwei sehr große, hohe Zimmer mit einem breiten französischen Doppelbett und einer Couch; drei Sessel, zwei Tische, Bad und Küche – Platz genug für eine ganze Familie. Was soll ich damit?
Abends, wenn ich die Vorhänge zuziehe, kann ich das Leben in dem gegenüberliegenden Haus beobachten: gut möblierte Wohnungen, in warmes Licht getaucht; eine Frau deckt den Tisch, Kinder werden zu Bett gebracht, der Trubel einer Cocktailparty in einer anderen Etage, ein Mann sitzt lesend im Sessel – und andere, intimere Szenen, ein Rendezvous, eine Umarmung, Verführung wie auf der Filmleinwand. Nein, ich will diese beiden Räume nicht, ich will Morgensonne, den Blick auf den Park und auf den Straßenverkehr, ich will den See sehen und den Horizont über dem Times Square – Häuser weit in der Ferne, damit mich nicht der Blick in fremde Wohnungen an mein Alleinsein erinnert.
„Also es gefällt Ihnen hier nicht“, stellt Sarah fest.
„Nicht sonderlich“, gestehe ich, „es ist zu groß für mich, ich kann mich hier nicht eingewöhnen.“
„Ich habe eine gute Nachricht für Sie: gestern ist Ihr altes Zimmer frei geworden. Am Montag können Sie umziehen.“
„Ich würde über Scherben gehen, wenn es schon heute möglich wäre.“
Unsere Blicke begegnen sich. „Aber, aber“, sagt sie, „warum denn diese Eile?“
Doch auf einmal hat sie es selbst eilig. Sie verschwindet, um bald darauf mit einer Schar grünbeschürzter Zimmermädchen zurückzukommen. Schränke werden geöffnet und ausgeräumt, Koffer gepackt, der Kühlschrank in der Küche wird geleert, aus dem Bad wird mein Waschzeug geholt, die Fahrstühle werden in Bewegung gehalten, und dreißig Minuten später bin ich eingerichtet. Es ist, als hätte ich niemals woanders gewohnt als in diesem Zimmer. Die strahlende Sonne spiegelt sich in den sauberen Fensterscheiben, lässt die cremefarbenen Vorhänge, die Decke über der Bettcouch aufleuchten; alles ist genau wie im vergangenen Jahr: die Tischlampe, der Sessel, der Schreibtisch, der Teppich. Durch die Wand dringt gedämpftes Klavierspiel, gute Musik, hervorragend interpretiert.
„Das ist Arthur Schnabels Sohn – er übt“, erklärt Sarah. „Man sagt, er kann den Kasten zum Singen bringen.“
„Ich höre das gern.“
„Das dachte ich mir“, erwidert sie. „Ich hab das Gefühl, Sie sind selbst so ein bisschen künstlerisch angehaucht.“
„Sie haben recht, Sarah.“
„Ich wusste es doch. Deshalb hab ich Sie auch so schnell umquartiert. Es gibt nicht viele Leute hier, die solche Musik lange ertragen können. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – sagen Sie dem Empfangschef nicht, dass Sie das so gern hören, sonst erhöht er den Zimmerpreis.“
Ich kann ihr kaum danken, so schnell ist sie weg.
Erlebnisse vom Jahr zuvor – weltstädtischer Glanz, weltstädtisches Elend, gen Himmel ragende Bauten, verfallene Mietskasernen, Lichter des Broadway, Times Square bei Nacht und die Schatten von Harlem, Donner der U-Bahn-Züge und die Sirenen der Polizeiwagen – hat sich das denn verändert? Nein, noch immer heulen die Sirenen durch die wachen Stunden, gellen durch den Schlaf, Harlem ist grau, die Lichter des Broadway färben den Himmel bunt, die Konturen von New York sind wieder klar – der Regen und der Schneesturm, der nachts an den Fenstern rüttelte, sind vergessen – wunderbar klar jetzt, da die Frühlingssonne die Stadt wärmend überflutet und die Erde trocknet. Es gibt Straßen voller Düsternis und Straßen voller Helligkeit. Autos strömen noch immer die Hauptstraße entlang, auf den Brücken über die drei Flüsse Manhattans, wo Schiffe vor Anker liegen und wo sich das Kreischen der Möwen mit dem Kreischen der Kräne mischt.
Und doch ist das Bild anders, jetzt, da die Blicke sich mehr auf Einzelheiten richten, die damals im Gesamteindruck untergegangen sind: zwei weißhaarige Frauen halten einander an den Händen fest, als sie eine verkehrsreiche Kreuzung überqueren – sie sind Zwillinge, gleichen sich in jedem Zug, tragen die gleichen Kleider, lichtgrüne, schimmernde Kleider, mit kleinen silbernen Sternen besät, und die gleichen spitzen grünen Hüte; ein junger Neger mit leuchtendroter Jacke in der Untergrundbahn – er verbreitet einen aufdringlichen Parfümgeruch und wiegt sich verführerisch in den Hüften, erregt damit die Aufmerksamkeit eines anderen Mannes, der hinter ihm aussteigt und ihm, wie von einem unsichtbaren Band gezogen, folgt; eine Gruppe streikender Angestellter vor Bloomingdales Warenhaus, Neger und Weiße – sie tragen Schilder, gehen im Kreis herum und rufen: „Kauft hier nicht! Kauft hier nicht!“, während um die Ecke ein Dutzend bewaffneter Polizisten zu Pferde Aufstellung genommen hat: über der Uniform markante Gesichter, gebräunt von Sonne und Wind, ein italienisches, ein irisches, ein spanisches, ein slawisches Gesicht, blauäugig, mit vorstehenden Backenknochen und blondem Schnurrbart, und auch das Gesicht eines hellhäutigen Negers – die Polizeitruppe von New York! Ein Arbeiter schlägt mit der flachen Hand einem Pferd aufs Hinterteil, das Tier scheut zurück. „Passen Sie auf, Mann, es tritt Ihnen den Schädel ein!“, ruft der Polizist wütend. „Das Pferd tut mir nichts“, entgegnet der Arbeiter, „ihr Kosaken vielleicht, aber nicht das Pferd – die mögen mich.“
Ein älterer Herr mit Melone, einem unmodernen Anzug und einer Fliege im steifen weißen Hemdkragen setzt sich in eine Imbissstube und bestellt ein Hamburger. Er spricht leise, aber mit starkem Akzent und ein breites „a“.
„Was wollen Sie?“, fährt ihn die Kellnerin an. „Ich hab Sie nicht verstanden.“
Sie ist ein unansehnliches Mädchen, dick, schwitzend, mit mausfarbenem Haar und Brille.
„Sie wissen doch, was ein Hamburger ist?“, fragt der Mann. „Ah, ein Hamburger – warum sagen Sie das nicht gleich?“
„Und keine Brötchen bitte, nur Brot.“
Als er endlich bedient wird, sucht er vergeblich nach dem Brot, er bittet sie geduldig ein zweites Mal darum. Die Kellnerin starrt ihn an, ihre Brillengläser glitzern im Neonlicht. „Sie haben doch extra gesagt, kein Brot!“
„Ich habe gesagt, keine Brötchen.“
Sie knallt ihm ein paar Scheiben Brot auf den Tisch. „Reden Sie gefälligst amerikanisch, dass ich Sie verstehe – Sie verknautschen ja jedes Wort.“
„Leiden Sie sehr?“, fragt sie der ältere Herr.
„Wie meinen Sie das – ob ich leide?“
„Ich meine, Sie müssen unglücklich sein, weil sie so unfreundlich sind. Sie müssen besonders unglücklich sein in dieser Stadt, mehr als wir anderen.“
„Ach, lassen Sie mich zufrieden, Sie säuselnder Quatschkopf“, erwidert sie mit schriller Stimme, „Ihre Meinung kümmert mich einen Dreck, und Ihr Mitleid brauch ich nicht!“ Wirklich, das Bild von New York, das sind diesmal die Details, die verschiedenen Begegnungen: die mit dem alten Juden aus Russland zum Beispiel, der nicht von der Vergangenheit loskommt. „Ach, war das Leben schön in der alten Zeit“, sagt er, „als ich noch gearbeitet und Geld verdient hab!“
Wenn man ihm zuhört, dort in der Cafeteria in der 86. Straße, wo sich nichts verändert hat, außer dass das Essen schlechter und die Preise gepfefferter geworden sind, schämt man sich seines reichlichen Frühstücks, weil der Tischnachbar die ganze Zeit über nichts als ein trockenes Brötchen isst, das er mit Salz bestreut und mit einer Tasse Kaffee hinunterspült.
„Die alte Zeit – wann war das?“
„In den Dreißigerjahren.“
„Die Zeit der Wirtschaftskrise.“
„Nicht für mich. Ich hatte Arbeit. Ich hatte immer Arbeit.“
„Was für Arbeit?“
„Ich hab Hemden gemacht – vierzig Jahre lang hab ich Hemden gemacht, und immer hatte ich zu tun. Jetzt, wo es Maschinen dafür gibt, werde ich nicht mehr gebraucht. Heutzutage gibt’s für alles Maschinen. Sechzehn Stunden am Tag hab ich gearbeitet – und besser als eine Maschine, denk ich, freilich viel langsamer.“
„Aber Sie erhalten eine Unterstützung?“
„Ich komme zurecht“, gibt er zu, „viel ist es natürlich nicht. Vierzig Dollar im Monat reichen nicht weit, wenn schon das Zimmer elf Dollar kostet. Nein, in der alten Zeit, als ich noch gearbeitet und verdient hab, war das Leben schöner und besser.“
Und dann, als ich die Amsterdam Avenue entlanggehe, wo ich wieder die Schreibmaschine gemietet habe, die ich bereits im vorigen Jahr benutzt hatte, treffe ich die alte Dame aus Wien, die jetzt nicht mehr die Gäste des „Peter Stuyvesant“ mit Zeitungen versorgt – überhaupt kommt mir die Gegend hier auf einmal vor wie ein Dorf: Bob, der sommersprossige, rothaarige Gemüsehändler, hat mich begrüßt, die kleine jüdische Frau in dem Schreibwarengeschäft verkauft noch immer Ansichtskarten von Manhattan, der gleiche Neger wie damals putzt Schuhe vor dem Schusterladen um die Ecke … Die alte Dame aus Wien hat sich wenig verändert, doch sie wirkt kleiner und zerbrechlicher.
„Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Was ist mit Ihnen geschehen?“
„Ich war krank und habe meine Arbeit verloren.“
„Aber im Hotel werden keine Zeitungen mehr verkauft.“
„Ich weiß“, sagt sie, „wahrscheinlich hat sich niemand anders gefunden.“
„Das heißt, Sie könnten Ihre Konzession wiederbekommen.“
„Vielleicht“, entgegnet sie, „aber ich will nicht mehr im Hotel sitzen für ein paar Cents. Mir genügt das, was mir die Regierung zahlt – ich habe nicht mehr lange zu leben, und ich möchte im Frühling draußen sein, in der Sonne, solange ich das noch genießen kann. Das lässt sich nicht mit Dollars bezahlen. Nein, das lässt sich nicht mit Dollars bezahlen.“
„Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen – und ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Wirklich, das Bild von New York – das ist die Begegnung mit den Menschen.
WIE BRINGT MAN DEN LESER DAZU, ZU SAGEN: ICH MUSS WISSEN, WIE ES WEITERGEHT!
Für den geldhungrigen Autor hieß das Rezept gestern noch, ein populäres Buch zu schreiben und es dann an den Film zu verkaufen. Heute ist die Vormachtstellung Hollywoods ernsthaft in Frage gestellt durch die Taschenbuchverlage, die noch vor kurzem kaum mehr waren als literarische Aasgeier. Durch ihre ständig steigenden Profite sind sie jetzt zu so finanzkräftigen Abnehmern geworden, dass kein Schriftsteller es sich leisten kann, sie zu ignorieren. Diese Hechte im Teich haben kein Interesse für literarische Werte und noch weniger Interesse, einem begabten Anfänger den Start zu ermöglichen; sie schnappen ausschließlich nach Dollar-Millionen.
ALLE WELT SPRICHT VON „ALI“ – DER FESSELNDEN NEUEN BIOGRAFIE VON ALI KHAN, DEM GRÖSSTEN CASANOVA DES 20. JAHRHUNDERTS
„Er kam mit einem merkwürdigen Gesicht auf mich zu" – und stieß ihr das Messer zweimal in den Leib. Er verfehlte ihr Herz nur um ein geringes, und jetzt war gar nichts mehr merkwürdig. Und diese ganze mörderische Nacht, die noch immer etwas Undurchsichtiges hat, findet ihren brutalen Widerhall in Norman Mailers zuweilen aufschlussreichen, traurigen Gedichten: „DEATH FOR THE LADYS – Tod den Damen“, die zwei Jahre nach dem Vorfall veröffentlicht wurden.
So lange du noch ein Messer zückst, ist noch ein Funken Liebe da
„Wir griffen ‚THE AWAKENING OF CINDY – Cindys Erwachen‘ heraus, weil es eins der übelsten war“, erklärte Susman. Die Geschichte von Cindy, deren Erwachen mit ihrer Defloration durch einen Priester begann, beeindruckte sogar die abgebrühtesten Zensoren. Es enthält, sagte Susman, „Homosexualität, lesbische Liebe, Orgien …“ Kein Wunder, dass es rasenden Absatz im ganzen Land fand, in wenigen Tagen waren etwa 200 000 Exemplare verkauft. Das einzige, was „Cindy“ der Fantasie überlässt, ist der richtige Name des Autors: Dr. Arthur Edwin Shelton, populärer Pastor der Wesley Memorial Methodist Church in Norfolk, Virginia. Dr. Shelton wurde vorige Woche des Versandes von Obszönitäten in alle Staaten angeklagt.
ARMER DREISER, ER HAT IMMER DIE FALSCHEN IDEEN GESTOHLEN – ABER ER HAT ETWAS AUS IHNEN GEMACHT
„NIGHT CLERK“, ein unveröffentlichter Roman über den Nachtdienst und die erotischen Fantasien eines Portiers in einem schäbigen Hotel, gewann heute einen Preis von 10 000 Dollar.
DIE RÜCKSICHTSLOSE KONKURRENZ UNTER FILMPRODUZENTEN, BESTSELLER-ROMANE ANZUKAUFEN, ERREICHTE EINEN NEUEN HÖHEPUNKT, ALS DIE 20TH CENTURY FOX EINE MILLION DOLLAR FÜR ZWEI ROMANE ZAHLTE, DIE NOCH NICHT GESCHRIEBEN SIND
Das erste Symposium über amerikanische Literatur, veranstaltet von der Library of Congress, wurde beendet, nachdem die Teilnehmer übereinstimmend festgestellt hatten, dass das Niveau der Literatur in den Vereinigten Staaten nicht sehr hoch ist.
Nein, es war eine Illusion, nichts weiter als die flüchtige Auflehnung eines Literaturagenten gegen jahrelangen Zwang: „Stefan – Mosaik einer Kindheit“ gefalle Ihnen, sagten Sie, Sie glaubten an mein Buch, sagten Sie, Ihrer Ansicht nach müsste es verlegt werden. Die Sprache sei echt, sagten Sie, die Geschichten seien packend – aber wo, klagten Sie schließlich, würde sich ein Verleger finden, der gewillt wäre, ein derartiges geschäftliches Risiko einzugehen?
„Es sei zu literarisch, werden sie einwenden, die Gewalttätigkeit werde nirgends direkt dargestellt, die Grausamkeit bleibe immer nur angedeutet – außerdem sei das Buch zu kurz. In Europa, vielleicht! Aber hier in den Vereinigten Staaten …“
„Dann geben Sie mir das Manuskript am besten zurück.“ „Das möchte ich nicht“, entgegneten Sie, „ich habe zwar wenig Hoffnung für Ihr Buch, aber ich werde es trotzdem versuchen. Vielleicht habe ich doch Erfolg!“
Nein, Mr. G., machen wir uns nichts vor: drei Besuche bei drei Verlagen in Manhattan überzeugten mich davon, dass Sie keinen Erfolg haben werden. Ersparen Sie mir bitte den Versuch, jeden einzeln zu schildern, denn jetzt, rückschauend, verschmelzen diese drei Besuche in eins. Kunst war überall ein fremder Begriff und Literatur nichts als eine Ware, deren Wert allein von ihrem Gehalt an Sex und brutaler Gewalt bestimmt wurde. Der Ruf, mit dem ein Autor sich umgibt, scheint wichtiger zu sein als seine literarische Leistung: Der Autor, der in ein Strafverfahren verwickelt ist, lenkt todsicher die Aufmerksamkeit auf sich, kann mit Publicity rechnen. Wenn jemand, von dem man weiß, dass er seine Frau erstochen hat, dass er rauschgiftsüchtig ist oder Spielschulden macht oder empörende öffentliche Erklärungen abgibt, eines Tages einen Roman schreibt, in dem sich dieses persönliche Leben widerspiegelt, so kann er des Erfolges gewiss sein! Und was ist Erfolg? Der Erfolg wird gemessen am Profit des Verlegers, am Verkauf von Filmrechten, von Nachdruckrechten an Taschenbuchverlage und an der Bestsellerliste. Das Publikum ist daran gewöhnt worden, „Ein Exemplar von Nummer Eins!“ zu verlangen. Und seit dies so ist, sind das Können des Autors, seine Absicht und seine Integrität von zweitrangiger Bedeutung …
Zugegeben, alles das wurde mit einem gewissen Bedauern eingestanden, ja sogar beklagt: Es sei eine Schande, dass so viele amerikanische Schriftsteller sich mit ihren Büchern dem Markt anpassten (ach ja, jetzt sind auf einmal die Schriftsteller schuld!), und dieser Teufelskreis – erstens Filmrechte, zweitens Rechte für Taschenbuchausgaben und schließlich Verträge für kartonierte Ausgaben – sei der Tod der wahren Literatur.
Krokodilstränen, Scheinheiligkeit, nichts weiter!, angesichts des herrschenden Gottes Mammon. Nein, Mr. G., ich bezweifle, dass Sie mit meinem Buch Erfolg haben werden. Und sollten Sie doch einen Verleger dafür finden, dann wäre dies die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
In dem vollgestopften kleinen Büro etwa zwei Dutzend Stockwerke über der 44. Straße ist es unerträglich warm und stickig wie in einer Gefängniszelle. Der Verkehrslärm dringt kaum durch die geschlossenen Fenster, nur dann und wann das Heulen der Sirenen (die Stadt scheint ständig in Bedrängnis zu sein), das gellende Signal eines Polizeiwagens, eines Feuerwehrautos, oder das Aufeinanderkrachen von Stoßstangen ist zu hören. Berge von gebundenen und ungebundenen Büchern, gedruckt oder maschinegeschrieben, bedecken Schreibtische und Regale, sammeln Staub in den Ecken.
„Jedes Jahr muss ich ein paar hundert davon begutachten“, klagt Mr. S. „Zehn oder zwölf werden dann schließlich ausgewählt. Ich habe gelernt, mit einem Blick eine Seite zu lesen – wie Oscar Wilde. Meistens lese ich nachts. Tagsüber komme ich nicht dazu, Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte – Contracts, Calculations, Copyright.“ Er lächelt über die Alliteration. „Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für Sie, ich würde mich wirklich gern länger mit Ihnen unterhalten. So viele Bücher ich lese, so selten habe ich Gelegenheit, einem Autor zu begegnen.“
„Vielleicht ein andermal“, schlage ich vor.
„Bestimmt“, erwidert er, „Sie müssen mir Ihre Telefonnummer geben.“
Auf dem Fensterbrett sitzend, schreibe ich ihm die Telefonnummer des Hotels „Peter Stuyvesant“ auf, dann notiere ich mir gleich noch ein einziges Wort: Busfahrer. Unten sehe ich abgrundtief die Straße liegen, es ist, als blickte Gulliver von hoch oben herab in die Zukunft; ringsumher versperren Wolkenkratzer mit ihren Stahl- und Glasfassaden die Sicht. Das Büro scheint zusammenzuschrumpfen zu einer unter Millionen gleichartiger Zellen. Ich stehe auf, verabschiede mich.
„Ich rufe Sie bald an“, verspricht Mr. S., aber ich hörte nichts mehr von ihm, obwohl ich noch einen ganzen Monat in New York verbrachte.
Trotzdem hatte sich dieser Besuch gelohnt – sei es auch nur, weil ich auf der Fahrt dorthin die Idee für eine Story fand: Busfahrer.
Er war in den Sechzigern, hatte spärliches graues Haar, ein frisches Gesicht und klare blaue Augen, und seine schmucke, saubere Uniform trug er wie einen Zivilanzug. Die randlose Brille verlieh ihm das Aussehen eines Apothekers, während sein Gesichtsausdruck eher an einen Geistlichen erinnerte. Es schien widersinnig, dass dieser Mann Fahrer eines Autobusses war. Er sprach wie ein Gebildeter, und er behandelte die Mitfahrenden wie seine persönlichen Gäste. Die ganze Strecke von Harlem bis hinter den Times Square begrüßte er jeden Zusteigenden einzeln: „Guten Morgen, Sir – wie geht es Ihnen? Guten Morgen, Madam – wie schön, dass wir Sie bei uns haben!“ Es war, als hätte er die Absicht, allen Fahrgästen täglich eine Vergnügungsfahrt zu bescheren. Das Geld nahm er entgegen, als handle es sich um einen selbstverständlichen Anteil an den Benzinkosten. Während der Fahrt fand er Zeit für eine Wettervorhersage („Oh, das wird heute ein wunderschöner Frühlingstag – sonnig und windstill“), er gab das Datum und den Wochentag bekannt und wies auf die Sehenswürdigkeiten hin: „Meine Damen und Herren, zu Ihrer Linken liegt der See des Central Park, zu Ihrer Rechten das Museum für Naturgeschichte. Bald biegen wir auf den Broadway ein. Dort können Sie das Lincoln Center für Darstellende Künste und den großen Rundbau am Columbus Circle sehen …“ Oder er begann mit überraschend volltönender Stimme ein altes Lied zu singen: „On the Banks of the Wabash … Give my Love to Rose …“ Bei alledem steuerte er mit bewundernswerter Geschicklichkeit den Bus – der brodelnde Verkehr barg keine Gefahren für ihn, keine Stockung brachte ihn aus der Ruhe, jeder Aufenthalt war für ihn eine Gelegenheit mehr für ein Gespräch, für einen Witz, für ein neues Lied. Ja, dieser Busfahrer auf der Eighth Avenue Route war ein Unterhalter, ein Seelentröster, ein Sorgenvertreiber – für alle, die mit ihm fuhren, war der Tag erhellt durch seinen Humor, seinen Frohsinn. Eine aufgeschlossene Stimmung herrschte im Bus – die Menschen vergaßen hier ihre Kümmernisse, sie lachten, unterhielten sich miteinander, sie wurden zugänglich, ungewohnt menschlich. „Bis morgen, Sir – ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Arbeitstag … Auf Wiedersehen, Madam, auch Ihnen alles Gute!“
„Halten Sie an der vierundvierzigsten Straße?“, fragte ich. „Wo immer Sie wollen, Sir“, versicherte er mir und brachte den Bus zum Stehen. Und bis heute weiß ich nicht, ob da, wo ich ausstieg, wirklich eine Haltestelle war oder nicht – dort, mitten im Gewühl hinter dem Times Square.
Die Idee für eine Story? Gewiss! Stellen Sie sich einen Busfahrer vor, der plötzlich von der Company entlassen wird, nachdem er fünfundzwanzig Jahre lang untadelig seinen Dienst versehen hat, der über seine Pflichten hinaus stets bemüht war, sich und seinen Mitmenschen Mut zu machen, der stets bemüht war, einen Funken Freundlichkeit glühen zu lassen im erbarmungslosen Großstadtleben. Stellen Sie sich vor, was man ihm, was man seiner Legion von Fahrgästen damit angetan hat, für die allein sein Dasein eine Insel der Zuflucht bedeutet hatte in einem stürmischen Meer … Sentimentalität? Vielleicht. Aber wie viel von dem, was wir im Leben so leichtfertig abtun, ist wirklich sentimental?
Sonntags nie! Doch, die billigen Kinos in der 42. Straße sind sogar sonntags in den frühen Morgenstunden geöffnet. Nachtbummler, die aussehen, als hätten sie auf Parkbänken oder unter einer Brücke geschlafen, Jugendliche in Lederjacken und Jeans, alte Männer, junge Männer, die einsamen, verwilderten, untätigen Menschen der Großstadt lungern auf den Bürgersteigen herum, betrachten die hellbeleuchteten Fotos wenig bekleideter Frauen in aufreizenden Stellungen. Die Verführungsszenen umfassen die ganze Skala des Perversen – Mädchen werden gepeitscht, geschlagen oder auf andere Weise bedrängt von verderbt aussehenden, waffenschwingenden Männern: Gewalt wird verheißen, zusammen mit Sex. Die Kinos füllen sich schnell – besonders das dem Times Square nächstliegende mit dem Riesenplakat für VICE GIRLS – „Lasterhafte Mädchen“ und OLGA’S WHITE SLAVES – „Olgas weiße Sklaven“.
Die Show beginnt mit dem unvermeidlichen Zeichentrickfilm: die Abenteuer eines munteren Eichhörnchens, das seine Gegner – Bären, Wölfe und andere wilde Tiere – überlistet. Überlistet? Es verlässt sich gar nicht so sehr auf seinen Verstand. Das liebe Tierchen kämpft mit Messern, Pistolen, Bomben und sogar Kampfflugzeugen – es sticht und schießt und bombardiert im Sturzflug. Dabei ist der Trickfilm noch harmlos im Vergleich zu dem, was dann kommt. Die Produzenten von „Vice Girls“ haben sich keineswegs damit begnügt, kräftig unmoralisch zu sein – nein, sie wollen auch etwas sagen: Amerikaner – passt auf, nehmt euch in acht vor dem Feind, es wimmelt von Kommunisten!
Die „lasterhaften“ Mädchen sind durchweg die unglücklichen Opfer gefühlloser Kommunisten – Amerikaner, Osteuropäer und andere, die sich in einer Villa auf Long Island eingenistet haben, darunter auch Sowjetbürger, die vorgeblich ein Amt bei den Vereinten Nationen bekleiden, was ihnen Gelegenheit gibt, ein Dutzend unglückseliger Diplomaten aus westlichen Ländern in die Falle zu locken. Ebenso werden führende Geschäftsleute in dieses Netz verstrickt, amerikanische Industrielle und andere, allesamt edle Industriekapitäne, deren einzige Schwäche es ist, sich bei Seitensprüngen zu Indiskretionen verleiten zu lassen, denn die lasterhaften Mädchen erhalten Geld und Auftrag, beim dolce vita die Redseligkeit ihrer liebestrunkenen Kunden zu fördern und aufzuzeichnen. Dabei kommt eine Menge streng geheimer militärischer, industrieller und politischer Informationen zusammen – wie der Film zeigt! Amerikaner, passt auf! Der Spionagering ist clever! Er ist sadistisch-brutal, scheut selbst vor Mord nicht zurück (zwei anständige und gesunde junge Vollblutamerikaner finden ein frühzeitiges Ende), und der Spionagering ist so schlau, dass er – auf subtilere Weise als das Eichhörnchen – das ach so schändlich unterbesetzte FBI überlistet, das – natürlich – im Gegensatz zu den Spionen nicht bis an die Zähne bewaffnet ist, auch nicht annähernd so gut motorisiert und daher nicht so beweglich ist. Man gerät geradezu in Verzweiflung darüber, unter welch ungünstigen Umständen das FBI in Amerika arbeiten muss. Selbstverständlich verfügt der Spionagering über unbegrenzte Valuta-Beträge (die aus Moskau kommen), so dass er in der Lage ist, prachtvolle Parks, Rennpferde, Swimmingpools und Tennisplätze für seine ruchlosen Zwecke zu benutzen. Des Abends spielen erstklassige Bands melodiöse Jazzmusik, wenn im großen Ballsaal der Luxusvilla der Alkohol in Strömen fließt. Und die Schlafzimmer sind ein Traum aus Couches und Spiegeln – sie sind mit allem ausgestattet, was man sich nur wünschen kann, einschließlich Tonbändern und, nicht zu vergessen, den lasterhaften Mädchen, diesen armen, zerstörten Blüten der Weiblichkeit.