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Ein Mann nimmt Rache für den Mord an seiner Frau und soll dafür hängen. Fünf Menschen schildern den Morgen der zu erwartenden Hinrichtung, jeder sieht etwas anderes, der eine mehr, der andere weniger: der Verurteilte, die Liebende, der Henker, der Revolvermann und der Sheriff.
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Am Morgen der Hinrichtung
David Pawn
Copyright © 2017 David Pawn
Michael Siedentopf
Schweizer Str. 40
01069 Dresden
Umschlaggestaltung: Casandra Krammer unter Nutzung von Fotos von www.depositphotos.com
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Ich wurde wach und hörte das Hämmern vor dem Fenster meiner Zelle. Ein Blick durch die Gitterstäbe gab mir Gewissheit: Unweit des Sheriffsbüros auf der Mainstreet zimmerten ein paar Tagelöhner unter Aufsicht des Henkers einen Galgen. Meinen Galgen, um genau zu sein. Heute um zehn Uhr, wenn die braven Bürger der Stadt geschniegelt und bereit waren, dem Schauspiel zu folgen, würde man mich am Halse aufhängen, bis der Tod eintritt, wie es so schön heißt. Der Henker schaute akribisch zu, ob seine Helfer auch alles korrekt ausführten, schließlich sollte ich nicht ewig um Atem ringend am Seil baumeln, sondern sauber hinabstürzen, so dass das Gewicht meines Körpers mein Genick zerriss. Ich wusste über solche Dinge Bescheid, denn ich war Arzt, bevor ich zum Mörder wurde. Meine Aufgabe war es, Leben zu retten, meistens, indem ich Gewehr- oder Pistolenkugeln aus Körpern herauspulte, sofern diese keine lebenswichtigen Organe zerschlagen hatten. Doc Lutton nannten mich die Leute.
Mein Schicksal änderte sich von einem Tag zum anderen, als ich zu einem Patienten auf der Wilbert-Farm gerufen wurde, der von einem Bullen in die Eier getreten worden war. Ich ließ meine Frau Maria zu Hause zurück. Als ich heimkehrte, lag sie mit starrem Blick und zerrissenem Kleid auf dem Boden des Schlafzimmers. Geschändet und getötet.
Maria war lebendig eine Schönheit gewesen. Jetzt lag sie mit blaugeschlagenem Gesicht und Leichenflecken an den Armen auf dem Boden und starrte an die Decke.
Ich schluckte, weinte und schwor Rache. Es gab viele Männer in der Stadt, die Maria begehrliche Blicke zugeworfen hatten. Es gab auch genügend, die sie mir neideten, der Meinung waren, ein Mann wie ich, der kaum wusste, wie man ein Gewehr hielt, um jemanden zu erschießen, habe so eine Frau nicht verdient. Aber es gab nur wenige, die bereit waren, sich mit Gewalt zu nehmen, was ihnen nicht zustand.
Ich lief zum Sheriffsbüro, heulte mich aus und sagte, er solle den Schuldigen finden, sonst täte ich es.
„Sie Doc?“, fragte er mit einem schiefen Lächeln. Dann nahm er die Schuhe vom Schreibtisch, spie Priem in die Ecke und erhob sich. „Sehen wir uns die Schweinerei mal an“, sagte er.
Schnell wurde deutlich, wer sich an Maria vergangen haben musste. Die beiden Brüder Ryeson verschwanden an jenem Tag aus der Stadt. Sie galten als Trunkenbolde und Tunichtgute, aber bis zu jenem Tag war es bei Schlägereien im Saloon und gestohlenen Hühnern geblieben. Was sie plötzlich geritten haben mochte, in mein Haus einzudringen, über meine Frau herzufallen, sie zu vergewaltigen und schließlich niederzuschießen wie eine Hündin, wusste der Sheriff auch nicht zu sagen.
Er machte sich halbherzig auf die Suche, aber schnell gewann ich den Eindruck, dass er nur wenig Interesse daran besaß, sie tatsächlich zu stellen. Also gab ich meine Praxis auf, kaufte mir Pferd und Wagen, lud ein paar Habseligkeiten auf und rollte aus der Stadt mit dem festen Vorsatz, die Ryesons zu finden und zu töten. Auge um Auge, Zahn um Zahn – wie es in Gottes Wort hieß.
Ich folgte ihrer Spur, fragte Farmer, Sheriffs, die Leute in den Saloons. Ich spürte mit jeder Antwort, die ich erhielt, wie ich mich ihnen näherte.
Zunächst verlief ihr Weg in einem Zickzackkurs durch den Westen. Mal wandten sie sich nach Norden, dann wieder nach Süden, wohl in der Hoffnung eventuelle Verfolger so besser abschütteln zu können, aber irgendwann schienen sie ein konkretes Ziel ins Auge gefasst zu haben.
In einem verschlafenen Nest am Arkansas River erfuhr ich, dass man ihnen einen Job bei einem Viehtreck angeboten hatte, der an den Fuß der Rocky Mountains führte. Pueblo nannte sich ihr Ziel. Ich hatte schon von einfallsreicheren Namen für Ortschaften gehört.
Zu meiner großen Freude traf ich mit meinem Gespann am nächsten Tag auf einen Zug von Zirkuswagen, die ebenfalls in Richtung der Berge unterwegs waren. Die guten Leute erwiesen sich als gastfreundlich, so musste ich meinen Weg nach Westen nicht länger allein fortsetzen.
Vielleicht hat mein Bericht, mein dargestelltes Bedürfnis nach Rache einen falschen Eindruck von meiner Person hinterlassen. Ich bin Arzt, wie ich schon schrieb, kein Westmann, kein Revolverheld. Ich liebte meine Frau und meine Praxis und die Möglichkeit, Menschen zu helfen. Sie zu töten, stand meiner Profession diametral gegenüber.
Ich begann während meiner Zeit beim Zirkus, Unterricht bei einem Kunstschützen zu nehmen. Seine Partnerin sah mir allabendlich dabei zu, wie ich verzweifelt versuchte, wenigstens die Scheibe zu treffen, die Maricello, ihr Boss, aufgebaut hatte. Ich schoss zwar von Tag zu Tag besser, aber nach zwei Wochen sagte er: „Wenn du so einem Revolvermann gegenübertrittst, so ist das einfach Selbstmord. Er hat dich erschossen, ehe du überhaupt gezogen hast.“ Anschließend führte er mir vor, in welchem Tempo er die Schießübung absolvierte – zum zwanzigsten Male wohl.
Später kam Vianetta, eben jene Partnerin, zu mir. „Ist sie es wert?“, fragte sie.
Ich wusste zunächst nicht, was sie meinte und schaute sie ratlos an.
„Die Frau, für die du dich umbringen lassen willst, ist sie es wert?“
Ich nickte nur.
„Sie muss sehr schön gewesen sein“, sagte Vianetta.
„Das war sie“, erwiderte ich. „Aber nicht allein nur schön. Sie hatte ein gutes Herz, liebte das Leben, und wenn sie lachte, musste jeder sich mit ihr freuen. Sie kannte keine bösen Gedanken.“
„Jemand hat sie getötet?“
„Mehr als das“, sagte ich.
Jetzt war es an Vianetta lediglich weise zu nicken. Wir sahen einander an und schwiegen.
„Du wirst Hilfe brauchen“, sagte sie schließlich.
„Maricello hilft mir bereits“, erwiderte ich.
„Du kannst dich nicht im offenen Kampf stellen. Man sieht auf den ersten Blick, wie ungeübt du bist. Die Mörder deiner Frau, sie würden dich erschießen, dich auslachen und anschließend auf deine Leiche pissen. Willst du das?“
Ich war sprachlos angesichts der derben Worte aus dem Mund einer Frau. Maria hatte nie so gesprochen. Sie war so lieblich, dass es mir schwerfiel, mir vorzustellen, dass sie es überhaupt getan hatte, obwohl der Arzt in mir wusste, dass selbst die engelsgleiche Frau urinieren musste. Erst ein paar Sekunden später wurde mir bewusst, was Vianettas Worte bedeuteten.
„Ich kann sie doch nicht hinterrücks erschießen. Das wäre Mord. Man würde mich hängen.“
„Darum brauchst du Hilfe.“
„Ich kann keinen Menschen aus dem Hinterhalt erschießen“, sagte ich fest.
„Sind das Menschen, die so etwas tun, eine Frau wie die deine schänden und töten?“
Ich wusste keine Antwort auf diese Frage. Waren die Ryesons nicht eher zweibeinige Kojoten? Die schoss man nieder, wo und wann immer man auf sie traf.
„Keine Menschen!“, sagte sie entschieden und wandte sich ab. In den letzten Worten hatte viel Verbitterung mitgeschwungen. Es mochte sein, ihr war selbst einmal ein großes Unrecht wiederfahren.
Kurz vor Pueblo wandte sich der Zirkustross nach Norden. Sie würden mich nicht länger begleiten. Zum Abschied gab Vianetta mir einen Kuss auf die Wange. „Pass auf dich auf, Dottore“, sagte sie.
Ich zog weiter und erreichte die Stadt am folgenden Tag.
Der Treck mit den Ryesons war noch nicht angekommen. Sie hatten vermutlich die Nordroute gewählt und die Städte und Dörfer gemieden. So vermied man Probleme mit den Siedlern, die es nicht mochten, wenn Rinderherden durch ihre Felder trampelten.
Ich mietete mich bei einer freundlichen, alten Frau ohne Zähne im Mund ein. Die folgenden Tage nutzte ich für weitere Übungen mit dem Revolver draußen im Wald vor der Stadt. Und mit jedem Schuss wurde mir deutlicher bewusst, wie recht Vianetta gehabt hatte. Einen unbeweglichen Baum traf ich, versuchte ich mich jedoch an Getier, so lief dieses bereits weit in der Ferne davon, bevor ich endlich abdrückte.
Dann kam die Herde. Eine große Staubwolke im Osten und dumpfes Grollen kündigte sie an. Es ist ein beeindruckendes Schauspiel, wenn hunderte Rinder wie ein einziges gewaltiges Tier am Horizont auftauchen, die Erde mit dem Stampfen ihrer Hufe zum Beben bringen und ihr Muhen bis zu den Rändern der Berge schallt. Sie wurden mit großem Hallo begrüßt. Die Erwachsenen präsentierten den Kleinen das Schauspiel.
Am Abend zogen die erschöpften Cowboys und Westmänner in die Saloons der Stadt ein. Die Huren machten blendende Geschäfte. Ich hielt nach den Ryesons Ausschau und entdeckte sie schließlich, als sie eine der billigen Kaschemmen am Stadtrand betraten.
Bill Ryeson, schlank, mit einer großen Narbe auf der linken Wange und Beinen, durch die man eine Sau hindurchtreiben konnte. Sein Bruder Frank eher kräftig gebaut, einen dümmlichen Ausdruck im Gesicht, einen Finger der rechten Hand stets am Griff seiner Waffe. Sie sahen mich nicht, denn ich stand im Schatten einer Hausecke. Ich weiß nicht, ob sie mich erkannt hätten. Bei Frank zweifele ich daran, aber Bill, der clevere der beiden, mochte mich durchaus in Erinnerung haben.
Ich fragte mich, ob ich sie einfach jetzt und hier niederschießen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Die Ankunft der großen Herde hatte die Stadt aufgescheucht, die Straßen waren belebt und bei meinen Schießkünsten musste ich damit rechnen, dass ein Unbeteiligter in Mitleidenschaft gezogen wurde. So sehr ich die Ryesons tot sehen wollte, so wenig wollte ich meine Seele mit unschuldigem Leben belasten.
Ich blieb an der Hausecke gelehnt stehen, zog eine Zigarette heraus, rauchte und dachte nach. Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich zunächst warten und beobachten musste, wohin die beiden nach dem Saufgelage gingen, das sie zweifelsohne vorhatten. Ich verharrte im Halbschatten, stieß ab und zu etwas Rauch in die Nachtluft und dachte an die Zirkusleute. Ob es Maricello und Vianetta gut ging? Sie waren wie Vater und Tochter miteinander umgegangen. Seltsamerweise kam mir nie der Gedanke, sie könnte seine Geliebte sein. Wenn sie mit den Zielscheiben in beiden Händen und einer auf ihrem Kopf an der rotierenden Scheibe gebunden stand, sah man nie eine Spur von Furcht oder Zweifel an seiner Zielsicherheit in ihren Augen. Sie strahlte ihn an, als könne es nichts Besseres geben, als von ihm beschossen zu werden.
Irgendwann lange nach Mitternacht torkelten die Ryesons aus dem Saloon. Sie stützten einander und machten sich auf den Weg. Ich drückte die letzte Zigarette an der Wand aus, damit ihr Glimmen mich nicht verriet, wenn ich den beiden folgte. Ich zog den Revolver aus dem Holster, entschied jedoch, es sei zu dunkel, um sie sicher zu erledigen. Wenn ich nur wusste, wo ich sie finden konnte, würde sich eine Gelegenheit ergeben, die besser war als im Augenblick.
Zwei Querstraßen weiter verschwanden sie in einem Hauseingang. Ich hörte sie, so wie vermutlich der ganze Rest der Bewohner dieser Gegend, grölend eine Treppe hinaufpoltern.
Einen letzten Moment verharrte ich in der Dunkelheit, schaute zu den Sternen hinauf und fragte mich, ob es Maria dort im Himmel gut ginge. Ob sie wohl auf mich warten würde? Tränen traten in meine Augen, ich wandte mich ab und ging zu meinem Zimmer zurück.
An den folgenden beiden Tagen beobachtete ich die Ryesons, was nicht besonders schwer fiel, da sie sich sorglos und lärmend verhielten. Jeden Abend kehrten sie zur beinahe exakt gleichen Stunde im Saloon ein und verließen diesen volltrunken im Licht der Sterne. Wenn sie sich weiterhin so verhielten, ich weiterhin so zögerlich wäre, so würde der Alkohol mich um meine Rache bringen. Also entschloss ich mich, die Nacht des nächsten Vollmonds zum Zeitpunkt der Rache zu erheben.