Syringa negro - David Pawn - E-Book

Syringa negro E-Book

David Pawn

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Beschreibung

Im fünften Band der Geschichte um Sophus Schlosser versuchen die Magier der Heilerstation zu verhindern, dass sich Tiberius Weissner in einen Dementor verwandelt. Aber der hat mit seinem Dasein als Mensch abgeschlossen. Eine Jugendfreundin von Sophus, die Tiberius noch immer anhimmelt, versucht helfend einzugreifen. Damit aber geraten alle Beteiligten in eine Intrige im Bundesamt für magische Angelegenheiten, die direkt gegen den Obersten Rat gerichtet ist. Die Mitarbeiter der Heilerstation bekommen es mit einem Magier zu tun, der skrupellos seine Pläne verfolgt.

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Syringa negro

 

 

David Pawn

 

Ich entschuldige mich bei allen Fans von Harry Potter, dass ich Ideen und Grundannahmen aus den Büchern von Minerva Mc…, sorry, J. K. Rowling in dieser Geschichte verwendet habe, aber noch ist nicht alles erzählt. Tiberius Weissner ist weiterhin auf der Suche nach Glück und Liebe. Wie ein ruheloser Harzgeist sucht er die Heilerstation heim.

 

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Copyright © 2015 David Pawn

Michael Siedentopf

Schweizer Str. 40

01069 Dresden

[email protected]

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Umschlagmotive: © Shutterstock / lanych - 170428316, Kostenko Maxim – 108920759

All rights reserved.

 

ISBN-13: 978-3754604076

 

Wie Sophus Tiberius Weissner fängt

Es gab Tage, da sich Sophus nach seiner Arbeit als Besenbinder zurücksehnte. In diesen Momenten zuckten seine Finger, als wollten sie Draht um Reisig winden. Er fragte sich, was sein Meister wohl gerade in seiner kleinen Werkstatt täte. Ob er wieder einmal einen der Lehrlinge auf den Hexentanzplatz geschickt hatte, um dort Besen an die Touristen zu verkaufen. Besen, die nicht flogen, im Gegensatz zu den Exemplaren, die an die Zauberer und Hexen verkauft wurden, die in Wernigerode und der Umgebung wohnten.

In solch leicht melancholischer Stimmung landete er auf dem Dach der Heilerstation, der magischen Version eines Krankenhauses, die ihm seit Januar des Jahres Lohn und Brot gab. Das grässlich anzuschauende, graue Gebäude lag östlich der Brockenspitze in der Nähe der Bahnstation Drei Annen Hohne. Vor den Blicken neugieriger oder nur zufällig vorbeistreifender nichtmagisch Begabter – also den Leuten, die nicht zaubern konnten und früher kurz Muggel genannt wurden – geschützt, indem man es als einen der Felsen der Region getarnt hatte. Felsen, die im Harz üblicherweise Klippen genannt wurden – Leistenklippen. Schnarcherklippen, Rabenklippen.

Einer dieser Formationen verdankte auch Sophus‘ ehemalige Schule, die er nun bereits seit 18 Jahren hinter sich wusste, ihren bei den Schülern üblichen Spottnamen: Hohne-Klipp-Schule. Als Sophus dort den Zauberstab geschwenkt und Zaubersprüche gewirkt hatte, was ihm schwerfiel, sowie Zaubertränke gebraut hatte, wofür er ein natürliches Talent besaß, lernte zwei Klassen über ihm ein ausgesprochen genialer Schüler. Sein Name lautete Tiberius Weissner.

Der junge Tiberius trat nach seinem Abschluss eine steile Karriere an, wurde eine Koryphäe auf dem Gebiet der Zaubertränke, errang Preise, ging nach Großbritannien an die berühmte schottische Lehranstalt von Hogwarts, arbeitete für das Ministerium und geriet schließlich auf Abwege. Denn in all den Jahren, die er über Kessel gebeugt in Tränken rührte, bohrte in seinem Herzen offensichtlich ein zutiefst menschlicher Schmerz – die Sehnsucht nach Liebe. Er hatte alles erreicht, was man mit harter Arbeit, Klugheit und Geld erreichen konnte, aber ein liebendes Herz an seiner Seite zu finden, wurde ihm vom Schicksal verwehrt.

All das wusste Sophus aus einem Geständnis Tiberius‘, welches dieser abgelegt hatte, als er sich eines Tages mit einer jungen Frau konfrontiert sah, der er ohne deren Wissen einen Liebestrank verabreicht hatte, der, und dies kam erschwerend hinzu, modifiziert und so mit starken Nachwirkungen behaftet gewesen war.

Weissner wurde nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern erhielt Hausarrest in seinem Heim am Rande von Dartmoor. Als jedoch ein überaus perfider Zaubertrank Magier und Muggel des Harzes gleichermaßen in den Bann schlug, wurde Weissner vom Bundesamt für magische Angelegenheiten sozusagen ausgeliehen.

Die ganze Geschichte endete damit, dass sich Weissner mit einer jungen Heilerin absetzte, die an der bis vor kurzem als unheilbar geltenden Squibbelitis erkrankt war. Unter dem Einfluss des glücksverheißenden Zaubertrankes Felix Felicis zogen die beiden wie Bonny und Clyde durch die USA und besuchten Spielkasinos.

Wenn Sophus den späteren Erklärungen Stephanie Simons, der erwähnten jungen Frau, glauben durfte, waren Weissners Absichten stets ehrbar gewesen. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab zu versuchen, Stephanie zu entführen, als diese, wieder geheilt, erkannte, dass ihre Liebesschwüre ihm gegenüber unwahr und der Krankheit geschuldet waren. Als dieses Vorhaben scheiterte, setzte Weissner sich erneut ab und blieb für einige Zeit aus dem Harz verschwunden.

Im Mai tauchte er kurze Zeit wieder in Bad Harzburg auf, wohl um sich erneut Geld zu besorgen, was unter dem Einfluss des bekannten Glückstrankes im Kasino kein Problem darstellte.

Und jetzt stand er vor Sophus auf dem Dach der Heilerstation, hielt seinen Zauberstab auf diesen gerichtet und sah aus, als würde er entweder jeden Augenblick einen unverzeihlichen Fluch auf ihn schleudern oder sich in die Tiefe stürzen. Sein dunkles Haar stand wild nach allen Seiten ab, als habe er es die ganze Zeit gerauft, während er auf Sophus wartete. Mit zusammengepressten Zähnen starrte er sein Gegenüber an, Tränen liefen seine Wangen hinab.

„Tiberius, was willst du hier? Brauchst du Hilfe?“ Sophus sprach sanft auf ihn ein. ‚Nur nicht reizen‘, ging ihm durch den Kopf. Jeden Augenblick musste doch jemand aus dem Zugang zur Heilerstation treten, bis dahin war er allein mit Weissner und musste ihn hinhalten.

„Sie kann das nicht machen“, sagte Weissner und einen Augenblick lang wusste Sophus nicht, wovon der Andere sprach. Ein Gefühl, das, nebenbei bemerkt, Sophus nicht neu war. Er spürte öfters Verwirrung, wenn jemand ihm etwas erklären wollte. Aber plötzlich wurde ihm alles klar. Weissner sprach von Stephanies bevorstehender Hochzeit mit Gregorius Katenbauer.

Die muntere, blonde Heilerin hatte ihnen vor zwei Wochen davon erzählt, Sophus konnte sich genau daran erinnern. Es war ein heißer Sonntag gewesen, der seinem Namen alle Ehre machte. Zu dritt hatten sie den Nachmittag in Wernigerodes Freibad, dem Waldhofbad, verbracht. Sie, das waren Stephanie, er selbst und seine Geliebte Lyra Bascomb, die ebenfalls an der Heilerstation arbeitete, ja, man muss es so sagen, die die Schuld trug, dass er der Werkstatt des Besenbinders den Rücken gekehrt und sein ehemaliges Hobby zum Beruf gemacht hatte.

Katenbauer, der Leiter der Abteilung für Verletzungen durch magische Tierwesen, ein Heiler, der dort mangels Fällen unterbeschäftigt war und sein Genie bei jedem sich bietenden Patienten austobte, war nicht mit von der Partie, da seiner Meinung nach Zauberer in einem Freibad nichts zu suchen hatten. Außerdem besaß er das Handicap zweier verholzter Unterschenkel, Andenken an einen Unfall mit Werwölfen im fernen Sibirien, die er ungern der breiten Öffentlichkeit präsentierte.

Tatsächlich findet man selten Zauberer und Hexen an Stränden oder in Freibädern vor, selbst an Tagen, da die Sonne vom Himmel brennt, als wolle sie die ganze Erde ausdörren. Der Grund dafür liegt in den noch immer üblichen Bemühungen, die Existenz einer magischen Welt geheim zu halten. Es ist Magiern bei Strafe verboten, ihren Umhang und ihren Zauberstab an einem öffentlichen Ort freizugänglich herumliegen zu lassen. Und genau das wäre erforderlich, wollte ein Zauberer baden und nicht mit seinem Zauberstab ins Wasser steigen. Das Argument, es gäbe Schließfächer, lässt das Bundesamt nicht gelten. Zauberer dürfen Badeeinrichtungen, die sie sich mit nichtmagisch Begabten teilen müssen, nur ohne magische Ausrüstung betreten. Und fühlt sich der durchschnittliche Zauberer bereits ohne seinen Umhang unvorteilhaft angezogen, so erscheint es ihm ohne seinen Zauberstab, als sei er nicht einfach nur nackt, sondern stände so am Pranger.

Dennoch war es Sophus an jenem Sonntag gelungen, Lyra zu einem Besuch des Waldhofbades zu überreden. Da diese während ihrer Arbeitsstunden nicht nur häufig mit nichtmagisch Begabten zu tun hatte, sondern sich auch immer wieder in deren Gedanken- und Gefühlswelt vertiefen musste, kam sie besser mit der Vorstellung zurecht, sich einen Nachmittag lang unter diese zu mischen und selbst in geringerem Maße als sonst zu Magie befähigt zu sein. Wie jeder weiß, ist der Zauberstab letztendlich nur ein Kanal, der die Magie bündelt und es erleichtert, sie gezielt einzusetzen, keineswegs ihre Quelle oder ihr Auslöser.

Lyra hatte kurzentschlossen Stephanie per Flohnetzwerk eingeladen und wenig später lagen sie zu dritt in leichter Bademode, von fröhlichen nichtmagisch Begabten umgeben, auf einer Liegewiese.

Sie taten all das, was auch die anderen Menschen im Freibad taten. Sie cremten sich gegenseitig mit Sonnenschutz ein, plantschten im Wasser, ließen den Inhalt des mitgebrachten Picknickkorbs auf völlig unmagische Weise verschwinden. Lyra las in einem Fachbuch, das sie vorsorglich in einen undurchsichtigen Schutzumschlag gehüllt hatte. Stephanie spielte mit Sophus Knallefalle, ein magisches Kartenspiel, das man als eine Mischung aus Poker und Mau-Mau bezeichnen könnte.

„Das gibt es doch gar nicht“, sagte sie, als Sophus zum dritten Mal hintereinander gewann. Sie schob ihre Brille mit einem Finger den Nasenrücken hinauf. „Aber ich muss mich nicht wundern, dass du immer die Karten bekommst, die du gerade brauchst. Daran ist dieses Sprichwort schuld.“

„Welches Sprichwort?“, wollte Sophus wissen.

„Pech im Spiel – Glück in der Liebe, sagen die nichtmagisch Begabten.“

Lyra schaute neugierig von ihrem Buch auf und in Stephanies Gesicht. „Was soll denn das heißen?“

„Gregorius hat mir einen Antrag gemacht“, sagte Stephanie lapidar.

Lyra richtete sich in sitzende Position auf. „Und?“

„Ich habe angenommen.“

Kreischen, jubeln, johlen. Ein paar andere Badegäste guckten genervt auf die kleine Gruppe aus drei Leuten, die gerade offenbar verrückt geworden waren.

„Wir fallen auf“, bemerkte Sophus.

„Na und“, sagte Lyra. „Darf man sich nicht einmal mehr für eine Kollegin freuen? Wann ist denn euer Termin?“

„Am 31. August“, antwortete Stephanie.

„Da bleiben ja nur fünf Wochen“, sagte Lyra. „Schafft ihr denn die ganzen Vorbereitungen in der kurzen Zeit?“

„Ich glaube, Gregorius hat die Hälfte bereits geplant gehabt, bevor er überhaupt gefragt hat“, erwiderte Stephanie.

„Ja, das sähe ihm ähnlich. Auf die Idee, du könntest ‚Nein‘ sagen, ist er vermutlich nicht einen Augenblick gekommen.“ Lyra schüttelte den Kopf. „Glaubst du, du kannst ihn bändigen?“

„Ich will ihn nicht bändigen“, sagte Stephanie. „Er soll gefälligst der alte, zynische Brummbär bleiben, in den ich mich verknallt habe. Im Grunde war ich vom ersten Augenblick an verloren. Er hat so eine einzigartige Weise mit Frauen umzugehen.“

„Man nennt das Machismo“, sagte Lyra.

Spielerisch warf sich Stephanie auf sie und stieß sie um. „Du bist ja bloß neidisch.“

„Ich“, Lyra lachte. „Keine Spur. Ich habe Sophus und kann mich wirklich nicht beklagen.“ Sie zwinkerte über die Schulter der Anderen ihrem Geliebten zu.

„Gregorius ist so bestimmt“, erklärte Stephanie. „Er weiß genau, was er will, und er sagt das auch. Er druckst nicht herum, er zweifelt nicht an seinen Entscheidungen. Er vertritt seinen Standpunkt gegen jedermann. Er duckt nicht, er zagt nicht. So einen Mann habe ich mir immer gewünscht. Ja, manchmal ist es nicht einfach, mit ihm klarzukommen, gerade weil er so ist. Man kann ihn nicht bändigen, anpassen, ändern. Aber er kann auch“, plötzlich schlich sich ein zartes Rot ihn ihre Wangen, „ungemein zärtlich sein. Ich bilde mir manchmal ein, diese Seite kenne nur ich. In der Liebe ist er so … anders.“

„Wirklich?“, fragte Lyra interessiert.

„Das interessiert uns nicht“, sagte Sophus betont und schaute demonstrativ weg.

„Doch, das interessiert mich sogar sehr“, sagte Lyra.

„Dann lasse ich euch lieber allein“, erklärte Sophus und erhob sich. „Ich gehe jetzt schwimmen.“

Die beiden jungen Frauen lachten schallend ob dieser Reaktion. Sophus ließ sich nicht beirren und marschierte in Richtung Becken davon.

Und jetzt, zwei Wochen später, stand Weissner auf dem Dach der Heilerstation, fuchtelte mit dem Zauberstab herum, als wolle er Fliegen verscheuchen und zeterte: „Sie kann Katenbauer nicht heiraten. Er ist alt. Er könnte ihr Vater sein. Sie kann ihn doch nicht lieben.“

„Anscheinend doch“, sagte Sophus. „Ich glaube nicht, dass du sie wirst umstimmen können.“

„Hol sie her. Ich rede mit ihr. Sofort!“ Weissner hielt inne und richtet den Zauberstab direkt auf Sophus.

„Tiberius, sei doch vernünftig. Du brauchst Hilfe.“

Weissner sah tatsächlich aus, als wäre er dem Wahnsinn anheimgefallen. Der Blick schoss unstet von Sophus zu einer Seite des Daches und wieder zurück, als fühle er sich beobachtet und bedroht. Der Zauberstab zitterte in seiner Hand, auch wenn er sich bemühte, ihn bedrohlich auf sein Gegenüber zu richten. Hin und wieder rollte eine Träne seine Wange hinab. Sein Gesicht wirkte leicht aufgedunsen, die Haut wächsern, das Haar verfilzt. Der ehemalige Professor erinnerte Sophus an einen Penner, der auf der Breiten Straße Touristen um Almosen anbettelte.

Langsam wandte Sophus sich ab.

„Wo willst du hin?“, fragte Weissner mit trotz seiner Erscheinung kräftiger Stimme.

„Du wolltest mit Stephanie sprechen. Ich hole sie.“

„Du bleibst schön hier in meiner Nähe. Hast du keinen Zauberstab mehr?“ Weissner straffte seinen Körper. Er schien für einen Moment wieder der überlegene Magier früherer Zeiten zu sein. Offenbar gab ihm Sophus‘ Gegenwart dieses Gefühl.

„Ich könnte ihn gegen dich einsetzen“, wandte Sophus ein.

„Ich weiß, wie ich aussehe“, sagte sein Gegenüber. „Aber glaub mir, ich bin sogar heute besser als du.“ Ein kurzer Schwenk mit dem Zauberstab und Sophus wurde von den Beinen gerissen. Er lag einen Moment hilflos auf dem Rücken und strampelte mit seinen Gliedmaßen wie ein Käfer in gleicher Lage. Er rappelte sich wieder auf und blieb verdattert auf dem Beton sitzen.

„So, jetzt holst du endlich Stephanie her“, kommandierte Weissner. „Wir wollen doch nicht den ganzen Tag hier vertrödeln.“

Sophus fingerte seinen Zauberstab aus dem Umhang, sein Gegenüber dabei beständig im Auge behaltend. Dieser schien ihm im Augenblick zu allem fähig und er wollte den Abend gern noch erleben,

„Forza audio, Stephanie Simon.“

„Ja, was gibt es?“

„Tiberius ist hier oben auf dem Dach und würde gern mit dir reden“, erklärte Sophus.

„Hallo, Sophus, ich verstehe dich ganz schlecht. Hier kam an, Tiberius wäre auf dem Dach und wollte mit mir sprechen. Muss ein Übertragungsfehler sein.“ Sophus hörte Stephanie kichern.

„Stephanie, das ist bitterernst. Komm bitte sofort rauf.“ Sophus legte so viel Dringlichkeit in seine Stimme, wie ihm möglich war.

„Meine Güte“, hörte er Stephanie sagen, dann brach die Verbindung ab. Offenbar war ihr klargeworden, dass Sophus keine Späße trieb und sich in einer sehr unerfreulichen Lage befand.

„War doch gar nicht so schwer“, sagte Weissner. „Du musst da übrigens nicht die ganze Zeit am Boden hocken. Wenn ich es vermeiden kann, werde ich dir nichts tun. Auch wenn du mich einstmals ziemlich übel zugerichtet hast.“ Weissner lachte freudlos. „Wahrscheinlich hatte ich es sogar verdient.“

Sophus richtete sich vorsichtig auf, den Anderen die ganze Zeit im Auge behaltend. Er fühlte sich ziemlich wacklig auf den Beinen. Er hatte sich kaum wieder aufgerichtet, da stürmte Stephanie auf das Dach. Ihre Augen sprühten Feuer. Sie stürzte mit gezogenem Zauberstab auf Weissner zu und fauchte: „Lass ihn in Ruhe. Lass ihn sofort in Ruhe.“

Weissner hob die Hände, als wolle er sich ergeben und trat einen Schritt rückwärts. „Ich tue ihm ja nichts. Warum sollte ich mich an Katenbauers Hofnarren vergehen? Ich will nur eines. Ich will wissen, warum du diesen alten Mann mit seinen Holzbeinen heiraten willst.“

Stephanie blieb stehen. „Weil ich ihn liebe. Kannst oder willst du das nicht begreifen?“

„Wie kannst du diesen Mann lieben? Er könnte dein Vater sein. Er ist ein ungehobelter Klotz. Er hat zwei Holzbeine. Und so schön sieht er auch nicht aus, dieses kantige Gesicht, dieser stechende Blick.“

„Ich kenne ihn besser als du, seine liebevolle Seite. Sein Bedürfnis nach Zuwendung, nach einer Partnerin, die ihn versteht. Ja, vielleicht bin ich für ihn wirklich so eine Mischung aus Geliebter und Tochter, die er nie hatte. Aber weißt du was, das ist mir piepegal. Ich liebe ihn und ich werde ihn heiraten und du wirst daran nichts ändern.“

„Aber du hast mir auch gesagt, du würdest mich lieben“, sagte Weissner und plötzlich klang seine Stimme sanft.

„Da war ich krank, erinnere dich, und bis oben hin voller Felix.“

Weissner schüttelte den Kopf so heftig, als wolle er die Worte aus seinen Ohren wieder hinausschleudern, ehe sie ihm ins Bewusstsein dringen konnten. „Nein, du … du warst zärtlich, voller Hingabe. Das kann nicht nur Squibbelitis gewesen sein. Stephanie, ich brauche dich. Mein Leben ist so sinnlos ohne dich.“ Weissner griff in seine Hosentaschen und förderte zwei dicke Geldscheinbündel zutage. Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. „Was soll ich mit all diesem Zeug? Glück, ha, was ist das für ein Glück, bei dem du nicht an meiner Seite bist.“ Er warf das Geld über sich in die Luft, zielte mit dem Zauberstab hinein und ließ eine Feuergarbe hervorschießen.

„Tiberius, was soll diese armselige Vorstellung? Das ist deiner nicht würdig.“ Auch Stephanie klang jetzt ein wenig verzweifelt. „Du hast mir sehr geholfen, als ich so krank war. Dafür bin ich dir dankbar. Aber mehr als Dankbarkeit kann ich dir nicht anbieten. Wenn du Hilfe brauchst, um von Felix loszukommen, so helfen wir dir.“

„Hilfe, Hilfe …“ Weissner schwankte und wedelte mit dem Zauberstab durch die Luft. „Ja, du kannst mir helfen. Komm mit mir. Bleib bei mir. Wir gehen wieder nach Amerika. War es nicht toll, jeden Tag an einem anderen Ort, jede Nacht in einem anderen Bett. Was wir alles gesehen und erlebt haben, erinnere dich!“

„Wir waren auf der Flucht, Tiberius. Das ist die Wahrheit. Ich lege keinen Wert darauf, wieder gejagt zu werden wie ein wildes Tier. Sie suchen dich jetzt fast überall auf der Welt. Komm zur Vernunft. Ergib dich und komm in die Obhut der Heilerstation. Wahrscheinlich können wir es als Wirkung von dauerhafter Einnahme von Felix Felicis auslegen. Das sollte sich strafmildernd auswirken.“

Weissner antwortete mit schallendem Gelächter, das sich jedoch sehr künstlich anhörte.

„Stephanie, ich werde gewiss nicht nach Sylt oder Askaban oder in irgendeinen anderen magischen Knast der Welt gehen“, erwiderte er schließlich.

Sophus vernahm hinter sich ein leises Schlurfen. Aus den Augenwinkeln erblickte er Christopher Möbius, der im Schatten der Eingangstür stand, bemüht für Weissner nicht sichtbar zu werden.

„Sie können ruhig rauskommen, Möbius“, sagte Weissner. Sophus fragte sich, wie er den Chefauror der Wache an der Steinernen Renne entdecken konnte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen“, antwortete dieser und trat gleichzeitig auf das Dach. „Wollen Sie wieder einmal Ihre große Liebe entführen?“

„Nein, darüber bin ich hinaus.“ Weissner warf den Zauberstab von sich. „Sehen Sie, Möbius, keine Gewalt gegen andere.“ Er wandte sich wieder Stephanie zu. „Ich frage dich jetzt zum allerletzten Mal: Wirst du mit mir kommen?“

„Nein, Tiberius, ich kann nicht. Ich liebe dich nicht. Es wäre erneut eine Lüge. Und diesmal würde ich sie bei vollem Bewusstsein aussprechen. Das kannst du nicht wollen.“

„In diesem Fall trägst du ganz allein die Verantwortung“, sagte Weissner. Er griff in seinen Umhang, zog eine Phiole heraus und stürzte deren Inhalt in einer einzigen fließenden Bewegung hinunter, ehe Möbius einen Zauberspruch wirken konnte, der ihn aufhielte.

Sophus konnte für einen Moment einen Blick auf den Inhalt des kleinen Glasgefäßes erhaschen. Die Flüssigkeit darin war lackschwarz wie Onyx, ölig glänzte sie im Licht der Sonne. Als ein Lichtstrahl direkt darauf fiel, zerstäubte er an der Oberfläche des Trankes in sämtliche Spektralfarben, die wie ein Puder aus Licht eine Wolke bildeten.

„Tiberius, sei vernünftig“, rief er aus und stürzte auf den anderen Magier zu, doch ehe er diesen erreichen konnte, hatte der den Trank bereits geleert.

Als Sophus direkt vor Weissner stand, sah er einen letzten öligen Tropfen auf dessen Unterlippe. Weissner lächelte wie ein Kind am Weihnachtsabend.

„Es ist vollbracht“, sagte er abschließend und stürzte im nächsten Augenblick nach vorn in Sophus‘ Arme, als habe ihn jemand von hinten mit einer Keule niedergestreckt.

Möbius stand mit dem Zauberstab in der Hand verdattert da. Stephanie blickte mit weit aufgerissenen Augen auf das Tableau aus Sophus und Weissner, der von diesem daran gehindert worden war, auf den Beton zu stürzen. Just in diesem Moment kam Katenbauer aus der Tür. Er blickte auf die Szene und fragte: „Schockzauber?“

Stephanie schüttelte den Kopf. Tonlos antwortete sie: „Syringa negro.“

 

Wie Sophus etwas gehustet wird

Man brachte den bewusstlosen Professor Weissner ins Innere der Heilerstation und lieferte ihn zunächst in der sechsten Etage ab, in der sich Heiler um Hexen und Zauberer kümmerten, die durch einen Spruch oder Trank geistig geschädigt worden waren. Da es sich bei Syringa negro um den stärksten bekannten Trank aus der Gruppe der Geistabtrenner handelte, hielt Sophus diese Entscheidung für korrekt. Selbst wenn man berücksichtigte, dass Syringa negro strenggenommen kein Zaubertrank und kein Geistabtrenner war, und die Wirkung nicht als Geisteszauber deklariert werden konnte. Klassische Geistabtrenner, so wie Tiberius sie mehrfach verwendet hatte, um in die Heilerstation einzudringen, erzeugten einen Geist, in dem sie die Seele vom Körper ablösten. Diese kehrte jedoch früher oder später zurück und der Magier war wieder ein Ganzes. Bei Syringa negro-Absud geschah etwas ganz anderes.

Sophus hatte vor drei oder vier Jahren einmal in seiner Lieblingszeitschrift „Der lila Kessel“ über den Trank, nennen wir diesen Sud der Einfachheit halber so, gelesen. Woran er sich erinnern konnte, war im Wesentlichen Folgendes:

Bei Syringa negro handelte es sich um einen Auszug aus den Blüten des äußerst seltenen schwarzen Flieders. Die Pflanze gedieh nur in sehr abgelegenen Schluchten, die von Geistern heimgesucht wurden. Deren Ursache mussten die Seelen von Menschen sein, die in den Fluten eines Flusses zu Tode gekommen waren, der die Klamm durchschnitt. In Deutschland gab es zwei mögliche Orte, die diese Voraussetzung erfüllten. Der Bodekessel war einer davon. Die Pflanze wuchs in einer Nacht zu voller Blüte, bildete in den Morgenstunden Samen aus und verdorrte. In diesem dürren Zustand verblieb sie den Rest des Jahres, für jeden Unkundigen nicht mehr als ein blattloser Strauch, vermutlich tot. Befruchtet wurde der schwarze Flieder durch eine spezielle Art von Fledermäusen, die den Nektar der schwarzen Blüten tranken, der in Farbe und Geschmack Blut glich. Für den Trank benötigte man befruchtete Blüten. Um diese zu sammeln, blieb maximal eine Stunde Zeit, da sich nach der Befruchtung sehr schnell die Früchte ausbildeten. Unbefruchtete Blüten andererseits waren wertlos.

Die Wirkung des Absudes dieser Blüten lässt sich am besten mit der Überschrift beschreiben, die den Artikel geziert hatte: Das Geheimnis der Dementoren. Bei diesen Wesen handelte es sich keineswegs um magische Tierwesen, sondern um die Seelen von Magiern, die so unglücklich und verzweifelt gewesen waren, dass sie zu Syringa negro gegriffen hatten – dem ultimativen Geistabtrenner. Der Sud, im Grunde ein Tee aus jenen Blüten, ließ den Körper des Magiers verschwinden. Zurück blieb ein Dementor, eine gleichzeitig bösartige und doch gepeinigte Seele, die ausschließlich dafür lebte, ihre eigene Hoffnungslosigkeit in die Welt zu tragen und mit jedem zu teilen, der ihr zu nahe kam. Ein Wesen, das Freude daraus zog, Freude zu nehmen, Glück nur im Unglück Anderer fühlte und seine Lebenskraft daraus zog, Menschen den Lebenswillen zu entziehen. Insofern muss gesagt werden, dass Syringa negro keinen echten Geistabtrenner darstellte, denn die Wirkung blieb, einmal vollständig eingetreten, unumkehrbar. Der Dementor kann nicht wieder in seinen ehemaligen Körper zurückkehren, denn dieser zerfällt zu Staub. Dafür besitzt ein Dementor im Gegenzug wesentlich mehr Stofflichkeit als ein Geist.

In den alten Zeiten, als in Europa die Scheiterhaufen brannten und unzählige Hexen und Zauberer ihr Leben ließen, flohen viele Magier vor den Qualen der Inquisition mit einem Schluck Syringa negro. Diese Dementoren bildeten lange Zeit die Wachmannschaften in europäischen magischen Gefängnissen, da sie so gut wie unsterblich waren.

Syringa negro, das bedeutet schwarze Magie und auch wieder nicht, denn mit dem Trank richtet der Magier seine Wut und Verzweiflung auf sich selbst. Er opfert seinen Körper, um eine Seele voller Neid auf das Glück anderer zu schaffen. Der Artikel nannte den Sud eine Form der magischen Selbsttötung.

Zwei Wochen verharrt der Körper in der Schwebe, in einem Zustand zwischen Leben und Tod, ehe er zerfällt und den Dementor freigibt. So lange blieb den Mitarbeitern der Heilerstation Zeit, um das Leben Tiberius Weissners zu ringen.

„Weißt du, das Gegenmittel ist nicht das Problem“, sagte Stephanie, die neben Sophus an Weissners Bett stand und in das blasse Antlitz des Bewusstlosen schaute.

„Nicht?“, staunte Sophus. „Ich dachte, es wäre sehr selten. Stand jedenfalls so im ‚Lila Kessel‘.“

„Klar ist es selten, aber es ist zu beschaffen. Sogar hier in Deutschland. Allerdings ist die Wirkung nicht vollständig. Bei den meisten dieser Gegenmittel muss die Behandlung in gewissem Abstand wiederholt werden.“

„Dennoch sollte sich jemand darum kümmern, etwas herbeizuschaffen.“ Sophus und Stephanie wandten sich zu Katenbauer um, der in den Raum getreten war.

„Hat man dir den Fall übertragen?“, fragte Stephanie. „Ich dachte Dennstedt würde übernehmen.“

„Ich habe immerhin Geisteszauber studiert. Und ich fühle mich persönlich betroffen. Eikendorff hat zugestimmt.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit Sophus zu. „Besenbinder, wären Sie zu einem kleinen Ausflug bereit?“

„Wo wollen Sie mich diesmal hinschicken? Wieder in eine finstere Höhle, um Frösche zu fangen?“

„Trugolme, Besenbinder, Trugolme. – Nein, diesmal wird es bei weitem gemütlicher. Ich dachte, Sie würden gern Blümchen pflücken. Kollege Weissner benötigt einen Strauß Silberblauer Felsentroddeln. Zwei, drei Blüten dürften genügen.“

„Du willst mit Felsentroddeln arbeiten?“ Stephanie schien erstaunt.

„Alles andere ist Mumpitz“, erwiderte Katenbauer. „Ich weiß, was in den Büchern steht. Aber Zaubernuss und Quellenschön sind beide nur bedingt wirksam. Da kann es passieren, dass der Patient sich ein paar Wochen später doch verwandelt. Das Risiko gehe ich nicht ein. Wie heißt es so schön: Ein Kuss und Felsentroddel-Tee heilen alles Herzeweh.“

„Da!“, rief Stephanie aus. „Siehst du nicht das Problem?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“

„Woher nehmen wir den Kuss?“, fragte sie.

Katenbauer zuckte die Schultern. „Das wird sich finden, wenn wir die Blüten haben.“ Er wandte sich ab und stakte hinaus. „In zwanzig Minuten in meinem Büro, Besenbinder!“, rief er über die Schulter.

„Was sollte das mit dem Kuss?“, fragte Sophus, nachdem sich die Tür geschlossen hatte.

„Felsentroddeln sind das einzige sichere Gegenmittel. Aber bei denen ist es Voraussetzung für die Wirksamkeit, dass der Patient den Sud willentlich nimmt. Er muss geheilt werden wollen. Verstehst du? Solange Tiberius nicht bereit ist zu akzeptieren, dass ich nicht zu ihm zurückkehre, wird dieses Gegenmittel nicht wirken, kann es nicht wirken.“

„Und was ist mit diesen anderen Kräutern?“, wollte Sophus wissen.

Stephanie zuckte mit den Schultern. „Du kennst doch Gregorius. Er geht keine Kompromisse ein. Mit der zweitbesten Lösung gibt er sich nicht zufrieden, selbst wenn die beste Variante nur bedingt funktionieren kann. Ich werde versuchen, ihn umzustimmen, aber allzu viel Hoffnung mache ich mir nicht.“

„Diese Felsentroddeln zu besorgen, ist das auch so ein Himmelfahrtkommando wie Trugolme zu fangen?“

„Nein. Sind ziemlich normale Blüten. Kompliziert wird es nur, wenn sich Pixies in der Nähe herumtreiben.“

„Pixies?“ Sophus hörte sich an, als traue er seinen Ohren nicht. „Die gibt es doch nur in England, oder?“

„Das weiß keiner so genau. Sind ja recht unauffällig, wenn man sie oder ihre Blumen nicht belästigt. Andernfalls … naja, du hast sicherlich schon einiges gehört.“

„Ja, und in dem Fall würde ich es vorziehen, wieder Trugolme fangen zu dürfen.“ Sophus sah ziemlich missvergnügt aus. „Wie ich mein Glück kenne, wird es von den Biestern wimmeln, wo immer man mich hinschickt, um diese Blumen zu pflücken. Ich werde mir zur Sicherheit ein oder zwei Abwehrtränke brauen, bevor ich irgendwohin aufbreche. Ich gehe schon mal ins Labor und bereite alles vor.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging hinaus.

Statt ins Labor begab er sich allerdings ins Erdgeschoss in die Abteilung für nichtmagisch Begabte, die von seiner großen Liebe geleitet wurde, um dieser die Neuigkeiten zu berichten.

„Ich möchte einmal erleben, dass Katenbauer den einfachen Weg wählt“, sagte Lyra. „Würde er vermutlich, wenn er sich selbst um alles kümmern müsste. Aber er weist nur seine Beine vor und ist fein raus.“

„Wo wird die Reise hingehen? Kannst du dir das vorstellen?“

„Keine Ahnung, wo dieses Grünzeug hierzulande wächst. Das ist nicht mein Gebiet. Wusste Stephanie nichts?“

Sophus schüttelte nur den Kopf.

„In der zweiten Etage gibt es eine kleine Kräuterabteilung. Die kümmern sich um Heiltees und Aufgüsse. Ansonsten ist das Katenbauers Resort. Seine Abteilung heißt nicht umsonst ‚Verletzungen durch magische Tiere und Pflanzen‘.“ Lyras Zauberstab klingelte. „Tut mir leid, die Pflicht ruft. Melde dich, wenn du weißt, wohin die Reise gehen soll.“

„Was dachtest du denn? Also, bis später. Wir sehen uns zum Mittag, oder?“

Lyra nickte und eilte in Richtung eines weiter hinten im Gang befindlichen Krankenzimmers davon. Markus Adamczyk kam aus dem ersten Zimmer links, grüßte freundlich und folgte seiner Chefin. Sophus machte sich auf den Weg in die fünfte Etage..

„Setzen Sie sich“, sagte Katenbauer, als Sophus kurze Zeit später das Büro betrat. Er rückte einige Papiere zurecht, stützte seinen Zauberstab auf die Schreibtischplatte und fixierte sein Gegenüber.

Sophus starrte zurück und wartete.

„Wollen Sie mich nicht fragen, wohin die Reise geht, Besenbinder?“, fragte Katenbauer schließlich knurrig.

„Wollen Sie mir das nicht einfach sagen?“

„Also gut, Sie haben gewonnen. Der Preis ist eine Reise ins wunderschöne Elbsandsteingebirge. Wenn ich mich recht erinnere, ist Ihnen die Strecke nach Dresden bekannt. Sie haben dort einen Heilerkongress …“ Katenbauer machte eine Kunstpause und vollendete anschließend: „… besucht.“ Sophus fragte sich einen Moment, ob er zunächst „in Aufruhr versetzt“ sagen wollte, was durchaus der Wahrheit näher gekommen wäre, dann bejahte er.

„Das Elbsandsteingebirge, auch Sächsische Schweiz genannt, liegt östlich von Dresden“, fuhr er fort. „Im Wesentlichen besteht es, wie der Name sagt, aus Sandsteinfelsen, die die Sachsen bescheiden ‚Steine‘ nennen. Die meisten Muggel finden es romantisch und toll und ungemein erholsam. Sie klettern auf diesen Steinen herum, wandern durch die Landschaft, kurven mit ihren Autos durch die Gegend, fotografieren sich selbst vor jedem Baum und lassen überall ihren Dreck zurück, wodurch es weniger romantisch, toll und erholsam wird, aber das stört sie natürlich nicht. Um die Natur vor den Muggeln zu schützen, hat man Teile der Landschaft besonders gekennzeichnet. Die Muggel nennen das Nationalpark. Zumindest dort soll man sich als Mensch so verhalten, wie man es eigentlich überall in der Natur tun sollte – also nichts unnötig kaputtmachen. Dieser Nationalpark verfügt über eine sogenannte Kernzone. Da darf man als normaler Mensch überhaupt nicht hin. Die Natur soll sich selbst überlassen bleiben. Schön für sie. Gut für uns.“

„Weil man dort diese Felsentroddeln findet?“, warf Sophus eine Frage ein.

„Exakt. Da keine Horden von Touristen und anderen Muggeln durch den Wald trampeln, findet man dort verschiedene seltene Pflanzen und Tiere, nichtmagische und magische.“ Katenbauer setzte seinen Zauberstab auf das oberste vor ihm liegende Blatt und schob dieses zu Sophus hinüber. „Das ist die Blume, die Sie finden müssen.“

Sophus blickte auf die Zeichnung einer zierlichen Blüte, deren Blätter in der Mitte dunkelblau waren und zu den Rändern heller wurden, bis die äußere Umrandung silbrig erschien. Die Form erinnerte an eine Tulpe. Die Pflanze hatte einen behaarten Stängel und ein einzelnes lanzettförmiges Blatt, das über die Blüte hinausragte und eine Art Dach bildete.

Neben der Zeichnung standen ein paar Stichpunkte. An Felsen, Südseite. Sand- oder Kalkstein bevorzugt. Blüte: Juli bis September. Öffnet sich in den frühen Abendstunden. Insektenbestäubung, vornehmlich Hummeln, in Ausnahmen Pixies. In Deutschland in der Sächsischen Schweiz und an der Küste beheimatet. Selten.

Wieder wurden die kleinen Plagegeister aus dem Süden Englands erwähnt, die allgemein als harmlos angesehen wurden. Das traf auch zu, wenn man die Blumen in Frieden blühen ließ, die sie in ihre Obhut genommen hatten. Andernfalls konnten sie allerdings ziemlich sauer werden. Sollte man jemals vor der Wahl stehen, in einem Hornissennest zu stochern oder ein Rudel Pixies gegen sich aufzubringen, so sollte man sich für das Hornissennest entscheiden. Das bedeutete weniger Ärger. Die kleinen geflügelten Wesen, die mit Feen und Kobolden verwandt waren, besaßen einen Humor, der dem Katenbauers nahekam – von der boshaften Seite her.

„Gibt es im Elbsandsteingebirge Pixies?“, wollte Sophus wissen.

„Nein, tut mir leid, Herr Schlosser.“

Sophus schaute Katenbauer verblüfft an. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr verwirrte, dass er von seinem Gegenüber einmal nicht einfach nur Besenbinder genannt worden war, oder dass es dem Heiler leidtat, keine Konfrontation mit den Plagegeistern herauszufordern.

„Ich finde das eher beruhigend“, sagte Sophus.

„Das dachte ich mir“, erwiderte Katenbauer. „Mich hätte es durchaus fasziniert, die Spezies zu studieren. Ich glaube, in diesem Fall hätte ich Sie sogar auf Ihre Mission begleitet. So werden Sie mit dem Magier vor Ort vorlieb nehmen müssen.“ Er griff in ein Schubfach seines Schreibtisches und förderte einen mehrfach gefalteten Bogen zutage, den er auf dem Tisch ausbreitete. Sophus schaute auf ein graues Blatt Papier.

„Was ist das?“

„Werden Sie gleich sehen.“ Katenbauer schwenkte den Zauberstab und augenblicklich füllte sich die Fläche vor ihren Augen. Winzige Häuser, Bäume und Felsen hoben sich dreidimensional aus der Oberfläche und bevölkerten sich mit Menschen und Fahrzeugen. Ein Fluss durchschnitt plätschernd das Blatt, aus dem Nichts kommend und im Nichts verschwindend. Bäche mündeten in ihm. Stromaufwärts schob sich von der Kante des Blattes der Bug eines Schiffes ins Bild. Sophus blieb der Mund offen stehen. Er hatte bereits magische Karten gesehen, aber diese übertraf alles, wovon er je gehört hatte.

„Liberman landscape“, blinkte in goldenen Lettern über der Miniaturlandschaft und zerstob in tausend Sterne, die verglühten.

„Neueste Magie“, sagte Katenbauer. „Jede Woche wird eine aktuelle Version bereitgestellt. Jetzt hören Sie auf, das Ganze wie ein Muggelwunder anzuglotzen, ist nur simple Zauberkunst. Ich will Ihnen zeigen, wo Sie landen müssen, und wo unser Kontaktmagier zu finden ist. Kommen Sie mal zu mir herum.“

Sophus ging um den Schreibtisch und stellte sich an Katenbauers Seite. Der deutete mit dem Zauberstab auf die Mündung eines kleinen Bachs. Diese fand sich in der Nähe einer größeren Ortschaft, in deren Rücken sich eine bizarre Felsenwand auftürmte. Stecknadelkopfgroße Menschen flanierten am Flussufer entlang, saßen auf einer Terrasse oder warteten an einem Anleger. „Dieser Bach heißt Kirnitzsch. Der Ort, den er passiert, wird Bad Schandau genannt.“

Der Heiler ließ die Spitze des Zauberstabes zu einem flachen Gebäude wandern, das in seiner Form an eine Schnecke erinnerte. „Das ist ein Schwimmbad. Hier vergnügen sich die Muggel.“ Er deutete mit dem Zauberstab auf Sophus. „Sie landen in der Nähe und folgen dem Bach. Nach ein paar hundert Metern erreichen Sie das da.“ Der Zauberstab schoss auf ein Schienenfahrzeug zu, das an eine Eisenbahn erinnerte, aber kleiner und schlanker war. „Die Kirnitzschtalbahn. Mit der fahren Sie weiter, um kein Aufsehen zu erregen. In den engen Tälern ist es mit dem Besen ohnehin nicht einfach zu navigieren, und von Heilerin Bascomb habe ich erfahren, dass es um Ihre Apparierkünste nicht allzu gut bestellt ist. Sie fahren fünf Stationen, den Rest gehen Sie zu Fuß. Sie erreichen hier“, er deutete erneut mit dem Zauberstab, „ein einsames Gehöft. Dort wohnt Frederik Stankowski, seines Zeichens Beauftragter des Bundesamtes für den Schutz magischer Wesenheiten im Freistaat Sachsen. Ich habe per Flohnetzwerk kurz mit ihm gesprochen. Er freut sich, Sie kennenzulernen, kennt Ihren Vater. – So, jetzt wissen Sie Bescheid.“ Katenbauer schwenkte den Zauberstab, die Landschaft verschwand. Er faltete das Blatt wieder zusammen und verstaute es in seinem Schreibtisch.

„Wenn Sie abreisen, gebe ich Ihnen die Karte mit. Sie haben sich gemerkt, wie man sie aktiviert?“

„Äh … nein.“

„Ich erklär es Ihnen kurz vor der Reise. Sonst vergessen Sie sowieso die Hälfte wieder.“

„Wann soll ich fliegen?“ Sophus trat zurück auf die andere Seite des Schreibtisches.

„Morgen“, sagte Katenbauer.

„Morgen schon?“

„Je schneller wir die Felsentroddeln in den Händen halten, desto eher können wir uns um den Rest der Aufgabe kümmern – den Kuss. Wenn es möglich wäre, würde ich dafür sorgen, dass man Sie per Flohnetzwerk reisen lässt, aber Stankowski verfügt nur über einen dieser kleinen Kommunikationskamine. Sie fliegen also morgen los, heute Nachmittag benötige ich eine Analyse von Ihnen. Wir haben da einen interessanten neuen Fall in der Vergiftungsabteilung reinbekommen. Am besten kommen Sie gleich mit und helfen mir bei der Zungenprobe.“

Sophus seufzte, folgte Katenbauer jedoch auf dem Fuße, als dieser aus dem Raum stakte.

Sie betraten kurze Zeit später eines der Krankenzimmer in der fünften Etage. Heilerin Griselda Ungesang, von allen nur Elf genannt, stand an einem der Betten und bewegte mit dem Zauberstab das Kopfteil in eine höhere Position.

„Nicht so steil, verdammt“, hörte Sophus eine keuchende Stimme fluchen. Sie gehörte dem im Bett liegenden Magier. Einem Mann von etwa vierzig Lebensjahren mit dunklem, strähnigem Haar, das bereits licht wurde. Ebenso dunkle Brauen wölbten sich über den Augen, die tiefe Schatten aufwiesen. Der Magier war blass und schnaufte beim Atmen. Seine Stimme erinnerte an das heisere Krächzen einer Krähe. Der Patient zeigte eine auffällige Blässe. Der Hals schien Sophus deutlich angeschwollen.

„Wie versprochen, Herr Wittmer, erledigen wir jetzt die Prozedur mit der Zungenprobe. Unser Labor“, Katenbauer wies auf Sophus, „wird sich anschließend sofort darum kümmern.“ Der Heiler beugte sich zu Sophus und flüsterte: „Ich zweifele allerdings stark daran, dass es sich wirklich um eine Vergiftung handelt. Klingt eher nach einer heftigen Erkältung.“

Er wandte sich wieder dem Patienten zu. „So, jetzt Mund auf und Zunge herausstrecken.“ Er zückte den Zauberstab, förderte eine Phiole aus seinem Umhang und begann mit der Prozedur.

„Meine Güte, was haben Sie denn gegessen?“, fragte er, während hellgraue Schwaden von der Zunge aufstiegen und sich am Zauberstab sammelten.

„Seit gestern Mittag nichts mehr. Kann ja kaum schlucken“, presste der Patient hervor. Das Sprechen bereitete ihm offensichtlich ebenfalls Mühe.

„Riecht, als hätten Sie eine tote Maus im Hals“, sagte Katenbauer uncharmant. „Lassen Sie mich mal sehen. Kopf in den Nacken, Mund weit auf. – Puh!“ Er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. „Seltsam. So etwas habe ich noch nie gesehen. Sind Sie sicher, dass man Sie mit einem Zaubertrank verhext hat?“

„Si … cher? Wenn i … ch si … cher wäre, wäre i … ch ni … cht hier.“ Jeder Zischlaut hörte sich an, als würde der Patient Schleim aus dem Hals würgen.

„Da ist etwas in Ihrem Hals, was ich nicht deuten kann. Werde einen Kollegen hinzuziehen, der sich besser mit so etwas auskennt.“

„Womit?“ Dann der Versuch tief Luft zu holen.

„Nichtmagische Krankheiten und Verletzungen“, sagte Katenbauer.

„Pah!“ Der Laut ging in einen explosionsartigen Hustenanfall über, der in einem Röcheln endete, als ginge es mit dem Mann bald zu Ende.

---ENDE DER LESEPROBE---