Joslyn Myers - David Pawn - E-Book

Joslyn Myers E-Book

David Pawn

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Beschreibung

"Diese Männer haben meine Mutter getötet!" „Diese Männer? Welche Männer?“ „Der geschniegelte Dicke und der mit der Adlernase.“ „Du musst dich täuschen. Das sind angesehene Bürger dieser Stadt. Der Mann, dem die Bank gehört, und der Friedensrichter.“ Frühzeitig Waise geworden muss Joslyn Myers sich prostituieren und wird zum Opfer eines üblen Sadisten. Erst als sie den Revolvermann Robert McFarlayne kennenlernt, ändern sich ihre Lebensumstände. Er lehrt sie nicht nur, sich zu verteidigen, sondern auch stolz und mit Selbstbewusstsein durch das Leben zu gehen. Als sie dem Brüderterzett wieder begegnet, dem sie all das Leid und die Demütigungen ihres bisherigen Lebens anlastet, kennt sie nur noch ein Ziel: Rache! Eine wilde Jagd voller Dreck, Blut und Leichen.

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Joslyn Myers

 

 

Asta Roth & David Pawn

 

Ich möchte ganz herzlich meinen Testlesern danken, die nicht nur ehrlich ihre Meinung gesagt haben, sondern auch in die Rollen von Korrektoren, ja gar Lektoren geschlüpft sind, und so dazu beigetragen haben, den Text besser zu machen. Herzlichen Dank in alphabetischer Reihenfolge an Martina Bauer, Patricia Jankowski, Melanie Lübker, Monique Meipunkt und Doris Schober-Troy.

 

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Copyright © 2016 David Pawn & Asta Roth

[email protected] & [email protected]

Michael Siedentopf

Schweizer Str. 40

01069 Dresden

Umschlaggestaltung: Casandra KrammerUmschlagmotive: © Shutterstock – Lukiyanova Natalia/frenta; Attitude; Nimaxs; Julio Aldana; Aleshyn_AndreiAll rights reserved.

 

ISBN-13: 978-3752146561

 

 

Tod und Schnaps

Der Wind fiel von den Bergen herunter in die kleine schäbige Ortschaft wie ein Fluch. Er trug den Geruch von Schnee und Verdammnis mit sich. Die Farmer wussten, dass sie sich auf einen harten und langen Winter vorbereiten mussten, der in den Höhen der Rockys bereits übte. Sie trieben, eingehüllt in wärmende Pelze und Leder, das Vieh aus den höhergelegenen Weidegründen hinunter in die Ebene.

Der alte Jack Parker meinte, sogar die Indianer sähen besorgt aus und er könne sich an kein Jahr erinnern, in dem dies zuvor der Fall gewesen wäre. Die Büffel zogen Richtung Süden in wärmere Gefilde weiter, die Geier und Rothäute folgten ihnen. Nur die verrückten Bleichgesichter blieben.

Und als wäre das Leben am Vorabend so eines Winters nicht schon hart genug, fielen Ende Oktober zu allem Übel die Dickson-Brüder in den Ort ein. Wer einen Planwagen, aber kein Land besaß, schnappte sich sein Hab und Gut, solange er noch konnte, und verließ die Stadt.

Wie an jedem Ort blieben sie nicht lang, aber die Zeit reichte, um das Leben einiger Anwohner zu verändern, niemals zum besseren, und oft einfach zu beenden. Die Dickson-Brüder raubten, plünderten und zogen weiter wie eine Naturkatastrophe, Verwüstungen auf ihrem Weg hinterlassend, manche ließen sich im Laufe der Zeit rückgängig machen, aber andere blieben für immer.

Joslyn Myers Leben wäre anders verlaufen, wäre ihr Vater an jenem Tag zuhause gewesen, nicht in der nächsten Großstadt, um Waren zu kaufen. Ihm gehörte der einzige Gemischtwarenladen der Ortschaft. Hin und wieder fuhr er mit dem Wagen los, um die Bestände aufzufüllen. Ganz normal, notwendig, aber für Joslyns weiteres Leben schicksalhaft. Zumindest glaubte John Myers das, und dieser Glaube war mindestens ebenso bedeutsam, wie die Tatsache, dass er abwesend war, als die Dickson-Brüder in den Ort ritten. Niemals kam ihm die Idee, dass dieses Ereignis durchaus ein weiteres Opfer hätte fordern können, wäre er im Laden gewesen. Stattdessen ging ihm immer nur durch den Kopf, es hätte eines vermieden werden können.

Joslyn spielte auf der Straße vor dem Laden, als Abel, Benjamin und Charles Dickson mit gezogenen Revolvern von Norden her auf die Mainstreet kamen, grölend und in den schiefergrauen Himmel feuernd. Goffers war nicht der erste Ort, über den sie hereinbrachen, und würde nicht der letzte sein.

Eine Scheibe ging zu Bruch. Die Huren, die vor dem Saloon herumgelungert hatten, suchten eilig Schutz im Inneren. Jemand am anderen Ende der Straße rief: „Komm rein, Jeremias!“

Die Dickson-Brüder lachten schallend und feuerten auf Wasserfässer, Fensterscheiben, Viehtränken und Ladenschilder. Noch immer hockte Joslyn auf dem Bohlenweg vor dem Laden, ließ die Beine baumeln und bewegte flink ein hölzernes Pferd von einer Seite zur anderen.

Was folgte bezeichneten die Dickson-Brüder für sich später stets als einen Unglücksfall. Abel nannte ihn ärgerlich, Benjamin dumm und Charles komisch. Keiner der drei nannte ihn bedauerlich.

Giselle Myers trat aus dem Laden, um ihre Tochter in die Sicherheit des Hauses zu holen. Sie beugte sich vor, um ihr Kind auf den Arm zu nehmen und hinein zu tragen. Benjamin Dickson feuerte auf ein Fass vor dem Laden, das Sauerkraut beherbergte. Statt jedoch das Holz zu treffen, schlug die Kugel auf eine der Dauben, prallte davon ab und durchbohrte die Kehle der jungen Frau, die sich zu ihrem vierjährigen Kind hinabbeugte. Blut spritzte in einem Strahl aus der Wunde. Es besudelte Joslyns hellblaues Kleid, spritzte auf ihr nach oben gewandtes Gesicht, landete in ihrem kupferroten Haar. Ihr entrang sich ein gellender, heller Kinderschrei des Unglaubens und Entsetzens. Was passierte mit ihrer Mama? Diese griff sich an den Hals, röchelte, taumelte, fiel vom Bohlenweg in den Staub der Straße, den Pferden der Dickson-Brüder vor die Füße.

„Pass doch auf, Weib“, rief Benjamin Dickson und zügelte seinen Gaul.

„Du Idiot“, polterte Abel. „Kannst du nicht achtgeben, wohin du feuerst?“ Mit einer ruckartigen Bewegung lenkte er seinen Braunen um die sterbende Frau herum, deren Blut im Staub der Straße versickerte.

Charles Dickson wollte sich schier ausschütten vor Lachen. „Die ist hinüber“, krähte er und feuerte eine weitere Kugel über Joslyns Kopf hinweg in Richtung des Fasses. „So geht das“, sagte er zu seinen Brüdern gewandt.

Große Kinderaugen starrten tränenfeucht auf die Szene, nahmen jede Falte im Gesicht der Männer, jeden Fleck auf ihrer Kleidung, jedes Detail in sich auf. Auch nach vielen Jahren würde sich Joslyn Myers an Abels Adlernase, seinen harten Blick aus den stahlblauen Augen, die vorwitzige Locke, die in seine Stirn hing, erinnern. Genauso wie an die Narbe unter dem linken Auge im Gesicht jenes Mannes, der letztendlich ihre Mutter erschossen hatte. Oder an den Leberfleck am Kinn des Dritten, der schief grinste und dabei offenbarte, dass er links praktisch keine Zähne besaß. Er spie Priem in ihre Richtung und zwinkerte ihr auch noch zu, als sei all das nur ein dummer Scherz. Nein, nie würde sie diese Männer vergessen.

Sie ließ ihr Pferd achtlos fallen, stürzte zur Straße hinab und warf die Ärmchen um den Leib ihrer Mutter.

„Mama!“, rief sie. „Mama, steh wieder auf. Die Männer reiten weg.“ Aber Giselle Myers würde nie wieder aufstehen.

Als John Myers am nächsten Tag mit seinem Planwagen voller Waren aus der großen Stadt zurückkehrte, fand er den Laden verwaist, seine Tochter am Tisch des Pfarrers und seine Frau aufgebahrt im Hinterzimmer des Doktors. Sprachlos starrte er die leblose Hülle an, deren Schönheit ihm vor zehn Jahren zum ersten Mal den Atem geraubt hatte. Blass sah Giselle jetzt aus, die Wangen, die Lippen blutleer, aber ihre Züge waren noch immer ebenmäßig. Ihre Figur schlank und gerade, ihre Brüste voll. Der Tod hatte einen Teil ihrer Schönheit geraubt, gewiss, aber in Johns Augen war diese so überwältigend gewesen, dass der verbleibende Teil ausreichte, ihn zu zwingen, sie in die Arme zu schließen und an sein Herz zu drücken. Der Doktor legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm und zog ihn von der Toten fort.

„Es tut mir sehr leid“, sagte er und breitete das Laken wieder über die Leiche. „Ich konnte nichts mehr für sie tun. Gehen Sie zu Ihrer Tochter, die braucht Sie jetzt dringender als Ihre tote Frau.“ Er zeigte auf die Gestalt unter der weißen Hülle. John Myers brach in Tränen aus und stürmte zur Tür hinaus. Fort, nur fort von der grauenhaften Wahrheit des Todes.

Für einen Augenblick packten ihn Rachegedanken. Er würde eines der Gewehre nehmen, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, um sie in seinem Laden zu verkaufen. Würde es nehmen, ein Pferd besteigen und zu den Dickson-Brüdern reiten. Die hatten seinen Laden und die Bank geplündert und waren zu einer nahen Farm geritten, um sich von ihrem düsteren Tagwerk zu erholen. Aber er gehörte nicht zu den Leuten, die schnell mit der Waffe umgehen konnten. Ein Geschäftsmann, ein Krämer, das war er. Kein Revolverheld. Überhaupt kein Held.

Er ging zum Haus des Pfarrers hinüber, wo er Joslyn fand. Sie saß mit geröteten Augen bei Tisch, löffelte Suppe und blickte ihn verzweifelt an, als er von der Aufwartefrau hineingeführt wurde. „Kommt Mama bald?“, fragte sie und ihm brach das Herz.

Warum hatte er Giselle alleingelassen? Warum war er nicht zur Stelle gewesen, als sie ihn am nötigsten gebraucht hatte? Er sollte unter dem weißen Laken des Doktors liegen, nicht sie. Wäre er im Laden gewesen, wäre all das nicht geschehen.

Er sah sich mit einem Gewehr in der Hand vor den Laden treten und ein Machtwort sprechen. Er sah sich Joslyn vorsichtig an der Hand nehmen und zurück ins Haus führen. Giselle stand hinter dem Tresen und lächelte sie beide an. Draußen tobten die Dicksons, aber sie waren in Sicherheit.

Er hätte nicht fahren dürfen. Nur darum lag Giselle jetzt kalt und starr auf jenem Tisch und wartete auf die Worte, die sie ins Grab begleiten würden.

Er verbrachte den Abend in stiller Eintracht mit seiner Tochter und der Familie des Pfarrers, aber bereits am nächsten Tag wurde der Druck zu groß und trieb ihn in den Saloon. So beendete John Myers seine Karriere als Händler und begann eine neue als Trinker.

Zwei Tage später, am Tag von Giselle Myers Beerdigung, stand er bereits am Vormittag an der Bar des Saloons und schüttete billigen Schnaps in sich hinein. William Abbey, der Besitzer des Saloons, und ein paar der Huren sahen ihm dabei zu. Um elf Uhr kam der Pfarrer herein, trat zu John und sagte: „Ich glaube, John Myers, es reicht jetzt. Deine Frau und deine Tochter warten auf dich.“

Also knallte John Geld auf den Tresen und schwankte dem Kirchenmann hinterdrein, der den endgültigen Abschied von seiner geliebten Frau zelebrieren würde.

Er konnte gerade noch verhindern, in das Grab hinter dem Sarg her zu stürzen. Er sank auf die Knie nieder und heulte wie ein Kojote. Tränen liefen über sein Gesicht, und als er sie mit den Händen wegwischen wollte, verschmierte er sie mit Friedhofserde.

Joslyn mit ihren vier Jahren verstand nicht viel von all dem, was geschah. Sie begriff, dass ihre Mutter von ihr gegangen war, um nie wieder zurückzukehren. Und sie erkannte, dass ihr Papa unglaubliche Schmerzen erleiden musste, denn weshalb sonst weinte jemand so bitterlich. Um ihn zu trösten, legte sie die Arme um seinen Hals und schmiegte ihre Wange an seine. Sie spürte die Stoppeln seines Bartes und roch seinen Atem, der nach Fusel stank.

Sie wusste, dass Alkohol Schmerzen linderte. Der Doktor hatte es ihr erklärt, als sie vor einem halben Jahr zugesehen hatte, wie er einem der Landarbeiter einen Arm absägte, der ganz schwarz geworden war und bestialisch stank. Der Doc hatte dem Mann eine Flasche Whisky in die Hand gedrückt mit den Worten: „Ist zwar zu schade für dich Zack, aber was anderes habe ich im Moment nicht. Und ehe ich die Kleine zum Saloon rübergeschickt habe, bist du vielleicht schon Futter für die Geier.“

Joslyn erinnerte sich. Denn ihre Mutter war jetzt ebenfalls Futter für die Geier. Sie fragte sich, ob die Vögel sie wohl ausgruben. Die Vorstellung, wie sie mit ihren Krallen in der Erde wühlten, kitzelte in ihrem Kopf und sie musste kichern. So sah die Gemeinde den Abschied der Myers von Giselle. Der Mann heulte stinkbesoffen mit dreckverschmiertem Gesicht und das Kind umarmte ihn kichernd. Niemand sah, was tatsächlich in ihnen vorging.

Der Abstieg John Myers verlief schnell und ohne weitere Umwege. Er trat aus seinem Laden auf den Bohlenweg davor, auf die Straße hinunter und landete in der Gosse. Hin und wieder gab ihm einer der Farmer Arbeit für ein paar Cent. Er mistete Ställe aus und die Schweine schauten ihn geringschätzig an. Im Sommer half er auf dem Feld.

Es gab Zeiten, da riss er sich zusammen. Wenn sein vom Dunst des Alkohols verschleierter Blick einmal länger an seiner Tochter hängen blieb, und Giselles Augen aus dem kleinen Gesichtchen streng auf ihn schauten, rief ihn die Stimme seiner Frau aus dem Jenseits zur Ordnung. „Schau dich nur an!“, sagte sie. „Soll unsere Tochter so aufwachsen? Ohne Mutter und mit einem Vater, der säuft?“

In diesen Momenten packte ihn das heulende Elend. Er schlug sich in großer Geste an die Brust, wünschte, er sei ebenfalls tot, machte jedoch für ein paar Wochen einen großen Bogen um den Saloon. In diesen Zeiten beschäftigten die Farmer ihn häufiger und gaben ihm mehr Lohn. Er schickte Joslyn in die Sonntagsschule und ging selbst zum Gottesdienst.

Aber immer wieder folgte der Abstieg. Und mit jedem Mal führte er tiefer hinab.

Sie verloren ihr Haus samt Laden an William Abbey. Eines Tages war die Strichliste von John Myers lang genug, um dem Wert des Hauses zu entsprechen. Viele, sehr viele Whiskys, angeschrieben und angeschrieben und niemals bezahlt. Er kam mit drei Leuten zu den Myers hinein und erklärte ihnen, wie er es sah. Sie überließen ihm das Haus, dann könne John weitersaufen. Andernfalls würde er auf andere Weise zu seinem Recht kommen. Bei diesen Worten grinsten seine Begleiter.

Der Pfarrer und ein paar Mitglieder der Gemeinde halfen ihnen, am Rand des Ortes eine Bretterbude zu errichten, sodass sie nicht unter freiem Himmel schlafen mussten. Ein einziger Raum, der Küche, Wohnraum und Schlafzimmer für Vater und Tochter in einem darstellte. Eine Waschgelegenheit gab es vor dem Haus in einer Art Tränke. Aber es war keine Tränke, denn sie besaßen kein Vieh und kein Pferd, die getränkt werden müssten.

Joslyn kam in die Schule. Sie verfügte über Intelligenz und Willen genug, um alles zu verstehen, auch wenn sie oft fehlte, weil sie ihrem Vater helfen musste, das Leben zu meistern. Er tat ihr leid, denn noch immer musste er unglaubliche Schmerzen haben, da er so viel Schnaps benötigte.

Hin und wieder besuchte sie den alten Pfarrer, der ihr von fernen Ländern, dem Paradies und der Auferstehung erzählte. Sie würde ihre Mutter eines Tages wiedersehen, versicherte er ihr. Aber Joslyn hatte auch schon Kadaver toter Tiere gesehen und wünschte sich nicht, ihrer Mutter wieder zu begegnen, wenn sie so aussähe. Dennoch verbrachte sie manche Stunde bei Reverend Dearheart, wenn ihr Vater Trost an anderem Ort suchte.

Joslyn wurde gerade acht, da starb der alte Kirchenmann. Sie begruben ihn auf dem kleinen Friedhof neben Ilias Goffers, dem Gründer der Ansiedlung. Ein kalter Nieselregen fiel an diesem Tag aus einem steingrauen Himmel, als trauere selbst der liebe Gott um seinen treuen und rechtschaffenden Diener.

Der neue Hüter der Kirche kam am nächsten Tag an. Schwarz wie eine Krähe und mit einem ebensolchen Gesicht. Er trug einen Hut groß wie ein Wagenrad, dessen Krempe sein gesamtes Antlitz beschattete. Gerade und hochaufgerichtet wie ein Galgen ritt er in die Stadt hinein. Und kaum erreichte er die Mitte der Hauptstraße, da verkündete er mit durchdringender Stimme: „Ich segne diesen Ort des Friedens! Möge er mir Hort und Heimat werden.“

John Myers torkelte aus dem Saloon, starrte den neuen Pfarrer an und spuckte in den Staub der Straße.

„Dieser Pfaffe sieht aus wie der Teufel persönlich“, sagten die Männer im Saloon. Sie mochten es nicht, wenn er ihren Frauen von der Kanzel herunter predigte, wie verderblich der Alkohol sei, wie er die Seele fresse und eine leere Hülle zurücklasse, die nur für die Hölle tauge. Sie mochten es nicht, wenn er ihnen von der Erbsünde erzählte, davon, dass Sex nur geschaffen worden war, um Kinder zu zeugen, nicht aber um Spaß daran zu haben. Wenn er so tat, als wäre jene Stelle an ihren Frauen, die sie bisher für das Tor zum Paradies gehalten hatten, in Wahrheit der Eingang zum Fegefeuer.

Mit dem neuen Pfarrer, der sich Gildred Hanratti nannte, kam auch ein Anderer in den Ort. Er verbrachte einen Tag und eine Nacht in Goffers. Anschließend zog er weiter, passierte John Myers‘ Bruchbude und baute sich nur einen Kilometer weiter im Tal eine eigene Unterkunft. Er nannte sich Jethro, kein Nachname, einfach nur Jethro. Er gehörte einer ganz besonderen Zunft an, jener, die im Schein des Mondes aus allem, was sich zu Alkohol vergären und anschließend destillieren ließ, Schnaps brannte. Zwei Tage nach seiner Ankunft wurde er im Saloon vorstellig. John Myers lehnte am Tresen und lauschte interessiert seinen Ausführungen.

Joslyn ging zwei Mal zur Bibelstunde des neuen Pfarrers in dessen Haus. Beim zweiten Mal setzte dieser sich neben sie, legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel und ließ diese langsam nach oben wandern, während er von Jesus und der Sünderin sprach. Sie versuchte, seine Hand wegzuschieben, erst vorsichtig, dann energisch, und als dies nicht gelang, begriff sie, dass keinesfalls aus Versehen geschah, was da passierte. Sie begann laut zu weinen und zu ihrem großen Glück erschien die Aufwartefrau. Sie fragte, was geschehen sei. Joslyn sprang ohne zu antworten auf und stürmte aus dem Zimmer.

Sie erzählte am Abend ihrem Vater davon. So tief sein Rausch auch sein mochte, so tief war er nicht, dass er nicht augenblicklich begriff, was seine Tochter ihm da berichtete. Dieser neue Pfarrer hatte versucht, sich an ihr zu vergehen. Schwankend stand er auf, ging zur Tür, nahm seinen Hut und stapfte mit schwerem Schritt hinaus und in Richtung Goffers.

Joslyn schlief, als er zurückkehrte. Am nächsten Morgen sah sie das Veilchen, das an seinem rechten Auge erblüht war. Sie fragte nicht und er erzählte nichts. Aber er erklärte rundheraus, sie müsse nie wieder zur Sonntagsschule oder zur Bibelstunde bei diesem Mann.

John Myers knüpfte Bekanntschaft mit Jethro. Und schon bald verband die beiden Männer mehr als eine bloße Geschäftsbeziehung, die auf Johns Sucht beruhte. Ja, man konnte, ohne zu lügen, von einer echten Freundschaft sprechen. Obwohl er gut an John Myers verdiente, war Jethro der Einzige, der auf diesen einzuwirken versuchte, seinen Alkoholkonsum in den Griff zu bekommen, wenn man vom Geist Giselles absah, der ihn nach wie vor in mancher Nacht heimsuchte.

Jethro verkaufte, schenkte ihm sogar immer wieder Schwarzgebrannten, aber nie über ein gewisses Maß hinaus. Wenn er meinte, der Mann treibe es zu übel, kreuzte er sogar in dessen Haus auf, durchsuchte es vom Dach bis zu den Dielen nach Flaschen und entführte diese in die Nacht. „Die bekommst du wieder, wenn du einen Tag lang klar genug gewesen bist, dich mal wieder um deine Tochter zu kümmern“, sagte er bei diesen Gelegenheiten. Oder: „Zeit, dass du mal wieder eine Sense in die Hand nimmst, sonst müsst ihr nächsten Monat hungern. Und wenn du weiter so säufst, haust du dir mit der die Beine ab.“

Und John Myers hörte auf die Stimme von Jethro ebenso, wie er auf die von Giselle hörte.

Joslyn wuchs heran. Das Zusammenleben mit ihrem Vater lehrte sie frühzeitig, sich selbst um die Dinge des Haushaltes zu kümmern. Mrs. Abbey, die Frau des Saloonwirts, lehrte sie kochen, ihre Huren brachten ihr das Nähen bei und sprachen nebenher über die Dinge, die ein heranwachsendes Mädchen über seinen Körper wissen sollte. Sie ging hin und wieder ihrem Vater zur Hand, wenn er eine Anstellung zur Ernte oder im Stall bekam, wenn er die Rinder auf der Weide zusammentrieb oder einen Zaun flickte.

Sie fand in einer Kommode einen Revolver und schoss sich beinahe in den Fuß, als sie ihn inspizierte. Eilig legte sie ihn weg, sodass ihr Vater nichts bemerkte, als er in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages ins Haus taumelte. Allerdings, wahrscheinlich hätte er ebenso wenig bemerkt, wenn die Waffe mitten auf dem Tisch liegengeblieben wäre.

Und in all dieser Zeit, während dieser Jahre mit ihrem zumeist trunkenen Vater, dachte Joslyn an die Männer, die die Schuld für all das trugen, weil ihre Kugel ihre Mutter getötet hatte. In mancher Nacht erschienen deren Gesichter ihr im Traum und grinsten höhnisch. Der mit der Narbe im Gesicht schwenkte seinen Revolver durch die Luft und grölte: „Pass doch auf, Weib!“

Einmal, nach einem anstrengenden Tag auf den Feldern, sah sie sich im Traum eine Sense schwingen, so wie sie es den ganzen Tag über getan hatte. Sie schwang sie in einem weiten Bogen, zog das Blatt dabei nach oben und durchschnitt dem Narbengesichtigen die Kehle, ehe dieser etwas sagen konnte. Blut spritzte heraus. Eine Kaskade von Blut, die bald die ganze Welt zu ersäufen drohte. In diesem Moment erwachte Joslyn und schrie.

„Was ist los?“, brummte ihr Vater im Halbschlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Nicht das viele Blut in ihrem Traum ängstigte Joslyn so, dass sie plötzlich erwachte. Es war vielmehr die Tatsache, dass es plötzlich nicht mehr ihre Hände gewesen waren, die diese Sense gehalten hatten. Stattdessen umschlossen Knochenfinger das Holz der Holme, so wie der Tod sie mit seinen gebleichten Fingern auf Bildern in der Kirche umschloss. Sie und der Tod waren plötzlich eins gewesen.

Tage kamen und gingen. Zeiten, in denen ihr Vater kaum die Schlafstatt verließ und trank und trank und trank, wechselten sich ab mit Zeiten, da er einen Monat lang nüchtern blieb, auf den Feldern schaffte und Joslyn das Rechnen beibrachte. Denn rechnen, ja, das konnte er vortrefflich. Einmal Kaufmann, immer Kaufmann, egal wie tief er sank.

Kurz vor ihrem zwölften Geburtstag kam John Myers spät von einem Arbeitstag auf den Feldern heim. Er war nüchtern, aber er sah furchtbar aus. Seine Kleidung hing schmutzig und in Fetzen an ihm herab, Prellungen zierten sein Gesicht. Getrocknetes Blut klebte unter seiner Nase und an seinem Kinn.

Joslyn lief auf ihn zu und wollte ihn umarmen.

„Nicht, Kind“, sagte er und hielt ihr die Hand abwehrend entgegen.

„Was ist passiert, Vater?“

„Dieser Hanratti. Ich sage dir nur eins, Joslyn, trau niemals einem Pfaffen. Sie lügen und sie betrügen. Sie reden in wohlgesetzten Worten und sündigen in einem fort.“

„Was meinst du?“ Joslyn verstand nicht, was ihren Vater so zornig über einen Mann Gottes reden ließ.

„Kein Mann sollte Lust bei einem kleinen Mädchen suchen. Und einer, der von Enthaltsamkeit predigt, ganz gewiss nicht.“

Nach diesen Worten ging er wieder nach draußen und wusch sich das Blut, den Schmutz und den Ekel vom Leib. Und dies erwies sich als der schwerste Teil, denn dazu hätte er seinen Kopf von innen waschen müssen. Immer wieder sah er den Pfarrer in der kleinen Gasse hinter der Kirche stehen, die Hose bis zu den Knien hinabgestreift und das Mädchen, viel jünger als Joslyn, das seinen Schwanz im Mund hatte.

„Gott wird dir dankbar sein, mein Kind“, hörte er das Schwein sagen und sah die Hand über den Kopf des Mädchens streichen, ehe sie diesen dichter an seinen Unterleib presste und stöhnte.

In diesem Moment waren Blitze vor seinen Augen explodiert. Er war auf den Pfarrer zugestürzt, die Fäuste erhoben, bereit, es ihm zu zeigen. Aber dieser Mann besaß trotz seiner schmächtigen Gestalt beachtliche Körperkräfte. Er erwies sich als flink und schlug ohne Mitleid zu. Und als John Myers am Boden lag, trat er ihn in den Bauch. Das kleine Mädchen lief an ihnen vorbei aus der Gasse hinaus.

„Vergiss nicht, Gott beobachtet all deine Taten und hört all deine Worte!“, rief der Reverend ihm nach.

Ein paar andere Männer tauchten auf, während John sich dort zu Füßen des Pfarrers wand. Er verstand nicht, was Hanratti sagte, aber es stachelte diese an, ebenfalls auf ihn einzuprügeln. „Alter Säufer“, gehörte zu den harmlosen Bemerkungen.

Irgendwann gingen sie weg und ließen ihn einfach liegen. Er kämpfte sich hoch und sah sich um. Niemand befand sich in der Nähe. Zerschlagen, gedemütigt und mit Zorn im Leib schlich er von dannen.

Der Alkohol, der sein Hirn teilweise bereits aufgeweicht hatte, sorgte dafür, dass er nicht begriff, dass er sich einen Feind in Goffers geschaffen hatte, der es sich nicht leisten konnte, ihn am Leben zu lassen. Er glaubte, dem Pfarrer würde es genügen, ihn wie einen räudigen Hund geprügelt und getreten zu haben. Aber er irrte sich.

 

Galgen und Huren

Schon bevor er den Pfarrer mit einem kleinen Mädchen in einer Seitengasse erwischt hatte, gehörte John Myers nicht zu den häufigen Kirchgängern. Ein, zwei Mal besuchte er den Gottesdienst. Er hoffte, eine Botschaft von seiner Frau an jenem heiligen Ort zu erhalten. Aber seit Hanratti predigte, blieb sie stumm in diesen Mauern. Nach diesem Ereignis wollte er eigentlich nie wieder das Haus Gottes betreten, das für ihn ein Haus des Gottlosen geworden war.

Seine Verwunderung kannte daher keine Grenzen, als er mitten in der Nacht erwachte und sich auf einer der Kirchenbänke liegend fand. Er musste über sein übliches Maß getrunken haben, sagte er sich.

Wie so oft hatte er am Abend zuvor am Tresen des Saloons gestanden, ein Glas vor sich. Er stand nach vorn über das Glas gebeugt, den Kopf gesenkt, und starrte auf das Holz des Tresens. Dort gab es eine Pfütze. Hinter ihm im Saloon wurde geschrien und gelacht. In einer Ecke stand ein Pokertisch, der war unbesetzt gewesen, als er kam und er hatte sich nicht umgewandt oder in den Spiegel an der Wand ihm gegenüber geblickt, seit er hier stand.

Eine von Mrs. Abbeys Huren trat an seine Seite, legte ihm sanft eine kühle Hand in den Nacken und säuselte: „Immer allein zu trinken, ist das nicht deprimierend, John Myers?“

Er hob den Kopf, sah in das stark geschminkte Gesicht mit dem blutroten Mund, der wie eine Wunde klaffte, und zurück zu seinem halbgefüllten Glas. Dann nickte er.

Das Mädchen – denn mehr als ein Mädchen, das sich für eine Frau ausgab, war diese Hure nicht – gurrte weiter, während er trank. Sie musste doch wissen, dass er ein armes Schwein war, das sich ihre Dienste nicht leisten konnte, dachte er bei sich. Er schüttete den letzten Rest in seine Kehle und wollte sich abwenden, aber eine zarte Hand hielt ihn zurück.

„Ich geb‘ dir einen aus. Heute ist mein freier Tag, weißt du, da kann ich machen, was ich mag.“ Sie winkte Abbey zu sich und deutete auf das leere Glas. Der Zeigefinger makellos weiß, der Nagel dolchspitz.

‚Eine Kralle‘, dachte John.

Sie redete und redete und winkte dem Wirt und John trank.

Ihre Schwester lebte an der Ostküste. In einer der großen Städte. Hatte sich einen reichen Mann geangelt. Rechtsanwalt oder Arzt. Lebte in einem richtigen Haus aus Stein, besaß Dienerschaft, die die Arbeit für sie erledigte, und musste die Beine nur für ihren Gatten breitmachen und das auch nur, wenn sie es wollte. Sie wollte diese glückliche Frau im nächsten Jahr mal besuchen. Sparte jeden Cent, den sie hier verdiente.

Und John ließ die Tirade an sich vorbeirauschen wie den Wasserfall am Beavercreek und schüttete den billigen Whisky in sich hinein, der wieder und wieder vor ihn hingestellt wurde. Und je mehr er trank und der Rede der Hure lauschte, desto mehr musste er an seine glücklichen Jahre mit Giselle denken. Und je mehr er an Giselle denken musste, desto stärker wurde das Bedürfnis, zu trinken, um diese Erinnerung zu betäuben.

Er spürte nicht, als die Beine unter ihm wegsackten, weil der Alkohol in seinem Blut sein Gehirn überschwemmte.

Er lag am Boden, als Pfarrer Hanratti in seiner Nische sich erhob, zwei Männer an seiner Seite, die niemand in Goffers je zuvor gesehen hatte. Die nahmen den bewusstlosen Myers auf, trugen ihn hinaus und in die Kirche. Der Reverend folgte ihnen.

Sie hatten ihn in die Kirchenbank gelegt und waren wieder hinaus in die Nacht gegangen. Hanratti zurück zum Saloon und seine Begleiter zu ihren Pferden, um in die nächste Stadt zu reiten, woher sie gekommen waren.

John erhob sich schwerfällig. Noch immer dröhnte sein Schädel, außerdem plagte ihn Durst. Seine Kehle fühlte sich an, als füllte sie der Staub der Ebene. Er wollte nach Hause. Seine Tochter würde sich Sorgen machen. Wahrscheinlich irrte sie bereits durch die Nacht und suchte ihn.

Er kämpfte sich auf die Füße, hielt sich an der vorderen Bank fest, stand einen Moment schwankend, dann aber sank er zurück. Übelkeit überfiel ihn, drängte sauren Magensaft in seiner Kehle hinauf. Er atmete tief. Er würde nicht mitten in der Kirche kotzen!

Nie zuvor war ihm nach einer durchzechten Nacht so elend gewesen. Dies stand fest. Die Heiligen blickten von den Bildern an den Wänden zu ihm herab, tadelnd, strafend, mit Giselles und Joslyns Augen. „Du bist ein Versager, John Myers“, sagten ihre Blicke. „Ein Waschlappen, ein Säufer, ein Niemand.“

Aber was immer diese Heiligen dachten, er würde in der Kirche nicht kotzen!

Die große Eingangstür gab ein knarrendes Geräusch von sich. Ein weiterer nächtlicher Besucher des Gotteshauses. John wollte sich keineswegs erwischen lassen. Rasch duckte er sich.

Tappende Schritte, jemand bemühte sich, leise zu sein. Warum? Niemand wäre normalerweise um diese Zeit hier anwesend. Egal. John Myers beschloss, dass es für ihn besser wäre, unentdeckt zu bleiben. Er kroch im Gang zwischen den Bänken zum Mittelgang und lugte vorsichtig um die Ecke.

Da stand Reverend Hanratti und machte sich am Opferstock zu schaffen. Es klimperte und klapperte. Eine Münze fiel zu Boden und rollte auf John zu, der sofort wieder in der Deckung der Kirchenbank untertauchte.

Was ging da vor? Warum leerte der Pfarrer die Sammelbüchse mitten in der Nacht? Es war seine Kirche. Er musste nicht heimlich und im Schutz der Dunkelheit hier herumschleichen, um die Gaben der Gläubigen einzusammeln. Er konnte dies am hellen Tag im Angesicht der Sonne und Gottes tun.

Trotz seines Zustandes verstand John Myers, dass es eine besondere Bewandtnis mit dem Tun des Pfarrers haben musste.

Nachdem Hanratti wieder hinausgeschlichen war und die schwere Tür hinter sich geschlossen hatte, raffte John sich auf. Mit einer Hand sich in jeder Reihe an der Bank abstützend, schleppte er sich den Mittelgang entlang, aufmerksam vom Kreuz herab beobachtet, so erschien es ihm. Der da hing, hatte seine Augen auf ihn gerichtet und würde ihn bei der kleinsten falschen Bewegung strafen.

Er schaffte es hinaus in die klare Nacht. Ein Meer von Sternen breitete sich über ihm aus, aber John konnte nicht hinaufschauen. Er musste sich nach vorn beugen und seinen Mageninhalt auf der Straße verteilen. Die Übelkeit presste seine Eingeweide zusammen. Immer neue Wellen liefen durch seinen Leib. Schließlich fühlte es sich so an, als wolle sein Magen selbst die Kehle hinaufsteigen und aus seinem Körper springen. Bittere Galle füllte seinen Mund. Er spie sie aus und endlich konnte er sich wieder aufrichten. Er atmete tief die frische Luft.

Mit schwerem Schritt machte er sich auf den Heimweg.

Joslyn schlief noch nicht. Sie stürmte auf ihn zu, als er durch die Tür trat. Erst fiel sie ihm um den Hals, ließ ihn sofort wieder los, trat einen Schritt zurück und hämmerte mit ihren Fäusten auf seinen Brustkorb ein.

„Wo bist du gewesen? Verdammt, Papa, wo bist du gewesen?“ Tränen standen in ihren Augen und der gleiche Vorwurf wie bei den Heiligen, die die Kirchenwände schmückten.

Stotternd versuchte er sich an einer Erklärung. Sie nickte nur und schlurfte zu ihrem Bett. „Ich gehe jetzt schlafen“, sagte sie. „Auf mich wartet morgen ein harter Tag in Wilkins‘ Stall.“

Wilkins vermietete Pferde und Kutschen. Er zahlte gut und behandelte sie fair. Aber er erwartete von denen, die für ihn arbeiteten, Fleiß und Pünktlichkeit. Sie wollte sich seine Freundlichkeit nicht verscherzen, indem sie unausgeschlafen und unpünktlich bei ihm aufkreuzte.

John nickte nur. Er wollte eigentlich etwas sagen, etwas derart, dass er sie lieb habe, aber es kam nicht über seine Lippen. Seine Kehle schmerzte von der Säure, die er hochgewürgt hatte. Sein Körper gierte nach Schlaf. Daher ging er einfach zu seiner Schlafstatt hinüber und ließ sich darauf fallen wie ein Sack Mehl.

Joslyn traten Tränen in die Augen, als er sich zur Wand drehte und praktisch sofort zu schnarchen begann. Sie ging zu ihrem Bett hinüber, schlüpfte unter die Decke und starrte auf die Balken über ihr. Sie liebte ihren Vater. Während seiner nüchternen Phasen gehörte er zu den liebevollsten und besorgtesten Vätern der Welt. Aber diese waren so verdammt selten und so furchtbar kurz. Und schließlich gab es Tage wie diese, an denen hasste sie ihn. Sie hätte mit ihren Fäusten gegen seine Brust trommeln mögen, bis sein Herz anhielt, und er zu Boden stürzte.

Als die Nacht für die beiden Schläfer endete, stand die Sonne noch nicht am Himmel. Nur der Morgenstern leuchtete hell im Osten und versprach den neuen Tag.

Die Tür wurde aufgerissen. Drei Männer stürmten herein. Joslyn fuhr aus dem Schlaf. Desorientiert blickte sie sich um. Ihr Vater versuchte sich ebenfalls aufzurappeln, verhedderte sich in seiner Decke und fiel aus dem Bett auf den Boden. Mühsam stemmte er sich in die Senkrechte.

„Was ’n los?“, stammelte er.

Sheriff Fenlow stand mit zwei seiner Hilfssheriffs im Raum. Er blickte John Myers streng an. „John Myers“, sagte er in amtlichem Ton. „Ihnen wird vorgeworfen, in der letzten Nacht den Opferstock der Kirche ausgeräumt zu haben. Sie sind verhaftet.“

„Ich war das nich‘“, sagte John mit schwerer Zunge.

„Kommen Sie freiwillig mit? Oder muss ich Gewalt anwenden?“ Brian Jackson, der neben dem Sheriff stand, sah so aus, als bereite ihm die Aussicht darauf Freude. Er grinste Joslyn an, als sei sie ein Weihnachtskuchen.

John sah sich gehetzt in dem kleinen Raum um. Hier gab es keinen Fluchtweg, keine Hintertür, die er mit einem Sprung erreichen, aufreißen und hindurch verschwinden konnte. Eine Waffe trug er auch nicht am Leibe, und ehe er seine Pistole erreicht haben würde, wäre sein Körper durchlöchert und am Boden. Das musste alles ein großer Irrtum sein. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie der Pfarrer sich am Opferstock zu schaffen gemacht hatte. Vielleicht ließ sich mit Fenlow reden. Der gehörte zu den redlichen Bürgern von Goffers.

Er reckte die Hände nach vorn. Die Gehilfen des Sheriffs packten ihn und schleiften ihn hinaus.

„Das klärt sich alles auf, glaub mir“, rief er an der Tür seiner Tochter zu, die fassungslos und mit offenem Mund neben ihrer Bettstatt stand.

Schnell musste John Myers feststellen, dass er sich im Irrtum befand. Nichts klärte sich auf. Niemand hörte ihm zu. Niemand glaubte ihm. Im Gegenteil, alles wurde viel schlimmer, denn man warf ihm zusätzlich vor, sich an Yarriks Eliza vergangen zu haben. Ausgerechnet an jenem Mädchen, das er mit dem Pfarrer zusammen in jener Seitengasse gesehen hatte. Darauf reagierte Sheriff Fenlow mit einem Wutausbruch. Auch seine Frau hatte ihm vor einigen Jahren ein kleines Mädchen geschenkt, jetzt ein Jahr älter als Eliza.

„Dafür wirst du hängen, Myers!“, schrie Fenlow. Er packte sein Gewehr und richtete es auf den Gefangenen. Für einen Moment schien es John so, als wolle der Sheriff tatsächlich einfach durch das Gitter feuern und sein Leben sofort beenden.

Der Alkoholdunst der vorigen Nacht hatte sich inzwischen endgültig verzogen und klaren Gedanken Platz gemacht. Schnell wurde ihm klar, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Dieser sogenannte Pfarrer wollte dafür sorgen, dass niemand von seiner Vorliebe für kleine Mädchen erfuhr.

Zur Gerichtsverhandlung im Saloon erschien die halbe Stadt. Um einen lästigen Dieb hätten sich die Leute wohl nicht geschert, aber einen Kinderficker wollten sie sich genau ansehen. Sie starrten ihn an, als wäre er ein Raubtier aus fernen Ländern. Zwei spuckten ihm ins Gesicht. Er schämte sich, obwohl er keine der Taten begangen hatte, die man ihm vorwarf. Aber was, wenn Joslyn es glaubte?

Die Hure, die ihn am Vorabend betrunkener gemacht hatte, als er es üblicherweise war, trat als Zeugin auf. Sie beteuerte, ihn und Eliza in eben jener Situation erwischt zu haben, in der in Wirklichkeit er den Pfarrer ertappt hatte. Am Ende ging sie zu Hanratti hinüber und John hörte sie fragen: „Glauben Sie, Gott wird mir jetzt vergeben?“

„Ja, mein Kind“, sagte der Pfarrer.

Unter Johlen und Beifall verkündete der Richter den Schuldspruch und das Urteil. Er würde hängen. Der Richter ordnete den Bau eines Galgens an, da erhob sich Elizas Vater aus der Menge der Zuschauer und sagte: „Wozu die Mühe? Es gibt ausreichend Bäume am Stadtrand. Das ist gut genug für ihn.“ Zustimmende Ausrufe erklangen als Antwort.

Drei Männer packten John und zerrten ihn hinaus. Unter wüsten Beschimpfungen und immer wiederkehrenden Ausrufen: „Hängt das Schwein!“ brachte man ihn über die Hauptstraße aus der Stadt hinaus. Jemand ging zu Wilkins hinüber und kehrte mit einem Klepper zurück, der aussah, als würde er Mühe haben, John zu tragen. Aber es würde schließlich nur ein Moment sein, und Wilkins sagte sich, dass niemand je wieder dieses Pferd würde haben wollen.

Joslyn, die während der Verhandlung vor dem Saloon gewartet hatte, lief hinter dem grölenden Mob her. „Wo bringt ihr ihn hin?“, fragte sie einen Mann am Ende der Gruppe.

---ENDE DER LESEPROBE---