Die Märchenhochzeit fällt aus - David Pawn - E-Book

Die Märchenhochzeit fällt aus E-Book

David Pawn

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Beschreibung

Dornröschens großer Tag ist gekommen. Sie wird den Prinzen, der sie wachgeküsst hat, heiraten. Einziges Problem: Sie will nicht. Erstens hatten sie kaum Zeit, einander kennenzulernen, und zweitens will sie nach hundert Jahren Schlaf erst einmal ihre Jugend auskosten. Deshalb flieht sie aus dem Schloss und in ein abenteuerliches Leben hinein. Aber Prinz Gregor hat sie aus Liebe von ihrem Fluch erlöst. Deshalb schwingt er sich auf sein Ross und folgt ihr, um sie erneut zu retten. Diesmal vor den Folgen ihrer eigenen verrückten Einfälle.

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David Pawn

 

Die Märchenhochzeit

fällt aus

 

 

 

Copyright © 2021 David Pawn

[email protected]

Michael Siedentopf

Schweizer Str. 40

01069 Dresden

Lektorat und Korrektorat: Juno Dean, Claudia Siedentopf

Umschlaggestaltung: Jacqueline Spieweg

Umschlagmotive: © koya979/Shutterstock.com und ActiveLines/shutterstock.com

All rights reserved

ISBN-13: 978-3752135947

Auf in die FreiheitIsabell von Rosenthal

Der nächste Tag sollte der glücklichste meines Lebens werden. Das sagten alle. Schließlich war ich eine Prinzessin und mein zukünftiger Ehemann ein Prinz. Wir reden hier also von einer richtigen Märchenhochzeit, wie sie in den Büchern geschrieben steht, die mir meine Amme und meine Mutter stets vorgelesen hatten, als ich noch klein und dumm war, und daran glaubte, dass solche Geschichten Wirklichkeit werden könnten.

Inzwischen wusste ich es besser. Nein, das stimmt nicht. Ich wusste einfach nicht, ob ich überhaupt verheiratet sein wollte. Und erst recht wusste ich nicht, ob ich mit Prinz Gregor verheiratet sein wollte, was hauptsächlich daran lag, dass wir nicht viel Zeit gehabt hatten, um einander richtig kennenzulernen. Dabei lag der Tag unserer ersten Begegnung schon einen Monat zurück. Das war länger als den meisten anderen Prinzessinnen, von denen ich gehört hatte, gewährt worden war, um ihren zukünftigen Gatten näher kennenzulernen. Meine Eltern gehörten zum Glück nie der Gruppe von Regenten an, die Ehepartner aus staatsmännischen Gründen heraus auswählten. Bei vielen Prinzen und Prinzessinnen der Nachbarländer hieß es von einem Tag zum nächsten: Heute wird geheiratet, zack und bumm! Sie ließen mir Zeit. So hatte ich meinen achtzehnten Geburtstag als Jungfer und ohne männliche Begleitung begangen. Aber das lag auch schon ein paar Jährchen zurück.

Umso glücklicher waren meine Eltern, dass ich ungeachtet meines Alters eine so gute Partie abfangen konnte. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst im Lande nichts mehr zu sagen hatten. Sie durften mit der Staatskarosse durch die Ländereien fahren und huldvoll zum Fenster hinaus winken, aber dabei musste es inzwischen bleiben. Die Leute hatten in den vorhergehenden hundert Jahren gelernt, dass sie sehr gut auch ohne einen König zurechtkamen. Anfangs hatte es wohl Probleme mit den Nachbarn gegeben, die meinten, man könne sich das Reich schnell unter den Nagel reißen, wenn die ganze Regierung schläft, aber die Bauern, Handwerker und Soldaten des Landes entschieden, nachdem sie den alten König auf so unspektakuläre Weise losgeworden waren, brauchten sie bestimmt keinen neuen, der mit einer Armee über die Grenze getrampelt kam.

Prinz Gregor sah ausgesprochen gut aus. Das musste ich zugeben. Das bemerkte ich allerdings erst, nachdem ich das gesamte Schloss mit meinem Schreckensschrei geweckt hatte. Es ist nicht gerade überraschend, dass ich so reagierte. Es geziemt sich für jede ehrbare Jungfer, dass sie wie am Spieß schreit, wenn sie im Bett liegt, und plötzlich ein Kerl seine Lippen auf ihre presst. Das hatte mir die Krautwitz Erika erklärt, die erst meine Amme und später unsere kalte Mamsell war.

Gregor stand sofort stramm wie ein Leibgardist an meinem Bett, sodass ich ihn mir noch ein wenig genauer ansehen konnte.

Da stand ein schneidiger Typ – schlank und gerade gewachsen. Unter den Ärmeln seines Gewands spielten eindrucksvolle Muskeln, wie es sich für einen Prinzen, der eine Prinzessin errettet, gehörte. Sein braunes, lockiges Haar fiel ihm bis über die Ohren und umrahmte ein schmales, längliches Gesicht in dem smaragdgrüne Augen das hervorstechendste Merkmal darstellten. Solche Augen sah man wirklich selten. Einzig, dass er glattrasiert war, störte in meinen Augen das Gesamtbild. Erst ein Bart lässt einen Mann so richtig männlich aussehen.

Er trug einen kecken, mit einer Pfauenfeder verzierten Hut drauf und steckte in einem weißen Rüschenhemd und grünem Rock, dazu schwarze Kniebundhosen und seidene Strümpfe. Seine Schuhe waren offensichtlich aus feinstem, weichem Leder. Eindeutig handelte es sich nicht um einen dahergelaufenen Rabauken, der eine unschuldige Maid in Bedrängnis bringen wollte. Das einzig Furchteinflößende an ihm war der Degen in seiner Rechten.

„Wer seid Ihr?“, flüsterte ich. Ich stellte fest, dass sich meine Stimme anhörte, als müsse sich meine Kehle erst wieder daran erinnern, wie man so etwas zuwege brachte.

Der junge Mann schlug die Hacken zusammen und machte Meldung: „Prinz Gregor von Aquimera. Ihr ergebener Diener, schönes Fräulein Dornröschen.“

Bevor ich darauf hinweisen konnte, dass mein Name Isabell von Rosenthal sei, und ich keinen Wert darauflegte, mit dusseligen Kosenamen belegt zu werden, stürmten zwei Wachen mit Piken in das Zimmer und richteten diese auf den Prinzen.

„Wer seid Ihr? Was geht hier vor?“, forderte der eine Wächter zu wissen.

„Prinzessin, seid Ihr wohlauf?“, fragte der andere.

Ich nickte, während Prinz Gregor seinen Namen nannte. Dann erklärte er: „Ich kam, das holde Dornröschen zu wecken, so wie es die Legende sagt.“

Die Wächter schauten sich ratlos an, und ich wusste auch nicht, wovon dieser seltsame junge Mann sprach. Also fragte ich: „Wovon redet Ihr? Und wieso nennt Ihr mich unausgesetzt bei diesem dummen Namen?“

Der Prinz sagte es und ich fiel in eine kurzzeitige Ohnmacht. Seltsam genug, dass man hundert Jahre schlafen kann, noch seltsamer, wenn man kurze Zeit nach dem Erwachen schon wieder bewusstlos wird. Aber es ist meiner Meinung nach ein guter Grund ohnmächtig zu werden, wenn einem am eigenen Bett ein junger Mann erklärt, man habe gerade die letzten hundert Jahre verpasst. Mit einem Satz fegte er meine Jugend, meine Jahre als junge, erwachsene Frau und sogar mein Altenteil hinweg, denn 118 – so alt war ich, wenn die Information korrekt war – wird schließlich kein Mensch.

Als ich wieder zu mir kam, richtete ich mich auf, starrte diesen Prinzen grimmig an und erklärte: „Das glaube ich nicht.“

„Aber der Fluch …“, stammelte er.

„Fluch?“, fragte ich, ehe mich eine Welle der Erkenntnis aus dem Bett und ans Fenster spülte. Plötzlich erinnerte ich mich wieder und diese Erinnerung ließ mich frösteln.

Stimmt ja, dachte ich, da gab es dieses alte, bösartige Weib, das mich hatte tot sehen wollen, nur weil es nicht zur Taufe eingeladen worden war. Frauen können so heimtückisch sein. Ein Mann hätte an der Stelle der Alten meinen Vater in die Schranken gefordert und mit einer Lanze vom Pferd gestoßen. Danach hätten sich die beiden bis zum Umfallen betrunken, und alles wäre wieder gut gewesen. Aber nein, ich sollte mich an einer Spindel stechen und tot umfallen. Nicht nur heimtückisch, auch noch lächerlich verspielt. Warum sollte ich, eine Prinzessin, plötzlich Begeisterung fürs Flachsspinnen entwickeln wie eine Magd?

Aber es trat, so wurde mir berichtet, eine weitere Frau an meine Wiege und schwächte den Fluch ab. In ein langes Nickerchen. Ein sehr langes. Und dieses lag nach Aussage des jungen Mannes in meinem Schlafzimmer gerade hinter mir.

Ich schaute aus dem Fenster und stellte als Erstes fest, dass ich mich keineswegs in meinem Schlafzimmer befand, sondern in einem Raum weit oben im Turm des Schlosses, den in meiner Erinnerung nur Tauben bevölkerten. Ich fragte mich, wer ein Bett hier hineingeschafft und mich dann hineingelegt hatte. Und warum, zum Teufel, dieser Jemand mich nicht in mein Zimmer gebracht und dort zur Ruhe gebettet hatte. Ich dachte eine gebührende Weile über dieses Phänomen nach. Als Nächstes fragte ich mich, wer unser Schloss an den Rand einer Stadt gestellt hatte. In meiner Erinnerung lag unser Schloss etwa einen Stundenritt vor den Toren der nächsten Ortschaft. Es hatte sich um ein verschlafenes Nest namens Rosenhort gehandelt. Es gewann einen geringen Reichtum aus dem Handel mit Duftstoffen und Tuchen. Jetzt erstreckten sich Häuser, soweit ich von meinem Turmzimmer aus schauen konnte. Auf den Straßen rumpelten Karren vorbei, Volk wuselte umeinander. Immer wieder blickten Leute zum Turm hinauf und deuteten Richtung Fenster. Einige der Menschen hielten sich seltsame Dinge vor die Augen.

„Wo sind wir hier? Wer hat das Schloss an einen anderen Ort gehext?“

„Niemand, Dornröschen“, sagte der Prinz. „Das Schloss steht noch immer in Rosenhort.“

„Noch immer? Es stand nie dort“, rief ich aus. Ich fuhr auf dem Absatz herum und befahl den Wachen: „Bringt diesen Kerl vor meinen Vater. Ich folge euch.“

Salutieren und den Prinzen in ihre Mitte nehmen war eins. Fünf Minuten später standen wir zu viert im Thronsaal. Mein Vater benötigte dringend eine Rasur, sonst würde er sich vermutlich im eigenen Bart verlaufen. Er schaute ziemlich verwirrt drein. Meine Mutter dagegen erwies sich als Herrin der Lage.

„Dieser junge Prinz hat dich also errettet, mein Kind“, stellte sie fest, nachdem Gregor seine Rolle in der ganzen Geschichte erläutert hatte.

„Er behauptet es“, sagte ich.

„Nun, die Tatsachen sprechen für ihn“, sagte meine Mutter. „Wo kommt Ihr her, Prinz Gregor?“

„Ich bin der Sohn des Königs von Aquimera. Wir sind die Nachbarn Eures Reiches im Westen.“

„Ach, waren nicht die Grafen von Tulpenstängel unsere Nachbarn im Westen?“, meldete sich mein Vater zu Wort.

„Bis sie den Krieg gegen Euer Reich verloren, Königliche Hoheit“, erwiderte der Prinz.

„Ah, ja. Schön. Meine Garde hat sich also wacker geschlagen.“

„Nicht direkt“, sagte der Prinz. „Es gab eine Garde, aber sie wurde vom Volk aufgestellt.“

„Um den Thron zu schützen, wie nett.“

„Um die Ernte zu schützen“, sagte der Prinz. „Die Sache ist ein wenig kompliziert. Immerhin musste Euer Volk in den letzten hundert Jahren ein wenig improvisieren, da es Euren Rat nicht in Anspruch nehmen konnte. Aber seid gewiss, es liebt Euch.“

Mein Vater lächelte geschmeichelt.

In diesem Moment wurde die zweiflüglige Saaltür mit Getöse aufgestoßen. Ich wandte mich überrascht um. Ein dicker Mann, begleitet von vier Bewaffneten, trat ein. Hinter dieser Gruppe gestikulierte unser Zeremonienmeister verzweifelt mit seinem Stock. Er musste versucht haben, die Leute aufzuhalten, aber gescheitert sein.

Der Mann, den die Bewaffneten schützend begleiteten, war mit einer Robe in den Farben des Reiches – rot und weiß – gekleidet.     Seine Wache schaute nicht minder grimmig als unsere Schlosswächter. Sie trugen die Armbrüste locker in der Rechten, aber ihr Blick sagte jedem, dass diese binnen Augenblicken auf ihn gerichtet werden könnten, wenn die Situation es erforderte.

Drei Schritte vor dem Thron blieb die Abordnung stehen. Der dicke Mann trat aus der Mitte heraus und dichter heran, bis er neben dem Prinzen und mir zum Stehen kam.

„Wer seid Ihr? Was treibt Ihr in meinem Schloss?“ Die Stimme meines Vaters schwankte zwischen Wut, Ratlosigkeit und Furcht.

„Ich bin Herbert Wagenmacher, der Kanzler des Reiches Rosenthal und möchte Euch, König Friedhelm III., zum Wiedererwachen gratulieren. Ich bringe Euch und dem holden Dornröschen die besten Wünsche des ganzen Volkes.“

„Warum wartet Ihr nicht, wie es Euch gebührt, bis der Zeremonienmeister Euch hereinführt?“, begehrte mein Vater auf.

„Weil es mir nicht gebührt“, sagte der Fremde. „Ich bin seit zehn Jahren Herrscher des Reiches. Ich werde nicht warten, bis irgendein Lakai mir erlaubt, hier hereinzukommen.“

„Was erlaubt Ihr Euch, Kerl. Ich bin König dieses Reiches und als solcher …“

„… nicht mehr befugt, Befehle zu erteilen“, unterbrach der Mann meinen Vater. „Ihr habt, um es freundlich auszudrücken, eine lange Ruhepause genossen. Es mussten Entscheidungen getroffen, Feinde vertrieben, Ernten eingebracht und Bündnisse geschlossen werden. Dazu hat sich eine Regierung gebildet, der ich vorstehe. Und vor mir stand ihr der ehrenwerte Kanzler Maiering vor und davor Kanzler Schmidt und davor … nun, ihr versteht. Es gab eine Reihe von Herrschern. Ihr, Herr König, werdet in Zukunft das Reich nach außen vertreten. Ihr und Eure Tochter seid das Aushängeschild dieses wohlhabenden Landes. Deshalb genießt Ihr weiterhin Wohnrecht hier im Schloss und werdet ein Salär beziehen, um die Aufgabe der Repräsentation gebührend zu erfüllen.“

„Wache! Wache!“ Man kann die Laute meines Vaters nur krakeelen nennen, wenngleich so eine Art des Rufens eines Königs nicht würdig erscheint.

Aber noch ehe die Piken sich gesenkt hatten, waren die Armbrüste im Anschlag. „Ich bitte Euch, König Friedhelm, erweist Euch des hohen Amtes als würdig, das auszuüben ich Euch vorschlage.“ Der unwillkommene Gast lächelte süffisant.

„Ich … ich … Wer seid Ihr? Was soll das alles?“ Mein Vater klang kläglich.

„Ihr wisst es doch, oder nicht?“ Der Kanzler sah meinen Vater interessiert an. „Hält Euch der Schlaf noch gefangen?“

„Nein.“

„Gut. Ihr, Herr König, habt hundert Jahre in seligem Schlaf verbracht, während vor den Toren des Schlosses das Leben weiterging. Das Reich ist gewachsen und gediehen. Nicht zuletzt natürlich der Legende wegen. Deshalb tragen wir Euch und Eurer Familie auch die Ehre an, das Reich quasi zu symbolisieren. Ihr seid das Reich und das Reich seid Ihr. Aber natürlich befehligt das Reich keine Menschen, sondern Menschen befehlen dem Reich – wenn Ihr versteht, was ich meine.“

„Kein Wort“, sagte mein Vater. Er straffte sich und versuchte, wieder Autorität in seine Stimme zu bekommen. Kein leichtes Unterfangen angesichts seines mottenzerfressenen Ornats. Das Gewand war vor hundert Jahren prachtvoll gewesen. Jetzt sah es aus, wie etwas, was man einem Bettler auf der Straße gab, damit dieser nicht erfriere.

„Seht Ihr, Königliche Hoheit“, sagte der Prinz. „Euer Reich hat großen Reichtum erworben, denn von überall her strömten die Menschen, um das berühmte verwunschene Schloss zu sehen. Immer wieder versuchten sich Wagemutige daran, die Rosenhecke zu erstürmen. In den letzten Jahren gab es ein Turnier am Geburtstag der Prinzessin. Der Preis des Siegers war das Recht, es zu versuchen, die Dornen zu zerschlagen und sich zu Dornröschen vorzukämpfen.“

„Zu wem?“ Mein Vater schien der Name genauso wenig zu gefallen wie mir.

„Dornröschen, Eure Tochter, Hoheit“, sagte der sogenannte Kanzler.

„Meine Tochter heißt noch immer Isabell von Rosenthal“, rief mein Vater. „Und ich wünsche, dass sie auch so genannt wird.“

„Das wird Eurem Volk nicht gefallen. Überall auf der Welt wirbt es mit dem Markenzeichen des Dornröschens für die Güter Eures Reiches“, erklärte der Kanzler. „Seht nur aus dem Fenster, welchen Reichtum die Legende von der Schönheit hinter den Dornenhecken Eurem Reich beschert hat. Nie zuvor konnte ein Land so blühen und gedeihen, ohne kriegerisch durch die Welt zu ziehen. Alle Welt beneidet Euch und Eure Untertanen um dieses Schloss, das jedermann sehen will. Es gibt sogar ein eigens erfundenes Wort für jenen Drang, das Dornröschenschloss zu sehen. Tourismus.“

Im weiteren Verlauf des Tages erfuhren wir weitere Einzelheiten der vergangenen hundert Jahre. Am Ende ergaben wir uns in unser Schicksal.

Mein Vater übernahm die Rolle des freundlich lächelnden Königs, der für die Hofmaler posierte, die ihn bei den verschiedensten Gelegenheiten malten: Wenn er einem Herrscher eines Nachbarlandes zur Begrüßung die Hände schüttelte, wenn er eine neue Kutschenstrecke einweihte, wenn er Kindern, die den ersten Tag in der Schule verbrachten, eine Rede hielt. Meine Mutter übernahm die Schirmherrschaft für die Hilfsgemeinschaft gefallener Jungfern, für die Schule der gestrandeten Existenzen, für den Fond zur Unterstützung altersschwacher Kräuterweiber, für den Dornröschen-Forschungsfond zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit und einiger weiterer Organisationen, die sich der Hilfe anderer Menschen verschrieben hatten. Und mir wurde die Ehre zu Teil, meine Verlobung mit Prinz Gregor bekannt zu geben und als Hochzeitstermin einen Tag im Monat nach meiner Errettung zu benennen.

Der am nächsten Morgen beginnen würde. Ich durfte gar nicht daran denken.

Vor dem Schloss standen die Bänkelsänger und Nachrichtenbriefschreiber Schlange, um sich in die Liste jener einzutragen, die Einlass in die Schlosskapelle erhielten. Wer nicht rechtzeitig auf diese Liste kam, musste draußen warten und seine Kollegen beneiden. Die würden jeden Moment der Zeremonie peinlich genau aufschreiben, um aller Welt darüber berichten zu können. Ihnen entginge kein Staubkorn auf meinem langen, weißen Kleid mit der Schleppe, die durch die halbe Mittelachse der Kapelle reichte. Mir graute schon bei dem Gedanken an dieses Folterwerkzeug aus Spitze. Ich sah in den Spiegel und erblickte mich darin, wie ich über das Ding stolperte, der Länge nach hinschlug und alle Stifte emsig geschwungen wurden, um mein dämliches Missgeschick nur ja für die Ewigkeit festzuhalten. Wenn so etwas einer Bauerntochter passierte, krähte kein Hahn danach.

Im Licht der Kerzen, die die Finsternis der Nacht, die draußen herrschte, vertreiben sollten, trug ich jedoch eine einfache beige Bluse und einen hellblauen Glockenrock.

Ich fragte den Spiegel, ob ich wirklich so schön sei, wie alle, allen voran mein Verlobter, immer wieder beteuerten. Aber das Ding antwortete nicht. Wie sollte es auch. Die Geschichten über sprechende Spiegel waren nur ein Märchen.

Ich wusste genau, dass ich kein klassisches Profil besaß. Meine Nase war zu klein, meine Augen waren zu groß, meine Brauen zu dicht und meine Lippen zu voll. Außerdem war mein Busen zu groß und meine Füße waren zu schmal.

Ich fragte mich also, was alle Welt an mir fand. Die einzige großartige Leistung meines Lebens hatte darin bestanden, hundert Jahre zu schlafen und beim Erwachen nicht eine Minute älter ausgesehen zu haben als beim Einschlafen. Und diese Leistung war nicht mein Verdienst, sondern die der Zauberkraft einer Fee, die sich von meinen Eltern schlecht behandelt gefühlt hatte. Ich wurde bestraft, weil mein Vater dem dummen Aberglauben anhing, dreizehn Gäste brächten Unglück. Dabei waren es eben genau zwölf, die Unglück brachten, denn die dreizehnte Fee wäre ganz brav und zuvorkommend gewesen, wenn man sie, verflixt nochmal, eingeladen hätte.

Ann-Luisa, meine Kammerzofe, trat ein. Sie knickste und erklärte, es sei an der Zeit, sich für die Nacht umzukleiden. Ich solle am nächsten Morgen doch als strahlende Schönheit und nicht mit Ringen unter den Augen zur Zeremonie erscheinen. Ich nickte ergeben.

Ann-Luisa trat an meinen Kleiderschrank heran und öffnete beide Türen schwungvoll. Das Hochzeitskleid beanspruchte die gesamte rechte Hälfte des Schrankes. Links hingen meine übrigen Sachen, die alle neu waren. Von jener Garderobe, die ich vor dem Langen Schlaf getragen hatte, musste ich mich trennen, denn während die Ruhephase keinem Einwohner des Schlosses geschadet hatte, und die Kleidung, an deren Leib nur etwas angestaubt und von Motten zerfressen war, waren alle Kleidungsstücke, die in Schränken und Truhen verwahrt hingen oder lagen, größtenteils einfach zu Staub zerfallen. Und das Ding, in dem ich hundert Jahre im Bett zugebracht hatte, wollte ich keine Minute länger als unbedingt nötig mehr auf dem Leib haben.

„Wie fühlt Ihr Euch sich, Hoheit?“, fragte Ann-Luisa, während sie mir aus meinen Kleidern half. „Seid Ihr schon sehr aufgeregt?“

„Aber ja.“ Eigentlich nicht, aber ich wollte die junge Frau nicht enttäuschen, die immer zur Stelle war, wenn ich etwas benötigte. Es handelte sich nicht um Aufregung, die mich beherrschte, sondern um Widerwillen. Ich hatte hundert Jahre gepennt und anstatt, dass ich jetzt erst einmal das Leben genießen durfte, musste ich heiraten.

„Einer der Bänkelsänger hat ein Lied für mich geschrieben“, gestand meine Zofe, während sie mein Korsett aufschnürte. Das einfache würde morgen natürlich nicht gut genug sein. Ich würde eines aus Seide und Tüll tragen, bei dem es, wie mir die Schneiderin mit einem Zwinkern versichert hatte, eine Freude für meinen Ehemann sein werde, mich daraus zu befreien.

„Gestern Abend, in der Taverne. Es ist aber eine ganz einfache Melodie.“ Ich konnte förmlich hören, wie sie bei diesen Worten errötete.

In der neuen Zeit verfügten unsere Dienstboten und -mägde über viel mehr Freiheiten. Sie durften das Schloss am Abend verlassen und mussten auch nicht mehr in einer Kammer des Schlosses wohnen. Ihnen standen feste Arbeitszeiten und einmal in der Woche ein freier Tag zu.

„Wie sieht er denn aus, der Herr Bänkelsänger?“, fragte ich.

„Ach, ganz gewöhnlich.“ Die Stimme klang auf einmal sehr bedacht gleichgültig. So gewöhnlich war der Künstler also vermutlich nicht.

„Er ist etwa so groß wie Euer zukünftiger Gemahl und hat ganz wildes, lockiges Haar. Man möchte immer hindurchstreichen wie bei einem Hund.“

„Aha.“

„Und blaue Augen hat er, wie Ihr, Hoheit und einen Schnurrbart wie unser Kater.“

„Das ist ja eine tolle Mischung“, sagte ich.

Ann-Luisa begann, mein Haar zu kämmen, und summte währenddessen eine feine Melodie vor sich hin, die ein wenig nach Schlaflied klang. Wahrscheinlich handelte es sich um ihr Lied.

Der Zauber hatte zum Glück bewirkt, dass weder meine blonden Haare noch meine Finger- und Fußnägel in den Jahren des Schlafes gewachsen waren. Ansonsten hätte ich alle Rekorde des jungen Mannes gebrochen, der zu meinem achten Geburtstag als Überraschungsgast in unserem Schloss war. Er hieß Peter Struvel mit Namen, stammte aus einem Nest, das Mainertsbrunn genannt wurde, und hatte in jungen Jahren seine Haare und Fingernägel nicht schneiden lassen, um sie später auf Jahrmärkten für Geld zeigen zu können. Ob meine Eltern ihn zu jenem Geburtstagsfest geladen hatten, um für Belustigung zu sorgen oder um als abschreckendes Beispiel zu dienen, und mich zu mehr Körperpflege anzuhalten, weiß ich nicht. Mir als Achtjährige hatte es jedenfalls unbändigen Spaß bereitet, seine Locken zu befühlen, die fast bis zum Boden reichten, und gegen die Spitzen seiner Nägel zu stupsen, die lang wie Säbel waren.

Allerdings war ich trotz der durchaus im Rahmen des Üblichen liegenden Länge meiner Haare nicht glücklich mit ihnen. Seit meinem Erwachen konnte ich feststellen, dass die derzeitige Mode dahin tendierte, dass die jungen Mädchen ihre Haare kurz wie Jungs trugen. Bubikopf nannte der Volksmund diese Frisur. Meine Mutter nannte sie den Räubertochterschnitt. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass sie je eine Räubertochter kennengelernt hatte.

Ann-Luisa erzählte ganz aufgeregt von all den Vorbereitungen, die im Schloss für das große Ereignis meiner Hochzeit getroffen wurden. Sie wurde offensichtlich von der Vorfreude beherrscht, die im ganzen Reich die Hochzeitsvorbereitungen begleitete. Jedermann schien glücklich zu sein, dass ich unter die Haube kam. Wenn man mal von mir absah. Und ich war ja nur die Braut.

Dabei konnte ich nicht einmal sagen, dass ich meinen Bräutigam nicht mochte. Es handelte sich eher um eine unwillkürliche Scheu vor der Veränderung. Wenn wir den vergangenen Monat seit meinem Erwachen jeden Tag hätten gemeinsam verbringen können, gemeinsam stundenlang durch die Schlossgärten spaziert wären, wenn er mir all das Neue gezeigt hätte, das sich in den letzten hundert Jahren in unserem Reich etabliert hatte, wenn wir in feinen Restaurants gespeist hätten, die die sogenannten Touristen frequentierten, dann wäre zwischen uns vielleicht eine Beziehung gewachsen, wie ich sie mir vor einer Ehe vorstellte. Aber jeder von uns war ständig mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.

Hin und wieder sahen Prinz Gregor und ich uns zu offiziellen Anlässen. Diese Zeit war angefüllt mit geschüttelten Händen und förmlichen Gesprächen, mit Tischreden und Terminen mit den Leuten, die die Nachrichtenbriefe verfassten.

Ich probierte ein Lächeln, als das Kämmen endlich ein Ende fand. Ann-Luisa sollte nicht glauben, ich sei mit ihrer Arbeit unzufrieden.

Sie eilte zum Schrank und holte eines der neuen Nachthemden heraus. Es bestand aus feinster Seide, wie man sie im Nachbarland Aquimera fertigte, und war ein Geschenk meiner zukünftigen Schwiegereltern. Schmetterlinge in blau und rot flatterten über den Stoff.

Während Ann-Luisa mir half, es anzuziehen, zählte sie atemlos die Gäste auf, die aus aller Welt gekommen waren, um meiner Hochzeit beizuwohnen. Die meisten kannte ich nur aus den Nachrichtenbriefen oder den Versen der Bänkelsänger, die hin und wieder auf dem Schlosshof ihre Lieder zum Besten gaben. Sie dienten eigentlich der Unterhaltung der Mägde und Diener, aber ich stand immer an einem Fenster und lauschte, was im Reich geschehen war, dass für interessant genug gehalten wurde, es in einfachen Reimen festzuhalten.

Die neuesten Lieder handelten alle von den Räubern, die im Wald von Rosenthal-Wimmerwies ihr Unwesen treiben sollten. Wenn man den Worten der Sänger Glauben schenken durfte, handelte es sich um finstere Burschen, die mit Messern und Pistolen in den Händen Postkutschen überfielen, die Männer an Bäume fesselten, den Frauen den Schmuck stahlen, während sie ihnen gleichzeitig Komplimente ins Ohr raunten, und schließlich mit Gut und Pferden im Wald verschwanden. Aber, so hieß es, sie gaben von jedem Raub den Armen in den Dörfern, weshalb man sie auch nicht fing, denn die Dörfler schützten sie.

Schließlich schlug Ann-Luisa meine Bettdecke auf, beobachtete, wie ich ins Bett kletterte, und wünschte mir eine gute Nacht. Sie löschte die Kerzen und verließ auf leisen Sohlen den Raum, so als schliefe ich bereits geraume Weile und sie wolle mich nicht wecken.

Draußen vor dem Fenster gurrten die Tauben, die den ganzen Tag Briefe von und zu Nachbarreichen transportiert hatten. Wahrscheinlich tauschten sie Reiseerlebnisse aus. Vielleicht gab es auch bei ihnen Aufschneider, die nach jedem Flug damit prahlten, wieder einmal einem Falken ein Schnippchen geschlagen zu haben.

In dieser Hinsicht musste ich Prinz Gregor in Schutz nehmen. Er brüstete sich nicht mit irgendwelchen Taten. Selbst meine Rettung spielte er immer herunter. Es sei eben an der Zeit gewesen, sagte er. Und damit hatte er natürlich recht.

Warum also sollte ich ihn heiraten?

Ich wälzte mich im Bett von der einen Seite zur anderen. Mir gingen tausend Fragen durch den Kopf. Zum Beispiel jene, ob mir ein Prinz oder ein anderer Mann einfiele, den ich lieber als Gregor heiraten wollte. Aber um diese Frage zu beantworten, hatte ich viel zu wenig Männer eingehender kennengelernt.

Ich schlug die Decke wieder zurück, kletterte aus dem Bett, trat ans Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Einzelne Sterne blinzelten mir aus dem Firmament herab zu, hin und wieder von Wolken gestört, die sich ins Blickfeld schoben. Eine Fledermaus stürzte vom obersten Turm herunter, huschte dicht am Fenster vorbei und landete am Rand des Brunnens im Innenhof. Irgendwo pfiff jemand laut und falsch die Ballade vom armen Ritter Rübenbart. Das konnte nur aus der Küche kommen, denn dort wurde in dieser Nacht durchgearbeitet, damit morgen alles bereit sei, wenn die Gäste nach der Zeremonie hungrig zu Tisch gingen. Ich wusste gar nicht mehr genau, wie viele Gäste insgesamt erwartet wurden. Es mussten mehrere hundert sein.

Prinz Gregors Eltern brachten praktisch ihren gesamten Hofstaat mit in unser Schloss. Vielleicht konnte ich diesem ganzen Wahnsinn ja entkommen, der um meine Person und meine Hochzeit herum veranstaltet wurde. Es war Nacht und nachts sind nicht nur alle Katzen grau, sondern auch alle Menschen irgendwie gleich. Niemand würde erkennen, dass da eine Prinzessin und nicht eine einfache Magd das Schloss durch den Dienstboteneingang verließ.

Ich wandte mich wieder dem Zimmer zu, trat an den großen Kleiderschrank und öffnete ihn. Ich ließ bewusst jene Tür geschlossen, hinter der das Hochzeitskleid lauerte. Unter den Kleidern fand ich eine Reisetasche, die ich für groß genug erachtete, damit ich nicht ganz mit leeren Händen in die Welt hinausziehen musste.

Rasch raffte ich einige Sachen zusammen und stopfte sie hinein. Als ich versuchte, die Tasche anzuheben, stellte ich fest, dass meine Wünsche nach Kleidung offensichtlich zu schwerwiegend waren. Ich zerrte also die Hälfte der Kleidung wieder heraus, eilte zu dem kleinen Schränkchen neben meinem Bett, griff mir die Haarbürste und steckte sie zu den Sachen in der Tasche. Diesmal gelang mir der Versuch, sie zur Tür zu tragen.

Ich ließ sie dort stehen, kehrte mitten ins Zimmer zurück und tauschte mein Nachthemd gegen jene Kleidung, die ich den Tag über getragen hatte. Aus dem Schrank nahm ich das bequemste Paar Schuhe, das mir zur Verfügung stand. Leider verfügte sogar dieses über Absätze, die mich fünf Zentimeter größer machten. Selbst mir unerfahrenem Wesen war klar, dass derartige Fußbekleidung nicht für lange Wanderungen durch die Welt geeignet war.

Ich trat erneut vor den Spiegel. Selbst im blassen Mondlicht konnte ich deutlich sehen, dass jedermann – jede Frau erst recht – mich erkennen würde, wenn er mir begegnete. So würde meine Flucht an der nächsten Straßenecke enden, ehe ich eine Chance bekam, das Leben und vielleicht einen anderen Mann kennenzulernen.

Ich ließ mich aufs Bett sinken und versank in Trauer. Morgen wäre ich eine verheiratete Frau und ich hatte keine Wahl. Jede Magd, jede Wächterin besaß in diesem Reich größere Freiheit.

Halt! Jede Wächterin … Eine Idee bemächtigte sich meiner. Ich wischte eine einzelne Träne von meiner linken Wange, streifte die unpraktischen Schuhe von den Füßen und ging zu der Reisetasche hinüber. Ich leerte sie vollends und stopfte sie in den Schrank zurück. Ich nahm eine andere heraus, die ich bequem tragen konnte, und legte lediglich die Bürste hinein. Dann huschte ich ins Badezimmer, das hinter einer Tapetentür verborgen an mein Zimmer grenzte, und nahm noch eine Stück Seife, das ebenfalls mein Gepäck ergänzte.

Mir fiel ein, dass meine Eltern sich wohl sorgen würden, wenn sie am nächsten Morgen die Nachricht erhielten, ich sei verschwunden. Sie würden sich Schreckensszenarios mit Räubern und Mordbuben ausdenken und wie Gespenster von einem Raum zum nächsten eilen, nur um mich auch dort nicht zu finden. Ich entzündete eine Kerze, setzte mich an meinen Sekretär aus Kirschbaumholz und schrieb eine Nachricht. Ich versiegelte sie und brachte sie zu meinem Bett, wo ich sie deutlich sichtbar auf dem Kopfkissen platzierte.

Mein Start ins freie Leben konnte beginnen. Ich öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit und linste hinaus auf den Gang. Er lag, von einzelnen Fackeln erleuchtet, ganz still und verlassen. Ich packte entschlossen die Tasche, trat hinaus, schloss die Tür hinter mir ganz leise und schlich zur Treppe.

Plötzlich vernahm ich Stimmen aus einer der unteren Etagen. „Ich glaube, sie liebt mich nicht“, sagte jemand und ich war ziemlich sicher, es sei Prinz Gregors Stimme.

„Ach Junge, als ich deinen Vater geheiratet habe, sah ich ihn auch am Tage zuvor zum ersten Mal. Und jetzt sind wir schon über ein Vierteljahrhundert zusammen glücklich“, erwiderte eine Frauenstimme. Das konnte nur seine Mutter sein.

Schritte entfernten sich. Ich atmete auf und lugte über das Treppengeländer nach unten. Ich sah niemanden und schlich hinab. Ich erreichte unbemerkt den ersten Stock. Hier erstreckten sich links der Treppe die Gästezimmer und rechts die Privatgemächer meiner Eltern. Alles blieb ruhig. Entweder schliefen alle bereits oder ein Teil tummelte sich im Ballsaal oder draußen im Schlossgarten. Der sonnige Maientag hatte in einen lauen Abend und eine mondhelle Nacht gemündet, eine Nacht, die dazu einlud, durch den Garten zu flanieren, den Fledermäusen bei der Jagd zuzusehen und hinter den Hecken zu kichern. Was immer einen dazu bringen mochte. Die Krautwitz Erika hatte mir da einiges zu erklären versucht, aber irgendwie konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass das so lustig sein sollte.

Auch im Erdgeschoss, wo sich der Thronsaal und der Ratssaal der Minister, den inzwischen die sogenannten Volksvertreter für ihre Beratungen nutzten, befanden, blieb alles still. Ich verschwand noch tiefer und erreichte das erste Kellergeschoss. Hier herrschte Gerlind, die oberste Köchin, mit geschwungener Schöpfkelle über ihre eigenen Untertanen, und außerdem lagen hier die Räume der Wache.

Da spazierten bereits zwei Wächter heran. Sie trugen ihre Piken locker über der Schulter und strebten der Treppe zu. Sie gehörten zur Tagschicht, wie ich an ihren Uniformen erkannte. Die für die Wächter, die im Schloss selbst Dienst taten, war farbenprächtiger und dafür weniger praktisch als die der Nachtwache. Vermutlich traten sie ihre wohlverdiente Nachtruhe an.

„Ich hoffe nur, es gibt morgen keinen Ärger. Bei so vielen Gästen weißt du nie, ob sich alle zu benehmen wissen“, sagte der eine zu seinem Partner.

„Sind doch alles hochherrschaftliche Leute.“

„Wenn die genug geladen haben, sind sie auch nicht besser als der Pöbel in den Vier Rosen.“ Der Mann räusperte sich und spie einen Schleimklumpen in die Ecke.

Ich duckte mich tiefer in einen finsteren Winkel und hoffte, er würde nicht noch einmal und dann vielleicht in meine Richtung speien. Sie passierten mich, ohne sich umzusehen, und so bemerkten sie mich auch nicht.

Ich atmete durch und schlich weiter. Mein Ziel war die Kleiderkammer der Wache. Um diese Zeit sollte sich dort niemand mehr aufhalten. In der Nacht waren nur die Patrouillen, die an der Außenmauer Streife liefen, und die Torwächter anwesend. Diese teilten sich auf zwei Schichten auf. Die eine verrichtete den Dienst auf ihren Posten und die andere am Würfel- und Kartentisch.

„Der ist für mich! Und der auch! – Schneider, meine Herren!“

Da hörte man die eifrigen Spieler bereits. Ich hörte einen derben Fluch und Münzen, die auf Holz geworfen wurden.

„Revanche?“

„Was dachtest du denn? Dass wir dir den ganzen Batzen einfach so überlassen? – Gib endlich!“

Vor denen würde ich Ruhe haben.

Über hundert Jahre lagen seit dem Tag zurück, da ich zuletzt hier unten gewesen war, aber es erschien mir, als sei es kaum ein paar Wochen her. Es gehörte zu den Gepflogenheiten in unserem Reich, dass auch die weiblichen Herrscher Fecht- und Reitunterricht erhielten.

„Eine Frau sollte ihre Ehre nicht nur mit Worten verteidigen können“, sagte meine Mutter vor der ersten Ausbildungsstunde mit dem Degen. Diese Stunden fanden hier im Keller statt. Die Reitstunden natürlich nicht, dafür gab es den sogenannten Turnierplatz, der an den Schlossgarten im Westen angrenzte.

Die Kleiderkammer lag linker Hand vor dem eigentlichen Wachraum, jener Spielhölle, aus der jetzt wieder lautes Geschrei drang. „Das gibt es doch gar nicht! Der betrügt doch!“ Jemand schlug offenbar mit der flachen Hand wutentbrannt auf den Tisch.

„Ihr könnt eben nicht spielen“, sagte die Stimme des Gewinners von vorhin.

Ich bog nach links ab und öffnete die Tür zur Kleiderkammer. Sie knarrte. Verflixt!

„Was war das?“, rief der Gewinner laut genug, dass selbst ich es hören konnte.

„Was soll das schon gewesen sein? Lenk nicht ab. Du willst bloß nicht weiterspielen. Hast wohl Angst, dein Glück verlässt dich?“ Lachen erklang.

Ich atmete tief ein und stellte so fest, dass ich die Luft angehalten hatte. Wie weiter? In der Kleiderkammer herrschte stygische Schwärze, die der fahle Schein aus dem Kellergang nur einen Meter weit durchdrang. Bei meinen früheren Besuchen war der Raum stets durch Fackeln hell erleuchtet gewesen. Ich dumme Trine hatte dies auch zu dieser Zeit erwartet. Aber warum sollte das so sein, wenn niemand die Kammer jetzt betreten wollte?

Ich brauchte also eine Fackel. Ich entdecke eine neben der Tür. Konnte ich es wagen, mich hinauszuschleichen, sie zu entzünden, zurückzukehren und dann auch noch diese knarrende Tür zu schließen?

Eigentlich eine rhetorische Frage, denn die Alternative bestand darin, brav in mein Zimmer zurückzukehren und am nächsten Tag vor dem Altar Ja zu sagen.

Dieser Gedanke ließ mich nach oben greifen, die Fackel packen, wieder auf den Gang schlüpfen und an eine der dort brennenden halten, bis sie sich entzündet hatte. Nebenan im Wachraum tobte das Kartenspiel. Offenbar hatte sich das Blatt gewendet, denn die jubelnde Stimme gehörte jetzt einem der Verlierer von vorhin.

„Doppelt, mein Freund, doppelt!“, rief er triumphierend.

Ich huschte wieder in die Kleiderkammer und zog so leise wie möglich die Tür hinter mir zu. Und diese Verräterin knarrte erneut. Ich sollte sie aufknüpfen lassen, wegen Hochverrat. Allerdings wird das eine Tür nicht stören.

Ich eilte zu den Kleiderregalen. Hier gab es Jacken, Hosen, Hemden, Unterkleidung, Fußlappen und Stiefel. Letztere standen unter den Regalen in Reih und Glied. Da es bei der Schlosswache auch drei Frauen gab, hoffte ich, auch meine Größe zu finden. Mit fliegenden Fingern wühlte ich mich durch die verschiedenen Kleidungsstücke. Natürlich berührte ich die Herrenunterwäsche nur mit den Fingerspitzen. Schnell stellte ich fest, dass die Sachen nach Größe sortiert lagen. Ich musste also nicht die ganzen Regale durchforsten. Nach ein paar Minuten hatte ich mir von jedem Teil ein Stück rausgesucht. Eilig stopfte ich alles in meine Tasche. Umziehen würde ich mich später. Ich schlüpfte lediglich sofort in ein paar Stiefel. Sie saßen ein wenig zu locker, aber es musste ausreichen. Vielleicht halfen dann die dickeren Strümpfe, die zur Uniform gehörten.

Ich wandte mich um, als ich eine Tür gehen hörte. Jemand fragte: „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“

„Pinkeln. Meine Güte, bist du meine Mutter?“

Eine dritte Person lachte grölend.

Dann vernahm ich Schritte. Eilig stürzte ich zur Fackel hinüber, riss sie aus der Halterung und schüttelte sie so kräftig, dass sie erlosch.

Jemand näherte sich der Tür und brummelte: „Wer hat denn die Kleiderkammer offengelassen? Verdammter Schlendrian! Eines Tages finden wir früh einen Bären oder eine böse Fee drin.“ Dann knallte die Tür ins Schloss und ich stand in der Finsternis.

Ich war zwar nicht eingeschlossen, aber ein erneutes Öffnen der Tür würde diese wieder zum Knarren bringen. Und dann käme gewiss jemand, um nachzusehen, was los sei.

Was sollte ich tun?

Ich lehnte mich an die Tür, schloss die Augen und dachte nach.

„Beeil dich!“, brüllte jemand. „Wir haben gleich Wachwechsel!“

Richtig! Der Wachwechsel.

Seit meine Eltern nur noch zu Repräsentationszwecken als Königspaar fungierten, war die Schlosswache deutlich reduziert worden. Ihr gehörten nicht mehr alle Soldaten des Landes an. Die Tagwache bestand aus ein paar Leuten mehr, weil sie auch Gäste durch das Schloss führte, an Türen eher als Dekoration fungierte und für die sogenannten Touristen für gemeinsame Schnellportraits posierte. Aber in der Nacht gab es nur zwei Schichten. Und wenn gewechselt wurde, liefen beide außerhalb des Schlosses herum. Dann musste ich aus der Kleiderkammer schlüpfen und so schnell wie möglich aus dem Schloss verschwinden.

Ich tastete mich durch die Finsternis zu meiner Tasche, kollidierte dabei einmal mit einem Regal und einmal mit einem Tisch. Das würde eine Beule an der Stirn und einen blauen Fleck an der Hüfte geben. Als ich den Rückweg antrat, hatten sich meine Augen ein wenig an das fehlende Licht gewöhnt und ich konnte einzelne Umrisse erkennen. Es gelang mir daher, weitere Kollisionen mit Möbelstücken zu vermeiden.

Ich stellte die Tasche ab und legte ein Ohr an die Tür. Zum Glück war die Schlosswache nicht für ihr Schleichen berühmt. Die vier Wächter, die sich die Zeit mit Kartenspiel vertrieben hatten, würden auf dem Gang vorbei und die Treppe hinauftrampeln. Nur weil die Schlafgemächer in den höheren Stockwerken lagen, beschwerte sich niemand über sie.

Ich musste nicht allzu lang in dieser Haltung eines Spitzels verweilen. Erst hörte ich den Klosettbesucher zurückkehren, kurz danach eine Tür gegen die Wand krachen, als könnten die Herren Wächter gar nicht erwarten, ihre Patrouillengänge wieder aufzunehmen, und schließlich schwere Stiefel im Gleichschritt durch den Gang marschieren. Als ich sicher war, sie jetzt auf der Treppe zu hören, öffnete ich zögernd die Tür. Ich lauschte auf den Tritt, um das Knarren gleichzeitig mit einem Aufstampfen erklingen zu lassen, damit es überdeckt wurde. Es gelang mir ganz gut.

Endlich war die Tür offen, die Wächter stampften sicherlich bereits auf das Schlosstor zu. In das große zweiflüglige Tor, das breit genug ist, um eine Kutsche passieren zu lassen, wenngleich diese nicht die Freitreppe davor hinaufkäme, ist auf der linken Seite eine einfache Tür eingelassen. Sie heißt offiziell die Tür des Wachhabenden, wird aber von allen Wächtern nur die Hundetür genannt. Sie knarrt und quietscht nicht und würde mich ohne Probleme hinauslassen.

Ich schlich, so gut dies in Stiefeln möglich war, die Treppe hinauf. Am Absatz zum Erdgeschoss sah ich mich flüchtig nach links und rechts um, aber weit und breit herrschte Ruhe. Ich eilte zum Tor, öffnete die Hundetür und schlüpfte hinaus. Ich zog die Tür hinter mir zu und wandte mich sofort nach rechts. Ich konnte keineswegs dem breiten Kiesweg zum Zufahrtstor folgen. Von dort käme mir die Ablösung an den Spieltisch im Keller entgegen, die bis vor wenigen Minuten am Tor Wache gehalten hatte.

Ich bewegte mich im Schatten des Schlosses, teilweise von Büschen verborgen, die um dieses herum angepflanzt worden waren, nachdem die gigantische Rosenhecke abgerissen worden war. Es handelte sich um Taxus- und Rhododendronbüsche. Rosen mochte meine Mutter in unmittelbarer Nähe des Schlosses nicht mehr dulden, obwohl deren Blüten noch immer unser Wappen zierten: zwei gekreuzte, dornenbewehrte Rosenstängel mit Blüten in rot und weiß.

Geduckt schlich ich in Richtung des hinteren Gartens, an den sich, wie ich schon erwähnte, der Turnierplatz anschloss. Dieser besaß ein eigenes Tor, das benutzt wurde, um die Pferde für Ausritte in die Umgebung hinauszuführen. Natürlich würde dieses Tor um diese Zeit geschlossen sein, aber auf der Gartenseite verfügte es über schmiedeeiserne Zierstreben, die ich in meinen Kindertagen gern für Kletterübungen benutzt hatte. Wenn ich während meines Schlafes nicht völlig eingerostet war, sollte ich dort sehr einfach hinaufkommen. Ein Sprung und ich wäre in Freiheit.

Ich erreichte die rückwärtige Schlossfront, linste um die Ecke und stellte fest, dass die Luft rein war. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und erleichterte meine Aufgabe, unbemerkt zu bleiben. Die Wachen beschäftigten sich vermutlich noch mit der Ablösung. Ich packte meine Tasche fester und eilte über die kiesbestreute Freifläche hinter dem Schloss zur gegenüberliegenden Mauer. Hier gab es wieder kunstvoll beschnittene Bäume, Büsche und Skulpturen unbekleideter Damen und Herren, bei denen es sich um Gottheiten handelte. Ich hatte mich als Kind oft gefragt, ob die Götter so arm waren, dass sie sich keine Kleidung leisten konnten.

„Halt! Wer da?“

Na toll. Ich warf die Tasche hinter einen Busch, sprang hinterher, warf mich zu Boden und kroch halb unter das Gewächs.

Schritte näherten sich.

„Da war ein Schatten“, sagte eine Männerstimme. Sie gehörte einem der Verlierer aus dem Wachzimmer. Ich hatte sie ganz zu Beginn meines Kellerbesuchs vernommen.

„Wird irgendein Tier gewesen sein, Rudolf.“ Diese Stimme gehörte dem vom Glück Verfolgten.

„Muss ein ziemlich großes Tier gewesen sein.“ Schritte näherten sich. „Wir sollten uns das mal genauer ansehen.“

„Was du nur hast? Glaubst du wirklich, jemand will sich ins Schloss schleichen? Was soll er da wollen?“

„Keine Ahnung, Arthur. Vielleicht die Prinzessin rauben.“

„So ein Unsinn“, sagte Arthur. „Du hörst zu viele Bänkelballaden. Alle lieben die Prinzessin. Wir können froh sein, dass wir sie haben.“

„Ja, eben. Und da sind die anderen Reiche rund rum neidisch und missgönnen sie uns.“ Dieser Rudolf stand inzwischen dicht vor meinem Busch. Ich konnte seine Stiefelspitzen sehen. Sie drehten sich nach links und rechts. „Hier ist keiner“, sagte er.

„Sag ich doch.“

„Ich könnte schwören …“ Ein Fingerschnipsen folgte. „Sehen wir weiter dort drüben nach.“

Ich nahm an, er deutete in Richtung auf den Turnierplatz. Schönen Dank auch, dann musste ich noch eine Weile hier im Gras liegen bleiben und abwarten, dass sie von ihrer Streife zurückkamen. Ich konnte nur hoffen, dass sie mich nicht aus den Augenwinkeln sahen, wenn sie mein Versteck passierten.

Arthur stöhnte. „Das ist nicht mehr Patrouillenstrecke. Da beginnt das Turniergelände.“

„Dann bleib du hier. Ich gehe allein. Behalt mich im Auge, falls mir jemand auflauert, schlägst du Alarm.“

„Meinetwegen.“

Schritte passierten mich. Ich versuchte, ein Stück weiter unter das Gebüsch zu kriechen, ohne einen Laut zu verursachen, schließlich stand dieser Arthur noch herum. Zu meinem Glück gelang mir das. Nach einer gefühlten Ewigkeit, und das ist nicht nur so dahergeredet, kehrte Rudolf zurück.

„Nichts zu sehen. Wahrscheinlich hattest du recht. War wirklich nur ein Tier.“

„Dann lass uns endlich unsere Runde weitergehen“, sagte Arthur praktisch über meinen Kopf hinweg.

Ich spürte, dass irgendetwas über mein linkes Bein krabbelte. Nicht schreien! Das ist ein Käfer, ein harmloser, kleiner Käfer! Weil mein Mund aber auf meinen Verstand nicht hören wollte, blieb mir nur, mir die Faust so fest in den Mund zu stopfen, wie es ging.

„Da hat was geraschelt.“

„Bei meiner Mutter, Rudolf! Du hörst heute Nacht die Flöhe husten!“

Endlich zogen die Wächter ab. Eigentlich gebührte zumindest Rudolf ein Lob. Er war aufmerksam und ganz dem Schutz des Schlosses und seiner Bewohner verpflichtet. Sein Kartenspiel mochte sein, wie es wollte, als Wächter verhielt er sich vorbildlich. Ich musste mir seinen Namen merken, bis ich dereinst zurückkehrte.

Ich blieb liegen, bis ich die sich entfernenden Schritte nicht mehr hörte, dann stand ich eilig auf, hetzte in Richtung Turnierplatz, wo ich hinter einer alten Eiche in Deckung ging. Sollte Rudolfs Gehör wieder etwas bemerkt haben, wollte ich unsichtbar sein, falls er sich umwandte.

Der Turnierplatz war ein großes von alten Bäumen umstandenes Oval. Ein hüfthoher Zaun aus weiß gestrichenem Holz umgab es. Ein weiteres Zaunoval im Inneren trennte eine breite Laufbahn ab. Direkt mir gegenüber befand sich eine ebenfalls geweißte Tribüne, die für den Hofstaat und Gäste ausreichend groß war. Entlang des Ovals fanden die sogenannten Wettrennen statt. Dabei traten die schnellsten Pferde und geschicktesten Reiter aus unserem und den umliegenden Königreichen und Baronien gegeneinander an. Meist gewannen die Teilnehmer aus Aquimera.

In meiner Jugend gab es im Innenraum zwei längs verlaufende, ebenfalls gegeneinander durch einen Zaun getrennte Sandstreifen. Hier waren die Ritter und Edelleute zu Pferde mit Lanzen gegeneinander angetreten. Sie versuchten mit diesen, den jeweiligen Gegner aus dem Sattel zu stoßen. Allerdings gab es diese Art Turnier nicht mehr. Prinz Gregor hatte mir erzählt, dass das Lanzenbrechen vor nahezu fünfzig Jahren aus der Mode gekommen war. Die Wettrennen aber erfreuten sich nach wie vor großer Beliebtheit und fanden etwa einmal pro Monat statt.

Ich schlich ganz nach rechts zur Außenmauer und dann an dieser entlang zum Tor. Es war noch da und sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Das eiserne Spalier an der Turnierplatzseite machte ein Übersteigen zum Kinderspiel, wäre da nicht die Tasche gewesen. Ich konnte sie nicht in der einen Hand halten und nur mit der anderen klettern.

Ich stand ein paar Augenblicke da und schaute das etwa zwei Meter hohe Tor hinauf. Dann kam mir eine Idee. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Tor, nahm den Henkel der Tasche in beide Hände und nahm all meine Kraft und Entschlossenheit zusammen. Ich beugte mich nach vorn, schwang die Tasche rückwärts und schnellte dann nach vorn und die Arme nach oben. Schließlich ließ ich los und drehte mich um. Ich sah sie in hohem Bogen hinauf und über das Tor fliegen. Das war geschafft. Jetzt musste ich nur noch klettern.

Ich stellte fest, dass ich seit meinen Kindertagen doch ein wenig an Kletterkunst eingebüßt hatte, aber schließlich saß ich doch oben auf dem Tor und sah auf der anderen Seite auf den Pfad hinab, der aus dem Wald kommend dort endete. Meine Tasche lag ein Stück entfernt am Stamm einer Kiefer.

Die Wolken zogen zur Seite, der Mond kam wieder hervor und ich sprang in die Freiheit.

Gregor von Aquimera

Zwei Tauben, die vor meinem Fenster turtelten, weckten mich mit ihrem Gegurre. Ich weiß nicht, was andere Leute so toll an diesen Viechern finden, für mich erzeugen sie eines der nervtötendsten Geräusche, dem man am frühen Morgen ausgeliefert sein kann. Ich schwang die Beine aus dem Bett.

So begann der Tag meiner Märchenhochzeit mit Prinzessin Isabell von Rosenthal, genannt Dornröschen. Eigentlich sollte ich singend und tanzend meine Rasur und Morgentoilette absolvieren, aber ein dumpfes Gefühl der Ungewissheit verhindert einen derartigen Überschwang.

Natürlich konnte niemand, der Augen im Kopf hatte, abstreiten, dass die Prinzessin wunderschön aussah. Sie bewegte sich wie eine Elfe, lächelte wie die gute Fee, die gerade drei Wünsche gewährte, und wenn der erste Wunsch dabei dazu führte, dass man sie in den Armen halten und den lieblichen Mund küssen durfte, konnte man die anderen beiden getrost vergessen. Ich weiß nicht, ob das, was ich für sie fühlte, tatsächlich Liebe war, denn ich bin nie zuvor verliebt gewesen, aber die Vorstellung, nicht an ihrer Seite bleiben zu dürfen, bohrte sich wie ein Dorn in meinen Leib.

Allerdings gab sie sich stets distanziert. Sie blickte mich bei den wenigen Gelegenheiten, die wir gemeinsam verbrachten, an, als wäre ich ein Möbelstück, das man ihr, ohne sie zu fragen, ins Zimmer gestellt hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---