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David Pawn

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Beschreibung

Chaos an der Heilerstation „Drei Annen“, dem magischen Krankenhaus am Fuße des Brockens. Das Bundesamt hat den Leiter versetzt, mehrere Mitarbeiter suspendiert und dann wird ausgerechnet die Tochter des obersten deutschen Magiers mit Atemnot und blutigem Husten eingeliefert. Höchste Zeit, dass man Sophus Schlosser und seine Verlobte aus dem Urlaub zurückbeordert. Aber die Heiler müssen nicht nur gegen die Krankheit der Tochter des Obersten Rates angehen, sondern auch den Kampf mit ihrem Gegenspieler im Bundesamt aufnehmen. Und der ist mit allen Wassern gewaschen. Spannend, verrückt und voller Überraschungen präsentiert sich einmal mehr das magische Leben im kleinsten deutschen Mittelgebirge.

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Anvoutinosum

 

 

David Pawn

 

Ich entschuldige mich bei allen Fans von Harry Potter, dass ich Ideen und Grundannahmen aus den Büchern von Minerva Mc…, sorry, J. K. Rowling in dieser Geschichte verwendet habe. Sophus bereitet inzwischen seine Hochzeit vor. Aber so friedlich, wie sich das anhört, verläuft sein Weg nicht, denn da gibt es jemanden im Bundesamt, der ihm und den übrigen Heilern übelwill. Zu dumm darüber hinaus, dass etwas mit seiner Erinnerung nicht stimmt.

 

Mein besonderer Dank gilt Melanie Lübker für ihre Unterstützung in der finalen Phase der Umsetzung dieser Geschichte.

 

 

Copyright © 2015 David Pawn

[email protected]

Michael Siedentopf

Schweizer Str. 40

01069 Dresden

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Umschlagmotive: © Shutterstock / lanych – 170428316, Kostenko Maxim – 108920759, Ekaterina Gerasimowa – 291864575All rights reserved

 

ISBN-13: 978-3754604083

Wie Sophus Harfenklängen lauscht

Sophus und Lyra saßen gemeinsam auf einem Felsen am Rand der Klippen von Moher. Sie lauschten einer Künstlerin, die Balladen auf der irischen Harfe vortrug und dazu sang. Lieder so voller Schmerz, dass man eigentlich tot sein musste, wenn einem bei diesen Klängen keine Tränen in die Augen traten.

„Und sie ist doch eine Banshee“, zischte Sophus seiner Geliebten zu.

Die schüttelte nur den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. Gemeinsam folgten sie der Musik und blickten über die Klippen hinweg auf das Meer hinaus. Um sie herum wirbelten und wuselten Touristen, bis an die Zähne mit Kameras, Smartphones und Videoausrüstungen bewaffnet, aber die sphärischen Töne erlaubten es, all den Trubel einfach auszublenden, und sich der Schönheit des Augenblicks hinzugeben. Ein paar der nichtmagisch Begabten wurden wie sie von den Klängen eingefangen, standen plötzlich lauschend, als wären sie durch ein magisches Tor in ein Reich der Besinnung eingetreten. Ihr Atem wurde ruhiger, die Hektik des Amüsements fiel von ihnen ab, sie befanden sich für ein paar Minuten da, wo sie eigentlich immer hatten sein wollen, damals, als sie die Reise nach Irland geplant hatten – an einem mystischen Ort der Erholung und Entspannung.

„Aber das ist Magie“, sagte Sophus, als die letzten Töne der Harfe im Wind zerstoben.

„Ja“, erwiderte Lyra. „Die Magie der Musik. Uralt, älter als alle Zaubersprüche und auch den nichtmagisch Begabten bekannt. Es hat etwas mit den Oberschwingungen unseres Gehirns zu tun. Wir Zauberer empfinden es nur stärker als die anderen Menschen, weil bei uns andere Gehirnregionen aktiver arbeiten. Frag Katenbauer, der hält dir einen zweistündigen Vortrag darüber.“

Sie hatten sich frei genommen, nachdem Heiler Gregorius Katenbauer und seine frisch Angetraute, Stephanie, aus den Flitterwochen in den Harz heimgekehrt waren. Wenn Sophus an die Hochzeit des Heilers zurückdachte, beschlich ihn jedes Mal ein Gefühl der Unsicherheit. Er fragte sich, ob in der Woche zuvor tatsächlich Teile seiner Erinnerung manipuliert worden waren. Lyra hielt das für höchst unwahrscheinlich. Es stimmte, die Technik der Illusionierung wurde noch immer bei nichtmagisch Begabten, einige Magier nannten sie weiterhin Muggel, angewandt, wenn sie mit Zauberei in Kontakt gekommen waren, aber warum sollte ein Magier einen anderen eines Teils seiner Erinnerungen berauben?

Aber Sophus war inzwischen davon überzeugt, dass er ein Wissen besessen hatte, gefährlich genug, dieses aus seinem Hirn zu tilgen. Und nur Katenbauer wäre skrupellos genug, so eine Maßnahme durchzuziehen, wenn er sie für notwendig erachtete. Heilung um jeden Preis galt als seine Devise. Er würde sich für die Gesundung eines Patienten den eigenen Arm abhacken oder den Arm des Kranken, wenn das erforderlich schien. Ohne Betäubung – versteht sich.

Am Tag nach Katenbauers Rückkehr in den Harz setzte sich Sophus in der Kantine an dessen Tisch, um ihm erneut auf den Zahn zu fühlen. Dieser hatte offenbar geahnt, was Sophus beschäftigte, denn er leitete selbst auf das Thema über.

„Wie war Ihre Befragung?“, wollte er wissen.

Sophus verstand, anders als sonst oft, sofort, dass der Heiler auf die Befragung unter Einfluss von Veritaserum in den Räumen des Bundesamtes anspielte. Dabei ging es um die erneute Flucht des inzwischen weltweit gesuchten Magiers Tiberius Weissner, diesmal gemeinsam mit einer Freundin aus Sophus‘ Schultagen. Diese Hexe, Paula Krumholtz, hatte für eine Spezialabteilung des Bundesamtes als Arithmantikerin gearbeitet, bevor sie mit Weissner, den sie schon immer bewundert und geliebt hatte, flüchtete und dabei zwei Auroren und Katenbauer mit dem Imperius-Fluch belegte. Kein Wunder, dass das Bundesamt wissen wollte, was auf der Heilerstation bei Drei Annen Hohne vorgefallen war.

Die Fachabteilung mit besonderen Instruktionen befand sich in einem abgelegenen Winkel des Gebäudes. Galten Räume des magischen Architekten Cleaver ohnehin als verzwickt gestaltet, offenbarte dieser Bereich des Bundesamtes eine labyrinthartige Struktur, die es jedem unangemeldeten Besucher unmöglich machte, bis in die Büros der Abteilung vorzudringen. Man konnte tagelang durch scheinbar endlose Korridore irren, vorbei an immer den gleichen Türen ohne Klinken. Hin und wieder sprang eine von diesen auf, offenbarte einen völlig leeren Raum oder einen weiteren Korridor, schloss sich jedoch augenblicklich, wenn man auf sie zu trat. Sophus wurde von einem Mitarbeiter des Bundesamtes am Empfang abgeholt und zur Befragung geleitet. An einer der Türen, die genau so aussah wie die vielen zuvor, schwenkte der Mann den Zauberstab. Diese Tür sprang keineswegs auf. Sie verschwand einfach.

Der Raum, der sichtbar wurde, erinnerte an einen Untersuchungsraum in der Heilerstation. Eine Liege stand in der Mitte, daneben ein Aquarium mit einem Kardio-Grafen, einem Oktopoden, der sich von Herztönen ernährte. Auf der anderen Seite weitere medimagische Geräte. In der Ecke ein kleines Becken zur Erinnerungsanalyse, ein Denkarium. Neben diesem hantierte ein Mann in einem hellgrünen Umhang der Heilerzunft. An der Liege standen mit strengem Blick die Mitarbeiter des Bundesamtes Eichel und Ecker, an die Sophus sich noch von deren Besuch in der Heilerstation erinnerte. Zwei Typen, die böser Cop und böserer Cop spielten, wenn sie einen befragten. Vielleicht waren sie auch wirklich so.

Sophus fasste nach Lyras Hand, als er mit seiner Erinnerung soweit gekommen war. Sie schaute in sein Gesicht, strich ihm in einer zärtlichen Geste eine vorwitzige Locke aus der Stirn und sagte: „Du grübelst zu viel, Liebster.“

Sophus seufzte. Er lehnte sich an seine Geliebte und versuchte, seine Gedanken den Klängen der Musik zu überlassen, die über die Felsen auf das Meer trieben. „I wish I was in Carrikfergus …“

Er lag wieder auf der Liege in diesem Verhörraum. Der Heiler schloss ihn an den Oktopoden an, gab ihm den Wahrhaftigkeitstrank und zog sich in den Hintergrund zurück. Dann prasselten die Fragen von Eichel und Ecker auf ihn nieder wie Hagel. Hämmerten auf ihn ein, schlugen in sein Hirn. Schmerzhaft, quälend, immer wieder. Immer die gleichen Fragen. Was an jenem Tag passiert war, als Weissner erneut floh. Ob er von Paulas und Tiberius‘ Plänen gewusst habe? Was er gewusst habe? Aber er wusste doch nichts. Wie sein Verhältnis zu Paula Krumholtz gewesen sei? Freundschaft, nur Freundschaft! Das könne nicht stimmen! Doch! Ein Karussell aus Fragen, ein irrer Tanz mit einem Refrain, der im Gehirn Kribbeln erzeugte. Man wollte sich unter der Schädeldecke kratzen, aber das ging natürlich nicht. Als der Heiler schließlich abbrach und Sophus samt Liege in einen anderen Raum geflogen wurde, fand er Haare zwischen seinen Fingern. Er musste sie ausgerauft haben, während man ihm zusetzte.

Er hatte Katenbauer in der Kantine bruchstückhaft davon berichtet. Nur die Fakten, nicht seine Gefühle bei der Prozedur. Diesen Drang zu reden und zu reden, nur um keine neuen Fragen hören zu müssen. Weil Fragen schmerzten. Die Gewissheit, dass es da Lücken in seiner Erinnerung gab. Dieses Gefühl, er wühle in einem Haufen alter Kleider, verzweifelt nach einem bestimmten Stück suchend, gewiss es müsse in diesem Koffer, dieser Truhe sein, aber es befand sich nicht darin, blieb verschwunden. Nur dass es sich nicht um einen mottenzerfressenen Mantel handelte, sondern um einen Teil seines Lebens.

„Sie brauchen Urlaub“, hatte Katenbauer nur gesagt. „Ich werde Eikendorff empfehlen, Sie ein paar Tage fortzuschicken. Suchen Sie sich eine Gegend aus, wo man Ruhe und Frieden finden kann. Sie müssen diese ganze Angelegenheit hinter sich lassen. Sehen Sie mich an. Mir hat man mit dem Imperius-Fluch zugesetzt, aber ich habe es gut verkraftet. Weil ich eine wirklich entspannende Hochzeitreise hinter mir habe.“ Er zwinkerte Sophus zu. „Unglaublich entspannend.“

„Wird man Sie auch unter Veritaserum befragen?“, wollte Sophus wissen.

„Das will ich doch nicht hoffen“, sagte Katenbauer. „Ich habe zu viele dunkle Geheimnisse, wissen Sie.“ Er lachte. „Da ich dem Heilergeheimnis unterstehe, dürfte es nicht leicht sein, eine entsprechende Verfügung zu erwirken. Ich könnte Dinge ausplaudern, die Patienten schaden. Was glauben Sie wohl, warum man sich ausgerechnet an Ihnen vergriffen hat?“

„Ich dachte, weil ich Paula von früher kenne und weil ich mal auf Sylt war.“ Sophus meinte Sylt II, die deutsche magische Haftanstalt.

Katenbauer schnaubte. „Das auch. Außerdem gibt es da eben dieses unwesentliche Detail, dass Sie kein Heiler sind. Da kamen diese Burschen viel einfacher an die Verfügung. Aber jetzt haben Sie es überstanden. Ich sage es gern noch einmal. Machen Sie sich ein paar gemütliche Tage. Am besten am Meer. Der beruhigende Klang der Wellen, die gute Luft. Das Labor kommt gut ein paar Tage ohne Sie aus. Stephanie ist schließlich auch wieder da.“

Und so kam es, dass er gemeinsam mit Lyra eine Reise nach Galway plante, dorthin, wo Europa endet.

Er blickte hinaus zum Horizont. Irgendwo am anderen Ende dieses Ozeans lag Amerika, wo man Tiberius Weissner und Paula Krumholtz vermutete.

Es gab seltsame Transaktionen an den Börsen der nichtmagisch Begabten. Unerwartete Kursschwankungen. Und jemand nutzte diese aus, um an Geld zu kommen. Die Börsenaufsicht schaltete sich ein, befragte das Konsortium, das diese Bewegungen verantwortete. Sie hätten einen neuen Analysten, er arbeite mit völlig neuartigen Methoden, sehr erfolgversprechend, wie man deutlich sehen könne. Man wollte mit diesem Wunderknaben der Finanzwirtschaft reden. Keine Chance. Wenn etwas Strafbares vorliege, könnten sie wiederkommen, so aber … Schulterzucken. Die Zaubererschaft wurde aufmerksam, aber als man sich dem seltsamen Börsenexperten näherte, verschwand dieser spurlos. Die Finanzmagnaten waren untröstlich, sie hatten wohl nicht genug Geld gescheffelt, um den Verlust zu verschmerzen. Einfluss eines Zaubertrankes? Fehlanzeige. Diese Leute waren von Natur aus gierig.

Kurz vor ihrer Abreise hatte Lyra mit Katenbauer gesprochen. Sophus so still und in sich gekehrt zu erleben, beunruhigte sie. Sie berichtete ihm von dem Gespräch. Aber eigentlich gab es da gar nichts zu erzählen. Katenbauer wiegelte ab. Der Stress der letzten Wochen, die Enttäuschung über das Verhalten seiner ehemaligen Schulfreundin, das aggressive Vorgehen des Bundesamtes – kein Wunder, dass er etwas von der Rolle sei. Seine Erinnerung? Er könne ihn sich ja mal ansehen oder einer der Heiler aus der Sechsten, falls sie oder Sophus ihm nicht vertrauten. Der lehnte ab, kein Heiler würde etwas finden, wenn wirklich Katenbauer an seinen Erinnerungen herumgespielt hatte. Der wusste, wie er vorgehen musste.

„Woran denkst du?“, fragte Lyra.

„Ob Weissner wohl dort drüben ist“, sagte Sophus und deutete mit dem Kinn übers Meer.

„Vergiss den alten Zausel.“ Lyra nahm sein Gesicht in beide Hände, drehte es zu sich herum und küsste ihn.

Sophus gab sich Mühe, ihrem Wunsch zu entsprechen. Es schien wirklich sinnlos, sich den Kopf zu zermartern. Entweder gab es wirklich nichts oder man hatte gründlich entfernt, was es einst gegeben hatte. Illusionierung – das klang wirklich harmlos, beinahe romantisch. Sich einer Illusion hingeben, einem Traum, einer Vorstellung. Die nichtmagisch Begabten besaßen ein viel passenderes Wort – Gehirnwäsche. Sauber und fleckenfrei strahlte es, aber auch steril, unpersönlich, ohne Vorgeschichte. Dabei handelte es sich bei Sophus nur um ein paar Stunden, an die er sich nicht mehr erinnerte. Wie mussten sich die nichtmagisch Begabten fühlen, bei denen man ein paar Tage löschte, weil sie diese in der Heilerstation verbracht hatten. Ja, die Technik war weit fortgeschritten, man konnte große Zeitspannen verändern und ergänzen, mit neuem Inhalt füllen. Aber das, so schien Sophus, war bei ihm nicht für notwendig erachtet worden. Vielleicht hatte einfach die Zeit gefehlt. Warum nur? Was war so schlimm, dass er sich nicht mehr erinnern durfte?

Er spürte, dass seine Gedanken Karussell fuhren, sich sinnlos im Kreis drehten. Er musste das endlich hinter sich lassen. Egal was geschehen war, es war vorbei. Er erinnerte sich nicht mehr, vielleicht zu seinem Vorteil. Er würde die letzten beiden Tage hier in Irland genießen. Er lächelte Lyra zu, sie küssten sich erneut. Die Harfe umspann sie mit einem Kokon aus Musik. „… you cannot change what’s over, but only where you go …“

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kehrten sie ins Hotel zurück. Für magische Reisen in fremde Gefilde gab es seit einiger Zeit eine neue Technik, die man Apparierkarten nannte. Da man zum Apparieren den Zielort visualisieren musste, kam diese magische Art der Reise bei Urlaubsfahrten in fremde Länder eigentlich nicht in Frage. Portschlüssel wurden nur für große Gruppen vergeben, Besenflüge nahmen Zeit in Anspruch. Also blieb Magiern im Urlaub oft nichts anderes übrig, als sich wie nichtmagisch Begabte mit Flugzeugen, Zügen und Bussen zu behelfen. Aber seit drei Jahren boten die magischen Reisebüros die Apparierkarten an. Es handelte sich um postkartengroße Abbildungen des Zielobjektes. Schon auf diese Art konnte die Visualisierung besser erreicht werden. Hinzu kam eine magische Behandlung, die das Apparieren im Zielgebiet vereinfachte. Die Technik stammte von der Konstruktion von Portschlüsseln, barg aber nicht deren Gefahren, da eine Person ohne Apparierfähigkeit nicht einfach an das Ziel gesaugt wurde. Mit dieser Technik gelang es sogar Sophus, ohne größere Probleme am Hotel zu erscheinen. Nun gut, er stand mit beiden Beinen in einem kleinen Teich am Haus, seine Schuhe liefen voll Wasser, aber das ließ sich mit einem Trocknungszauber schnell beheben.

Lyra lachte, schüttelte den Kopf und schwenkte den Zauberstab, ehe sie sich ins Hotel begaben.

Dieses Haus hatte Sophus vom ersten Augenblick an begeistert. Er konnte gar nicht glauben, dass es von nichtmagisch Begabten geführt wurde, so viel Zauber strahlte es aus. Es schien, als trete man in eine andere Ära, wenn man über die Schwelle schritt. Die Lobby erinnerte an einen Salon aus viktorianischer Zeit. Gold und roter Plüsch, wohin man auch blickte.

Sophus sagte: „Man erwartet förmlich Hercule Poirot dort sitzen und mit Miss Marple diskutieren zu sehen.“

„Wer ist das denn?“, fragte Lyra.

„Ein belgischer Detektiv und eine ältere, strickende Dame, die Mordfälle löst“, sagte Sophus, ohne weiter darüber nachzudenken.

„Was du so für Leute kennst. Barbekanntschaften?“

„In gewisser Weise“, erwiderte Sophus und erklärte ihr, dies seien Figuren einer Muggelschriftstellerin. Er sagte tatsächlich Muggel und erntete einen grimmigen Blick. Die Dame sei zu ihrer Zeit genau so berühmt für ihre Werke gewesen wie Minerva unter ihrem Pseudonym in der gegenwärtigen für die Potter-Memoiren.

„Die hast du in einer Bar in Wernigerode kennengelernt?“ Lyra klang ungläubig.

Sophus schüttelte den Kopf. „Bloß eine Lektorin. Ihre Spezialität waren Kriminalromane und … ach, egal.“ Er winkte ab. Lyra musste nicht all seine früheren Bettgeschichten haarklein erfahren.

Sie traten ins Foyer, Lady Gregory, die Namenspatronin des Hauses, lächelte von einem unbeweglichen Porträt auf sie herab, als sie an die Rezeption traten.

Die Dame auf der anderen Seite wandte sich um und trat mit dem Zimmerschlüssel und einem Brief in der Hand wieder zu ihnen.

„Sie haben übrigens Post. Sie sind doch Frau Doktor Bascomb?“

Lyra nickte, obwohl sie keineswegs den Titel der nichtmagisch Begabten führte. Aber wenn man als Heiler mit diesen zu tun hatte, nutzte man diese Anrede oft genug, um mit ihr vertraut zu sein.

Lyra nahm den Brief in Empfang. Sophus sah sie staunend die Augen aufreißen. Da prangte der spezielle Briefkopf der Heilerstation für die nichtmagische Welt. Allerdings fehlte die Briefmarke. Dieser Lapsus wäre Eikendorff niemals unterlaufen.

„Wurde hier abgegeben“, sagte die Dame und lächelte verkrampft. „Ist ein bisschen seltsam“, erklärte sie. „Man hätte denken können, ein Rabe habe ihn gebracht. Hockte damit vor der Eingangstür. Verrückt, nicht wahr?“

Lyra lachte pflichtschuldig und nickte. Sie beugte sich zu Sophus und raunte: „Was ist denn zu Hause los?“, und wedelte mit dem Brief vor seiner Nase herum.

„Nicht gut?“, fragte der.

„Gar nicht gut. Komm wir gehen aufs Zimmer und schauen nach. Ich ahne allerdings, dass unser Urlaub gerade beendet wurde.“

Auf dem Weg bereits riss Lyra das Kuvert auf und blickte auf die wenigen Zeilen, die da in der gestochen scharfen Handschrift einer magischen Feder geschrieben standen.

„Katenbauer ist suspendiert“, sagte sie.

„Suspendiert? Was bedeutet bei euch Heilern suspendiert?“ Sophus konnte nicht glauben, richtig verstanden zu haben. Das Wort musste eine Bedeutung haben, die ihm fremd war.

Lyra zog den Zimmerschlüssel aus der Handtasche und öffnete die Tür, ehe sie antwortete. „Es bedeutet genau das, was es immer bedeutet.“ Die Tür fiel ins Schloss wie ein Schlussakkord. „Das Bundesamt hat seinen Heilerstatus aufgehoben. Stephanies auch. Außerdem ist Eikendorff seines Amtes enthoben worden. Er besetzt jetzt Katenbauers Stelle. Ich soll Stephanie ersetzen.“

„Und wer leitet die Heilerstation?“ Sophus war verwirrt. Er griff nach dem Schreiben und blickte auf die Worte, die da geschrieben standen. Vielleicht entpuppte sich das alles als ein makabrer Scherz.

„Willemsen?“ Sophus schüttelte den Kopf, als er die Unterschrift und den zugehörigen Titel, kommissarischer Leiter der Heilerstation, las. „Was, bei Voldemort, ist da los?“

„Wir werden es erfahren, wenn wir wieder daheim sind.“ Lyra zuckte mit den Schultern und steckte den Brief in ihre Handtasche.

„Aber …“ Sophus wusste nicht, was er eigentlich sagen wollte. Tausend Gedanken schossen durch seinen Verstand. Eikendorff kam doch mit dem Bundesamt immer blendend aus. Was musste Katenbauer angestellt haben, dass man ihn tatsächlich suspendierte? Hatte er einen Patienten auf dem Gewissen? Aber warum Stephanie?

„Irgendetwas stinkt da gewaltig“, sagte Lyra. „Schon bevor wir abgeflogen sind, benahm Katenbauer sich seltsam.“

„Katenbauer benimmt sich immer seltsam.“

„Ja, aber er war anders. So …“ Lyra unterbrach sich und suchte offenbar nach dem korrekten Wort. „Grüblerisch und beunruhigt“, sagte sie schließlich. „Du weißt, wie sehr es mich verstört, wenn Katenbauer einen beunruhigten Eindruck macht. Das ist wie eine Massenflucht von Tieren, ehe ein Erdbeben beginnt.“

„Scheint so, als habe das Erdbeben stattgefunden“, erwiderte Sophus. Er schwenkte den Zauberstab und zitierte den Koffer herbei.

Gemeinsam ließen sie ihre Sachen aus den Schränken schweben und sich selbst verpacken. Manchmal erwies sich das Dasein eines Zauberers als wesentlich bequemer als jenes der nichtmagisch Begabten.

„Ich hatte mich so auf Connemara gefreut“, sagte Lyra und seufzte. „Kylemore Abbey muss ein herrliches Fleckchen sein.“

„Das holen wir nach“, sagte Sophus und tätschelte ihre Wange. „So verrückt können die im Bundesamt gar nicht geworden sein, dass nicht spätestens in vier Wochen alles wieder beim Alten ist.“

Lyra schwenkte den Zauberstab in einer finalen Geste und der Koffer schnappte zu. „Ich frage mich, ob du nicht doch recht hattest.“

„Womit?“

„Damit, dass du zu viel wusstest. Damit, dass Katenbauer dein Gedächtnis manipuliert hat. Letzteres wäre zumindest ein Grund ihm die Lizenz wegzunehmen. Aber …“ Sie brach ab.

„Was aber?“

„Was sollst du gewusst haben, dass er zu so einer Maßnahme gegriffen hat?“

Sophus lachte ein wenig gequält. „Genau das kann ich dir nicht verraten. Wenn es etwas gibt, hängt es mit Weissner zusammen und mit diesem Weber vom Bundesamt. Paula hat irgendwelche Analysen für diesen Typen durchgeführt. Sie hat es uns erzählt, als Weissner und ich mit ihr gefeiert haben. Aber ich habe auch das vergessen.“

„Das ist nun wirklich kein Wunder. So wie ihr da gebechert habt. Na komm, wir zahlen die Rechnung und machen uns auf den Heimweg. Hast du deine Apparierkarte Richtung Dublin?“

Sophus zog das gute Stück aus einer Umhangtasche. Er sah nicht sehr glücklich aus bei der Vorstellung, eine so große Distanz mit Hilfe von Willenskraft zurückzulegen. Die neue Magie half ihm, aber ursprünglich sollte es auf der Rückreise eine Zwischenstation geben. Durch die plötzliche Planänderung lag nun der doppelte Weg vor ihm.

„Ich hake dich unter, wie hört sich das an?“

„Gut“, sagte er matt.

„Du wirst sehen, in ein paar Stunden sind wir am Tube und damit praktisch schon wieder zu Hause.“ Lyra versuchte, ihrer Stimme den beruhigenden Klang zu geben, der auch bei den Patienten stets half. „Ich werde sofort von Dublin aus mit der Heilerstation reden. Am Tube gibt es einen öffentlichen Zugang zum Flohnetzwerk.“

„Das gefällt mir alles überhaupt nicht“, sagte Sophus.

„Mir auch nicht, mein Schatz, mir auch nicht. Trotzdem gehe ich jetzt das Zimmer abmelden.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zur Tür, um die Rezeption aufzusuchen.

Einige Stunden später kamen sie wohlbehalten in Dublin an. Die Apparierkarten halfen Sophus tatsächlich ausgezeichnet, ein anvisiertes Ziel zu erreichen. Gemeinsam mit Lyra erschien er hinter einem Busch in St. Stephen’s Green, nahm ihr Gepäck auf und sie machten sich auf den Weg zur irischen Hauptstation des Tube.

Deren Zugang befand sich am Merrion Square direkt gegenüber dem Oscar-Wilde-Denkmal in einem durch den Fidelius-Zauber geschützten Haus. Als Geheimniswahrer fungierte in diesem Fall das Ministry for Fairieship and Witchcraft of the Republic of Ireland, das Irische Hexen- und Feenministerium, welches die notwendigen Informationen an Zauberer und Hexen aus dem In- und Ausland weitergab.

Der Ort des Zugangs war keineswegs zufällig, denn der Dichter, der auf den gregorianischen Bau mit der typischen Tür blickte oder auch nicht, wenn dieser gerade verborgen war, hatte in jungen Jahren bei Experimenten mit bewusstseinserweiternden Kräutern Interviews mit Geistern geführt, die er später in einer seiner bekanntesten Erzählungen verarbeitete. Sodass, wenn er auch zur nichtzaubernden Bevölkerung des Landes gehört, er innigen Kontakt zur magischen Welt gepflegt hatte.

Lyra sprach das Passwort, das Haus erschien an der üblichen Stelle. Sie schritten durch die orange-grün geteilte, von weißen Säulen gerahmte Tür und fanden sich in der gleichen Hektik wieder, die an allen Orten der Welt herrscht, wo Menschen, von Reiselust getrieben, darauf warten, dass endlich ihr Beförderungsmittel zur Stelle ist – egal, ob dieses ein magisches ist oder ein Bus, Zug oder Flugzeug. Leute umarmten und küssten sich zur Begrüßung oder zum Abschied. Schilder mit Namen wurden in die Luft gereckt, um Ankömmlinge aufmerksam zu machen. Koffer und Taschen schwebten in allen Richtungen Zauberern und Hexen hinterher. Immer wieder erklang der Aufruf: „Attention! Attention!“ und anschließend eine Durchsage, die nur sehr geschulte Einheimische verstehen konnten, denn bei dem Idiom handelte es sich weder um Englisch noch um Irisch, sondern um jene spezielle Sprache, die nur Lautsprecher- beziehungsweise Sonorusdurchsagen hervorbringen. Es klingt, als verspeise der Sprecher nebenbei einen Knödel, der halb in seinem Kehlkopf feststeckt.

Ein Blick auf eine Anzeigetafel beschied ihnen, dass sie noch eine Stunde Geduld aufbringen mussten. In Sophus‘ Magen machte sich ein Gefühl breit, als müsse er eine Stunde auf einen Ausflug in die Hölle warten. Er ertappte sich nicht zum ersten Mal bei dem Gedanken, dass nichtmagisch Begabte angenehmere Formen des Reisens erfunden hatten als Zauberer.

Sie saßen keine fünf Minuten auf einer Bank des Wartebereiches, da wühlte Lyra in ihrer Reisetasche. Sie förderte zwei Zeitschriften zu Tage, drückte eine davon Sophus in die Hand und sagte: „Hier lies etwas. Du machst mich sonst ganz irre mit deinem Gezappel.“

Sophus warf einen halbherzigen Blick auf das Titelblatt. Ach ja, die aktuelle Ausgabe des „Lila Kessel“. Er hatte sie in Berlin am Tube gekauft, da sie auch dort warten mussten, aber dann kam ihre Kugel schneller als vorgesehen.

„Die zehn größten Geheimnisse der Tränkebraukunst“, schrie die Überschrift. Ein Kessel blubberte fröhlich vor sich hin und ließ grünen Dampf aufsteigen. Sophus atmete tief ein und aus, um genug Ruhe zu finden, ein paar Zeilen zu lesen.

„Hast du wirklich solche Angst?“, fragte Lyra und sah ihn besorgt an.

„Nein, nein“, log er, schlug die Zeitschrift auf und versteckte sich dahinter.

„Das wäre etwas für dich“, sagte er nach ein paar Minuten. Die Lektüre beruhigte seinen Geist tatsächlich. Er hielt Lyra die aufgeschlagenen Seite unter die Nase. Diese blickte von dem Artikel auf, den sie selbst gerade las.

„Schau!“ Sophus deutete auf einen Absatz. „Antiage“, stand dort zu lesen. „Die Liste der prognostizierten, aber noch nie gebrauten Tränke führt eine Mischung an, die das Altern verhindern soll. Anders als der bekannte ‚Stein der Weisen‘ verspricht sie nicht nur ein langes Leben, sondern jugendlichen Teint, volles Haar und gesunde Zähne für alle Zeiten.“

„Und ich dachte, du würdest mich dereinst auch lieben, wenn das alles in der Vergangenheit entschwunden ist“, erwiderte Lyra.

„Werde ich, werde ich“, beeilte sich Sophus, zu erwidern. „Aber träumt ihr Frauen nicht von genau diesem Trank?“

„An manchen Tagen schon.“ Lyra nickte versonnen.

Sophus las weiter. „Das wäre etwas für Möbius.“ Er tippte auf eine Stelle in der Zeitschrift. Lyra sah ihn schmunzelnd an.

„Die Idee eines sogenannten Tracers stammt von Ignatius Bergander, dem berühmtesten österreichischen Tränkebrauer. Er postulierte einen Trank, der es ermöglichen soll, Gedanken festzuhalten. Anders als bei der Erinnerungsentnahme soll hierdurch der Gedanke konzentriert und an Ort und Zeit gebunden werden. Damit wäre es möglich, Ideen fest in Ort und Zeit zu verankern und vor Diebstahl zu schützen. Es würde auch ein Wiederfinden von Objekten erheblich erleichtern, man müsse nur den letzten Gedanken an sie mit einem Tracer koppeln, so dass dieser Gedanke nicht abirren kann. Man geht davon aus, dass ein so behandelter Gedanke ähnlich einer Erinnerung erscheinen, aber mit Reflexen behaftet sein würde. Ein Tracer durchzieht einen Gedanken wie der sprichwörtliche rote Faden“, las Sophus vor.

„Aber das ist nur graue Theorie, oder?“, sagte Lyra.

„Zurzeit ja, aber es gibt immer findige Tränkebrauer, die etwas Neues ausprobieren.“ Seine Augen leuchteten für einen Moment auf und Lyra verstand. Sophus träumte davon, sich eines Tages in die Liste der Zauberer und Hexen eintragen zu können, die zumindest geholfen hatte, so einen schwierigen Trank zu erzeugen.

Er schaute zu ihr hinüber und auf den Artikel in einer medimagischen Zeitschrift, den sie gerade las. „Unechter Vampirismus im Harz auf dem Vormarsch“, stand da.

„Was sind denn unechte Vampire?“, fragte Sophus.

„Weißt du, was echte Vampire ausmacht?“, antwortete Lyra mit einer Gegenfrage.

„Die trinken Blut und fürchten sich vor Knoblauch.“

Lyra streichelte Sophus‘ Wange und schüttelte den Kopf. „Also, echter Vampirismus wird durch Mikromonster, sogenannte Viren, erzeugt, kann aber auch vererbt werden, da sich diese nicht nur im Rückenmark, sondern auch in der Prostata der Vampire festsetzen. Die Symptome sind allgemein bekannt. Blutdurst, sexuelle Enthemmtheit, Lichtscheu, Wasserscheu, Verlust des Spiegelbildes, Fähigkeiten zu Animagie und Hyperaktivität.“

„Ja, das habe ich schon mal gehört. Nicht ganz so wissenschaftlich allerdings. Sind eben Blutsauger.“

„Stimmt. Und leider unheilbar. Man muss sie wegsperren, weil sie durch ihren Biss andere Menschen anstecken oder gar töten. Früher wurden sie gepfählt oder verbrannt, da man sie für Verbündete des Teufels hielt. Man wusste nicht, dass es sich nur um eine Krankheit handelt. Das mit dem Knoblauch ist allerdings Aberglaube. Es gibt jedoch die Vermutung, dieser könne im Frühstadium die Viren vertreiben. Man weiß nur nicht, wie man das untersuchen soll.

Unechter Vampirismus ist im Gegensatz dazu heilbar. Er führt auch nicht zu so extremen Veränderungen der Persönlichkeit. Eigentlich ist es eine ganz andere Krankheit. Die Betroffenen leiden nur, wie Vampire, unter Blutarmut und Lichtscheu. Hin und wieder beißen sie andere Menschen. Auslöser ist ein Parasit, der sich in der Leber festgesetzt hat und diese teilweise auffrisst. Daher sein Name: Leberfresser. Er befällt nur Zauberer, Hexen und Schweine.“

„Das ist eine interessante Zusammenstellung“, sagte Sophus.

„Die Schweine dienen dem Parasiten als sogenannter Zwischenwirt“, dozierte Lyra, während Sophus mit ihrem Haar spielte.

„Da trinkt er sich Mut an für uns Zauberer.“

„Du alberner Kerl. Das ist ernste Medimagie. Im Westharz gibt es offenbar vermehrt Fälle von Leberfressern. Soweit ich weiß, sind bei uns noch keine in der Heilerstation gelandet. Zum Glück ist ein Befall recht leicht zu diagnostizieren, denn die Betroffenen erleiden ziemlich heftige Schmerzen in der Frühphase, wenn der Parasit sich durch das Gewebe bohrt. – Schau mal!“ Lyra deutete zur Anzeigetafel.

„Mir wird jetzt schon schlecht“, sagte Sophus. Ihre Tubeverbindung war bereit.

„Ich bin doch bei dir“, sagte Lyra und nahm seine Hände in ihre. „Außerdem geht es rasend schnell.“

„Ich vermute, genau das ist das Problem.“ Sophus erhob sich und nahm das Gepäck. Wie zur Schlachtbank geführt folgte er seiner Geliebten.

Wie Sophus aktuelle Entwicklungen erfährt

Zwölf Stunden später landeten Sophus und Lyra mit ihren Besen gemeinsam auf dem Dach der Heilerstation Drei Annen. Sie verstauten die Fluggeräte im Regal neben der Tür zum Treppenhaus und stiegen in die fünfte Etage hinab. In jene Abteilung, in die man den ehemaligen Leiter der Heilerstation verbannt hatte.

Seit er einmal zu freigiebig mit Informationen gegenüber der Presse hantiert hatte, war Lyra nicht besonders gut auf Heiler Willemsen zu sprechen. Eine Kapazität in seinem Fachgebiet, gewiss, aber im Umgang mit administrativen Problemen eher eine Maus. Kein Wunder also, dass sie sich dafür entschied, zunächst mit Heiler Eikendorff zu reden, dessen Fähigkeiten als Leiter sie weitaus mehr schätzte.

Dieser saß in Katenbauers ehemaligem Büro und ließ eine magische Feder emsig über Papiere sausen, als sie eintraten. Er hob den Kopf, lächelte unverbindlich und winkte sie herein.

„Gut, dass sie da sind“, sagte er. „Setzen Sie sich.“ Er wies auf die Sessel ihm gegenüber. „Wie war die Rückreise?“

Sophus wurde blass, als er an den Tube zurückdachte. Diese Art der Fortbewegung schlug ihm jedes Mal auf den Magen.

„Ganz okay“, sagte Lyra. „Was ist hier los?“

„Das Bundesamt führt den reinsten Gnomzirkus auf, seit Weissner ihnen erneut entwischt ist. Sie geben uns die Schuld, verdächtigen die Heilerstation, mit ihm und dieser Krumholtz gemeinsame Sache gemacht zu haben. Ihr Hauptverdächtiger ist natürlich Katenbauer. Der tut aber auch alles dafür, für den Gauner vom Dienst gehalten zu werden. Beschimpft die Beamten, verweigert jede Antwort.“ Eikendorff blickte zu Sophus hinüber. „Erinnern Sie sich an diesen Weber?“

„Ja, klar.“

„Dem hat Katenbauer ein Duell angeboten. Ich musste ihn zurückhalten, sonst hätte es direkt hier im Flur stattgefunden. Das konnte nicht gutgehen.“

„Aber warum hat man Stephanie suspendiert und Sie hierher gesetzt?“, fragte Lyra.

„Stephanie? Das ist Sippenhaft. Und ich habe versucht, mit dem Obersten Rat zu reden. Habe mich dafür starkgemacht, die Heilerstation endlich in Ruhe zu lassen. Aber der ist seit seinem Abenteuer in China offenbar Webers bester Kumpel. Ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Wenn die Fachabteilung mit besonderen Instruktionen eine Befragung unter Veritaserum für erforderlich hält, würde man diese durchsetzen und so weiter und so fort. Ich habe versucht, dem Obersten Rat zu erklären, dass das Heilergeheimnis nicht aufgehoben wird, nur weil einer mal ein paar Tage kein Heiler ist. Habe ihm gesagt, ich würde mich an das Gericht des Bundesamtes wenden, wenn sie versuchen, das durchzudrücken. Fehler, großer Fehler.“ Er hob resignierend die Arme und deutete auf den ihn umgebenden Raum. „Danach durfte ich umziehen.“

„Sie haben Willemsen zum Chef gemacht. Einen, den sie leicht herumschubsen können“, stellte Lyra fest.

Eikendorff nickte. „Gleich an seinem ersten Tag war Weber mit zwei von seinen Beißern hier.“

„Eichel und Ecker“, vermutete Sophus.

„Ja, die beiden. Jeder eine Statur wie ein Kleiderschrank. Gehen zum Lächeln in den Keller. Es hat keine fünf Minuten gedauert, dann hielten sie ein Schreiben in den Händen, das Katenbauers Befragung genehmigte. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Willemsen in seinem Sessel immer kleiner geworden ist. Hatte am Ende vermutlich einen braunen Streifen in der Hose.“

„Was sagt Katenbauer?“

„Er meint, er fürchte sich nicht vor einer Befragung, er wisse schließlich nichts.“

„Gibt es denn etwas zu wissen?“, fragte Lyra, die die andauernden Andeutungen offenbar ebenfalls stutzig machten.

„Nein“, sagte Eikendorff entschieden. „Und wenn wir das dem Bundesamt klargemacht haben, ziehen hier hoffentlich wieder Ruhe und Frieden ein, sodass wir uns um die Patienten kümmern können.“ Er deutete nach unten. „Und ausgerechnet jetzt liefern sie Lucretia bei uns ein.“

„Wen?“, fragten Sophus und Lyra gleichzeitig.

„Lucretia zu Rothenfels, das holde Töchterchen unseres hochgeschätzten Obersten Rates. Ist gestern auf der Station Vier gelandet. Weil sie so ähnliche Symptome zeigte, wie dieser Irre mit Diphterie. Der, der meinte, Impfungen seien Betrug.“

„Sie haben sie aufgenommen?“ Lyra schien fassungslos.

„Ja. Wir sind eine Heilerstation. Erinnern Sie sich, Frau Kollegin? Die junge Dame kam mit akuter Atemnot von der Hohne-Klipp. Ist ihr letztes Jahr. Wir weisen keine Patienten ab, nur weil deren Eltern gerade am Durchdrehen sind.“

„Und, ist es Diphterie?“

„Nein! Darum habe ich Willemsen geraten, Sie und Herrn Schlosser zurückzubeordern. Wir haben eine Zungenprobe, die eindeutig einen Zaubertrank enthält. Nicht nur wässriges Rauschen. Ich brauche eine Analyse. Sagen Sie mir, was die junge Dame eingeworfen hat, damit wir sie schnell als geheilt entlassen können. Vielleicht verschafft uns das ja Gehör bei ihrem Herrn Vater.“

Lyra und Sophus erhoben sich. „Dann machen wir uns mal an die Arbeit“, sagte Lyra. „Wie sieht es in der Abteilung für nichtmagisch Begabte aus?“

„Ist recht ruhig im Moment. Die Ferienzeit ist vorbei. Wenig Touristen im Harz. Saphira ist ja während ihres Urlaubs auch gut klargekommen. Wenn es Schwierigkeiten gibt, wird Willemsen das schon managen.“ Eikendorff grinste. „Er wird hier hochgestürmt kommen und fragen, wie er entscheiden soll.“

Ohne Stephanie Simon, nein, sie hieß ja jetzt Katenbauer, wirkte das Labor verwaist. Ein Laborant reinigte die Gnomkäfige, einer hantierte am Drachenherz-Chromatographen. Sie wurden mit Hallo begrüßt und mit Fragen bestürmt, wie es jetzt weitergehen solle. Lyra erläuterte ihre Vorstellungen. Sie wollte ihre Kraft zwischen Labor und Abteilung für nichtmagisch Begabte aufteilen, Sophus sollte als ihr Verbindungsmann fungieren.

„Hast du mich gerade zum stellvertretenden Laborleiter gemacht?“, fragte er, nachdem die Laboranten sich abgewandt hatten.

„Das bist du bereits, mein Schatz. Es sagt nur niemand. Ich habe es auch nicht gesagt. Kümmere dich bitte um diese Zungenprobe. Ich gehe schnell zu Saphira und schaue auch bei Willemsen vorbei. Der Chef der Heilerstation soll schließlich wissen, dass seine Anweisungen befolgt werden.“ Sie verdrehte die Augen.

„Du hältst nicht viel von Willemsen, oder?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Er beherrscht sein Fachgebiet. Aber jede andere Entscheidung ist für ihn ein Irrwicht. Die Patienten mögen ihn natürlich. Er ist so verständnisvoll, hört sich ihre Tiraden an. Hat immer ein offenes Ohr, wenn sie von Sorgen und Nöten reden, die nichts mit der Erkrankung zu tun haben. Liebeskummer, Eheprobleme, Arbeitsstress – alles kann man bei ihm abladen. Aber als Chef ist er denkbar ungeeignet. Sieht man ja. Jeder kann ihn herumschubsen, wie es ihm passt.“

„Ich glaube nicht, dass er sich um den Posten gerissen hat“, sagte Sophus.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Da hat einer beim Bundesamt nach jemandem gesucht, der sich wie Knete bearbeiten lässt. Meine Güte.“ Sie griff sich in die Haare. „Inzwischen bin ich so weit, ich würde jede Verschwörungstheorie akzeptieren, die mir jemand auftischt. Das kann doch alles kein normales Verfahren mehr sein. Ich habe gedacht …“ Sie unterbrach sich. „Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.“

Sie begann, vor Sophus auf und ab zu gehen.

„Halt, doch!“ Sie hob sie Hand, als melde sie sich während einer Diskussion zu Wort.

---ENDE DER LESEPROBE---