Yersindela - David Pawn - E-Book

Yersindela E-Book

David Pawn

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Beschreibung

Seit anderthalb Jahren sind Lyra und Sophus in Schottland mit Forschungsarbeit beschäftigt, da schneit eines Tages Katenbauer zum Kamin herein und bittet um Hilfe. Sein ehemaliger Mentor liegt auf der Heilerstation im Harz und hat ihn persönlich angefordert. Der bekannte Tierfilmer scheint sich auf seiner vorigen Expedition eine schwere Infektion zugezogen zu haben. Sophus ist glücklich, wieder in den Harz und, wie er es empfindet, sein Labor zurückzukehren. Aber dort ist vieles anders geworden. Der neue Cheflaborant führt sich wie ein kleiner König auf, beschuldigt ihn gar Zutaten für Zaubertränke zu unterschlagen. Sophus nimmt gemeinsam mit Katenbauer den Kampf gegen Krankheiten und böswillige Unterstellungen auf. Die Heilerstation Drei Annen wie die Leser sie kennen und lieben: turbulent, verrückt und voller Überraschungen.

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Yersindela

 

David Pawn

 

Ich entschuldige mich bei allen Fans von Harry Potter, dass ich Ideen und Grundannahmen aus den Büchern von Minerva Mc…, sorry, J. K. Rowling in dieser Geschichte verwendet habe. Seit mehr als achtzehn Monaten arbeitet Sophus nicht mehr an der Heilerstation im Harz, sondern unterstützt seine Frau bei ihren Forschungsarbeiten in Schottland. Aber es ist nicht das gleiche. Er fühlt sich unterfordert, sogar überflüssig. Da kommt es ihm ziemlich recht, dass Katenbauer plötzlich auftaucht und Hilfe benötigt. Wenn er nur nicht von Lyra getrennt wäre …

 

 

 

Copyright © 2017 David Pawn

[email protected]

Michael Siedentopf

Schweizer Str. 40

01069 Dresden

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Umschlagmotive: © Shutterstock / lanych – 170428316, Kostenko Maxim – 108920759All rights reserved

 

ISBN-13: 978-3754604120

Wie Sophus unsanft erwacht

Sophus schreckte auf. Für einige Sekunden wusste er nicht, was ihn geweckt hatte, doch im nächsten Augenblick rumpelte es aus dem angrenzenden Wohnzimmer. Jemand musste über einen Stuhl gestolpert sein und diesen umgeworfen haben. Er glaubte, auch einen Kraftausdruck zu hören. Wer immer da herumschlich, gab sich nicht wirklich Mühe, unbemerkt zu bleiben. Sophus beugte sich zu seiner Frau hinüber, die offensichtlich nichts gehört hatte, denn sie schlummerte weiterhin. Er lächelte für einen Moment dümmlich. Seit anderthalb Jahren hieß er nicht mehr Schlosser und er bereute keine Sekunde.

Fast ebenso lange lebte er gemeinsam mit Lyra jetzt hier in diesem Haus im schottischen Hochland. Es stand abseits der touristisch stark frequentierten Straßen am Loch Ness. Wenn er vor die Tür trat, konnte er das klare Wasser des Sees sehen. Vor einem halben Jahr hatte er in den Morgenstunden einmal einen Blick auf den Kaledonischen Wasserdrachen erhaschen können, der in seinen Tiefen lebte. Ein imposantes Tier mit einem Hals, der jede Giraffe hätte neidisch werden lassen. Sein Schuppenpanzer leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne in alle denkbaren Grüntönen.

Er schüttelte den Gedanken ab und lauschte. Da bewegte sich eindeutig jemand im angrenzenden Zimmer, der sich wohl nicht entscheiden konnte, ob er herumschleichen oder Lärm veranstalten wollte.

Sophus fasste Lyra leicht an der Schulter, beugte sich über sie und flüsterte: „Da ist jemand. Hörst du?“

Ein leises Grummeln kam als Antwort, Lyra öffnete ihre grünen Augen und blinzelte ihn verschlafen an. „Wasn?“, brachte sie mühsam heraus.

„Wir haben Besuch“, raunte Sophus.

„Besuch?“ Lyra griff nach ihrem Zauberstab und projizierte die Uhrzeit an die Decke. Während sie noch die bläulich schimmernden Ziffern anblinzelte, rief jemand im Wohnzimmer: „Lumos!“

„Diese Stimme …“, murmelte Sophus.

Lyra blickte ihn an. „Sag mir, dass das ein Traum ist“, forderte sie ihn auf.

„Fühlt sich irgendwie nicht so an“, erwiderte Sophus.

„Was in Voldemorts Namen treibt er hier um sechs Uhr in der Früh an einem Wochenende?“, verlangte sie zu wissen. Sophus wusste, dass sie keine Antwort von ihm erwarten konnte. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, was ein Gregorius Katenbauer plante. Und seit sie der Heilerstation im Harz den Rücken gekehrt hatten, sprachen sie mit den Katenbauers nur noch hin und wieder über Flohnetzwerk. Eigentlich vermuteten sie den Heiler und seine Frau Stephanie in den sibirischen Wäldern, nicht in ihrem Wohnzimmer auf dem Gelände des Clever-Ness-Institutes für magische Heilkunst und Zaubermedikation.

Das eigentliche Institut erstreckte sich unterirdisch auf einer Fläche von annähernd fünfzig Quidditch-Feldern bis zum See. Es gab sogar einen großen gläsernen Komplex, der bis in diesen hineinreichte. Der Eingang lag hinter einem seit Jahren geschlossenen Souvenirshop mit verstaubten Fenstern und eingefallenem Dach. Jeden Tag traten er und Lyra in einen Miniatursteinkreis und verschwanden nach einem Wink mit dem Zauberstab in der Tiefe. Außer natürlich am Wochenende, wenn es ihm gelang, sie ein wenig von ihrer Arbeit abzulenken, in die sie sich mit so viel Begeisterung stürzte. Und ausgerechnet an so einem Tag polterte Katenbauer herein.

Lyra streifte energisch die Bettdecke zurück, schwang die Beine hinaus und richtete sich auf. „Ich muss wirklich träumen“, sagte sie. „Und wenn ich mich nicht irre, ist es ein furchtbarer Alptraum.“

„Du hast es doch noch ganz gut“, sagte Sophus. „Dich schickt er nicht jedes Mal, um die Dracheneier aus dem Feuer zu holen. Meist Dracheneier, von denen er nicht einmal weiß, ob sie da sind.“ Auch er schob sich aus der wärmenden Bettdecke in die kühle Morgenluft hinaus.

Gemeinsam traten sie ins Wohnzimmer, wo Gregorius Katenbauer kerzengerade neben einem umgeworfenen Stuhl stand. Sein Gesicht zierte ein dunkler Dreitagebart, der ihn im Verbund mit der vorspringenden Nase und den dunklen Augen wie einen Schwarzmagier aus dem Theater aussehen ließ. Mit der Spitze seines Zauberstabes leuchtete er im Zimmer herum.

„Warum machen Sie kein Licht?“, fragte Lyra. Sie wandte sich ab und erledigte dies mit einem Wink ihres Zauberstabes.

„Und jetzt die viel wichtigere Frage: Wie kommen Sie dazu, unangemeldet und praktisch in der Nacht per Flohnetzwerk bei uns aufzukreuzen. Sind Sie jetzt der schwarzen Magie verfallen?“

„Ich brauche Ihre Hilfe“, sagte Katenbauer und machte einen seiner stakenden Schritte auf sie zu, der ihn wie einen Storch auf Beutesuche aussehen ließ.

„Meine Hilfe?“

„Ihre und die von unserem Besenbinder.“

„Sophus ist schon lange kein Besenbinder mehr und Ihrer war er nie.“ Lyra funkelte Katenbauer mit jenem Blick an, den sie nach Sophus‘ Ansicht speziell für diesen reserviert hatte.

„Seien Sie doch nicht so empfindlich“, sagte Katenbauer. „Es geht um Vlastimir Horn. Sie kennen ihn?“

„Sie meinen den Retter der Einhörner? Wer kennt ihn nicht? Ist ja jede Woche im Holographen zu sehen.“ Lyra wirkte noch immer wütend.

Sophus erinnerte sich an ein paar Folgen von ‚Expeditionen zu magischen Wesen‘, die er als Kind im Kreise der Familie erlebt hatte. Sein Vater vergötterte Horn. Da er selbst für den Erhalt und Schutz magischer Wesen kämpfte, erschien ihm der Mann, der wöchentlich andere magische Wesen in ihrem natürlichen Lebensraum zeigte, um die Magierschaft an den Wert dieser zu erinnern, wie ein Prophet. Er selbst mochte, soweit er sich daran erinnern konnte, die freundliche Art, mit der der Mann die verschiedenen Arten erklärte. Er hatte auch stets ein anderes magisches Wesen dabei, das vor der Kamera herumtobte. Dabei passierten hin und wieder komische Sachen. Einmal fraß ein Wesen den Tisch, an dem Horn saß. Ein anderes Mal blähte sich eines so lange auf, bis es den gesamten Raum einnahm, in dem die Holographensendung aufgezeichnet wurde.

Besonders gefallen, jedenfalls schien es ihm in der Erinnerung so, hatte ihm allerdings ein flauschiges Wesen von Rattengröße, dass Sachen stibitzte und sie in einem Beutel an seinem Bauch verschwinden ließ. Sein Vater erklärte ihm damals, es handele sich um ein Exemplar von einer der vielen Arten von Diebsbeutlern, in diesem Fall um eine Diebsbeutelratte, die besonders selten und nur noch in wenigen Gegenden Südamerikas heimisch sei. Sophus nahm die Erklärung damals gelassen hin und freute sich einfach an dem putzigen Wesen, das über den Schreibtisch Horns tobte, ihm Uhr und Brille stahl und sich dann auf Erkundungstour begab. Irgendwann im Laufe der Sendung fiel plötzlich das Bild aus. Die Diebsbeutelratte hatte die Kamera gestohlen und in seinem Beutel verstaut.

Als Sophus sich wieder auf das Gespräch zwischen Katenbauer und Lyra konzentrierte, fragte diese gerade: „Und was erwarten Sie von uns?“

„Wir müssen wieder Schwung in diese verschlafene Bude bringen“, erwiderte Katenbauer.

„Wovon reden Sie?“ Sophus fühlte sich nicht auf der Höhe des Gesprächs.

„Er meint die Heilerstation“, sagte Lyra. „Du kennst ihn doch. Jeder, der nicht genial ist, ist ein Idiot.“

„Das habe ich nie behauptet“, wehrte Katenbauer ab. „Aber ich will es Ihnen mit einem einfachen Vergleich nahebringen. Erinnern Sie sich an diesen Drescher, den Sucher der Werwölfe Wernigerode?“

„Wie könnte ich den vergessen? Mein Büro stand in Flammen.“ Lyra lächelte säuerlich.

„Sehen Sie, weil der den Rest der Saison nicht mehr spielen konnte, sind die Werwölfe nicht aufgestiegen.“

„Was hat das mit der Heilerstation zu tun?“, unterbrach Sophus.

„Wenn Sie mich zu Ende erzählen lassen, erfahren Sie es“, knurrte Katenbauer. „Also, ein wichtiger Spieler fehlte, der Aufstieg wurde verpasst. Stellen Sie sich vor, nicht nur Drescher hätte gefehlt, sondern auch Pulsen und Tränkler, die beiden ersten Treiber. Dann wäre es nicht nur mit dem Aufstieg Essig gewesen, sondern die Werwölfe wären in den Tiefen der Drittklassigkeit verschwunden. Und sehen Sie, genau das ist der Heilerstation passiert.“

„Sie spielen natürlich die Rolle des begnadeten Suchers“, erwiderte Lyra.

„Wenn Sie es sagen …“ Katenbauer zuckte mit den Schultern. „Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, dass das Team zerbrochen ist. Elf und Renner leisten gute Arbeit und auch in der Muggelabteilung ist niemand verstorben, wenn ich es richtig verstanden habe.“

Sophus sah, wie Katenbauer einen Augenblick lang verwirrt erschien. Vermutlich hatte er eine Reaktion Lyras erwartet. Aber er und sie hielten sich jetzt seit knapp anderthalb Jahren in der Nähe des Loch Ness auf. Der Gebrauch des Wortes Muggel ließ Lyra nicht einmal mehr mit einer Wimper zucken. In den ersten Monaten hatte sie versucht, die Professoren des Instituts davon zu überzeugen, wie wichtig es sei, mit dem herabwürdigenden Begriff zu brechen, aber sie erntete nur wieder und wieder Kopfschütteln und völlig verblüffte Blicke. Inzwischen nahm sie das Wort so selbstverständlich hin wie all ihre Kollegen am Institut, wenngleich sie Sophus gegenüber immer wieder erklärte, wie rückständig die Briten in dieser Hinsicht seien.

„Wir können hier nicht einfach weg“, erklärte Lyra. „Ich bin mit meinem Projekt in der finalen Phase. Es sieht so aus, als würde das Zaubereiministerium eine Experimentalstation am St. Mungos in London einrichten wollen, die auf meinen Expertisen fußt.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich kann jetzt nicht weg.“

„Verstehen Sie mich denn nicht?“, verlegte sich Katenbauer aufs Betteln. „Es geht nicht einfach um einen Patienten, auch nicht um einen berühmten Patienten. Es geht um einen Mann, der mich in jungen Jahren auf mehreren Expeditionen begleitet und mir die Schönheit der magischen Tierwelt nahegebracht hat.“

„Sie sind mit Horn befreundet?“, fragte Sophus.

„So würde ich es nicht nennen. Er war eher eine Art Vater für mich“, bekannte Katenbauer, „auch wenn er nur fünf oder sechs Jahre älter ist als ich.“

Sophus schaute zu Lyra. „Können wir wirklich nichts tun?“

Lyra sah ihn an und er erkannte in ihrem Blick, wie sie mit sich rang. Sie wusste, dass er im Institut nicht zufrieden war. All die magische Gelehrsamkeit ließ ihn sich minderwertig fühlen. Natürlich munterte sie ihn auf, wo sie nur konnte. Sie ließ ihn häufig die Bibliothek durchstöbern, wo er sich seltsamerweise wohl fühlte, obwohl man die Klugheit der Texte hier geradezu riechen konnte. Aber im Labor, an einem Ort, den er an der Heilerstation als ein zweites Zuhause betrachtet hatte, empfand er sich als Besen ohne Reisig. Die meisten magischen Gerätschaften kannte er nach seiner Zeit an der Heilerstation wie seine Westentasche, dennoch stand jedes Mal ein Mitarbeiter hinter ihm und äugte über seine Schulter, wenn er eines bedienen musste. Diese Kollegen waren keineswegs einfache Laboranten. Sie hießen Doktoranden und benahmen sich auch so. In kleinen Gruppen standen sie herum und diskutierten höhere Magie, nie sprachen sie über Mädchen oder Quidditch.

Er erwähnte Lyra gegenüber selten, wie er sich fühlte, aber sie musste es spüren, denn hin und wieder warf sie ihm am Tisch einen Blick zu, als sei er ein siecher Patient mit wenig Aussicht auf Heilung. Offenbar sprang ihm seine Stimmung in jenen Momenten geradezu aus den Augen, obwohl er sich bemühte, fröhlich und ausgeglichen zu erscheinen. Er wollte Lyra keinen Kummer bereiten. Sie hatte sich begeistert in die Forschungsarbeit gestürzt und kam jeden Tag weiter voran. Sie erzählte ihm oft von ihren Fortschritten, und wenngleich er kaum die Hälfte verstand, begriff er zumindest, wie viel Freude ihr die Arbeit bereitete. Sie half so gern anderen Menschen.

Die sanfte Illusionierung steckte noch in den Kinderschuhen, aber sie war um zwei Nummern gewachsen, seit sie hier forschten. Leider benötigte Lyra keine Laborarbeit für ihre Untersuchungen. Was da mit den nichtmagisch Begabten unternommen wurde, war komplexe Gedächtnisanpassung, ein Teilgebiet der Geisteszauber. Statt wie bisher jede Erinnerung an Magie zu entfernen, und Lücken notdürftig zu flicken, webte man die magischen Momente, die der nichtmagisch Begabte erlebt hatte, jetzt in eine besonders gestaltete Geschichte ein. Kurz gesagt, glaubte dieser anschließend, all das Erlebte in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen zu haben. Auf diese Weise sollte das Verhältnis der nichtmagisch Begabten zur Zauberei verbessert, ihr Denken für die Erkenntnis, dass Magie tatsächlich existierte, vorbereitet werden. Sie sollten Zauberer und Hexen nicht fürchten.

Lyra führte Experimente mit Patienten aus ganz Schottland durch. Es war nicht gerade schwer, hier in den Highlands Leute zu finden, die mit Magie in Kontakt gekommen waren. So wenig wie sich der Stausee der Rappbodetalsperre mit dem Atlantik vergleichen ließ, so wenig konnte der Anteil Zauberer, magischer Wesen und Ereignisse im Harz mit denen hier konkurrieren. Man traf praktisch an jeder Wegkreuzung auf einen Elfen, Kobold oder Wichtel. Es gab Einhörner und Greife, ja sogar einzelne Riesen und Drachen. In einigen Dörfern lebten ausschließlich Zauberer und Hexen. Eigentlich ein Wunder, dass nicht täglich nichtmagisch Begabte vom Zusammentreffen mit Zauberei berichteten, denn das Ministerium konnte unmöglich alle Straßen und Wege überwachen und einen Auror hinter einem Baum hervorspringen lassen, wenn ein nichtmagisch Begabter auf Magie traf.

Lyra sagte Sophus einmal, die Schotten seien einfach daran gewöhnt. Es sei im Grunde Unsinn, sie zu illusionieren, denn sie wüssten seit Generationen Bescheid. Aber es interessierte sie nicht, wenn man sie nur in Ruhe ihr Tagwerk verrichten und anschließend ihr Ale und ihren Whisky trinken ließ.

Die nichtmagisch Begabten, die am Institut landeten, waren aus diesem Grunde keine Einheimischen, sondern Touristen.

Es zeigte sich schnell, dass Lyra mit ihrer Theorie recht hatte. Kein nichtmagisch Begabter fürchtete sich vor der Zauberei. Entweder begeisterten sie sich geradezu für die Idee, diese könne existieren, oder sie lachten darüber. Niemand kam auf die Idee, man müsse Zauberer und Hexen foltern und verbrennen. Hin und wieder berichtete sie von Tendenzen, die Sophus an die Wirkung von Pekunaria erinnerten. Nichtmagisch Begabte rechneten sich sofort aus, wie viel Geld sie mit diesem oder jenem Zauber verdienen könnten. Es gab auch nichtmagische Versionen von Sebastian Weber, die Allmachtsphantasien im Kopf herumwälzten, wenn sie von Magie erfuhren. Aber die meisten erträumten sich nur ein klein wenig Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen. Es müsse toll sein, wenn der Müll sich allein zur Tonne brächte und die Wäsche sich allein wusch. Manche wünschten sich ein magisches Haustier. Sophus sagte, nur wer Gnome nicht kenne, könne sich einen halten wollen.

Und jetzt war es so weit. Man würde in London eine Versuchsabteilung unter Aufsicht des Ministeriums einrichten, die die sanft Illusionierten ins wirkliche Leben zurück entließ. Bisher hielten sich die Versuchspatienten ja nur für ein paar Monate auf dem Institutsgelände auf und wurden dann doch illusioniert. Nein, Lyra konnte ausgerechnet jetzt nicht von der Insel weg. Aber er … er war doch …?

„Ich habe einen Vorschlag“, unterbrach Lyra seine Gedanken und sprach sie gleichzeitig laut aus. „Sophus ist am Institut einfach unterfordert. Er braucht Laborluft. Wie wäre es, wenn er nach Wernigerode zurückkehren würde. Ich nehme an, Sie und Stephanie sind sowieso dort. Dann ist das alte Team doch wieder im Spiel, um ihren Vergleich zu bemühen. Nur einer auf der Verletztenliste.“

„Wirst du mich nicht vermissen?“

„Schrecklich sogar. Ich komme auf jeden Fall an den Wochenenden zu Besuch.“ Sie lächelte ihn an und strich ihm über die stopplige Wange. „Geh nur, mein Lieber. Ich weiß, wie wenig du hier glücklich bist.“

Katenbauer rieb sich die Hände. „Ausgezeichnet. Wissen Sie, Besenbinder, wer im Augenblick als Cheflaborant arbeitet?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Dieser Franz Irgendwie. Sie erinnern sich? Flachsblond, dürr, leichter Basedow, mehr Kehlkopf als Hirn. Voll mit der Weisheit dutzender Bücher, aber leider nicht in der Lage selbständig eins und eins zusammenzuzählen. Ich weiß nicht, was Elf geritten hat, den nicht nur einzustellen, sondern auch noch als ihre rechte Hand einzusetzen. Die Hormone können es nicht gewesen sein, sie hat einen Freund, der tausendmal besser aussieht, und sogar nicht davonläuft, solange sie noch in ihren Kleidern steckt.“

Sophus erinnerte sich an einen jungen Mann, der ihn zum Abschluss einer gemeinsamen Aufnahmeprüfung an der Heilerstation angesehen hatte, als würde er ihm am liebsten ganz zauberstablos an die Gurgel gehen. Er fragte sich, wie dieser seine Rückkehr ins Labor aufnehmen würde. Vermutlich durfte er seine Kaffeetasse niemals unbeaufsichtigt stehen lassen.

Lyra ging zu einem Sessel und ließ sich hineinfallen.

„Wie kommt dieser Horn eigentlich in den Harz? Treibt der sich nicht normalerweise in Afrika, Südamerika oder am Südpol herum?“, fragte sie. Sie deutete auf die Sitzgruppe. „Wenn Sie schon mal da sind, können Sie auch Platz nehmen.“

Katenbauer ließ sich ihr gegenüber nieder, Sophus neben ihr.

„Es ging um die Einhornhöhle. Sie haben sicherlich davon gehört. Liegt im Südharz und hat nicht ganz umsonst diesen Namen. Aber man nahm viele Jahre an, Einhörner wären im Harz ausgestorben. Vielleicht erinnert sich jemand an den Patienten, der wie ein Brett an unserer schönen Heilerstation lag und sich nicht mehr bewegte?“ Katenbauer schaute von Sophus zu Lyra und wieder zurück. Jener nickte.

„Einhornbiss. Ich habe Horn damals über Flohnetzwerk kontaktiert.“ Katenbauer schlug die Beine übereinander und beugte sich leicht vor. „Seit etwa einem Jahr plante er, eine Serie über magische Wesenheiten in Deutschland aufzunehmen. Ist für ihn etwas ziemlich Neues, da er sich zuvor meist in Landstrichen herumgetrieben hat, die fernab jeder Zivilisation liegen. Jedenfalls ist er mit seinem Drehstab im Harz und just dort packte ihn ein heftiges Fieber.“

„Kann er sich das nicht schon zuvor auf einer seiner Expeditionen eingefangen haben?“, fragte Lyra.

„Genau das war unsere erste Vermutung, zumal ihn in Süditalien ein Frechdachs gebissen hat.“

„Frechdachs?“, echote Sophus. „Sie nehmen uns auf den Arm, Katenbauer.“

Dieser und Lyra blickten ihn an, und er wusste, dass ihm mal wieder eine dumme Bemerkung herausgerutscht war.

„Frechdachse“, begann Katenbauer auch sogleich zu dozieren, „gehören zur Familie der Trugbolde. Sie sind damit Verwandte der Irrwichte, wenngleich auch harmlose.“

„Es gibt tatsächlich ein Tier, das man Frechdachs nennt?“ Sophus konnte es nicht fassen.

„Ja, Schatz, lebt im Mittelmeerraum. Kommt in Deutschland nicht vor und wird deshalb auch im Unterricht nicht behandelt. Die große Menagerie in Hamburg besitzt ein Pärchen. Ich bin als Kind mal mit meinen Eltern dort gewesen. Sehen ganz possierlich aus. Erinnern eher an Hamster als an Dachse. Aber lange hält man es in der Nähe des Käfigs nicht aus.“

„Warum?“

„Der Lärm“, sagte Katenbauer. „Frechdachse kopieren laute Geräusche, hauptsächlich solche, wie Muggeldinge sie erzeugen: Kirchenglocken, Flugzeuge, Autos, Kanonen, Zwiebacksägen – fragen Sie mich nicht, was das ist, Horn sprach davon. Der Frechdachs vertreibt damit in freier Wildbahn Fressfeinde und Nahrungskonkurrenten. Natürlich handelt es sich bei den Geräuschen um magische Interferenz.“

Sophus guckte Katenbauer lediglich mit großen Augen an. Er verstand einmal mehr nur die Hälfte von dem, was der Heiler sprach.

„Der ganze Lärm findet nur im Kopf statt“, sagte Lyra. „Frechdachse beeinflussen das Gehirn aller Lebewesen in einem gewissen Umkreis. Aber gewöhnlich sind sie nicht bissig.“ Sie schaute zu Katenbauer, der ziemlich nachdenklich dreinschaute.

„Es soll sich um ein Muttertier gehandelt haben, das Junge führte. Da ist selbst mit den friedfertigsten Lebewesen nicht zu spaßen. Genaueres weiß ich auch erst, wenn ich den Patienten gesehen habe. Stephanie ist vorausgeflogen, gleich nachdem wir mit dem Tube in Berlin angekommen waren. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich sofort informieren, wenn sie mehr weiß.“

„Eikendorff wird begeistert sein“, sagte Lyra und klang bissig.

„Eikendorff hat mich gerufen“, erwiderte Katenbauer gelassen. „Horn muss von jemandem erfahren haben, dass ich mal an der Heilerstation gearbeitet habe. Ich vermute, Renner hat es erzählt. Aber das ist egal. Auf jeden Fall hat Horn sofort verlangt, ich solle ihn behandeln, kaum dass er davon gehört hat. Und einem Patienten mit Beziehungen zu den Holographen schlägt man nichts ab. Gestern am Morgen meldete sich Eikendorff per Flohnetzwerk bei mir …“

„Sie hatten in Sibirien Flohnetzwerk?“, staunte Sophus.

„Ich war in Russland, nicht im sechzehnten Jahrhundert.“ Katenbauer schüttelte den Kopf. „Was wollte ich sagen? – Ach ja, also Eikendorff meldete sich gestern Morgen und bat mich förmlich auf Knien, an die Heilerstation zu kommen und mich um diesen Patienten zu kümmern. Die Reputation … bla bla … das Bundesamt … laber laber … Publicity und so weiter und so fort. Wie ich schon sagte, bei Chefs wirkt eine Kamera besser als der Imperius-Fluch.“

„Und weil Sie schon immer so hörig waren, wenn der Chef was angeordnet hat, sind Sie natürlich sofort aufgebrochen.“ Wenn Lyra mit Katenbauer sprach, konnte sie offenbar nicht anders, als bissig zu reagieren.

„Ich bin sofort aufgebrochen, als mir Eikendorff erklärt hat, Horn ginge es zusehends schlechter, ohne dass jemand eine Ursache entdecken könne.“

„Was fehlt ihm?“

„Hohes Fieber, Hautausschlag, trockener Husten.“

„Seltsame Zusammenstellung von Symptomen“, sagte Lyra. „Wie passt Hautausschlag zu Husten?“

„Keine Ahnung“, sagte Katenbauer. „Darum brauche ich ein Team.“

„Willst du mit Katenbauer in den Harz zurück?“, fragte Lyra Sophus.

„Besuchst du mich?“

„Jede Woche“, sagte Lyra. „Ich werde mit dem Institutsleiter sprechen. Ich denke, ich kann dich zumindest begleiten und in der Heilerstation abliefern. Ich würde mich auch freuen, Saphira und Markus mal wieder zu treffen. Und Stephanie habe ich ja auch nur über Flohnetzwerk gesprochen. Ja, das sollte gehen. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden.“ Sie schaute zu Katenbauer. „Wir müssen packen.“

Der Heiler sprang wie von der Feder geschnellt auf. Er schüttelte beiden die Hand. Zu Sophus sagte er: „Ich erwarte Sie im Labor, Besenbinder. Wir sind wieder auf der Jagd.“

Er wandte sich ab und spazierte Richtung Ausgang davon. Sophus und Lyra sahen einander an und brachen in Gelächter aus. „Wer ihn nicht kennt, muss ihn für verrückt halten“, sagte Sophus.

„Na, wer ihn kennt, erst recht“, erwiderte Lyra.

Sie kehrten ins Schlafzimmer zurück und begannen, eifrig die Zauberstäbe zu schwenken, um Sachen für die Reise zusammenzupacken. Sophus‘ Koffer wehrte sich anfangs dagegen, aus einer gemütlichen Ecke auf dem hinteren Schrank geholt zu werden, ließ sich jedoch besänftigen, als er hörte, es gehe nach Hause. Offenbar gefiel es ihm ebenso wie seinem Herrn, in den Harz zurückzukehren.

„Ich besuche dich auf jeden Fall an jedem Wochenende“, sagte Lyra, während sie ein paar Wäschestücke durch den Raum schweben ließ.

Zwei Stunden später saßen sie abflugbereit auf ihren Besen und brachen Richtung Edinburgh auf, wo es einen Anschluss an die Tube gab. In Windeseile wären sie in London und dann war es nur noch ein Katzensprung nach Berlin. Sophus hielt sich bereits den Leib, wenn er an diesen Teil der Reise nur dachte. In seinen Eingeweiden rumorte es.

„Du musst dich entspannen“, sagte Lyra. „Dann verträgst du die Reise viel besser. Die Hälfte deiner Probleme entsteht durch Aufregung.“

Sophus nickte, aber er wusste, er würde dennoch mit zitternden Knien in diese rasende Kugel treten, die sie ans Ziel transportierte.

Natürlich erwiesen sich alle Befürchtungen als überflüssig. An der Hand von Lyra gelang es ihm sogar, wohlbehalten in Wernigerode zu apparieren. Drei Zwischenstationen waren notwendig, aber er kam wohlbehalten, in einem Stück und an der richtigen Stelle im gemeinsamen Hausgarten an.

Tief atmete er den Duft des heimatlichen Waldes. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass das Schloss noch immer an seinem angestammten Platz auf dem Agnesberg stand und über die Stadt grüßte. Die Herbstsonne trotzte in diesem Jahr besonders lang der winterlichen Kälte. Obwohl der November angebrochen war, sangen noch Vögel in den Bäumen und begrüßten sie. Auch in Lyras Augen las er Freude über die Heimkehr.

Sie gingen ins Haus, verstauten die Besen und ließen die Koffer sich entpacken. Lyra konnte nicht anders, sie musste gleich noch den Staubwedel aus der Ecke locken und seine Arbeit verrichten lassen, obwohl Sophus sie mehrfach darauf hinwies, dass diese Art Magie durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten lag. Schließlich hatte er das oft genug erledigt, wenn sie länger Dienst an der Heilerstation schieben musste, weil ein schwieriger Fall sie zurückhielt.

Schließlich brachen sie gemeinsam zum Essen auf. Sie gingen zu jenem Restaurant, in dem sie zum ersten Mal gemeinsam gespeist und sich besser verstehen gelernt hatten.

Natürlich konnten sie im November nicht draußen im Garten hinter dem Haus sitzen wie damals. Dennoch umfing Sophus ein Gefühl der Vertrautheit. Er war wieder daheim im Harz. Aber er kannte Katenbauer, er kannte die Heilerstation, er wusste, die Abenteuer würden nicht lang auf sich warten lassen. Manchmal fühlte er sich, als laste ein unbekannter Fluch auf seinem Leben. Er hatte mal von einem chinesischen Fluch gehört, der lautete: Mögest du in interessanten Zeiten leben! Er lebte in diesen, seit er Lyra zum ersten Mal begegnet war. Aber sie war es wert, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers. Wenn er, wie an diesem Abend über das Licht einer Kerze hinweg in ihre Augen sah, fühlte er nichts als Liebe und Glück. Sie hielten sich bei den Händen, lachten und schwatzten, aßen mit Genuss und Sophus trank einen guten Rotwein dazu. Zu seiner Überraschung erklärte Lyra, die Tube-Reise sei ihr nicht gut bekommen, und sie entschied sich, lieber Fruchtsaft zu trinken. Aber das tat dem Spaß in den nächsten Stunden keinen Abbruch.

Die Zeit verging und als ihr Kellner an den Tisch trat, um ihnen zu sagen, das Restaurant würde bald schließen, erwachten sie wie aus einem Traum.

Wie Sophus vom größten Zauber erfährt

Der nächste Morgen begann für Sophus mit einer unliebsamen Überraschung, denn Lyra kam aus dem Badezimmer und sah ziemlich mitgenommen aus. Statt wie sonst meist frisch und lächelnd trat sie mit kalkweißem Gesicht und zerzausten Haaren durch die Tür. Ringe lagen um ihre Augen, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie musste eher wach geworden sein als üblich. Sonst war er meist der Erste im Bad.

„Schatz, was ist passiert? Hast du das Essen nicht vertragen? Oder hast du dich erkältet?“ Er blickte sie besorgt an.

„Es geht schon.“ Sie winkte ab. „Nur leichtes Unwohlsein.“

„Leichtes Unwohlsein? Du siehst aus, als wärst du in den Klauen eines Drachen gewesen“, erwiderte er. „Ich melde mich über Flohnetzwerk in der Heilerstation. Die sollen uns den Zugang über die Notverbindung gewähren. Setz sich so lange dorthin.“ Er deutete auf die Bettkante.

„Das ist nicht nötig, ich denke …“

Den Rest hörte er bereits nicht mehr, da er sich auf dem Weg ins Wohnzimmer befand, wo ihr Kamin eingelassen war. Zehn Minuten später führte er Lyra, die ihm noch immer ein wenig wacklig auf den Beinen schien, den Flur entlang. Sie leistete nur wenig Widerstand.

„Wenn ich Katenbauer helfen soll, muss er zuallererst dich untersuchen. Ich werde darauf bestehen.“

Lyra lachte. „Ich bin gespannt, was er von meinem Fall halten wird.“

„Du darfst das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Vielleicht waren deine Unternehmungen im Institut zu anstrengend für dich. Darum hat dich die Reise gestern auch so erschöpft.“ Er fasste sie an den Schultern, drehte sie zu sich und schob ihr eine Strähne aus der Stirn. „Ich mache mir Sorgen. Verstehst du?“

Sie nickte. „Ja, mein Lieber. Aber ich denke, ich weiß, was mir fehlt.“

„Mein Meister sagte immer: Der Besenbinder reitet die schlimmste Krücke. Und bei euch Heilern ist es das Gleiche. Ihr denkt, weil ihr täglich gegen Krankheiten kämpft, seid ihr immun.“ Mit einer Handbewegung wies er den Ansatz eines Einwandes zurück. „Ich will keine Widerworte hören. Katenbauer nimmt dich unter den Zauberstab.“

Zehn Minuten später führte er Lyra aus dem Kamin der Notaufnahme. Katenbauer, den man verständigt hatte, stand schon bereit.

„Sie sehen wirklich nicht gerade gut aus, Frau Kollegin. Wenn ich Sie nicht kennen würde, tippte ich auf einen ausgewachsenen Kater.“

Lyra schüttelte den Kopf. „Nur Fruchtsaft“, murmelte sie. „Kein Alkohol in den nächsten Monaten, denke ich.“

Katenbauer sah sie forschend an, blickte zu Sophus, der sich keinen Reim auf diese Worte machen konnte, und nahm Lyra beim Arm. „Na, dann folgen Sie mir mal in einen der Untersuchungsräume.“

Sie liefen in die fünfte Etage hinunter. Sophus vermeinte, Lyra schritte inzwischen wieder kräftiger aus. Vielleicht wollte sie sich nur vor Katenbauer keine Blöße geben.

„Weitere passende Symptome?“, fragte er.

„Mir ist in den letzten Tagen hin und wieder leicht schwindelig.“

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, fuhr Sophus auf.

„Weil du dir viel zu viel Sorgen machst“, erwiderte sie.

„Ich mache mir nicht zu viel Sorgen. Wer weiß, was du dir eingefangen hast.“ Er schaute zu Katenbauer. „Sie vermuten doch etwas?“

„Natürlich. Aber ich werde mir dennoch den Fall genau ansehen. Voreilige Schlüsse können fatal sein. Kommen Sie, hier geht es entlang.“ Er stieß die Tür eines Untersuchungsraumes auf. „Machen Sie bitte den Unterleib frei.“ Er wandte sich an Sophus. „Und Sie setzen sich still in eine Ecke und lassen mich meine Arbeit machen.“

Sophus gehorchte. Er sah zu, wie Lyra sich auf der Liege mitten im Raum niederließ. Katenbauer ging zu einem der Schränke, holte eine Salbendose heraus und trat an Lyra heran.

„Ausfluss?“, fragte er. Sophus fragte sich, wovon die Rede sei. Lyra schüttelte den Kopf.

Katenbauer strich Salbe auf Lyras Bauch, hielt den Zauberstab mit der Spitze voran darüber und murmelte leise magische Formeln vor sich hin. Er bewegte den Zauberstab in einem langsam größer werdenden Kreis um Lyras Nabel herum.

„Was fehlt ihr?“, fragte Sophus.

„Das weiß ich, wenn ich hier fertig bin.“ Katenbauer unterbrach die Bewegung und schaute Sophus an. „Also stören Sie bitte nicht noch einmal.“

Nach etwa einer Minute hob er den Zauberstab, drehte die Spitze Richtung Wand und projizierte ein Bild dorthin. Sophus erkannte nur hell- und dunkelgraue Flecken. Offenbar sagte die Darstellung Katenbauer deutlich mehr, denn er lächelte und nickte zufrieden.

„Wie Sie vermutet haben, Frau Kollegin, Fremdgewebe.“

Sophus fuhr von seinem Stuhl auf und stürzte auf die Liege zu. „Sie reden von einem Tumor?“

„So würde ich es nicht bezeichnen“, erwiderte Katenbauer.

Sophus blickte auf Lyra hinab, die die Darstellung an der Wand selig anlächelte. Hatte sie nicht gehört, was Katenbauer verkündet hatte? Fremdgewebe. Da war etwas in ihrem Körper, was da nicht hingehörte.

„Ist es gutartig?“, fragte Sophus.

„Also, ob es gut und artig ist, kann man erst Jahre nach der Abstoßung feststellen“, erklärte Katenbauer.

„Abstoßung?“

„Ja, gewöhnlich geschieht das nach einem Dreivierteljahr.“

Sophus spürte Panik in sich aufsteigen. Er packte Katenbauer an dessen Umhang und zerrte ihn zu sich herum, damit er ihm ins Gesicht sehen musste. „Sagen Sie mir endlich klar und deutlich, worum es sich handelt. Ist es gefährlich?“

„Sophus“, sagte Lyra milde. „Beruhige dich, Lieber, es ist alles gut.“

„Wie kann alles gut sein?“ Sophus raufte sich die Haare. „Du hast heute Morgen übel ausgesehen, er redet von einem Tumor …“

„Ich sagte Fremdgewebe“, mischte Katenbauer sich ein.

„Hast du es noch nicht verstanden?“ Lyra klang überaus mild, als sie das fragte. Sie lächelte und in ihrem linken Auge glitzerte eine einzelne Träne.

Sophus schaute sie ratlos an, gestikulierte hilflos zu Katenbauer und dem seltsamen Bild, das noch immer an der Wand zu sehen war.

Lyra richtete sich langsam auf und lächelte weiterhin dieses leicht entrückte Lächeln, als stände sie unter dem Bann eines neuartigen Zaubertrankes. „Wir haben den größten Zauber gewirkt, den ein Zauberer und eine Hexe gemeinsam bewerkstelligen können. Jedenfalls hat es einer meiner Professoren einmal so ausgedrückt.“

„Der alte Zumziedel“, knurrte Katenbauer in Richtung Wand. Aus irgendeinem Grund, der Sophus nicht klar wurde, hatte er sich abgewandt.

„Aber ich … welcher Zauber sollte das sein … du weißt, ich bin nicht gerade sehr begabt.“ Noch immer hob sich der Schleier für Sophus nicht.

Katenbauer fuhr herum, schwenkte den Zauberstab ziellos in der Luft herum, Funken stiebten von seiner Spitze. „Müssen Sie auch nicht sein“, polterte er. „Das bekommen sogar die Muggel hin.“

„Sophus“, hauchte Lyra, „du wirst Vater.“

Ein, zwei Sekunden glaubte Sophus, nicht richtig gehört zu haben. Er schaute von Lyra zu Katenbauer, zur Wand, wieder zu Katenbauer und schließlich zu Lyra zurück, die die Arme weit ausgebreitet hatte, offenbar erwartend, dass er sie umfing.

Als seine Erstarrung sich endlich löste, eilte er auf sie zu und fiel ihr um den Hals. „Mein Liebling, mein Liebling“, wiederholte er unausgesetzt, als könne er keine anderen Worte mehr über die Lippen bringen.

„Wenn Sie wieder zur Besinnung gekommen sind, Besenbinder, können Sie mich zu unserem Patienten begleiten. Frau Bascomb, Sie dürfen die Blutproben entnehmen. Ich weiß schließlich, wie ich Ihnen eine Freude bereiten kann.“

„Sie haben mir bereits die größte Freude gemacht, zu der Sie überhaupt in der Lage sind, Katenbauer. Das ist Ihnen hoffentlich klar.“ Sie schwang sich von der Liege herunter, richtete ihre Kleidung, hakte sich bei Sophus ein und gemeinsam begaben sie sich in ein Krankenzimmer zwei Türen weiter. Katenbauer wies ihnen den Weg.

In Sophus‘ Erinnerung war Horn ein schlanker Mann Ende dreißig mit glattrasiertem Kinn und fröhlichen, hellblauen Augen. Aus dem Bett vor ihnen schaute ein bärtiges Gesicht mit einem Rest grauen Haars auf dem Kopf, das wie Steppengras während einer Dürreperiode verzweifelt um sein Bleiberecht kämpfte. Tiefe Falten hatten sich in Stirn und Wangen gegraben. Die Haut war wettergegerbt, sah allerdings im Moment fahl aus.

---ENDE DER LESEPROBE---