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Sophus hatte geglaubt, das Kapitel "Sebastian Weber" sei ein für alle Mal für ihn und seine Frau abgeschlossen. Doch weit gefehlt, denn eines Tages wird der Schwarzmagier als Patient an der Heilerstation eingeliefert und sorgt auf diese Weise für Probleme. Ein anderer Patient leidet an magischem Fieber und sorgt mit unkontrollierten Ausbrüchen von Magie für Chaos auf der Station. Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, das Bundesamt schickt eine Mitarbeiterin, Lyra gerät in Bedrängnis und Sophus, Katenbauer und das gesamte Team der Heilerstation haben alle Hände voll zu tun, wieder ein wenig Ordnung in die magische Welt im Harz zu bringen.
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Revitalis cerebrum
David Pawn
Ich entschuldige mich bei allen Fans von Harry Potter, dass ich Ideen und Grundannahmen aus den Büchern von Minerva Mc…, sorry, J. K. Rowling in dieser Geschichte verwendet habe. Sophus und Lyra sind aus Schottland endgültig in den Harz zurückgekehrt. Lyra wird ihr Kind an der dortigen Heilerstation zur Welt bringen. Aber aus einer gemütlichen Zeit der Mutterschaft wird leider nichts, denn schon beginnt das nächste Abenteuer.
Copyright © 2019 David Pawn
Michael Siedentopf
Schweizer Str. 40
01069 Dresden
Umschlaggestaltung: Casandra Krammer
Umschlagmotive: © Shutterstock / lanych – 170428316, Kostenko Maxim – 108920759
All rights reserved
ISBN: 978-3754604090
Ein Schrei erklang und füllte den Raum. So hilflos er im ersten Moment auch erscheinen mochte, so gewaltig fühlte Sophus Bascomb, seines Zeichens Laborant an der Heilerstation Drei Annen, seinen Nachhall im Herzen. Er schaute seiner Frau in die Augen und las darin das gleiche überwältigende Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte. All das Blut, all die Schmerzen – aber es gab einen Lohn.
Die Flazebs nahmen die Geburtshelferkröten von Lyras Bauch, die zuvor mit ihren Stimmen den Takt angegeben hatten, in dem diese Atmen und Pressen musste, um die Geburt ihrer Tochter so angenehm und schmerzarm wie möglich zu überstehen. Dann legten sie ihr Sophia Bascomb in die Arme, die noch immer ihre Lungen weitete und die Welt von ihrer Ankunft in Kenntnis setzte. Seine Tochter. Ein Wunder, größer als jeder Zauber, den je ein Magier mit einem Spruch und durch Schwenken des Stabes vollbracht hatte. Das kleine Wesen mit der kräftigen Stimme hatte nachtschwarze Haare und die Farbe seiner Haut erinnerte an Karamell. Sophus strich Lyra über das schweißfeuchte Haar und konnte im Augenblick nichts weiter tun als beseligt lächeln, als stände er unter dem Bann eines sinnverwirrenden Fluches oder Trankes.
Dieses kleine Mädchen war das Resultat umfassender Liebe. Heiler Wonneguth trat an Sophus‘ Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sophus fand, dieser, wie auch die anderen Heiler in dieser Abteilung, bildeten eine eigene Gruppe von Magiern. Sie verhielten sich seltsam unmagisch. Katenbauer, der alte Grantler, hätte sie vermutlich einen Haufen Ärzte genannt, was aus seinem Mund einer Beleidigung gleichkam. Eine der Flazebs, die sich hier Hebammen nennen ließen, hatte ihm mal gesagt: „Wir müssen hier nicht allzu viel Magie verwenden. Das erledigt die Natur für uns.“ Und jetzt, in dieser Sekunde, erkannte er, wie recht die junge Frau gehabt hatte.
Lyra legte sich ihre Tochter auf die Brust, damit sie den Geruch und die Wärme des mütterlichen Körpers in sich aufnehmen konnte. Sie schaute zu ihm auf und wirkte geradezu unheimlich glücklich.
Sophus schloss die Augen und für einen Moment wünschte er, sie könnten all dies in den Wäldern des schottischen Hochlandes erleben, Lyras Heimat, die sie ihm in den gemeinsamen Monaten am Clever-Ness-Institut nahegebracht hatte. Die Landschaft erschien ihm wie ein Blick in Lyras Seele zu sein. Wild und frei, aber auch gerecht zu jenen, die nicht versuchten, sie sich Untertan zu machen, sondern sich bemühten, im Einklang mit ihr zu leben.
In den ersten Monaten am Institut kam sich Sophus dort oft wie ein Fremdkörper vor, all die studierten Damen und Herren in den weißen Umhängen, hielten sich wenn nicht für bessere Menschen, so zumindest für bessere Laboranten. Aber nachdem er aus dem Harz an den Loch Ness zurückgekehrt war, zeigten sich die Mitarbeiter am Institut verändert. Nach seinem Einsatz für das Leben des bekannten und beliebten Natur- und Tierfilmers und -forschers Vlastimir Horn traten ihm die anderen Mitarbeiter plötzlich mit Respekt, teilweise geradezu mit Hochachtung entgegen.
Sophus wusste nicht, was Lyra den Leuten erzählt hatte, aber er war sich sicher, sie hatte einigen den Kopf gewaschen.
Vielleicht hatte sie davon berichtet, wie er ganz allein die Verfolgung einer schwarzmagischen Gang aufgenommen hatte, die sie entführt hatte, auch wenn dies natürlich eine wahnwitzige Unternehmung gewesen war. Oder sie erzählte davon, wie er sich wieder und wieder mit Sebastian Weber anlegte, diesem größenwahnsinnigen Leiter der Fachabteilung mit besonderen Instruktionen beim Bundesamt für magische Angelegenheiten, der meinte, er müsse unbedingt Oberster Rat anstelle des Obersten Rates werden. Wie er am Ende gar in dessen Fänge geraten und dem Todesfluch mit knapper Not entronnen war. Und das alles nur zum Wohle der Patienten an der Heilerstation Drei Annen Hohne.
Er öffnete die Augen wieder und erblickte die Hand von Heiler Wonneguth, der ihm zu seiner Tochter gratulieren wollte. Sophus erhob sich und nahm Glückwünsche entgegen, die seiner Meinung nach vor allem Lyra gebührten. Sie hatte dieses kleine Wunder schließlich neun Monate lang in sich getragen. Ihr Körper hatte alles dafür getan, dass es schließlich als ein kleiner, aber kompletter neuer Mensch das Licht der Welt erblicken konnte. Oder besser gesagt, das Licht der Speziallampen in diesem besonderen Saal der Heilerstation. Wie bei den nichtmagisch Begabten, also jenen Menschen, die man früher Muggel genannt hatte, hieß der Raum Kreißsaal.
Das komme von einem Wort aus dem Mittelhochdeutschen, von dem auch der Ausdruck kreischen abgeleitet sei, hatte ihm die Muskelmacherin der Heilerstation, Cleopatra Winkler, erklärt. Sophus hatte sich gefragt, warum jemand überhaupt so etwas wissen müsse. Dieses Wissen erschien ihm beängstigend. War es wirklich nötig, einem Raum in der Heilerstation einen so martialischen Namen zu geben, einen Namen, den man mit Schmerz und Geschrei assoziierte?
Er schaute zu Lyra, die selig ihre Tochter anlächelte. „Schau nur“, sagte sie. „Sie hat deine Augen, Sophus.“
Er beugte sich hinab und ja, aus dem kleinen Gesicht blickten ihn jene Augen an, die er täglich auch beim Rasieren im Spiegel sah. Nur viel klarer und heller. Und dann schlossen sich die Lider.
Die ersten Gratulanten der anderen Abteilungen der Heilerstation fluteten zur Tür herein, allen voran der Leiter, Heiler Eikendorff. Saphira Graßhoff, die viele Jahre an Lyras Seite gearbeitet hatte, folgte diesem mit einem Blumenstrauß, hinter dem sie nahezu verschwand.
Cleopatra Winkler, die für Lyra und Sophus einfach Cleo war, ließ mit dem Zauberstab einen Teddybären über ihrem Kopf schweben, Markus Adamczyk, wie Saphira Heiler in der Abteilung für nichtmagisch Begabte trug eine Pralinenschachtel unter dem Arm geklemmt. Es folgten weitere Heiler und Helfer und jeder brachte Blumen, ein Stofftier oder ein anderes Geschenk. Sophus fürchtete, sie würden Lyra und seine Tochter unter den Gaben begraben.
„So geht das aber nicht, meine Damen und Herren Kollegen“, ließ sich Heiler Wonneguth vernehmen. „Ich verstehe ja ihr Bedürfnis, Kollegin Bascomb zu gratulieren, aber ihre Geschenke bringen sie bitte in Zimmer Zweihundertvier, dort wird die Patientin mit der neuen Erdenbürgerin untergebracht. Vergessen Sie nicht, dass wir hier in einer Art Operationssaal stehen.“ Offensichtlich hatte Wonneguth vor seiner kurzen Ansprache den Sonorus-Zauber benutzt, um die Lautstärke zu steigern, denn er setzte sich mühelos gegen das Stimmengewirr um Lyra und Sophus herum durch.
„Also dann …“, sagte Cleo und marschierte als Erste zur Tür hinaus. Im Rahmen wandte sie sich kurz um und rief in den Raum zurück. „Wir sehen uns dann drüben.“ Zimmer 204 lag auf der anderen Seite des Gangs.
Jeder bewunderte das Baby, jeder schüttelte erst Lyra, dann Sophus die Hand. An einem Tag wie diesem konnte man einen Tennisarm bekommen, ohne je Tennis gespielt zu haben.
Stephanie Katenbauer, Laborleiterin und damit Sophus‘ direkte Vorgesetzte, erschien als eine der letzten Gratulanten.
„Ich dachte, ich lasse die anderen erst einmal vor, damit ich mit mehr Ruhe euren Nachwuchs bewundern kann“, erklärte sie. Sie trat zu Lyra ans Bett und flüsterte dieser etwas zu.
„Ja, das dachte ich mir“, sagte Lyra laut und lachte.
„Was habt ihr denn für Geheimnisse?“, fragte Sophus.
„Frauengeheimnisse“, erwiderte Stephanie.
Paul Renner, mit dem gemeinsam Sophus schon einige Abenteuer durchgestanden hatte, erschien und an seiner Seite die Heilerin Griselda Ungesang, die im ganzen Haus nur Elf gerufen wurde, und auch heute ihrem Ruf gerecht wurde. Nicht nur, dass sie in einem Hosenanzug erschien, der aus Silberfolie geschneidert schien und dazu ein Barett trug, nein sie brachte einen selbstgestrickten Strampelanzug für die Kleine mit, dessen Beine doppelt so lang wie nötig ausfielen. Alle Farben des Regenbogens waren darin verarbeitet und als sie ihn präsentierte, erkannte Sophus, dass die Farben auch noch auf magische Weise wechselten.
„Ich fürchte, das wird der Entwicklung des Kindes schaden“, erklang eine Stimme von der Tür her, gerade als Elf den Strampler vor Lyra in die Höhe hielt, offensichtlich nach Bewunderung heischend.
„Also mir gefällt er, Katenbauer“, nahm Lyra die Gabe in Schutz.
Gregorius Katenbauer, Heiler für Geisteszauber, Verletzungen durch Tierwesen und auch sonst alle schwierigen Fälle, die an dieser Heilerstation anfielen, ebenso genial wie bärbeißig, stakte in einer Art und Weise heran, die in Anbetracht der Situation ganz besonders an den Klapperstorch denken ließ. Er schaute im Vorbeigehen Sophus kurz mitleidig an, beugte sich über das Bett und sagte: „Da haben wir also die kleine Unfriedensstifterin. Willkommen im Leben. Ich warne dich, Mädchen, im Grunde lohnt es den ganzen Aufwand nicht. Man plagt sich, um auf die Welt zu kommen. Man plagt sich, um erwachsen zu werden. Und dann plagen einen plötzlich nur noch Sorgen.“
„Sie machen ihr Angst, Katenbauer“, sagte Sophus. „Können Sie nicht einmal etwas Nettes sagen?“
„Das war nett. Böse wäre es gewesen zu sagen: Wenn du ein kluges Kind wärst, wärst du drin geblieben.“
„Sie sind auch nicht drin geblieben“, sagte Lyra bissig. „Und mir fällt es gerade ganz schwer, nicht zu sagen, dies wäre für alle besser gewesen.“
„Touché, Frau Kollegin. Ich sehe, Sie haben die Geburt gut überstanden.“
„Ja, die Hebammen haben mich gewarnt, dass die Nachwehen mit Ihnen am schlimmsten sind.“ Manchmal hatte Sophus das Gefühl, Lyra liebte ihre Streitereien mit Katenbauer. Auch wenn sie bei den Eheleuten zu Besuch waren oder diese zu ihnen kamen, kabbelten sich die beiden. Sophus und Stephanie schlossen hin und wieder vorher eine Wette ab, wie lange die beiden brauchen würden, ehe es wieder losginge.
Es lag an der Einstellung der beiden zum Leben und ihren Mitmenschen. Für Katenbauer stellte das Leben einen unausgesetzten Kampf gegen eine breite Masse von Dummköpfen dar, die weder bereit noch fähig waren, die Augen und Ohren aufzusperren, ehe sie irgendeine Meinung äußerten, die unausgesetzt Sätze mit „Ich denke“ einleiteten, ohne dies wirklich zu tun.
Lyra dagegen hielt die Mehrheit der Menschen für gut und freundlich. Sie mussten nur einen kleinen Stupser bekommen, der sie in die richtige Richtung lenkte. Sie hasste nichts so sehr wie Ungerechtigkeit und Katenbauers Art, der praktisch alle außer seiner Frau über einen Kamm scherte, erschien ihr ungerecht, während Katenbauer sie als überaus gerecht einstufte. Schließlich behandelte er alle Menschen gleich: Er pflaumte sie an.
In einem waren die beiden sich jedoch einig. Sie mochten den gleichen Menschenschlag nicht: Ignoranten, die sich wider jeden offensichtlichen Beweis für etwas Besseres hielten. Lyra hielt Katenbauer allerdings für genau so einen Typen, er sich selbst natürlich nicht. Er war davon überzeugt, tatsächlich klüger als die meisten seiner Mitmenschen zu sein, und mochte nach Sophus Einschätzung damit sogar richtig liegen. Allerdings gehörte auch Lyra zu den außergewöhnlich Intelligenten, wie sie während der Monate am Clever-Ness-Institut in Schottland hinreichend unter Beweis gestellt hatte. Und sie behandelte nie jemanden von oben herab. Außer ausgerechnet Gregorius Katenbauer.
Dennoch waren die Familien Katenbauer und Bascomb befreundet. Zu viele Abenteuer hatte sie gemeinsam durchstehen müssen, als dass ein gelegentlicher Streit die tiefe Bindung zerstören konnte, die in den Jahren gewachsen war. Katenbauer hatte um Lyras Leben gekämpft und es gerettet, sie aus den Klauen eines heimtückischen Zaubertrankes und ebenfalls aus denen von Entführern befreit. Lyra war an Katenbauers Seite gegen Leiden aller Art angetreten, streitbar, aber immer das Wohl der Patienten im Blick behaltend. Gemeinsam hatten sie den Sucher der Werwölfe Wernigerode wieder auf die Beine und auf seinen Besen gebracht, die Tochter des Obersten Rates geheilt und schließlich gegen eine Intrige am Bundesamt gekämpft, die den Obersten Rat zu Fall bringen sollte. Und Sophus, der Lyra liebte und von Katenbauer mit jedem Patienten mehr geschätzt wurde, stand ihnen jedes Mal zur Seite, wobei er das eine oder andere Mal seinen Kopf hinhielt.
„Also Besenbinder, nutzen Sie die Stunden, die ihre Tochter noch hier verbringt, um sich gründlich auszuschlafen. Es werden vorerst die letzten Tage sein, wo Sie das können“, sagte Katenbauer, grinste und wandte sich zum Ausgang.
In diesem Moment trat Heiler Eikendorff erneut in den Kreißsaal. „Man sagte mir, dass Sie hier sind, Katenbauer. Ich habe etwas für Sie.“
„Was gibt es?“
„Patient, 37 Jahre alt, deliriert, Sprachfähigkeit eingeschränkt, fällt immer wieder in komatöse Zustände. Keine weiteren Organschäden diagnostiziert.“
„Der Mann gehört auf die Sechste“, sagte Katenbauer. In der sechsten Etage befand sich die Abteilung für Geisteszauber, die magische Störungen des Hirns behandelte.
„Der Patient ist speziell. Ich würde ihn lieber Ihnen überlassen. Geisteszauber war schließlich mal ihr Spezialgebiet.“
„Was ist an ihm speziell?“
„Sage ich Ihnen in meinem Büro. Kommen Sie mit.“ Eikendorff schaute zu Sophus. „Noch mal alles Gute für Sie und Ihre Frau, Herr Bascomb.“ Dann ging er ohne weiteres Wort wieder hinaus. Katenbauer folgte ihm nach einem Schulterzucken.
Eine Viertelstunde später stand Sophus wieder im Labor und hörte sich Stephanies Klagen darüber an, wie gern sie auch ein Kind hätte, dass Katenbauer sich jedoch gab, als seien Kleinkinder das Ende jeder glücklichen Beziehung.
„Und er ist keinesfalls zu alt, wenn du verstehst, was ich meine“, sagte sie gerade.
‚Zu viel Information‘, dachte Sophus, nickte allerdings nur. Natürlich waren Stephanie und Gregorius verheiratet, und natürlich taten Eheleute diese Dinge, aber er wollte nicht, dass sich Vorstellungen vom Schlafzimmerleben der Katenbauers in seinem Hirn einnisteten. Es war auch so ausreichend schwierig mit dem Heiler auszukommen. Natürlich waren sie befreundet und Freunde erzählten sich auch von privaten Problemen, aber es gab doch Grenzen, oder?
Offenbar brach durch den Anblick von Lyras Baby ein Damm, der Stephanies geheime Wünsche bisher zurückgehalten hatte. Sophus bezweifelte, dass Katenbauer sich noch lange gegen seine Frau würde durchsetzen können. Stephanie war und blieb seine Schwachstelle. Bei ihr kam seine weiche Seite zum Vorschein, von der sonst jedermann bezweifelte, dass sie überhaupt existierte.
Das Thema des derzeitigen Gespräches betrat das Labor.
„Besenbinder, ich werde Sie brauchen“, sagte er. „Am besten Sie kommen gleich mit. Der Patient liegt auf der anderen Seite des Gangs.“
„Warum legt Eikendorff so einen Nebelzauber um diesen Patienten?“
„Kommen Sie mit, sehen Sie ihn sich an. Dann wissen Sie es.“
„Wenn man dich hört, könnte man meinen, der Oberste Rat liegt auf Station“, sagte Stephanie.
„Nein, der ist es nun gerade nicht. Ich möchte beinahe sagen – im Gegenteil. Aber es ist im Grunde egal, wer der Patient ist oder wie er heißt. Er zeigt alle Anzeichen einer Demenz, für die er viel zu jung ist, außerdem versteift sich seine Muskulatur, was weniger für einen Fluch als für eine Krankheit spricht, wie sie auf der Vierten von unserem Arzt behandelt wird.“
Für Katenbauer war das Wort, das einen nichtmagischen Heiler bezeichnete eine Art Beschimpfung. Auf der vierten Etage wurden nichtmagische Erkrankungen behandelt, die natürlich auch Zauberer und Hexen befallen konnten.
„Allerdings“, fuhr Katenbauer fort, „will ich zunächst jegliche Magie ausschließen. Flüche, Verzauberungen, Tränke. Es erscheint unwahrscheinlich, dass er sich ausgerechnet dort, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, so etwas zugezogen haben soll, aber dem Bundesamt ist es wichtig, dass alle Eventualitäten ausgeschlossen werden.“
„Wo er sich zuletzt aufgehalten hat? Was soll das denn jetzt wieder heißen?“, fragte Stephanie. „Greg, hast du beschlossen deinen Beruf als Heiler aufzugeben und Orakel zu werden. Sag uns, wer der Patient ist.“
„Noch nicht.“ Katenbauer wandte sich an Sophus. „Ich möchte erst mit unserem Besenbinder allein den Herrn besuchen.“
„Katenbauer, ist das wieder ein Versuch von ihnen, mich aus irgendeinem Grund irgendwohin zu hexen?“
„Nein, es ist ein Versuch meinerseits in Ruhe etwas zu besprechen. Wir haben einen besonderen Patienten. Einen, bei dem ich sicher bin, ihre Talente zu benötigen. Und ich möchte sicher sein, dass Sie auf meiner Seite sind.“
„Auf Ihrer Seite? Wie kommen Sie auf die Idee, ich könnte nicht auf Ihrer Seite sein? Ich arbeite jetzt seit drei Jahren an dieser Heilerstation. Habe ich in all dieser Zeit mal gegen Sie intrigiert? Nein! Ich bin für Sie auf Berge und in Höhlen geklettert, ich habe mich für Sie von Pixies beschießen und von Trugolmen umgarnen lassen. Ich habe an Ihrer Seite gegen Flüche gekämpft, habe für Sie das Bundesamt belogen. Ich bin gesprungen, wenn Sie gepfiffen haben, und jetzt kommen Sie mir so?!“
„Ich habe meine Gründe. Ich bitte Sie ganz einfach, Besenbinder, kommen Sie. Nehmen Sie ein paar Phiolen für Zungenproben mit.“
Sophus schaute zu Stephanie, zuckte die Schultern, als wolle er sagen: „Was soll ich machen?“ und ging zu den Ablagen, wo die gereinigten Laborutensilien aufbewahrt wurden. Er nahm sich zwei der bereitliegenden Phiolen und kehrte zu Katenbauer zurück.
„Ich bin bereit“, sagte er.
Katenbauer kratzte sich am Kinn, fuhr mit der Rechten über sein Haar und schaute anschließend in Richtung Decke. Offensichtlich gab es seiner Ansicht nach noch ein ungelöstes Problem, bevor sie losgehen konnten.
„Ich muss noch einmal mit der Kollegin Bascomb reden.“
„Mit Lyra? Aber …“
„Sie liegt im Wochenbett, ich weiß“, ergänzte Katenbauer Sophus‘ angefangene Worte. „Aber es ist unabdingbar, dass Sie Bescheid weiß, um wen wir uns in den nächsten Tagen kümmern werden.“
„Ich komme mit“, sagte Sophus.
„Nein. Bleiben Sie. Ich hole Sie in fünf Minuten ab.“ Katenbauer eilte bereits aus dem Labor.
Sophus blieb mit den Phiolen in der Hand verdutzt zurück.
„Wie hältst du es nur mit ihm aus?“, fragte er Stephanie.
„Ich habe ihn im Griff“, erwiderte sie. „Lass ihm seinen Spaß. Manchmal ist er wie ein großes Kind. Er muss Abenteuerspiele spielen. Wahrscheinlich ist diese ganze Geheimniskrämerei nur eine Schau, die er abzieht, um sich besser zu fühlen. Es erweist sich, wir müssen uns um einen Paul Müller kümmern, der Pförtner beim Bundesamt ist.“
„Glaubst du?“
„Unmöglich ist bei Gregorius nichts. Das weißt du genauso gut wie ich. Komm, wir bereiten die restlichen Morgentränke vor, bis er wieder auftaucht.“ Stephanie rückte ihre Brille zurecht und ging zu den Kesseln hinüber. Sophus folgte ihr. Dabei warf er einen Blick über die Schulter zurück zum Eingang, als erwarte er, dort ein Monster erscheinen zu sehen.
Es verging nahezu eine Viertelstunde, ehe Katenbauer wieder auftauchte. Seine Frisur wirkte derangiert, als sei er in einen Sturm geraten.
„Hat Lyra dir so zugesetzt, Schatz?“, fragte seine Frau.
„Man hat es nicht leicht, auch wenn man nur an Hilfe für die Patienten denkt“, erwiderte Katenbauer.
„Was haben Sie angestellt?“, rief Sophus aus und richtete seinen Zauberstab auf den Heiler.
Der hob sofort die Hände. „Nichts! Himmel, wir hatten nur eine Diskussion über Heiler und Ethik.“
„Aha!“ Stephanie klang sarkastisch. „Muss eine sehr kontroverse Diskussion gewesen sein.“
„Könnte man so sagen. Aber jetzt ist alles geklärt. Ihre Frau hat zugestimmt, dass Sie mir in diesem Fall zur Hand gehen dürfen“, sagte er an Sophus gewandt.
„Sie haben Lyra gefragt ob …?“ Sophus ließ den Rest des Satzes ungesagt. Die Annahme erschien ihm so verrückt, dass er nicht wagte, sie vollständig auszusprechen.
„Ich hielt es für fair“, sagte Katenbauer.
„Hört sich für mich so an, als dürfe ich mich wieder einmal in Lebensgefahr begeben, damit Sie am Ende als strahlender Held dastehen können“, knurrte Sophus.
„Nein, keineswegs. Aber jetzt ist alles geklärt und wir können mit der Arbeit beginnen. Kommen Sie, Besenbinder, es geht wieder los. Sie und ich gemeinsam für das Wohl eines Patienten.“
Sophus schaute Stephanie ratlos an. Die beugte sich zu ihm herüber und raunte in sein Ohr: „Er schaut einfach zu oft diese Fernsehserien für nichtmagisch Begabte.“
Sie überquerten das Treppenhaus und traten auf der anderen Seite in den Gang, an dem die Krankenzimmer lagen. „Na, dann wollen wir uns den Patienten mal ansehen“, sagte Katenbauer. „Ich werde auf jeden Fall eine Zungenprobe nehmen, auch wenn nichts auf eine Trankbeteiligung hinweist. Die können Sie dann gleich mit ins Labor nehmen.“
„Sie brauchen also nur einen Boten“, stellte Sophus fest.
„Nein, Sie sind für mich ein hervorragender Gesprächspartner. So herrlich ahnungslos. Dadurch kommen mir immer wieder die besten Ideen.“
Sophus starrte auf Katenbauers Rücken, der die Tür zu Raum 503 öffnete. Er wusste nicht, ob die letzten Worte des Heilers ein Lob oder eine Beleidigung darstellen sollten. Also entgegnete er nichts, sondern folgte dem anderen nur ins Zimmer und blieb wie vom Donner gerührt an der offenen Tür stehen. Er begriff von einer Sekunde zur nächsten, warum Katenbauer so ein großes Geheimnis um den neuen Patienten veranstaltet hatte.
Der Mann lag lang ausgestreckt mit wächsernem Gesicht im Bett. Seine weit geöffneten Augen waren blicklos zur Decke gerichtet. Aus dem leicht geöffneten Mund rann ein dünner Speichelfaden in Richtung Kopfkissen. Aber das war es nicht, was Sophus hatte erstarren lassen.
Am Fenster auf einem Stuhl saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und im Schoß ruhenden Händen Silvio, einer der Auroren von der Wache an der Steinernen Renne, dessen Nachnamen Sophus noch nie gehört hatte. Er hob kurz grüßend eine Hand. Auch das sorgte nicht für Sophus‘ plötzliche Starre.
Er kannte den Patienten. Wie hätte er auch je dieses Gesicht vergessen können, das Gesicht Sebastian Webers, der ihm den Todesfluch entgegengeschleudert hatte. Dieser Magier hatte ihn töten wollen. Und jetzt lag er hier und Katenbauer erwartete allen Ernstes, Sophus würde ihm helfen. Was für ein absurder Gedanke!
„Das ist Sebastian Weber“, stammelte Sophus.
„Ich habe mehrmals darauf verwiesen, dass es sich um einen besonderen Patienten handelt. Ich dachte mir, dass Sie nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen würden.“
Sophus lachte freudlos auf. Dann schaute er Katenbauer direkt ins Gesicht und knurrte. „Vergessen Sie ‘s.“ Er wandte sich auf dem Absatz um und eilte hinaus. Hinter sich vernahm er einen Knurrlaut, dann die stakenden Schritte Katenbauers.
Er wollte in Richtung Labor davoneilen, da hielt die Stimme des Heilers ihn zurück. „Warten Sie, Besenbinder, wir sind hier noch nicht fertig.“
„Ich schon!“ Sophus drehte sich zu dem Heiler um und funkelte ihn wütend an. „Sie wussten, dass ich nichts für Weber tun würde. Darum der ganze Zinnober von wegen nicht auf Ihrer Seite sein. Und ja, Sie haben wieder mal recht behalten. Diesmal bin ich nicht in Ihrer Mannschaft. Pah!“
„Herr Bascomb! Hören Sie mir zu!“ Katenbauer zog seinen Zauberstab aus dem Umhang. Wollte er ihn etwa mit einem Fluch belegen, wenn er nicht parierte, fragte sich Sophus.
„Ich denke nicht daran, irgendetwas zu tun, was diesem Bastard helfen könnte, gesund zu werden“, fauchte Sophus.
Katenbauer sah sich plötzlich im Gang um, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und wüsste nicht, wo er sich befand. Sophus kannte diese Szene, sie gehörte zum Repertoire des Heilers, genauso wie entnervte Blicke, wilde Schimpftiraden und Jonglageübungen mit was immer ihm in die Hände kam. Er starrte auf die Tür zu Zimmer 503 und entzifferte scheinbar mühsam: „Pati... enten – Zimmer.“
Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Patientenzimmer!“ Er fuhr auf dem Absatz herum, fuchtelte mit dem Zauberstab den Gang entlang, wo Renner und Elf aus dem Untersuchungsraum traten. „Und diese Leute da sehen aus wie Heiler. Wenn ich mich recht besinne, bin ich sogar selbst einer. Wir sind hier ganz offensichtlich in einer Heilerstation. Was sagen Sie dazu, Besenbinder?“
Sophus schwieg. Er schaute weiterhin grimmig auf die Tür, hinter der Sebastian Weber lag.
„Sie sagen nichts? Ach ja, Sie sind ja auch kein Besenbinder mehr, Besenbinder. Sie sind Mitarbeiter dieser Heilerstation. Und als solcher haben Sie die verdammte Pflicht, all ihre Kräfte zum Wohle der Patienten einzusetzen. Ohne Ansehen der Person, ohne zu fragen, was diese auf dem Kerbholz haben. Verstehen Sie das?“
„Aber …“, setzte Sophus an.
„Es gibt kein aber“, fuhr Katenbauer sofort dazwischen.
„Dieser Mann wollte mich töten“, sagte Sophus.
„Darum wird er bewacht. Darum geht es für ihn direkt zurück nach Sylt, wenn wir ihn wieder auf die Beine bekommen. Bis zum Ende seines Lebens. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass er noch ziemlich lange dort zubringen kann. Mag sein, es ist schwer für Sie zu verstehen, Sie sind ja nicht für Ihren hellen Geist berühmt, aber wenn Sie Weber Ihre Hilfe verweigern, ihm gar ans Leder wollen – und ich weiß, dass es im Labor genügend Substanzen gibt, die ihn ins Jenseits schicken könnten – dann sind Sie letztendlich nicht besser als er. Wollen Sie wirklich ein rachsüchtiger kleiner Scheißkerl sein?“ Katenbauer beugte sich vor, als wolle er in Sophus Augen lesen.
„Verabscheuen Sie ihn nicht auch von ganzem Herzen?“
„Ich kann das abschalten.“
„Offenbar nicht immer. Erinnern Sie sich, ich war mehrmals dabei, als sie sich mit Weber angelegt haben.“
„Ja das habe ich. Und ich habe es auch nicht vergessen. Aber damals war Weber ein Störenfried, einer der verhindern wollte, dass ich mich um einen Patienten kümmere. Genauso, wie Sie es jetzt tun.“ Katenbauer trat einen Schritt vor und setzte Sophus den Zauberstab auf die Brust. „Patient ist in diesem Haus das größte Zauberwort. Er verwandelt jeden Menschen in jemanden, um den wir uns unbedingt kümmern müssen. Webers Verfehlungen sind Sache von Richtern. Unsere Sache ist nur sein Leiden. Und außerdem, Sie haben ihn gesehen. Was soll er uns tun? Er ist ein sabberndes Bündel, weiß nicht wer, wo und wann er ist.“
Sophus trat einen Schritt zurück. Er dachte an jenen Moment, als er keine Luft mehr bekam, sich seine Brust nicht länger hob und senkte, er glaubte, sterben zu müssen. Konnte er all das vergessen und unbeteiligt Weber als einen gewöhnlichen Patienten behandeln?
„Ich kann sehen, wie die Rädchen in Ihrem Kopf sich drehen“, sagte Katenbauer. „Bedenken Sie dieses: Was glauben Sie, wird passieren, wenn Weber unter unserer Obhut stirbt? Sofort werden alle mit Fingern auf uns zeigen und Zeter und Mordio schreien, vor allem Mordio. Wir werden wochenlang von irgendwelchen Kommissionen des Bundesamtes und von den Schreiberlingen der Presse belagert werden. Es wird keine normale Arbeit mehr möglich sein. Und das schadet all den anderen Patienten. Da können Sie alle Tränke drauf nehmen, die Sie drüben im Giftschrank lagern.“
Sophus spürte, dass sein Widerstand brach. Katenbauer hatte recht. Wenn Weber starb, vielleicht zog man sogar Lyra in den Schmutz. Sie hatte den Vierten Fluch angewandt, um ihn, Sophus, zu retten. Jemand mochte das ausgraben und eine Verbindung zu Webers jetzigem Zustand konstruieren. Für einen Augenblick fragte Sophus sich, ob dieser nicht vielleicht sogar existierte. Schließlich schien tatsächlich etwas an Webers Verstand zu fressen, mehr als sein Größenwahn an diesem genagt hatte.
„Es hat nichts mit dem Vierten Fluch zu tun“, sagte Katenbauer. „Nicht nach so langer Zeit.“
„Können Sie hellsehen?“
„Es ist eine Vermutung, die mir auch durch den Kopf gegangen ist. Ich habe mich ein wenig belesen.“ Katenbauer warf den Zauberstab in die Luft und fing ihn wieder auf. „Also, was ist, sind Sie im Team?“
Sophus seufzte. „Ja“, sagte er.
„Gut, dann kehren wir jetzt in dieses Zimmer zurück, nehmen eine Zungenprobe und schauen, ob wir sonst irgendetwas für den Patienten tun können. Wenn es Ihnen hilft, vergessen Sie seinen Namen. Nennen Sie ihn einfach den Patienten in Zimmer 503.“
„Wie könnte ich einfach diesen Mann, diesen Namen vergessen?“
Katenbauer nickte. „Von ‚einfach‘ steht nichts in unserer Berufsbeschreibung.“ Mit diesen Worten verschwand er bereits durch die Tür.
Sophus folgte ihm. Weber lag noch immer im Bett, wie sie ihn verlassen hatten. Er hatte sich kein Jota bewegt. Sophus atmete mehrmals tief ein und aus und trat näher an das Bett. Auf der linken Seite stand ein magischer Tropf. Zwei Tränke wurden über einen Schlauch in Webers Arm gepumpt. Einer davon, jedenfalls vermutete Sophus dies, war eine einfache Nährlösung, die man einsetzte, solange ein Patient weder Nahrung noch Flüssigkeit allein aufnehmen konnte. An der Brust war der Oktopode angeschlossen, der seine Farbe im Rhythmus des Herzschlages des Patienten veränderte, den die Heiler als Kardio-Grafen bezeichneten. Aus dem Bett hing am unteren Ende ein Schlauch, der in einem durchsichtigen Beutel endete. Dieser war zur Hälfte mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt.
Nichts an Weber erinnerte an den selbstgefälligen Leiter der Fachabteilung mit besonderen Instruktionen beim Bundesamt, den Sophus kennengelernt hatte. Das Haar lag stumpf und wirr auf dem Kissen verteilt. Die Wangen waren blass und eingefallen, dunkle Ringe umrahmten die Augen. Für einen Moment konnte man glauben, der Mann sei tot, ehe man die Atembewegungen des Brustkorbes bemerkte.
Katenbauer zog den Zauberstab. „Besenbinder, halten Sie seinen Mund auf. Und keine Angst, er wird Sie nicht beißen.“
„Es gibt Schlimmeres, als gebissen zu werden“, sagte Sophus lakonisch.
„Das kann man auf einer Heilerstation nie ganz sicher behaupten.“
„Sie verstehen es, Menschen zu ermutigen“, erwiderte Sophus.
„Ja, weil ich sagte, dass der Patient Sie gewiss nicht beißt.“ Katenbauer stellte sich in Positur, um die Zungenprobe zu nehmen.
Sophus griff mit der Rechten an das Kinn des Patienten. Er legte die Linke auf die Stirn Webers und drückte den Kiefer nach unten. Langsam öffnete sich der Mund.
Katenbauer schwenkte den Zauberstab, eine graue Wolke erhob sich aus der Mundhöhle und wand sich wie eine Schlange, die ein Fakir mit seiner Flöte bändigt. Katenbauer wickelte die Schwaden auf und verstaute sie in einer der Phiolen. Sophus ließ Webers Kopf los.
„Die müssen Sie mir gar nicht geben“, sagte Sophus. „Da ist nie und nimmer was drin.“
Sein geschultes Auge erkannte inzwischen auch das typische Bild einer trankfreien Zungenprobe.
„Schicken Sie es dennoch durch den DHC“, sagte Katenbauer.
Der Drachenherz-Chromatograph gehörte zu den Standardanalyseapparaten des Labors. Er erlaubte es, Tränke in Zungen-, aber auch in Flüssigkeitsproben zu erkennen. In den ersten Wochen hatte Sophus hin und wieder die Einstellungen verwechselt und sehr seltsame Trankanalysen erhalten, aber diese Zeit schien ihm inzwischen in einer fernen Vergangenheit zu liegen. Heutzutage konnte man ihn mitten in der Nacht wecken und mit geschlossenen Augen zu dem Apparat führen, er hätte keine Probleme mit der Analyse.
„Blutproben, andere Körperflüssigkeiten?“ Sophus schaute zu dem Beutel am Fußende.
„Oh, bitte, Besenbinder! Keine Retourkutschen!“ Katenbauer waren alle Proben von Körperflüssigkeiten suspekt. Er hielt sie nicht nur eines Heilers für unwürdig, was er nicht müde wurde zu betonen, sondern ekelte sich offensichtlich bereits bei der Vorstellung. Der Gesichtsausdruck, als sein Blick zu dem Beutel wanderte, sagte mehr als eine ganze Ansprache. „Ich werde Renner Bescheid geben. Er soll sich darum kümmern, wenn Sie unbedingt ihre Hände im Blut unschuldiger Patienten baden wollen.“
„Ich würde Weber ja alles Mögliche nennen, aber bestimmt nicht unschuldig.“
„Soll ich Renner sagen, er soll auch einen Finger abschneiden, damit Sie den analysieren können?“
Sophus sah Katenbauer finster an und verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. ‚Warum nur einen Finger?‘
In diesem Moment kam Leben in den bisher völlig bewegungslosen Mann im Bett. Die Lider flatterten. Seine Fingerspitzen zuckten. Seine Augen, bisher starre Kugeln in einem fahlen Antlitz, rollten in den Höhlen. Der Blick irrte durch das Zimmer zu Katenbauer und anschließend zu Sophus, wo er verharrte.
„Papa?“, fragte Weber mit matter Stimme.
Sophus überlief es kalt. Er wollte ganz gewiss nicht von diesem Menschen für dessen Vater gehalten werden.
„Papa, wo bin ich?“ Die Stimme eines Kindes, das sich verlaufen hat.
„Auf einer Heilerstation“, sagte Katenbauer.
Webers Blick wanderte zu dem Sprecher und danach durch den Raum. „Ich will heim“, klagte er schließlich.
„Erst müssen Sie gesund werden“, sagte Katenbauer.
„Gesund werden?“, echote Weber. „Bin ich krank?“
„Sehr krank, Herr Weber“, sagte Katenbauer.
„So hat mich noch nie einer genannt – Herr Weber.“ Sein Blick glitt zu Sophus zurück. „Geh nicht fort, Papa.“
„Ich bin nicht Ihr Vater“, sagte Sophus mit Zorn in der Stimme. Webers offensichtliche Verwirrtheit setzte ihm mehr zu, als es ein Wiedererkennen getan hätte. Er wollte diesen Mann hassen, aber es gelang ihm nicht bei einem hilflosen Bündel, das ihn mit Papa ansprach.
Tränen traten in Sebastian Webers Augen, still, ohne Schluchzer weinte er ob einer vermeintlichen Ablehnung.
Katenbauer drückte Sophus die Zungenprobe in die Hand. „Gehen Sie endlich und erledigen Sie Ihre Arbeit. Ergebnis zu mir in einer Viertelstunde.“ Er schwenkte den Zauberstab. „Forza audio, Renner. – Ich brauche Sie in Zimmer 503. Bringen Sie ein vampyrales Besteck mit. Im Labor geht wieder der Blutdurst um.“
Sophus schüttelte lediglich den Kopf und verließ den Raum. Draußen atmete er mehrmals tief ein und aus. Ihn beherrschte das Gefühl, Webers Ausdünstungen aus seinem Körper zwingen zu müssen, ehe er zu weiteren vernünftigen Handlungen fähig wäre. Er überquerte das Treppenhaus und marschierte ins Labor. Die Zungenprobe hielt er weit von sich, als wäre sie ein explosives Agens.
Stephanie stand an der Tränkeausgabe und erwartete ihn. „Also, nun lüfte das Geheimnis. Wer ist dieser ominöse Patient?“
„Sebastian Weber.“
„Der Sebastian Weber?“
„Ja. Liegt da und fantasiert. Völlig gaga.“
„Das war er doch schon immer“, sagte Stephanie.
„Aber nicht so. Er sagt Papa zu mir.“
„Das ist wirklich neu.“ Stephanie hielt Sophus die offene Rechte entgegen. „Soll ich die Analyse machen?“
„Warum? Es ist eine Zungenprobe und sie enthält offensichtlich nichts.“ Sophus hielt die Phiole zwischen sich und die Laborleiterin. „Schau selbst.“
„Ich dachte, du würdest vielleicht nicht für Webers Gesundheit arbeiten wollen“, sagte Stephanie.
„Lass das nur nicht deinen Göttergatten hören. Der hat mir einen Vortrag über Heiler, Ehre und Ethik gehalten, da ist mir mal wieder Hören und Sehen vergangen.“ Sophus zog die Phiole zurück. „Ich mache das. Ich komme damit klar. Weber ist ein Patient, mehr nicht.“
In Sophus‘ Worte platzte Christopher Möbius. Der Chefauror der Steinernen-Renne-Wache sah einmal mehr so aus, als habe er die Nacht im Wald verbracht. Kiefernnadeln steckten in seinem Haar. Er hob grüßend die Hand. „Verzeihung, dass ich hier so einfach hereinschneie, aber ich wollte dem frischgebackenen Familienvater gratulieren.“
Er schüttelte Sophus ausgiebig die Hand. „Wir werden den Weber nicht los, was?“, sagte er als Nächstes. „Ich darf für den Herrn eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung organisieren.“
„Ich habe Silvio gesehen.“
„Ja. Er ist der Erste. Dann übernimmt Vierbaum und danach Kaczmirczik, neuer Kollege. Kommt frisch von der Aurorenakademie. Eigentlich sind verurteilte Magier eine Angelegenheit der Aurorenschaft des Bundesamtes, aber so schnell sind die Herren da natürlich nicht.“ Möbius griff in eine seiner Umhangtaschen, zog ein Notizbuch heraus, schlug es auf und blickte auf den Eintrag.