3,99 €
Sophus Schlossers dritter Streich. Nach der Flucht der an Chorea Magica erkrankten Leiterin des Labors der Heilerstation überredet Heiler Katenbauer Sophus, seinen Job als Besenbinder aufzugeben und als Tränkebrauer zu arbeiten. Er will mit aller Macht jene Krankheit besiegen, die seine Geliebte in ihren Klauen hält. Im Gegensatz dazu zieht Tiberius Weissner mit der Erkrankten durch die USA. Gemeinsam bestreiten sie ihren Lebensunterhalt durch Casinogewinne unter Nutzung flüssigen Glücks, Felix Felicis. Als man Stephanie schließlich erwischt, wird sie zurück nach Deutschland überstellt und in Katenbauers Obhut übergeben. Ob es diesem und seinem Team gelingt, die Krankheit zu besiegen, was Trugolme, niesende Goblins, Elfen in lohnabhängiger Beschäftigung, Sonnenaufgänge über dem Brocken und Maler an der Seine damit zu tun haben, wie deutsche Zauberer in die USA reisen, was Geistabtrenner bewirken und eventuell was Glück bedeutet, all das erfahren Sie in diesem Buch. Begleiten Sie den Autor in einen zauberhaften Harz, wo sich Magie und Medizin zu einem Potpourri vereinen, der so manchen Zaubertrank in den Schatten stellt. Vielleicht empfinden Sie es sogar als Glück, dieses Buch zu lesen und bleiben vom Fluch der Goblins verschont.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Felix Felicis
David Pawn
Ich entschuldige mich bei allen Fans von Harry Potter, dass ich Ideen und Grundannahmen aus den Büchern von Minerva Mc…, sorry, J. K. Rowling in dieser Geschichte verwendet habe.
Sophus ist seit seinem Zusammentreffen mit Lyra klüger und reifer geworden. Wollen wir doch einmal sehen, ob dies für seinen Werdegang von Vorteil ist. Begleiten Sie mich zu einem Flug über den Harz wenn der neue Tag die Nacht vertreibt.
Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: http://www.qindie.de/
Copyright © 2019 David Pawn
Michael Siedentopf
Schweizer Str. 40
01069 Dresden
Umschlaggestaltung: Casandra KrammerUmschlagmotive: © Shutterstock / lanych - 170428316, Kostenko Maxim – 108920759
All rights reserved.
ISBN-13: 978-3754604052
Die Tür zur Werkstatt wurde aufgestoßen und Sophus‘ Meister trat ein. Er war ein Mann um die sechzig, der sich auf den Ruhestand freute und bis vor Kurzem die Hoffnung gehegt hatte, sein bester Geselle würde eines Tages seine Nachfolge antreten. Bei der Werkstatt handelte es sich um die einzige, noch verbliebene handwerkliche Besenbinderei in Wernigerode, die magische Flugbesen fertigte, aufarbeitete und reparierte.
Der Geselle, auf den der alte Mann mit dem grauen Haarkranz so große Stücke hielt, hieß Sophus Schlosser, arbeitete nun schon seit siebzehn Jahren an seiner Seite und war in den letzten Monaten öfter in der Heilerstation an den Hohneklippen gewesen als an seinem eigentlichen Arbeitsplatz. Außerdem hatte er im vergangenen Jahr einen dreimonatigen Aufenthalt auf der magischen Gefängnisinsel Sylt II hinter sich gebracht.
Schuld daran war die Liebe, beziehungsweise Sophus‘ frühere Angewohnheit, dieser mit Hilfe von Zaubertränken auf die Sprünge zu helfen. Das Schicksal hatte ihn mit Lyra Bascomb zusammentreffen lassen, einer Heilerin, die es zunächst wenig amüsant fand, dass jemand versuchte, sie mit magischen Mitteln gefügig zu machen. Kurzerhand zeigte sie Sophus bei den Auroren, der magischen Polizei, an.
Dies lag nun über ein halbes Jahr zurück. Lyra lag zwischenzeitlich, durch einen Zaubertrank vergiftet, selbst in einem Bett der Heilerstation. Die Tränkeabteilung hatte wochenlang mit diesem neuartigen Trank gekämpft. Sophus wurde in diese Ereignisse hineingezogen, als er sich bereiterklärte, mit Literaturstudien auszuhelfen. Eine Sache, die ihm, neben dem Tränkebrauen, ganz gut gelang.
„Dieser verrückte Heiler ist wieder da“, sagte Sophus‘ Meister. Er blickte dabei drein, als würde er den Besucher am liebsten zum Südpol portieren.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da stakte Gregorius Katenbauer durch die Tür. Der Heiler besaß nach einem Werwolfunfall nur noch zwei verholzte Unterschenkel und einen schneidenden Zynismus, den er immer dann anwandte, wenn man am wenigsten darauf gefasst war. Falls man damit klarkam, hin und wieder auf üble Art angeranzt oder gar in eine abgelegene Einöde gehext zu werden, erwies sich Katenbauer als engagierter Heiler, der alles tat, um seine Patienten wieder auf die Beine zu bringen. Dies war vermutlich auch der Grund, weshalb man ihn bisher nicht gefeuert hatte.
„Nun, alter Mann“, fragte Katenbauer. „wie haben Sie sich entschieden?“
„Sie können mir Sophus nicht abkaufen. Er ist mein Geselle, nicht mein Hauself.“ Der Meister wandte sich zu dem Heiler um und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Und er ist alt genug, selbst zu wissen, was gut für ihn ist.“
„Das glaube ich kaum.“
Der alte Mann winkte als Reaktion auf Katenbauers Worte nur ab. Er wandte sich um, ging in den Verkaufsraum und ließ den Heiler und Sophus allein in der Werkstatt zurück.
„Katenbauer, erinnern Sie sich noch, was Sie zu mir gesagt haben, als Stephanie Ihnen eröffnet hat, dass ich bei der Suche nach einem Gegengift für Pekunaria mithelfen soll? Ich kann mich genau daran erinnern. ‚Und der soll uns helfen? Wer ist auf diese blödsinnige Idee gekommen?‘ Das waren Ihre Worte. Jetzt kommen Sie mit der viel blödsinnigeren Idee, mich an der Heilerstation zum Laboranten zu machen.“ Sophus sah sein Gegenüber an, als hielte er ihn für übergeschnappt.
„Sehen Sie, ich bin lernfähig“, erwiderte Katenbauer.
„Ich offenbar nicht, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ich wirklich gut genug bin für so einen Job.“
„Hat Ihnen Stephanie das nicht erklärt?“, fragte Katenbauer, ohne dass Sophus wusste, was dieser meinte.
„Was?“
„Dass es kein Job ist, Tränke zu brauen. Es ist eine Berufung. Einige Zauberer können es, die meisten können es nicht. Sie fuchteln ein Leben lang mit ihren Zauberstäben herum und freuen sich wie die Schneekönige, wenn sie eine Maus in eine Teekanne verwandeln können. Aber an Tränke wagen sie sich nicht heran, denn wenn da etwas schiefgeht, stirbt nicht nur eine Maus.“
„Dann machen Sie es doch. Es gibt keine gefährlichen Tierwesen mehr in Deutschland. Der letzte Werwolf ist vor hundert Jahren getötet worden, der letzte Drache vor tausend. Hin und wieder sieht man einen der letzten Grinderlohs, aber die sind inzwischen so scheu, dass man wirklich Glück haben muss, einem zu begegnen. Im Schwarzwald leben die letzten Irrwichte im Hochmoor und stehen unter Schutz. Sie können also ganz umsatteln und die Tränkeabteilung übernehmen. Zur Not können Sie immer noch Renner schicken, wenn doch mal jemand im Garten über einen Gnom gestolpert und dabei gebissen worden ist.“
„Sie wissen genau, was ich will.“ Jetzt hörte sich Katenbauer tatsächlich an wie ein bissiges Tierwesen, das zur Warnung knurrte. „Ich muss einen Trank gegen Chorea Magica finden.“
Die ehemalige Leiterin der Tränkeabteilung, Stephanie Simon, war an der im Volksmund auch Squibbelitis genannten, von Goblins übertragenen, Infektion erkrankt. Die Ansteckung erfolgte während ihrer Lehrzeit bei einem engen Freund Katenbauers, der sich widerrechtlich einen Goblin als Diener hielt. Die Krankheit befällt das Hirn des Magiers, beraubt ihn mehr und mehr seiner magischen Fähigkeiten und greift am Ende auch vitale Funktionen an. Zuerst macht sie sich durch Zuckungen des Armes bemerkbar, der den Zauberstab oder einen anderen magischen Gegenstand hält. Später ändert sich häufig der Charakter des Magiers, er wechselt auf die schwarze Seite. Die Symptome lassen sich im frühen Stadium durch Einnahme des Trankes Felix Felicis, auch als flüssiges Glück bekannt, mildern. Doch die häufige Einnahme dieses Trankes beschleunigt in den meisten Fällen den Wechsel zur dunklen Zunft.
Stephanie Simon war vor einigen Wochen in Begleitung eines weiteren Zauberers verschwunden. Dieser Zauberer hieß Tiberius Weissner, war ehemals der Jahrgangsbeste Tränkebrauer an der deutschen Zauberschule in den Hohneklippen, wurde Lehrer am berühmten Lehrinstitut von Hogwarts und Berater des britischen Zaubereiministeriums. Er fiel jedoch in Ungnade, als er seine Stellung ausnutzte, um ungenehmigte Versuche an Muggeln durchzuführen, wurde entlassen, unter Hausarrest gestellt und schließlich nach Deutschland entsandt, als man seine Hilfe benötigte, um die Vergiftungsfälle im Harz zu entschlüsseln.
Jetzt braute er für Stephanie Simon Felix Felicis und machte mit ihr die Spielkasinos der Welt unsicher.
Bisher konnte kein Trank zur Heilung von Chorea Magica entwickelt werden, doch Katenbauer trieb nicht nur magischer Ruhm, endlich ein Gegenmittel zu finden, sondern seine tiefe Zuneigung zu der jungen Heilerin. Seit ihrer Ausbildungszeit an der Heilerstation führten die beiden eine Beziehung, die sie über viele Jahre erfolgreich geheim gehalten hatten.
„Gibt es keine jungen, klugen Magier mehr, die sich voller Elan der Herausforderung an der Heilerstation stellen würden? Brauchen Sie wirklich einen Handwerker, der die Hohne-Klipp mit Mühe und Not absolviert hat? Das ist doch Blödsinn, Katenbauer, Sie sind ein kluger Mann. Was erwarten Sie wirklich von mir?“
„Sicherlich kann ich einen klugen, begabten Absolventen bekommen. Aber der ist für gewöhnlich so voll von sanftmütigem Gelaber, dass er für die Tränkeabteilung völlig ungeeignet ist. Ich brauche, mit Verlaub, ein skrupelloses Arschloch.“
„Danke, Katenbauer, danke. Ich hätte nicht mit so einem Lob gerechnet.“
„Sie haben Zaubertränke gebraut und ohne Zögern benutzt. Da können Sie schönreden, wie Sie wollen. Die Tatsache bleibt. Das habe ich auch bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt: Sie sind prädisponiert.“
„Aber ich bin nicht mehr so. Ich mach das nicht mehr.“
Katenbauer lachte auf. „Schön, Sie sind also vom Snape zum Severus verhext worden. In diesem Fall appelliere ich an Ihr Gewissen. Ich benötige Hilfe, um Stephanie Simon zu heilen. Stephanie Simon, Sie erinnern sich? Nettes, blondes Mädchen mit einem freundlichen Lächeln für jeden und einer Brille auf der Nase, das in einem Jahr, vielleicht sogar eher, eine bösartige Hexe sein wird, die jeden mit einem Fluch belegt, dessen Nase ihr nicht passt. Die Lestrange-Schwestern würden sie als Dritte im Bunde willkommen heißen, wenn sie noch lebten.“
Sophus starrte Katenbauer nur an.
„Meine Güte, ich liebe das Mädchen. Muss ich mir das Herz aus dem Leib reißen, damit Sie mir helfen, oder was?“
Der erste Sturm des Januars rüttelte an den Fensterläden, wie bestellt, um die Szene zu vervollkommnen.
„Sie überschätzen mich“, sagte Sophus.
„Sie haben Angst“, erwiderte Katenbauer. „Das ist alles. Sie sind schlimmer als eine Dreiechse, Sie drehen sich bei Gefahr nicht einfach um hundertachtzig Grad und rennen davon, sie verkriechen sich hier in dieser Werkstatt. Vogel Strauß kann von Ihnen noch etwas lernen.“
„Und mit welchem Tier kann man Sie vergleichen?“, brauste Sophus auf. „Mit einem Erumpent, das bei der kleinsten Berührung gleich explodiert? Ja, ich habe wirklich Angst, Angst dem nicht gewachsen zu sein, was Sie da von mir erwarten. Und die ist auch berechtigt. Ich bin nicht mit Auszeichnung von der Schule abgegangen wie Sie, ich habe keine Preise bei irgendwelchen Zauberwettbewerben gewonnen.“
„Papperlapapp, als ob es darauf ankäme. Sie können alle meine Urkunden haben und damit ein Freudenfeuer entfachen, wenn Sie mir nur helfen, Stephanie zu heilen. Es ist alles vorbereitet. Ich habe mit Eikendorff gesprochen und er ist einverstanden.“
Sophus war überrascht. Es passte so gar nicht zu dem Bild, das er bisher von Katenbauer erhalten hatte, dass dieser tatsächlich mit dem Leiter der Heilerstation eine seiner Entscheidungen absprach. Üblicherweise überrumpelte er diesen lieber und ließ sich seine Handlungen hinterher absegnen.
„Sie können praktisch morgen anfangen“, redete Katenbauer weiter auf ihn ein. „Sie benötigen eine Ausbildung. Sie sind wirklich ein Naturtalent, aber wenn Sie im Labor der Heilerstation arbeiten, brauchen Sie zuvor einen Überblick über die ganze magische Technologie, die wir da haben.“
„Haben Sie nicht gemeint, Sie bräuchten mein unverdorbenes Talent?“ Sophus klang weiterhin nicht überzeugt.
„Ich will Ihr Talent, ja. Und das wird nicht dadurch verdorben, dass ich dafür sorge, dass man Ihnen zeigt, wie man einen Drachenherz-Chromatographen, einen Phönix und ein magisches Elmi bedient. Das ist Zauberei auf höchstem Niveau.“
„Mein Meister braucht mich“, sagte Sophus. „Ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen.“
„Wollen Sie wirklich hier versauern?“ Katenbauer deutete auf die Werkbank und einige in der Ecke lagernde Besen. „Ist das hier ihr Traum vom Leben?“
„Nein, das ist mein Beruf. Das habe ich gelernt. Außerdem bin ich es meinem Meister schuldig.“
„Er wird einen anderen finden. Sie vergeuden Ihre Fähigkeiten in diesem Loch.“
„Katenbauer, das geht zu weit.“ Sophus spürte Wut in sich aufsteigen. Ein Gefühl, von dem viele, die mit Katenbauer zu tun hatten, berichteten.
Katenbauer stieß ein unwilliges Geräusch aus und winkte ab. „Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich Sie weiterhin ‚Besenbinder‘ nenne, denn Sie sind und bleiben ein Kleingeist. Dies ist die Chance Ihres Lebens und Sie lassen sie vorbeiziehen.“ Er schüttelte die Kopf. „Sie sind noch dümmer, als ich dachte.“
„Katenbauer, ich …“
„Keine Ausflüchte. Stehen Sie wenigstens zu Ihrer Entscheidung, auch wenn Sie falsch ist. Das ist die kleinste Ehre, die Sie sich selbst erweisen können.“
Katenbauer wandte sich ab und stakte aus der Werkstatt. Sophus hörte, wie er draußen abschließend ein paar Worte zu seinem Meister sagte, konnte aber nicht verstehen, worüber die beiden sprachen. Er setzte sich an seine Werkbank und begann mit der Arbeit an einem ‚K2‘, einem neuen Modell aus China, der nur noch die Hälfte seines Reisigs besaß.
Er hörte die Ladenglocke anschlagen, kurz danach kam sein Meister in die Werkstatt.
„Sophus, wir müssen reden“, sagte der alte Mann, baute sich neben Sophus‘ Werkbank auf und blickte auf seinen Gesellen herab.
Sophus wurde ob der barschen Anrede ungemütlich. „Was ist los, Meister?“
„Warum willst du dir so ein Angebot entgehen lassen? In deinem Alter hätte ich in dem Fall keine Sekunde gezögert.“
„Meister, jetzt fängst du auch noch an. Ich dachte, ich werde hier gebraucht.“
„Du warst mein bester Geselle in all den Jahren, stimmt. Aber ich würde mir ziemlich mies vorkommen, wenn ich dir im Weg stehen wollte, so eine Chance zu nutzen. Im Gegenteil, wenn du mein Sohn wärst, würde ich dich mit Flüchen zur Heilerstation rauf treiben, wenn ich müsste.“
„Meister, du kennst mein Abschlusszeugnis. Denkst du wirklich, ich gehöre auf eine Heilerstation zwischen all die studierten Zauberer und Hexen?“
„Deine Lehre ist jetzt 17 Jahre her. Manche Menschen lernen viel besser bei der täglichen Arbeit als an einer Schule. Außerdem gibt es so etwas wie Spätentwickler. Hast du nicht gesagt, deine Freundin, diese Heilerin, hält große Stücke auf dich? Mir scheint eher, du hast tatsächlich Angst.“ Der Meister zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Sophus an die Werkbank.
„Mensch, Sophus, denk nach.“ Der alte Mann gestikulierte. „Sieh dich doch um. Die Zeit für unsereinen ist vorbei. Jedes Jahr kommen weniger Kunden. Wegwerfen, neu kaufen – so läuft das heutzutage. In den ersten Jahren kann man seinen Besen an den Hersteller zurückschicken und spätestens nach drei Jahren ist es oft billiger, sich einen Neuen anzuschaffen. Das ist der Lauf der Welt. Die Muggel haben es vorgemacht, die Zauberer machen es nach.“
„Aber wir binden doch immer noch …“, setzte Sophus an und wurde unterbrochen.
„Wir bauen mehr Besen für Touristen als für Zauberer, mein Junge. Die meisten Besen, die wir verkaufen, sind zum Straßefegen. Gestern habe ich einen Bewerber auf eine Lehrstelle abgewiesen. Lohnt sich einfach nicht mehr.“
„Echt nicht? Aber im Dezember hast du andauernd gejammert, wie viel Arbeit herumliegt.“
„Da war ich oft ganz allein in der Werkstatt. Außerdem ist es zur Weihnachtszeit immer das Gleiche. Da fällt den Leuten ein, dass es Traditionen gibt. Handwerklich gefertigte Besen sind ein beliebtes Geschenk. Spätestens im Januar kommen alle wieder zur Besinnung und kaufen billig.“ Der alte Mann sah betrübt drein. „Also, wenn dir dieser Heiler noch einmal ein Angebot macht, greif zu. Irgendwann kommt der vielleicht nich‘ mehr wieder.“
„Ich habe gedacht, du würdest mich gern als deinen Nachfolger sehen, Meister“, sagte Sophus. „Hast du immer gesagt.“
„Ja, klar habe ich das. Wenn schon jemand den Laden mal übernehmen sollte, dann einer, der sein Handwerk versteht. Aber ich raufe mir auch nicht die letzten Haare aus, wenn ich hier gehe und die Tür endgültig dichtmache. Is‘ eben so.
Ich habe diesen ganzen Unsinn überstanden, als ich in eine sogenannte PGH eintreten sollte. Der Typ, der da mit mir gesprochen hat, wusste nicht einmal, was wir hier machen. Dachte, ich binde wirklich Laubbesen. Ich habe weitergemacht, auch als man Reisig nur noch zugeteilt bekam und in einer Qualität, dass man sich nicht wagte, es auch nur quer über die Straße zu fliegen. Ich habe es ertragen, als plötzlich all diese ‚Nimbus‘ und ‚Sauberwisch‘ über den Brocken zu uns rübergeflogen kamen. Aber diese Schwemme von billigen ‚Luftdrachen‘, ‚Silberlibellen‘ und ‚K2‘ gibt uns den Rest.
So, aber jetzt machen wir uns trotzdem an die Arbeit. Zurzeit liegt zum Glück was auf unseren Werkbänken. Wirst du auf mich hören und zur Heilerstation gehen?“
„Wenn du meist, es ist das Richtige.“ Sophus nickte.
„Ja, das glaube ich.“ Sein Meister schlug Sophus auf die Schulter, stützte sich gleichzeitig bei ihm ab und stand auf. Er drehte sich um und schlurfte ins Nebenzimmer. Sophus dachte bei sich, ihm wäre niemals zuvor so deutlich geworden, dass sein Meister ein alter Mann war.
Am Abend saß Sophus mit Lyra in deren Wohnzimmer und sprach davon, dass er inzwischen bereit war, Katenbauers Angebot anzunehmen. Seit Silvester rannte der Heiler ihm und seinem Meister die Tür ein, das wusste sie bereits. Aber bisher war keine Rede davon gewesen, dass er annehmen würde.
„Was hältst du davon?“ Sophus sah ein wenig ängstlich aus, als er dies fragte.
„Ich denke, es könnte klappen. Aber ich muss dich warnen.“
„Inwiefern?“
„Katenbauer ist ein Tier, wenn er Heiler ausbildet. Jeder der auf der Station arbeitet, hat schon junge Zauberer und Hexen heulend durch die Korridore stürmen gesehen und gehört, wie sie Flüche auf Katenbauer ausstießen. Aber alle, die durch seine Mühle gegangen und nicht wahnsinnig geworden sind, haben heute Anstellungen in den besten Heilerstationen.“
„Ich glaube, ich kann mir vorstellen, wie er ist. Ich habe mit ihm zusammenarbeiten müssen. Das weißt du doch.“
„Ja, aber da warst du ihm nicht unterstellt. Weißt du, Katenbauer hält sich für eine Art Kriegsfürst. Sein Gegner sind Flüche, Gifte und Erkrankungen, und er stellt sich ihnen jeden Tag zur Schlacht. Seine Untergebenen sind seine Soldaten. Und genau so führt er sie. Du wirst es nicht glauben, aber er hat Renner mal den Cruciatus-Fluch auf den Pelz gebrannt, weil der eine Patientin nicht schnell genug in den Untersuchungsraum gebracht hat.“
„Und Renner?“
„Hat nichts gesagt. Jetzt ist er Katenbauers erster Assistent. Er spekuliert auf die Leitung der Abteilung für vaskuläre Magie. Die Stelle wird im nächsten Jahr frei. Und er besitzt beste Voraussetzungen – er hat Katenbauer überstanden.“
„Du meinst, ich sollte es mir noch mal überlegen?“, fragte Sophus nach.
„Nein, nein – ich freue mich für dich. Aber es wird nicht leicht, auch wenn du Talent hast, und Katenbauer dir jetzt Honig ums Maul schmiert.“
„Talent!“ Sophus lachte auf. „Weißt du, wie Katenbauer mich genannt hat: ein skrupelloses Arschloch.“
Lyra umhalste ihn spontan. „Ach, mein Lieber, nimm dir das nicht zu Herzen.“ Sie küsste ihn sanft auf die Wange, überlegte es sich sogleich besser und ließ einen warmen, nicht so freundschaftlichen Kuss folgen. Eine geraume Weile blieb das Gespräch unterbrochen.
„Das ist wirklich ein knackiger Hintern“, waren die ersten Worte, die wieder gesprochen wurden. Lyra ließ eine Hand auf den angesprochenen, inzwischen unbedeckten Körperteil fallen. „Und Talent hast du auch. Bloß wird das Katenbauer nicht interessieren.“
Sophus war wahnsinnig, irrsinnig, absolut und vollkommen glücklich. Er liebte und wurde geliebt. Was mehr konnte man vom Leben verlangen?
Am nächsten Tag nach der Arbeit setzte er sich vor den Kamin in seiner Wohnung, warf grünes Pulver hinein und ließ sich über Flohnetzwerk mit der Heilerstation verbinden. Eine Hexe in mittleren Jahren zeigte ihr Gesicht in den Flammen und fragte nach seinem Begehr.
„Ich möchte mit Heiler Katenbauer sprechen“, erklärte Sophus.
„Ich verbinde.“ Das Gesicht der Frau verschwand, eine Weile sah Sophus nur den züngelnden Flammen zu, dann meldete sich der Heiler.
„Ah, Besenbinder, was wollen Sie?“
„Ich habe es mir überlegt, ich nehme Ihr Angebot an“, sagte Sophus.
„Gerade noch rechtzeitig“, erwiderte Katenbauer. „Ich wollte mir gerade einen unverbrauchten Absolventen von der Universität für Heil- und Zauberkunst in Heidelberg besorgen. Ein Bewerber kommt morgen zum Test.“
„Aber ich dachte …“
„Sie haben zu lang gezögert, Besenbinder. Ich brauche hier jemanden und konnte nicht ewig warten. Gestern sah es schließlich so aus, als würden Sie lieber bis an ihr seliges Ende Bindedraht um Reisig wickeln. Aber Sie dürfen sich gern an diesem Test beteiligen. Sie müssen nur ein paar Tränke erkennen. Sollte Ihnen nicht schwerfallen.“ Das Bild Katenbauers begann zu flackern.
„Katenbauer, warten Sie …“
„Bis morgen, Besenbinder, um zehn Uhr. Seien Sie pünktlich.“ Damit wurde die Verbindung getrennt. Sophus blieb vor dem Kamin sitzen, und fragte sich, wie groß seine Chancen sein mochten, gegen einen Absolventen aus Heidelberg zu bestehen.
Am Morgen war Sophus eilig in der Werkstatt appariert, um seinem Meister Bescheid zu geben, dass er sich für die Heilerstation entschieden und einen Eignungstest zu bestehen hatte.
Der alte Mann nickte lächelnd. „Ist schon richtig so“, sagte er, wünschte Sophus viel Glück und ließ ihn ziehen.
Sophus kehrte nach Hause zurück, nahm seinen Besen und machte sich auf den Weg. Die Januarluft war kalt und trocken. Dick in einen Mantel, eine Strickjacke und einen Pullover verpackt landete er mit seinem Fluggerät auf dem Dach der Heilerstation, dort wo ein spezieller Bereich für Besenlandungen und Apparierankünfte markiert worden war. Im letzten Jahr war er so oft hier gelandet, dass er vermutete, er würde diesen Anflug sogar mit verbundenen Augen bewältigen, ohne dass er plante, dies tatsächlich zu versuchen, denn schließlich hatte er in dieser Zeit auch zwei Mal mit einem Besen Bruch gemacht, und war mit gebrochenen Knochen im Bauch des Gebäudes eingeliefert worden. Er wollte daraus keine Tradition entstehen lassen.
Katenbauer erwartete ihn an den Empfangstresen gelehnt, den Zauberstab mit der linken Hand locker kreisen lassend.
„Da sind Sie ja endlich. Ihre Konkurrenz ist bereits im Labor und sieht sich die Apparate an. Guten Flug gehabt?“
„Ging so“, sagte Sophus und entledigte sich einer Schicht seiner Kleidung, da ihm sowohl auf Grund der guten Heizung als auch infolge wachsender Aufregung warm wurde.
„Gehen Sie schon mal vor, Sie kennen sich ja hier aus. Ich bin in fünf Minuten im Labor.“ Katenbauer wandte sich ab und stakte in Richtung Abteilung für Geisteszauber davon, während sich Sophus auf den Weg zum Treppenhaus machte.
Im Labor herrschte die übliche Betriebsamkeit. An den Kesseln entdeckte Sophus einen jungen Mann mit flachsblonden Haaren, die bis auf die Schultern reichten. Er steckte in einem dunklen Anzug, in dem er sich offenbar nicht wohl fühlte. Sophus beobachtete, wie der junge Mann an den Manschetten und dem Kragen herumzupfte, die Jackettknöpfe öffnete und wieder schloss und dabei unverwandt auf den Kessel ihm gegenüber starrte.
Er trat an den Jüngeren heran und sagte freundlich: „Guten Tag, ich bin Sophus, dein Konkurrent.“
„Franz“, sagte der Andere nur. Er blickte auf Sophus‘ ausgestreckte Hand, als sähe er so ein Ding zum ersten Mal im Leben.
Er trug eine Brille. Sein Gesicht war trotz der Jahreszeit von Sommersprossen übersät. Die hellen Augen traten ungewöhnlich stark aus den Höhlen. Der junge Mann schluckte und sein Adamsapfel hüpfte deutlich sichtbar in dem dürren Hals nach oben.
In diesem Moment erschien Katenbauer. Er eilte auf seine beiden Prüflinge zu und sagte: „Jetzt wollen wir mal sehen, was Sie beide so drauf haben.“
Er deutete nach links. „Da habe ich drei Tränke vorbereitet. Die Aufgabe ist ganz einfach. Sie sehen sich an, was da in den Kesseln blubbert und sagen es mir. Auf, auf. In einer halben Stunde muss ich mich wieder um Patienten kümmern.“
„Wir haben nur …“, setzte Franz zu einer Entgegnung an.
Katenbauer sah den jungen Mann streng an und runzelte die Stirn. Der seinerseits klappte den Mund zu, zückte seinen Zauberstab und wandte sich dem ersten Kessel zu, in dem eine bräunliche Flüssigkeit von schlammiger Konsistenz gluckerte.
Sophus sah zu, wie der Blondschopf mit seinem Zauberstab eine Beschwörung über dem Kessel ausführte. Eine Kugel der Substanz löste sich von der Oberfläche und heftete sich an den Zauberstab. Franz drehte sich vom Kessel weg und trug seine Beute in das Labor hinein. Zielstrebig hielt er auf jenen Analyseapparat zu, den Katenbauers Assistent Renner einmal in Sophus’ Beisein und unter seinem aufmerksamem Blick benutzt hatte. Zwei Zauberstäbe ragten links und rechts aus einem Kasten unterhalb eines Okulars und deuteten auf einen freien Platz, dorthin wo die zu untersuchenden Objekte und Substanzen platziert werden konnten. Sophus gab sich nicht länger der Beobachtung seines Konkurrenten hin, sondern nahm sich entschlossen ein Rührholz, wandte sich dem Kessel zu und rührte einmal kräftig nach rechts, einmal nach links darin herum. Silberne Fäden zeigten sich in der braunen Brühe. Sophus nickte.
Er nahm sich eines der herumstehenden Glasgefäße, tauchte es vorsichtig in die Flüssigkeit und stellte es auf ein Tischchen neben den Kesseln. Etwas von dem braunen Zeug lief außen am Rand des Glases hinab. Sophus nahm das Rührholz, fing die Tropfen damit ab und beförderte sie ebenfalls in das Glas. Anschließend sah er sich nach einem Assistenten um.
Er eilte auf einen Mann in mittleren Jahren mit beginnender Stirnglatze zu und fragte: „Wo finde ich Schwimmblasen und Wasserschlinge?“
„Die tierischen Zutaten sind dort hinten und die Wasserkräuter im zweiten Regal auf der rechten Seite. Alles sauber beschriftet und nach dem Alphabet sortiert.“
„Danke.“ Sophus bog nach links ab, schlug sich an die Stirn und wandte sich nach rechts.
Kurze Zeit später stand er mit zwei Flaschen mit Glasstopfen wieder an dem Tisch, wo er die Probe des ersten Kesselinhaltes abgestellt hatte. Gerade richtete sich Franz, der bis eben durch das Okular geblickt hatte, wieder auf und ließ ein Blatt Papier in der Luft vor sich erscheinen.
Sophus, der eine ziemlich klare Vorstellung von dem besaß, was diese braune Brühe darstellte, benötigte einen letzten Beweis. Er warf eine Schwimmblase auf das Tischchen, zückte den Zauberstab und zerkleinerte die Zutat durch einige kurze Beschwörungen. Anschließend warf er das Resultat seiner Bemühungen und zwei Blüten aus der mit „Wasserschlinge“ beschrifteten Flasche in die braune Substanz. Ein kurzer Schwenk mit dem Zauberstab, die Flüssigkeit im Glas begann zu kreisen und klärte sich zusehends, bis sie von Wasser nicht mehr zu unterscheiden war.
Katenbauer sah dem Treiben seiner beiden Prüflinge voller Interesse zu. Sophus stellte erstaunt fest, dass der Heiler weder aus dem Fenster starrte, noch mit seinem Zauberstab spielte, sondern konzentriert jeden Handgriff beobachtete, den er und Franz taten.
„Wenn Sie fertig sind, schreiben Sie bitte die Ergebnisse Ihrer Analysen auf, meine Herren“, sagte er, als er Sophus auf sich zueilen sah.
Sophus sah sich nach einem Zettel um.
„Accio Notizblock.“ Er hatte einen am entfernten Ende des Labors erspäht.
Der Würfel aus gelben Zetteln erhob sich in die Luft und flog auf Sophus zu. Ein Laborant konnte gerade rechtzeitig ausweichen, als der Klotz an seinem Kopf vorbeischoss.
Sophus fing das Objekt aus der Luft und notierte eilig mit Hilfe des Zauberstabes das Ergebnis seiner Bemühungen. Dann reichte er das Blatt Katenbauer, der bereits Franzens Ergebnis in den Händen hielt.
Sophus stellte fest, dass keine Zeit für neugierige Fragen an Katenbauer blieb. Er musste sich dem Trank im zweiten Kessel zuwenden.
Er schaute hinein, erblickte eine Flüssigkeit von schreiendem Lila und musste sich zusammennehmen, um nicht laut aufzulachen.
‚War das möglich?‘, fragte er sich. ‚Machte es Katenbauer ihm wirklich so leicht?‘ Dieses Zeug sah tatsächlich exakt wie Amoroso greco aus, ein Trank, den er noch aus seinen wilden Zeiten kannte, als er mit Liebestränken durch die Bars von Wernigerode gezogen war, und mit deren Hilfe Frauen aufgerissen hatte. Aber Katenbauer wäre nicht er selbst, wenn er einfach diesen etwas ungewöhnlichen Liebestrank zu Prüfung dargestellt hätte. Während Sophus in seinen Überlegungen versunken war, nahm Franz bereits eine Probe, die er wie zuvor zu dem Apparat trug, der praktisch den Mittelpunkt des Labors markierte.
‚Wahrscheinlich ist das der Drachenherz-Chromatograph, von dem immer wieder die Rede ist‘, ging Sophus durch den Kopf. Er nahm sich ein Rührholz und rührte in dem lila Trank herum. Nichts veränderte sich. Keine Schlierenbildung, keine Konsistenzänderung. Sophus hob das Holz aus dem Kessel und sah den Tropfen zu, die von seinem Ende auf die Trankoberfläche zurückstürzten. Er dachte nach. Mit diesen modernen, hochmagischen Geräten und Apparaten konnte er nichts anfangen, ihm fehlte die Ausbildung. Alles, was er über Tränke wusste, stammte aus Zeitschriften und eigenen Experimenten. Katenbauer wollte ihn erst lehren, wie man diese Laborausrüstung nutzte, und doch sollte er jetzt herausfinden, womit er es hier zu tun hatte. Wenn er das verpatzte, würde er niemals erfahren, wie ein Phönix funktionierte oder was ein Elmi war.
Er riss sich von dem Anblick der lila Flüssigkeit los, marschierte entschlossen zu dem Laboranten hinüber, den er zuvor bereits befragt hatte und sagte: „Die mineralischen Zutaten finde ich wohl auf der rechten Seite, oder?“
„Ja, stimmt. Was suchen Sie?“
„Vulkanasche.“
„Die ist alle. Tut mir leid, der Chef“, er deutete auf Katenbauer, „hat gestern erst frische bestellt.“
Sophus zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht, trotzdem danke.“ Er kehrte zu den Kesseln zurück, notierte etwas auf seinem Zettel und brachte das Ergebnis zu Katenbauer.
Anschließend wandte er sich dem dritten Trank zu. Die Flüssigkeit im Kessel war durchsichtig und leicht grünlich. Ein durchdringender, leicht beißender Geruch schlug Sophus entgegen.
Sophus starrte in das klare Gebräu, schüttelte ungläubig den Kopf und sah sich nach Katenbauer um. Schmunzelte oder lachte dieser gar? Nein, mit ausdrucksloser Miene beobachtete er das Treiben der beiden Bewerber.
Franz entnahm gerade wieder magisch eine Probe für die Analyse. Sophus blickte kopfschüttelnd in den Kessel.
Am Eingang zum Labor befanden sich noch immer die Käfige mit den Gnomen, die würden ihm bei der Analyse dieser Flüssigkeit gute Dienste leisten. Sophus tauchte ein Becherglas in die Flüssigkeit, hob es bis zu seiner Nase und schnupperte intensiv. Er irrte sich bestimmt nicht, aber er wollte auf den Test mit den Gnomen nicht verzichten. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Franz, der frustriert auf seine Analyseergebnisse blickte, den Kopf schüttelte, den Zauberstab schwang und zum Kessel zurückkehrte. Den jungen Mann befriedigten die Resultate seiner Untersuchung offenbar überhaupt nicht.
Mit dem Becherglas in der Hand begab sich Sophus in Richtung Laboreingang. Er entnahm einem der Gnomkäfige die Wasserschale, schüttete den Rest Wasser daraus in einen Eimer neben dem Regal und füllte die Schale mit der Flüssigkeit aus dem Kessel. Er schob sie den Gnomen unter die Nase, die ihn die ganze Zeit über interessiert beobachtet hatten. Eilig näherte sich der größte und dickste dem frisch aufgefüllten Behälter, schnupperte und tauchte die Zunge hinein. Die anderen drängten von hinten nach, schubsten den vorn Stehenden und versuchten ebenfalls, ihre Tränke zu erreichen. Der große, dicke Gnom, das Alphamännchen der Gruppe, lag inzwischen beinahe in der Brühe und Sophus hörte ihn schlürfen und rülpsen. Als das kleine Becken zur Hälfte geleert war, richtete sich der Dicke auf, stampfte mit den Füßen in der Flüssigkeit herum und taumelte trunken an den nachdrängelnden Gnomen vorbei, die sich mit Klauen und Zähnen um den besten Platz balgten. Sophus grinste. Es gab nicht viele Flüssigkeiten, die Gnome derartig begeisterten, und die wenigsten von diesen hatten auf sie die gleiche Wirkung wie Alkohol auf Menschen, eigentlich gab es nur eine. Eilig notierte er sein Ergebnis und kehrte zu den Kesseln zurück, wo Katenbauer inzwischen eine altertümliche Uhr an einer Kette in der Hand hielt.
Er drückte dem Heiler das Blatt in die Hand, anschließend sah er sich nach Franz um, der noch immer mit der Labortechnik kämpfte, um den Trank zu analysieren, der die Gnome so in Begeisterung versetzt hatte. Wesen, die auf Wiesen und in Gärten wohnten, Kräuter, Würmer und Schnecken fraßen, wenn sie bei Menschen nichts Essbares zum Stehlen fanden. Wesen, die man zur Hintertür aus dem Garten trieb, nur um zusehen zu müssen, wie sie zur Vordertür wieder hereinkamen, und derer man nur Herr wurde, indem man sie verhexte oder ihnen Kaugummi hinstreute, so dass sie ihre Kiefer verklebten.
„Die Zeit ist um“, rief Katenbauer laut, schwenkte den Zauberstab und ließ so die Uhr verschwinden. Außerdem schlossen sich die Kessel, das Feuer unter ihnen erlosch.
Katenbauer nahm auch den letzten Zettel des anderen Bewerbers entgegen, der mit den Schultern zuckte, als wolle er sagen: „Besser ging’s halt nicht.“
„Da wollen wir doch mal sehen, was sie beide so herausgefunden haben.“ Er schaute auf Sophus‘ und Franzens erste Zettel. „Substiaqua“, las er vor. „Und Kameltreiberbrühe. – Also, Besenbinder, politisch korrekt ist dieser Name aber nicht mehr. – Was steht da noch? Ach ja, ohne Schwimmblasen und Wasserschlinge. Ja, die mussten abschließend hinzugefügt werden. Das hatten beide richtig. Kann mir jemand sagen, wozu dieser Trank dient?“
„Lässt Tiere bei großer Trockenheit oder in der Wüste wochenlang ohne Wasser auskommen“, platzte Franz heraus.
„Und was ist mit Menschen?“
„Giftig“, diesmal kam Sophus seinem Konkurrenten zuvor, der bestätigend nickte, um anzuzeigen, dass er die Antwort auch gewusst hätte.
„Schauen wir mal nach dem nächsten Trank.“ Katenbauer entfaltete das nächste Paar Zettel. „Schlaftrunk – ‚Lila Träume‘. Ja, das lasse ich beides gelten. Wie haben Sie die Falle umschifft, Besenbinder?“
„Es ist keine Vulkanasche mehr da. Ich nehme an, Standardzutaten dürfen hier im Labor nicht sehr lange fehlen, also müssen Sie kürzlich eine große Menge verbraucht haben. Der Trank sieht aus wie Amoroso greco, enthält aber reichlich Vulkanasche.“
„Hätte auch schief gehen können“, sagte Katenbauer. „Ich ziehe die Analyse von Herrn Dietrich vor.“ Er deutete auf den Blondschopf, der sich als Franz vorgestellt hatte, und zeigte den Zettel vor, auf dem alle Bestandteile des Trankes notiert waren und die Schlussfolgerung sauber doppelt unterstrichen war.
„Bleibt der letzte Trank. Was haben wir da? Aquamenthsaccor. Was soll das sein? Eine neue Trankbezeichnung?“ Katenbauer blickte Franz streng an.
„Habe ich mir ausgedacht“, erwiderte dieser und schaute stolz drein. „Wie dieses Zeug wirklich heißt, ist mir nicht eingefallen, darum habe ich es nach den Hauptbestandteilen benannt: Aqua, Menthe und Saccharose.“
„Wirklich eine blendende Idee. Seltsam, dass niemand vor Ihnen auf den Gedanken gekommen ist.“ Katenbauer nickte Franz aufmunternd zu, der über das ganze Gesicht strahlte. Sophus zweifelte daran, dass für den jungen Mann wirklich Grund zur Freude vorlag.
Katenbauer wandte sich nun Sophus‘ Zettel zu. „Und was hat unser Besenbinder? Pfefferminztee. Ja, so würden die meisten Leute das Zeug nennen. Ich habe gesehen, wie sie es an die Gnome verfüttert haben. Diesen Saustall können sie gleich als erste Amtshandlung im Labor selber saubermachen. Wenn die wieder nüchtern werden, kotzen sie als Erstes alles voll.“
„Heißt das, ich bin angenommen?“
„Ja. Gehen Sie runter zu Eikendorff, lassen Sie sich einen Vertrag unter die Nase halten und unterschreiben Sie.“
„Und ich?“, fragte Franz und sah Katenbauer an, als wäre er gerade beleidigt worden.
„Sie? Sie sind raus. Ich kann hier niemanden gebrauchen, der Pfefferminztee nicht von einem Zaubertrank unterscheiden kann, selbst wenn er weiß, wie der Chromatograph zu bedienen ist, was Kollege Besenbinder hier nicht beherrscht. Aber das werden wir ihm auch noch beibringe. Sehen Sie, Dietrich, das ist der Unterschied zwischen Talent und Wissen. Letzteres kann man sich aneignen, mit Ersterem muss man geboren sein.“
Franz stand wie von einer Ganzkörperklammer gefangen und starrte abwechselnd Sophus und Katenbauer an. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, verkniff es sich aber. Stattdessen wandte er sich einfach ab und verließ mit raumgreifenden Schritten das Labor. Unterwegs warf er Sophus einen Blick zu, der jeden Basilisken hätte neidisch werden lassen.
Nachdem Franz als Abschiedsgruß die Tür mit Schmackes hinter sich zugeschlagen hatte, sagte Katenbauer zu Sophus: „Nun gehen Sie endlich runter. Ich nehme an, Sie werden sich bei Ihrem bisherigen Chef abmelden müssen, bevor Sie hier anfangen können. Eikendorff stellt Ihnen sicher seinen Kamin zur Verfügung, aber Sie dürfen auch meinen benutzen.“
„Danke, dieses Vergnügen hatte ich bereits. Einmal reicht.“ Während er im Dezember auf der Heilerstation mitgeholfen hatte, die Geheimnisse eines heimtückischen Zaubertranks zu entschlüsseln, hatte er sich den Unmut Katenbauers zugezogen. Der hatte ihn mittels Flohnetzwerk in das Schloss seiner Vorfahren weitab von Wernigerode verfrachtet, wo Sophus einen Portschlüssel zur Rückkehr finden sollte.
„Ich schicke Sie nicht wieder in die weite Welt hinaus“, sagte der Heiler prompt. „Das hat Zeit, bis Sie das erste Mal Mist bauen“, fügte er hinzu.
Sophus lachte, schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg in die Chefetage der Heilerstation. Der Leiter erwartete ihn bereits.
Er legte Sophus ein mehrseitiges Schriftstück vor, dass er am Ende mit Hilfe des Zauberstabes unterzeichnen musste. Sophus begann zu lesen.
„Nehmen Sie den Vertrag mit und bringen Sie ihn mir morgen wieder“, sagte Eikendorff. „Ich habe keine Lust, Ihnen zuzusehen, wie Sie das alles lesen.“
„Aber ich muss doch wissen, was ich da unterschreibe.“
„Gewiss, darum sollen Sie es zu Hause in Ruhe durcharbeiten.“ Eikendorff schob den Vertrag weiter zu Sophus herüber, Sophus nahm die Papiere, dankte und verabschiedete sich.
„Auf gute Zusammenarbeit“, sagte der Leiter der Heilerstation, als Sophus gerade an der Tür ankam.
„Danke.“ Er öffnete die Tür, trat wieder auf den Gang und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss, wo seine große Liebe die Muggel-Station leitete, die sie selbst als Station für nichtmagisch Begabte bezeichnete. Hinter ihm schloss sich magisch die Tür zum Chefzimmer.
„Dürfen wir Sie jetzt Kollege nennen?“, wurde Sophus von Saphira Graßhoff begrüßt, einer kleinen, zum Dickwerden neigenden Heilerin, die bereits einige Jahre Lyras Untergebene und feste Stütze in schwierigen Zeiten war.
„Ja, ich habe es geschafft. Was denken Sie? Ist das gut?“
„Lyra ist der Meinung, Sie haben es verdient. Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Katenbauer. Vielleicht haben Sie es ja schon gehört, ich habe über ein Jahr unter seiner Fuchtel gestanden und schließlich das Handtuch geworfen. Ich denke allerdings, ein Mann kommt mit dem alten Macho etwas besser zurecht. Wissen Sie, er hat manchmal seltsame Anwandlungen darüber, was es bedeutet, wenn eine Frau unter ihm arbeitet. Allerdings soll er sich in dieser Beziehung in den letzten Jahren gebessert haben.“
„Der positive Einfluss der Liebe“, sagte Sophus.
„Könnte sein. Das mit der kleinen Simon hat er geschickt geheim gehalten.“
„Tja, und jetzt ist er verzweifelt auf der Suche nach ihr.“
„Es gibt eine neue Spur, wussten Sie das schon?“
„Nein.“ Sophus sah Saphira neugierig an.