Aus der Sicht des Pumas - Peter Siefermann - E-Book

Aus der Sicht des Pumas E-Book

Peter Siefermann

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Beschreibung

Die Geschwister Linda und Vince Fuller werden durch einen hinterhältigen Brandanschlag aus ihrem gewohnten Leben gerissen. Sie verlieren nicht nur ihre Eltern, sondern alles, was für sie bis dahin von Bedeutung war. Fünf Jahre später wagen sie mit Freunden einen Neubeginn. Doch das Trauma, das sie überwunden glaubten, holt sie wieder ein.

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Die Geschwister Linda und Vince Fuller werden durch einen hinterhältigen Brandanschlag aus ihrem gewohnten Leben gerissen. Sie verlieren nicht nur ihre Eltern, sondern alles, was für sie bis dahin von Bedeutung war.

Fünf Jahre später wagen sie mit Freunden einen Neubeginn. Doch das Trauma, das sie überwunden glaubten, holt sie wieder ein.

Puma (Silberlöwe, Berglöwe, Kuguar; Puma concolor), in vielen Unterarten und Farbschlägen von Alaska bis Feuerland vorkommende Großkatze, dem Löwen ähnlich, jedoch kleiner; klettert sehr gut, fängt meist nur Vögel und kleinere Säuger, bevorzugt offene Landschaften, bes. in trockenen Gebirgen.

(Lexikon aus Fischer Taschenbuchverlag GmbH Frankfurt (M.), Ausgabe 1981

Anmerkung des Autors: Trotz seiner Größe zählt der Puma zur Gattung der Kleinkatzen. Zu seinem Beuteschema zählen auch Rehe, Hirsche, selten Elche.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Heute kam dem Pumaweibchen Bonnie der Weg über den Pass beschwerlicher vor als sonst. Lag es daran, dass die Jungen in ihrem Bauch schwerer wurden? Seit zwei Monaten trug sie die Bälger nun schon mit sich herum, und noch einen Monat würde es dauern, bis sie sie in einer geheimen Höhle auf die Welt bringen würde. Allein, selbstredend, denn ihr Erzeuger hatte bestimmt schon vergessen, dass er Vater wurde.

Sie wurde in diesem Frühjahr sieben Jahre alt und vielleicht war es das letzte Mal, dass sie Mutter wurde. Es war eines dieser ungewissen Gefühle, die zwar in ihr wohnten, sie aber nicht deuten konnte.

Dieser Pass. Mindestens jeden zweiten Tag kam sie hier vorbei. Auch da war sie sich des Grundes nicht so richtig sicher. Möglich, dass ihr die Aussicht von hier oben gefiel, aber auch, weil dies die einzige Stelle ihres gesamten Reviers war, wo sich die beiden Reviere überschnitten: Nämlich ihr eigenes und das von Clyde, dem Vater all ihrer Kinder. Es überschnitt sich am Pass und dem Abhang ins jenseitige Tal hinunter, wo sie sich jedoch wieder trennten. Clydes Revier bog dort oberhalb des Felsenkessels nach rechts ab, ihres hingegen nach links. Er legte ja so großen Wert auf räumliche Trennung. Natürlich war sein Revier doppelt so groß wie das Ihrige, und bestimmt hatte er anderswo und ringsum noch andere Revierüberschnitte mit anderen Pumadamen, die eventuell sogar jünger waren als sie. Aber das ging Bonnie nichts an.

Vorsichtig und doch elegant machte sie sich an den Abstieg. An manchen Stellen roch es verdächtig nach diesen Menschen, genauer gesagt an zweien, und wenn sie unten nach links über ihr Geröllfeld abzweigte, wieder an zwei Stellen. Sie kamen also hierher. Es gab überhaupt nur einen Ort, an dem sie aus dem grünen Kessel heraufklettern konnten. Sonst war es für sie überall zu steil. Sie kannte diesen Ort gut, sehr gut, war selber einige Male diesen steilen Weg hinunter- und wieder heraufgeklettert. Heute würde sie jedoch in ihrem Revier bleiben und einfach nur schauen.

Bonnie hatte einen Lieblingsplatz. Ein herrlicher Felsblock, frei herausragend wie ein Monolith, oben flach, wunderbar zum Liegen. Allerdings, er war fast vier Meter hoch, doch für sie ein Kinderspiel. Wenn sie gut in Form war, schaffte sie die Höhe ansatzlos mit einem einzigen Satz. Ob das mit ihrem Bauch auch heute klappte? Na, sie würde es ja sehen.

Die Aussicht von dieser Plattform war genial. Sie lag hoch über dem Tal, wie ein Adlerhorst auf unzugänglichem Fels. In der Ferne sah sie jenes Plateau, wo seit einigen Tagen Menschen zu sehen waren. Sie hörte auch Geräusche von dort: Klopfen, Hämmern und Sägen, wobei ihr gerade das Sägen völlig neu vorkam. Einmal war sie dort gewesen, vor zwei Wintern, aber außer verkohlten Balken, die nach Rauch stanken, und einer alten Metallkonstruktion, zu dem die Menschen „Truck“ sagten, gab es dort nichts Besonderes. Nach einem Waldbrand, die nicht selten waren, sah es ähnlich aus.

Als sie noch jung gewesen war, vor fünf Wintern, stand dort noch ein richtiges Haus, in dem die Menschen wohnten. Auf der Weide unten im Tal grasten Pferde. Sie hatte sich die Zahl gemerkt. Zwölf Pferde standen dort, und ein Mensch kümmerte sich ständig um sie.

Eines Nachts vor fünf Wintern hatte es dort, wo das Menschenhaus stand, gebrannt. Der Himmel war so rot gewesen wie bei einem Sonnenuntergang. Und danach hatte man von einem Tag auf den anderen keinen Mensch mehr gesehen. Unten im Tal waren jedoch noch die Pferde, die nun auch für mehrere Tage verlassen waren. Kein Mensch weit und breit. Für sie als Pumaweibchen war ein Pferd als Beute freilich zu groß. Einfach zu viel Masse. Aber mit dem starken Clyde hätte es doch in Gemeinschaftsarbeit gelingen können, ein Pferd zu reißen.

Aber Clyde hatte abgelehnt. Er jagte nicht mit Frauen zusammen. Nur in der einen Woche, in der er Vater werden wollte, da waren ihm die Weibchen recht. Dann schnurrte er und strich ihnen um die Barthaare herum wie sonst nie. Ach, Clyde war ein Chauvi, sonst nichts.

Eben stieg ihr ein scharfer Geruch in die Nase. Sie drehte sich um. Ach, dort drüben war er ja. Clyde. In seinem Revier. Hatte er sie bemerkt? Konnte es sein, dass er unter Umständen extra wegen ihr ...? Vergiss´ es Bonnie, schalt sie sich. Und überhaupt: Ist er mittlerweile nicht ein bisschen zu alt? Sie peitschte einmal mit dem Schwanz durch die Luft, als würde sie lästige Fliegen verjagen.

Sie begann sich ausgiebig das hellbraune Fell zu lecken. Innerlich verspürte sie eine Art Genugtuung. Wenn er wüsste, dachte sie, dass ich vor vier Wochen einen Gabelbock, der auf sein Revier geflüchtet war, von dort aus die Felswand hinuntergestürzt habe, dann würde er jetzt nicht so gelassen über die Steine balancieren.

Der Gabelbock hatte sich wahrscheinlich auf der anderen Seite des Passes verlaufen. Dort hatte sie ihm den Rückweg abgeschnitten, sodass er über den Pass auf diese Seite fliehen musste. Leider war er dann falsch abgebogen. Nach rechts statt nach links. Auf Clydes Revier. Aber der war nicht da, also was soll´s. Der Gabelbock stürzte hinunter, und sie hatte eine feine Beute. Nachteil: Sie musste sich ihr Futter über diesen steilen Menschenklettersteig besorgen.

Sie sah, dass drüben auf dem Plateau ein Mensch auf ein Pferd stieg und ins Tal ritt. Und richtig, nach einiger Zeit kam er tief unter ihr im Talkessel an. Er nahm den Sitz vom Pferd und ging dann zu Fuß um den Talkessel herum. Er trug einen dieser Feuerstöcke in der Hand, die sie absolut nicht mochte. Zu laut. Dort, wo noch die Knochen des Gabelbocks lagen, blieb er kurz stehen. Er wird doch nicht hier heraufsteigen wollen? Doch, genau das schien er vorzuhaben. Er kletterte auf allen Vieren den Klettersteig hoch. Ob sie verschwinden sollte? Sich verstecken? Aber nach ungefähr zehn Metern Höhe hielt er an. Er schaute zu jenem Plateau zurück, von wo sonst das Klopfen und Sägen herkam. Aha, dort glitzerte etwas im Sonnenlicht. Es musste sich um etwas handeln, das dem Menschen wichtiger war als die Aussicht von hier oben. Der Mensch kehrte um, legte den Menschensitz auf sein Pferd und ritt zurück.

Bonnie aalte, streckte und rekelte sich in der Sonne. Wie es schien, war der lange Winter nun vorbei. War das Leben nicht einfach herrlich?

Kapitel 1

März/April 2010

Lennox schnaubte, als Vince das Stalltor öffnete. Wie von Hand ausgesät wucherte graues Licht ins Innere des Stalles. Drinnen war es deutlich wärmer als draußen. Die Luft roch vertraut nach Pferd, Mist und frischgesägtem Holz. Vince liebte diesen Geruch, ohne dass er genau wusste, wieso. Vielleicht, weil er damit Kindheit und Heimat verband. Dieser Duft hatte viel mit Ehrlichkeit und Sicherheit zu tun, mit einer fernen Erinnerung.

In der linken, hinteren Ecke des Stalls befanden sich zwei Pferdeboxen. In der vorderen war Lennox untergebracht. Die hintere stand leer. Vince besaß nur das eine Pferd. Als er näher kam, polterte Lennox leicht mit den Vorderhufen an die Boxentür und prustete einmal tief aus der Lunge. Vince zog den rechten Handschuh aus und streckte Lennox die flache Hand entgegen. Lennox blies seine Wärme hinein und leckte mit seiner rauen Zunge darüber. Mit dem linken Arm umfasste Vince den Kopf des Tieres, kraulte es zwischen Ohren und Mähnenansatz, murmelte leise Worte. Ein Gefühl von Frieden erfasste ihn.

Er führte Lennox aus der Box in die Mitte des Stalls, wo er ihn in Ermangelung eines Striegels mit einer kurzhaarigen Bürste von Staub und Sägespänen säuberte. Er beobachtete dabei Lennox´ Muskelspiel und lauschte dem genüsslichen Grollen, das von ganz unten aus seinem Brustkorb drang. Voller Stolz warf er ihm eine Wolldecke über den Rist und sattelte auf, legte das Zaumzeug an. In das Futteral an der rechten Seite schob er Vaters altes Winchester-Repetiergewehr. Er hängte einen Sack mit Hafer an den Sattelknopf und führte Lennox am Zügel aus dem Stall.

Es war eine kalte Nacht gewesen, was für Wyoming im März keine Besonderheit darstellte. Es konnten noch viele eisige Nächte folgen, bis sich der Sommer durchgesetzt haben würde. Vince wusste das. Er war mit den speziellen Wetterbedingungen Wyomings, insbesondere denen des Windes, aufgewachsen. Raureif lag auf der Wiese vor dem Stall und bedeckte die Bäume auf der anderen Seite des Tales. Unten, wo der Bach verlief, stieg weißer Dampf aus der Niederung, als würde das Wasser brennen. Es war halb sieben am Morgen. Eine dünne Eisschicht bedeckte das Wasser in dem verzinkten Stahltrog, der im rechten Winkel neben dem Stalltor stand. Lennox strebte darauf zu, aber Vince hielt ihn zurück. Das Wasser war zu kalt. Er wollte keine Kolik für das Pferd riskieren. Lennox´ Ohren bewegten sich unwillig. Vince schimpfte ihn gutmütig einen Dummkopf. Über der weiten Grasebene im Osten verdeckte ein zäher Schleier aus aluminiumfarbenem Dunst die aufgehende Sonne. Vince sog prüfend die kalte Luft ein. Es würde ein schöner Tag werden.

Er setzte den linken Fuß in den Steigbügel und zog sich in den Sattel. In der doppelten langen Unterwäsche und der Lederhose, zwei Pullovern und der mit Schafwolle gefütterten Cordjacke fühlte er sich ziemlich steif. Er schlug den Kragen hoch ins Genick und zog den Stetson bis auf die Ohren. Wenn sich die Sonne Bahn brechen konnte, würde es wärmer werden. Mit einem auffordernden Klaps auf den Halsansatz setzte sich Lennox in Bewegung. Dafür, dass Lennox erst seit ein paar Tagen ihm gehörte, verstanden sie sich schon recht gut. Vince setzte sich im Sattel zurecht und lenkte das Pferd in gemächlicher Gangart über die Wiese hinunter zum Fluss. Dort bogen sie ab und folgten dem Bach auf der diesseits unbewaldeten Seite hinauf ins Tal.

Das Gras lag vom letzten Schnee zusammengedrückt auf der Erde. Direkt beim ehemaligen Wohngebäude waren keine Schafe auf die Weide getrieben worden. Weiter östlich, wo die Berge sanft in die weite Prärie übergingen, sah es allerdings anders aus. Dort hatten Schafe das Gras bis auf die Narbe abgefressen. Grundsätzlich machte er sich nichts aus Schafen, sofern sie dort blieben, wo sie hingehörten. Aber von den Weiden in der östlichen Ebene gehörten noch zwei Quadratmeilen ihm. Das war nicht viel für eine Ranch, und früher, als sein Vater in den Fünfzigern die Ranch aufgebaut hatte, war es bis zu seinem Tod auch mehr gewesen. Vater hatte immer Rinder besessen. Nun waren es, wie gesagt, nur noch zwei Quadratmeilen offenen, gewellten Weidelandes, die er behalten hatte. Nicht dass er die Weide gebraucht hätte. Er war jahrelang nicht zu Hause gewesen. Aber Eigentum ist Eigentum, und niemand hatte ihn darum gebeten, auf seinem Land Schafe weiden zu dürfen, auch wenn er es nicht nutzte. Schon aus Prinzip nicht. Viele Gedanken darum machte sich Vince jedoch nicht mehr. Er hatte beschlossen, den Weidebesitz jetzt einem Makler zum Verkauf zu übergeben und hoffte, dass der Handel noch vor Ende des Jahres abgeschlossen sein würde. Er selber hatte zwar fünf Jahre Zeit zum Sparen gehabt, aber für unerwartete Ausgaben war es gut, eine weitere Rücklage zu haben.

Vince war ein Pferdemensch. Noch zu Vaters und Mutters Lebzeiten hatte er eine eigene kleine Pferdeherde am Ende des Tales gehalten, das zur Ranch gehörte. Das Tal, durch das der Crystal Creek floss und durch das er nun bergwärts Richtung Quelle ritt. Es war nur ein kleines Seitental in den südlichen Bighorn Mountains. Bis Buffalo, der Hauptstadt des Johnson County, war es nicht sehr weit. Der Crystal Creek mündete in einen der Quellflüsse des mächtigen Powder River. Vom Wohnhaus bis zum Talende war es nicht einmal eine gemütliche halbe Reitstunde, also nichts, um damit anzugeben zu können. Aber es war sein wichtigster Besitz und, so hoffte er, die Grundlage für seine Zukunft.

Bevor die nächste Flussbiegung die Sicht auf den Stall verhinderte, blickte Vince nochmal über die Schulter zurück. Das ehemalige Haus und der Stall lagen auf dem kleinen Plateau eines Hügels, der sich mit einer Nase ins Tal schob und dem Bach gerade noch einen Durchfluss gewährte. Hinter dem Plateau begann dichter Mischwald und das Gelände stieg steil an. Neben dem Stall sah er die Skelette der ausgebrannten Maschinen, mit denen sie früher das Winterfutter für Vaters Rinder gemäht und zu riesigen Ballen gepresst hatten, und die verkohlten Balken in den Himmel ragen, die einmal Eckpfeiler des Wohnhauses seiner Familie waren. Dazwischen den rußgeschwärzten, aus Feldsteinen errichteten Kamin. Gleich daneben hatte er den geräumigen Wohnwagen abgestellt, in dem er zurzeit hauste, und wiederum daneben seinen alten, rostroten 72er Ford Pick-up.

Der Crystal Creek mäanderte durch den Talesgrund. Er kam zu der Stelle am Bach, wo das Wasser eine natürliche Wanne ausgewaschen hatte und wo sie als Kinder mittels Steinen und Grassoden eine Staumauer errichtet und dahinter im aufgestauten Wasser Schwimmen gelernt hatten. Seine Schwester Linda und er, und ihr beider Freund Jason, jüngster Sohn der Kendalls, die die große Schafsfarm im Osten besaßen und schon immer Schafszüchter gewesen waren. Hier betrug die Breite von Ufer zu Ufer etwa vier Meter, während es sonst etwa zwei Meter waren. Erlen säumten diesseits des Flusses das Ufer. Es war gleichzeitig auch der Ort, an welchem der Wald vom jenseitigen Ufer über den Bach sprang und sich nun wie eine Sperre quer durch das Tal zog, das hintere Tal vom vorderen trennte. Vince suchte mit den Augen und fand auch gleich den Eingang des Pfades durch den Wald entlang des Wassers, den er früher immer geritten war. Er ließ Lennox sein eigenes Tempo gehen. Er hatte angenommen, dass der Pfad vollkommen zugewuchert sein würde nach all den Jahren, die er ihn nicht mehr benutzt hatte, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Im Gegenteil sah er gut aus, grad so wie in seiner Erinnerung. Kaum dass ein Zweig in den lichten Raum ragte oder Gras sich über den Boden ausgebreitet hatte. Er stieg ab und zog Lennox am Zügel hinter sich her. Er bemerkte Hufeisenabdrücke am Boden. Tal einwärts und dann auch Tal auswärts. Vince bückte sich. Wie alt könnten die sein? Er hatte in den wenigen Tagen, seit denen er wieder hier war, niemanden vorbeikommen oder -gehen sehen. Weder morgens oder abends vom Wohnwagen aus, noch während der Stunden, in denen er mit Säge, Beil, Hammer und Nägeln am Stall gearbeitet hatte. Und normalerweise kam keiner unbemerkt ins oder aus dem Tal. Es gab keinen anderen Weg als den, der unterhalb des Ranchhauses am Bach vorbeiführte, es sei denn, jemand kannte den Klettersteig zwischen den Felsen am Talende, und der war für Pferde ungangbar. Es war sogar zu Fuß gefährlich, dort hinauf- oder hinunterzusteigen, wenn man nicht gerade Puma oder Wolf war.

Vince ging weiter, die Augen auf den Boden gerichtet. Eine Fußspur, noch relativ frisch, höchstens ein paar Tage alt. Er stellte seinen Fuß daneben und verglich. Es muss ein Kind gewesen sein der Größe nach. Aber was sollte ein Kind allein in dieser Gegend?

Vince war wieder aufgesessen und bis ans Ende des Waldes geritten. Dort angekommen breitete sich vor ihm der wahre Schatz des Tales aus. Ein Kessel, an drei Seiten umrahmt von steilen Felswänden. Der Boden bedeckt von dichtwachsendem Gras, das jetzt im April noch die Spuren des Winters trug. Im Sommer würde es zu einer satten, fast blaugrünen Wiese heranwachsen. Der Bach sprang über niedere Felsenwehre in der Mitte des Kessels, sammelte Rinnsale von allen Seiten des Tales auf und glitzerte in der Sonne, die nun in seinem Rücken hinter dem Wald aufgestiegen war. Hier hatte sein Vater dem Bach den Namen gegeben: Crystal Creek, obwohl ihm bekannt war, dass im fernen Australien ein Flüsschen gleichen Namens existierte.

Struppige Nadelgehölzgruppen, mit wildem Wacholder durchsetzt, lagen wie nachlässig hingeworfen über den grünen Grund verteilt und bildeten kleine Inseln. Dort, wo der Bach aus den Felsen sprudelte, begann dieser einzige weitere Pfad, über den man aus oder ins Tal gelangen konnte. Vince folgte ihm mit den Augen und ließ den Blick darüber hinaus zu den Bergspitzen wandern, zwischen denen der einzige Pass lag, über den man ins Nachbartal gelangte. Aber wer nahm diese Kraxelei schon auf sich, wenn man es per Auto unter Umfahrung der Berge viel bequemer haben konnte?

Dort oben gab es nichts, was ein Mensch begehren könnte, wenn er nicht gerade nach Mineralien und Kristallen suchte oder nach einem Nest der Adler, die es früher hier gab.

Vince lenkte Lennox nach rechts an den Fuß der dortigen Felswand. Dorthin schien die Sonne abends am längsten. Er brauchte nicht zu suchen, denn er wusste, wo der einfache Unterstand aus Holz stand, den er eigenhändig gebaut hatte, als er zweiundzwanzig war. Er stieg vor dem Unterstand vom Pferd. Lennox senkte sofort seinen Kopf und tauchte sein Maul in das zaghaft sprießende Grün. Vince stapfte um den Holzbau herum, rüttelte hier und da mit den Händen an den Brettern, trat mit den Stiefeln gegen die Pfosten. Das Holz war grau geworden, aber nicht verrottet. Die Nägel waren rostig. Einige Bretter hingen lose. Es würde nicht viel Aufwand kosten, hier wieder alles herzurichten. Er würde lediglich ein paar neue Nägel brauchen und vielleicht ein paar Bretter zusätzlich für das Dach.

Es war ein Unterstand für die Pferde, die er hier im Kessel gezüchtet und stehen gehabt hatte, und für ihn selbst, wenn er das Ende eines Unwetters hatte abwarten müssen, bevor er durch den Wald den Bach entlang nach Hause reiten konnte. Gelegentlich hatte er gemeinsam mit den Pferden hier die Nacht verbracht, in einem Schlafsack. Dann, wenn die Tiere die Nähe eines Pumas gewittert hatten und unruhig waren oder wenn eine Stute kurz vor der Geburt eines Fohlens stand. Sonst hatten die Pferde des Nachts von allein den Unterstand aufgesucht und hatten darin die Nächte verbracht und Schutz gefunden. Zwölf eigene Pferde hatte er zum Schluss besessen, zehn Stuten, einen Hengst und einen Wallach. Allerbeste Tiere.

Hinter dem Unterstand verlief der künstliche Wasserlauf, den sein Vater früher gegraben und ausgebaut hatte, von der Quelle kommend mit sanftem Gefälle durch den Wald, entlang des Hanges bis hinter das Ranchhaus, wo er in einer Zisterne endete. Von der Zisterne aus war das Haus mit frischem Wasser versorgt worden. Diesen Wasserlauf plante er auch in Zukunft zu benutzen. Besseres Wasser würde es in weitem Umkreis nicht geben. Es würde eine seiner Aufgaben sein, den Graben abzugehen, zu reinigen und, falls erforderlich, instand zu setzen.

Vince war es nicht entgangen, dass es auch um und in dem Unterstand Hufspuren frischeren Datums gab, höchstens zwei Wochen alt. Auch Fußspuren von kleinen Schuhen. Er drehte mit der Stiefelspitze einen Stein um, der in einer Ecke des Unterstandes lag. Darunter lagen etwa zwanzig Zigarettenkippen. Ein Kind, das rauchte? Er besah sich die Stummel. Alle von der gleichen Marke: Camel Filter. Wut wollte in ihm aufsteigen wegen des Drecks und wegen der Rücksichtslosigkeit, aber dann besann er sich und hielt dem Raucher oder der Raucherin zugute, dass die Kippen nicht überall herumlagen sondern bewusst unter dem Stein gesammelt worden waren. Jemand musste regelmäßig hierherkommen, denn zwanzig Zigaretten rauchte niemand auf einmal. Er besah sich den Boden genauer. Er selber hatte des Öfteren im Schutz des Unterstands übernachtet, und genau so schaute die Fläche neben der Holzwand aus: Als ob jemand hier gelegen wäre oder campiert hätte.

Er schaute von dem Unterstand über den Talkessel. Linkerhand stand der Wald als natürliche Grenze, die kein Pferd freiwillig und ohne Not übertreten würde. Pferde sind Fluchttiere und brauchen freien Raum und Platz im Falle von Gefahr. Ein Wald wäre für eine Flucht denkbar ungeeignet. An drei Seiten ragten Felswände in die Höhe, maximal vierzig Meter, und für einen tödlichen Sturz hoch genug. Die Entfernung von einer Seite des Kessels auf die andere betrug vielleicht etwas mehr als einen Kilometer an der breitesten Stelle. Zwar konnte sich ein Gewitter in diesem Loch in beängstigender Gewalt einnisten und austoben. Die Felswände verstärkten die Effekte von Blitz und Donner um ein Vielfaches. Aber das Tal lag windgeschützt und war vor Stürmen wie den gefürchteten Blizzards sicher, was in Wyoming eine nennenswerte und wertvolle Besonderheit war. Die sprichwörtlich berühmtberüchtigten Westwinde von Wyoming fanden in diesem Tal keine Angriffspunkte, was allerdings den Nachteil mitbrachte, dass sich im Winter der Schnee auftürmte. Draußen auf der Ebene war das ganz anders. Dort wehten die Winde mit stetiger Kraft, unablässig, und bliesen nicht nur den Schnee von den ungeschützten Ebenen, sondern trockneten auch das Land aus. Schafsfarmer brauchten deswegen riesige Weideflächen für die Schafe, denn deren Methode, das Gras bis auf die Wurzeln abzufressen, ging mit den starken Winden ein verhängnisvolles, kontraproduktives System ein. Wo die Schafe geweidet hatten, dauerte es Jahre, bis Gras wieder nachwachsen konnte, wenn dann überhaupt noch genug Erdkrume vorhanden war und der Wind sie nicht davongetragen hatte. Das war mit ein Grund, weshalb Schafsfarmer seit Generationen gesellschaftlich nicht die angesehensten Leute waren.

Vince war stolz auf diesen Flecken Erde, und er liebte ihn. Er würde genau hier wieder eine Pferdezucht aufbauen. Der Standpunkt war ideal. Er hatte Wasser und Futter direkt vor Ort und einen Platz, der artgerechter im Allgemeinen und pferdewürdiger im Besonderen nicht sein konnte. Er ging zu Lennox, befreite ihn von Zaum und Sattel, und schickte ihn mit einem liebevollen Schubs auf die Weide. Hafer konnte er fressen, wenn er hier nichts Besseres finden sollte, was aber kaum anzunehmen war. Dann machte sich Vince, das Winchester-Gewehr über der einen, eine Satteltasche mit Sandwich und Trinkwasser über der anderen Schulter, auf den Weg, den Kessel zu Fuß zu umrunden.

Zuerst wanderte er dem Waldrand entlang hinunter zum Bach, den er über zwei im Wasser liegende Felsblöcke überquerte, die er früher einmal zu diesem Zweck hinein gewuchtet hatte. Auf der anderen Seite stieg das Gelände wieder bis zur Felswand an. Im Geröll, das zu Füßen der Felswand lag, achtete er besonders darauf, wohin er trat. Würde er sich hier ein Bein brechen, würde ihn keine Menschenseele finden. An vereinzelten Stellen, in der Regel in der Nähe der wuchernden Wacholder- und Nadelholzgestrüppe oder in schattigen Geländemulden, lagen noch Reste von Schnee. Etwa auf halbem Weg zwischen Waldrand und Flussquelle stieß er auf Skelettteile eines Tieres. Anhand des Schädels identifizierte er sie als die Überreste eines Gabelbockes. Gelegentlich verirrte sich eines dieser Tiere in das Tal. Vince beobachtete den oberen Rand der Felswand. Er vermutete, dass das vor ihm liegende Exemplar von dort oben abgestürzt war. Vielleicht auf der Flucht vor einem Puma, oder sogar wahrscheinlich. Gabelböcke galten vor hundert Jahren noch als ausgestorben. Nein, ausgerottet. Exzessives Jagen war die Schuld gewesen. Man hatte damals auf alles geballert, was sich bewegte. Seit Gabelböcke unter Naturschutz gestellt wurden, wuchs die Population langsam aber stetig wieder an. Jedoch hielten sich Pumas verständlicherweise nicht an Naturschutzbestimmungen. Vince setzte seine Runde fort. Wie zum Beweis entdeckte er gerade dort, wo der Einstieg zum steilen Kletterpfad neben der Flussquelle begann, die Losung eines Pumas. Vince nahm einen Grashalm und stocherte daran herum. Sie war hart und somit schon ziemlich alt. Hier war der Puma also jeweils heruntergekommen, um zum Fressen zu seiner Beute zu gelangen, oder, zu einem späteren Zeitpunkt, mit Teilen des Kadavers wieder hinauf. Ein ganzer Gabelbock war für das Raubtier zu schwer, um ihn am Stück die Felswand hinauf zu transportieren.

In der etwas weicheren Erde neben der Quelle entdeckte er auch wieder Schuhabdrücke in der gleichen Größe wie beim Unterstand und auf dem Waldweg. Er stellte das Gewehr an einen der Felsen, um beide Hände zum Klettern frei zu haben. Er stieg von der Quelle aus etwa zehn Höhenmeter den Pfad hinauf. Von dort aus, das wusste er, würde er einen Überblick über das gesamte Tal haben. Sein Blick schweifte über die Gipfel des tiefer gelegenen Waldes bis zum Plateau, auf dem Lennox´ Stall und sein Wohnwagen standen.

Ein plötzlicher Lichtreflex erregte seine Aufmerksamkeit. Dort bewegte sich etwas oder jemand. Außer dem Makler, der von Vince´ Verkaufsabsichten der Weide wusste, seinem Anwalt Roy Rogers und seinem Partner Sancho wusste niemand, dass er wieder zurück war. Noch niemand.

Vince erkannte Sanchos Truck, als er aus dem Wald geritten kam. Die Ladefläche des Lastwagens war hoch mit Bauholz für das neue Ranchhaus beladen. Sancho hatte also die erste Fuhre gebracht. Es würden noch weitere folgen.

Sanchos Truck war einst Vaters Truck gewesen. Der Truck war schon betagt gewesen, als Vince 1979 geboren wurde. Der kleine Mexikaner hatte den Lastwagen in mühevoller und schmieriger, tagelanger Arbeit wieder flott gekriegt, nachdem er ihn so vorgefunden hatte, wie Vince ihn vor fünf Jahren neben der Brandruine abgestellt hatte. Nebenbei entdeckte Sancho bei der Gelegenheit das Gewehr von Vince´ Vater hinter der Sitzbank, das dort ebenfalls die langen Jahre gelegen haben musste.

Sancho hatte nicht nur den Motor auseinandergenommen und wieder zusammengebaut, sondern auch die festgefressenen Räder abgeschraubt, die Bremsscheiben entrostet, die Naben und Achsen geschmiert und die Batterie ausgetauscht. Was man Sancho auf den ersten Blick nicht ansah: Er verfügte über ungeheuerliche Kräfte und handwerkliches Geschick. Er besaß die Gabe, schwerste Lasten zu bewegen, indem er sein untrügliches Gespür für Gleichgewicht und Balance einsetzte, das jedem Gegenstand, ob schwer oder leicht, zu eigen ist. Zudem wusste er, wie man Masse nutzbringend in Schwingung versetzen konnte. Natürlich war der Motorblock selbst für Sancho zu schwer gewesen, weshalb er aus drei stabilen Holzstangen und Seilscheiben einen einfachen Flaschenzug konstruierte, der für seine Zwecke völlig ausreichte.

Sancho hatte es sich im Führerhaus des Trucks bequem gemacht, obwohl er einen Schlüssel für den Wohnwagen in der Hosentasche mit sich trug. Als er Vince heranreiten hörte, richtete er sich auf und kletterte auf der Fahrerseite herunter. Er trug einen verwaschenen blauen Jeansanzug und eine rote Kappe mit der Aufschrift Wyoming. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, nur etwa ein Meter sechzig groß und von korpulenter Statur. Seine rechte Gesichtshälfte war von Pockennarben entstellt. Unter der Mütze lugten graue, drahtige Haare hervor. Strahlend kam er Vince entgegen und zeigte zwei Reihen tadelloser Zähne.

„Hallo Sancho. Na, tut´s der alte Truck noch?“

„Einwandfrei, er läuft wie ein Uhrwerk. Du warst fleißig, Amigo, wie ich gesehen habe. Hast gute Arbeit am Stall gemacht.“ Er klopfe Vince auf den Oberarm.

„Ja, für´s Erste reicht´s. Kann später noch größer werden, wenn hier alles in Ordnung ist.“

„Mhm, das sehen wir dann. Nächstes Jahr oder so. Wir haben keine Eile.“ Sancho deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Die erste Fuhre“, sagte er. „Wohin damit?“

Vince schlenderte langsam zum Truck und betrachtete prüfend das Holz. „Sieht gut aus, was?“

„Man hat mir versprochen, dass es lang genug gelagert war, damit es sich nicht verzieht. Sieht gut aus, Vince.“

„Ich fahr´ den Pick-up zur Seite, dann legen wir es dort ab. Hast du eine Abdeckplane dabei?“

„Yes, Sir.“

„Scheiß´ auf den Sir. Wir sind Partner.“

„Yes, Sir.“

Vince führte Lennox in den Stall und sattelte ab. Es war Sancho gewesen, der Lennox für ihn ausgesucht und dann mit einem Anhänger auf die Ranch gebracht hatte. Und es war Sancho gewesen, der den Ford Pick-up Jahrgang 1972 für ihn gekauft hatte.

Sancho rangierte unterdessen den Truck so, dass sie das Bauholz nach hinten über die Ladefläche ziehen konnten. Nach eineinhalb Stunden schweißtreibender Arbeit zogen sie die Abdeckplane über den Stapel.

„Wie geht es Martha?“

„Sie freut sich auf den Sommer, Amigo. Wenn das Haus fertig ist und sie ihre Küche einrichten kann.“

„Ich freu´ mich auch auf sie. Sie ist die beste Köchin der Welt.“

„Du hast ja erst einmal bei ihr gegessen. Aber ich werd´ ihr das trotzdem sagen. Sie redet von dir fast wie von einem Sohn. Hast ordentlich Eindruck auf sie gemacht.“

„Vom Alter her könnt´ ich ja ihr Sohn sein.“ Sancho wechselte das Thema. Seiner Frau und ihm war der Kinderwunsch nie erfüllt worden. Auch Versuche, ein Kind zu adoptieren, waren alle gescheitert. Letztlich hatten immer andere, die nicht mexikanischer Herkunft waren, den Vorzug erhalten. Für Martha und ihn schmerzliche Erfahrungen.

„Warst du schon bei Linda?“

Vince schüttelte stumm den Kopf. „Morgen“, sagte er nur knapp.

„Okay, Amigo. Ich fahr´ mal wieder. Dann bring´ ich übermorgen die nächste Ladung.“

„Warte. Wir beladen den Truck mit dem Schrott von Vaters alten verbrannten Maschinen. Bring´ das Zeug bitte zum Schrotthändler, dann haben wir es los.“

„Fangen wir an, viel Geld werden wir dafür jedoch nicht kriegen. Meinst du nicht, dass wir noch diese Woche mit dem Bau beginnen sollten? In ein paar Tagen wären wir fertig.“

„Du meinst wohl Wochen anstatt Tagen. Bring´ übermorgen die nächste Fuhre und den Wetterbericht. Wenn für die nächsten zwei Wochen kein Regen und kein Schnee gemeldet werden, fangen wir an.“

„Okay, Amigo. Man sieht sich.“

„Yep.“

*

Die geschlossene psychiatrische Anstalt lag am Rande der Stadt Casper am North Platte River auf einem Hügel. Sie bestand aus drei Gebäuden, die auf einem von einer hohen Mauer umschlossenen parkähnlichen Gelände standen. Es war eine private Einrichtung. Die Kosten für einen stationären Aufenthalt waren horrend. Nicht zuletzt deswegen waren Vaters Rinderweiden, bis auf die zwei übrigen Quadratmeilen, nach seinem Tod vor Jahren zu Geld gemacht worden. Der Erlös sollte Lindas Aufenthalt in der Anstalt für die Dauer von mindestens acht Jahren finanziell gewährleisten. Nachdem Vince allerdings drei Jahre früher als erwartet zurückgekehrt war und er Linda entsprechend früher nach Hause holen konnte, würde auch von Vaters Geld ein Rest übrigbleiben. Vince und Linda würden das Geld brauchen, so oder so und für was auch immer.

Seit fünf Jahren lebte Linda nun schon in einem dieser Häuser, und seit fünf Jahren hatte Vince seine Schwester nicht mehr gesehen. Eine schrecklich lange Zeit für ihn, der er seine Schwester über alles liebte, und eine noch furchtbarere Zeit für sie, deren einziger Halt und einzige Hoffnung er war.

Er musste den Pick-up außerhalb der Klinik abstellen. Es war autofreies Gelände. Er meldete sich am Pförtnerhaus, von wo eine rotweiße Schranke bedient wurde, mit seinem Namen an. Der Pförtner hinter der Glasscheibe beäugte ihn misstrauisch. Nachdem er seinen Führerschein wegen der Identifizierung gezeigt hatte, durfte er die Schranke passieren. Er sollte sich im Hauptgebäude melden. Es führte eine asphaltierte Straße direkt auf den Komplex zu, Sie gesäumt von alten Ahornbäumen, an deren Ästen sich erste zartgrüne Blättchen von der Sonne hervorlocken ließen. Er schätzte die Entfernung auf etwa siebzig Meter. Das Haupthaus hatte drei Stockwerke. Im rechten Winkel dazu stand jeweils ein zweistöckiges Gebäude auf beiden Seiten

Durch den zentral gelegenen Eingang betrat er die Empfangshalle, von der sowohl eine Treppe in die oberen Etagen führte als auch zwei Gänge in die Seitenflügel des Hauses. In der Mitte der Halle befand sich eine pilzähnliche Konstruktion aus Gusseisen, in welcher der Empfangsschalter untergebracht war. Hinter dem Tresen telefonierte eine weißhaarige Frau mit hellblauer Kunststoffbrille und hellblauer Schwesterntracht. Vince wartete in respektvollem Abstand, bis sie das Gespräch beendet hatte. Als sie sich für ihn bereit zeigte, trat er zu ihr hin und nannte seinen Namen und wen er besuchen wollte. Wieder musste er den Führerschein vorweisen und wieder hatte er das Gefühl, kritisch begutachtet zu werden.

„Ist irgendwas mit meinem Ausweis nicht in Ordnung?“, fragte er die Dame.

„Oh nein“, erwiderte die, „es ist nur …es ist nur …es war noch nie Besuch für Linda hier. Für Miss Fuller, meine ich. Außer vor vier Jahren, so viel ich weiß. Eine Mrs. Forester. Ich bin nur überrascht. Ich dachte, Sie seien im …ich dachte, Sie wären …noch …“

„Im Gefängnis?“, ergänzte Vince den Satz.

„Ja, ääh, nein, also doch, ja“, stotterte die Frau verschämt. „Wir …also wir hier …wir waren von acht Jahren ausgegangen, verstehen Sie?“

„Ich verstehe leider nicht und ich finde, fünf Jahre Gefängnis sind genug für etwas, das man nicht getan hat.“

„Ja, also, nun“, die Frau wirkte nun verwirrt, „warten Sie doch dort drüben, Mr. Fuller. Ich muss Ihnen eine Begleitung rufen. Man darf nicht ohne Begleitung …warten Sie doch dort drüben.“

Vince drehte sich um. Dort drüben stand eine Reihe von Holzstühlen. Er bedankte sich freundlich und nahm auf einem der Stühle Platz. Er beobachtete, wie die Frau offensichtlich nach einer Begleitung für ihn telefonierte.

Nach fünf Minuten erschien eine junge Frau in hellblauer Schwesterntracht. Durch ihre straff nach hinten gekämmten Haare und ihre schwarze Brille wirkte sie sehr streng.

„Mr. Fuller? Guten Tag. Schwester Alice. Wenn Sie mir bitte folgen?“

Sie ging ihm durch den Flur des rechten Gebäudeflügels voraus. Sie verließen das Gebäude durch eine Tür an der Schmalseite. Über einen Kiesweg kamen sie im Bogen zu dem zweistöckigen Bau. „Das Frauenhaus“, sagte Alice kommentarlos. Sie betraten das Frauenhaus an dessen seitlichem Eingang. Dahinter folgte eine Treppe in den zweiten Stock. Es roch nach Großküche und Mittagessen.

„In diesem Gebäude befindet sich unsere Küche für die Patienten und das Personal“, erklärte Alice passenderweise. „Ihre Schwester isst immer auf ihrem Zimmer.“

„Was heißt das?“

„Sie kann die Nähe anderer Menschen, wie es im Speisesaal des Hauses unumgänglich ist, nicht ertragen. Sie spricht mit niemandem. Wir sind gleich da.“

Sie blieb vor einer Tür stehen. Auf einem Schild neben dem Türrahmen stand der Namen Linda. „Warten Sie“, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Sie klopfte energisch und betrat unaufgefordert das Zimmer. Nach einer halben Minute erschien sie wieder und sagte in gleicher Weise: „Kommen Sie.“

Vince betrat das Zimmer. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Das Zimmer war sehr hell. Durch ein breites Fenster, vor dem ein dünner weißer Vorhang hing, strömte gleißendes Sonnenlicht herein. Dort stand sie. Linda. Mit dem Rücken zur Tür. Ihr langes braunes Haar hing schwer bis zur Taille.

Vince räusperte sich, sagte leise: „Linda.“

Ihr Kopf bewegte sich leicht zu Seite. „Linda?“ Der Kopf drehte sich weiter, der Oberkörper folgte, dann der ganze Körper. Sie trug eine Sonnenbrille. Vince ging unendlich langsam auf seine Schwester zu.

Von ihren Lippen kam ein Hauch: „Vince.“

Wie zerbrechlich sie wirkte. Wie zartestes Porzellan. Ihr Gesicht war weiß wie der Vorhang. Und wie schön sie war. Schöner als je. Sie hob ihre Hände vor den Bauch. Vince trat zu ihr hin, fasste behutsam ihre Hände. „Linda.“

„Vince.“

„Ich bin da, Linda.“

„Du bist da.“

*

Sancho war mit der zweiten Ladung gekommen. Sie hatten das Bauholz neben die erste Fuhre gesetzt.

„Der Wetterbericht sagt mindestens zehn Tage trockenes Wetter voraus, Amigo.“ Er zeigte Vince zwei Kühltaschen und zwei Plastikcontainer, die er auf der Beifahrerseite seines Trucks gestapelt hatte. „Schönen Gruß von Martha. Sie hat uns für zwei Wochen mit Fressalien eingedeckt. Es kann los gehen, Mann.“

„Trockenes Wetter, sagst du?“

„Nur Kälte und Wind. Kein Regen, kein Schnee. Besser kann man es nicht kriegen.“

„Klingt gut, Sancho, obwohl wir schon oft noch im Mai Schnee bekommen haben.“

„Pass auf, wir machen das so. Wir setzen erst die Außen-und tragenden Innenwände, und dann kommt sofort das Dach obendrauf. Das schaffen wir locker. Den Innenausbau können wir erledigen, wenn es mal regnen oder schneien sollte. Madre mia, behüte uns vor Schnee. Es ist Frühling. Oder willst du ewig in deinem engen Wohnwagen campieren?“

„Wenn ich dran denke, dass ich zusammen mit dir im Wohnwagen hausen muss, dann ist mir die Aussicht auf ein großes Haus lieber.“

„Worauf warten wir dann noch?“ Sancho war zu Vince getreten und streckte ihm grinsend die Hand entgegen. „Danke, Partner, dass du mich und Martha bei dir aufnimmst.“

„Ich nehme euch nicht auf, sondern ihr bringt euch ein. Das ist ein Unterschied.“

„Dann also auf den Unterschied, Vince.“

Sie begannen damit, die verkohlten Balken des ehemaligen Ranchhauses bis auf die steinernen Fundamente zu entfernen und den Bauplatz von den Spuren des Feuers zu säubern. Soweit die vorhandenen Fundamente zu den neuen Bauplänen passten, würden sie sie in den Neubau übernehmen und, wo es notwendig war, entsprechend mit Felsblöcken aus der näheren Umgebung erweitern. Vince hätte zu gerne den stehengebliebenen Kamin in das neue Haus integriert, aber er passte in keiner Weise zum Grundriss und der geplanten Raumaufteilung. Sancho war ohnehin der Ansicht, dass der Kamin unter dem Brand gelitten hatte und früher oder später einstürzen würde, und dieser Gefahr wollte er seine Martha, wenn sie denn endlich im Haus schalten und walten würde, nicht aussetzen. Also trugen sie den alten Kamin ab, legten die Steine aber zu ihrer späteren Wiederverwendung auf die Seite.

Sancho hatte recht behalten. Es blieb zwar kalt und windig, aber auch trocken. Nach drei Tagen intensivster Knochenarbeit waren sie soweit, dass sie die ersten Balken auf das neu errichtete Fundament legen konnten. Zwischendurch hatte Sancho weiteres Baumaterial mit dem Truck herbeigeschafft. Im Grundriss behielt es die gleiche rechteckige Form wie das abgebrannte Elternhaus, wurde jedoch je ein paar Meter breiter und auch länger. Zudem war an der rechten Hausseite ein Winkelanbau für zwei zusätzliche kleine Räume vorgesehen. Verfügte das Elternhaus vor dem Brand nur über eine Etage, war der Neubau für eineinhalb Stockwerke ausgerichtet. Eine weitere Besonderheit war, dass sowohl Wände und Dach isoliert werden würden, worauf man früher zu Bauzeiten des Elternhauses noch keinen großen Wert gelegt hatte, beziehungsweise war der Gedanke an energiesparendes Bauen noch gänzlich unüblich. Die Außenwände des Hauses wurden praktisch doppelt hochgezogen. Zwischen der äußeren und der inneren Wand entstand ein Hohlraum, der mit feuerfestem Dämmstoff ausgefüllt wurde. Das Dach würde komplett mit fünfzehn Zentimeter dicken Isolationsplatten ausgestattet werden.

Sancho hatte einen kleinen Bagger gemietet und mit seinem Truck herbeigekarrt. Mit ihm legten sie die vorgearbeiteten, nummerierten und präparierten Balken, einen über den anderen, in den Ecken verschränkt, ganz nach Bauplan im Baukastenprinzip, und innerhalb von sechs langen Tagen wuchsen die Außenwände und tragenden Innenwände inklusive der Treppe in den ersten Stock nach oben. Die acht Zentimeter dicken, auf Maß geschnittenen Holzplatten für Fußböden und Decken folgten. Tür- und Fensteraussparungen waren bereits berücksichtigt, sodass sie am Ende der zweiten Woche den Dachfirst platzieren und Vorbereitungen für die Dachsparren treffen konnten.

Am Ende der vierten Woche war das Dach eingedeckt. Sancho war mit dem Truck losgefahren, um das Material für die sanitären Einrichtungen zu holen. Der Neubau war architektonisch so konzipiert, dass die Wasserzufuhr, die Entnahmestellen wie Bäder und Küche, und die Wasserableitung über eine zentrale Ver- und Entsorgungssäule im Haus verliefen. Zudem sollten die Abwässer in einer dreistufigen, rein biologisch arbeitenden Anlage geklärt und danach dem Crystal Creek zugeleitet werden. Die erforderlichen Gruben für die Teiche würde Sancho mit dem Bagger etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt terrassenartig am Hang anlegen. Anschließend würde mit einem System aus unterschiedlich körnigem Kies und Sand und speziellen Pflanzen ein effektiver Filter geschaffen. Für die Elektrizität in Haus und Stall sorgten im Endausbau mehrere Quadratmeter Solarzellen auf dem Dach und ein achtzehn Meter hohes Windrad. An Wind mangelte es so gut wie nie in Wyoming.

Vince arbeitete gerade an der Verkleidung der Innentürrahmen, als er schwachen Hufschlag vernahm. Rasch legte er Hammer und Keile zur Seite und trat vor das Haus. Die Aussicht war einfach grandios von hier oben. Er sah den Reiter sofort. Eine schmächtige Person mit hellem Cowboyhut, brauner Jacke und Blue-Jeans auf einem gescheckten Pferd, die sich in gemächlichem Tempo den Bach entlang Richtung Wald bewegte. Sollte dieses schmale Hemd auf dem Schecken das Zigaretten rauchende Kind sein? Und wenn ja, was suchte es dann dort hinten im Talkessel? Nächste Frage: Hatte es oder er den Neubau auf dem Hügel hoch über sich am Eingang des Tales nicht bemerkt? Und wenn doch, warum kam es oder er nicht auf einen Schwatz vorbei? Vince bedauerte, dass er kein Fernglas zur Verfügung hatte. Er verfolgte den Reiter mit Blicken solange, bis er zwischen den Bäumen am Bach verschwunden war. Heute war nicht der Tag, sich um den berittenen Besucher zu kümmern, aber er würde aufpassen, wann der geheimnisvolle Reiter wieder aus dem Tal reiten würde.

Bis zum Abend hatte Vince alle Türzargen im Haus montiert, und obwohl er ständig nach Hufgetrappel lauschte, war kein Reiter mehr im Tal vorbeigekommen. Möglich, dass er es aufgrund seiner eigenen Arbeitsgeräusche nicht hörte, doch er empfand es als seltsam genug, um sich Gedanken darüber zu machen.

Sancho kam kurz vor der Dämmerung mit einem Lastwagen voller Installationsmaterial wie Heizkörper, Edelstahlrohre, Flanschen, Muffen, Rohrbögen, Abwasserrohre, Siphons, Befestigungsmaterial, WC-Schüsseln, Waschbecken, Duschwannen und Wasserhähne für den Innenausbau, sowie Dachrinnen und Regenrohre aus Kupfer für den Außenbereich angefahren, das sie alles in das gedeckte Haus schleppten. Den schweren Stromspeicher mussten sie mit dem Bagger von der Ladefläche hieven, ebenso den Warmwasserspeicher. Beides schafften sie in den isolierten kleinen Anbau hinter dem Haus, von dem die zentrale Strom- und Wasserversorgung ausging.

Morgen, sagte Sancho, werden zwei Sanitärinstallateure und zwei Elektriker mit allem Nötigen wie Leerrohre für elektrische Leitungen, Kabel, Steckdosen und Lichtschalter auf der Baustelle erscheinen und mit der Arbeit beginnen. Er hatte die Leute in Buffalo engagiert, die seinen Arbeitsauftrag mit Handkuss angenommen hatten. Das örtliche Gewerbe insgesamt krebste schon seit vielen Jahren am Rande der Existenz und sah sich gezwungen, neben branchentypischen Aufträgen auch anderen einträglichen Arbeiten nachzugehen. So beschäftigten die meisten der Betriebe kein festes Personal mehr, weil sie es mangels Arbeit nicht bezahlen konnten, sondern hielten ziemlich losen Kontakt zu ihren Fachleuten, um sie bei Bedarf temporär einzustellen und zu bezahlen. War die Arbeit erledigt, trennte man sich wieder, um sich anderweitig geldbringend zu verdingen. Man nannte diese Form der Beschäftigungsmisere Working Poor, denn selbst wenn ein Arbeitnehmer drei verschiedene Arbeitsstellen angenommen hatte und den ganzen lieben langen Tag schuftete, reichte es ihm kaum zum Überleben. Der Vorteil war, dass es dadurch recht viele Multitalente gab, also Leute, die man zu verschiedensten Arbeiten einsetzen konnte.

Des Weiteren hatte Sancho bei einem Schrotthändler einen superschweren gusseisernen Kamineinsatz erstanden, den er auf einen Sockel im künftigen Wohnzimmer stellen und mit den alten Kaminsteinen ummauern wollte.