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Nach vielen Jahren kehrt eine junge Frau, Kathrin, auf Einladung ihrer Tante nach Hause zurück. Von ihrer Tante lernt sie die Produktion von Brombeermarmelade. Die Beeren stammen von einem mysteriösen Feld, das von der sogenannten Brombeerkönigin beherrscht wird. Rund um die Brombeeren geschehen wunderliche Dinge. Als die Tante erkrankt, könnte nur die Brombeerkönigin sie retten - wenn sie denn gefragt würde. Aber das Gesuch um Hilfe kommt zu spät. Die Tante stirbt. Dennoch erhält Kathrin bei der Königin eine zweite Chance, die sie zu nutzen weiß, als sie in persönliche Schwierigkeiten gerät.
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Seitenzahl: 108
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Manche Ereignisse sind zu unbedeutend, um wahrgenommen zu werden. Vielleicht sind sie auch zu leise.
Es ist daher nicht wichtig zu wissen, ob die Geschichte über die Brombeerkönigin wahr ist. Sie ist genauso wahr oder unwahr wie all die anderen Dinge, die auf der Welt geschehen. Oder auch nicht geschehen.
Es waren nicht Kathrin, Gil und Elena, die mir die Geschichte erzählt haben.
Ich habe sie anderweitig gehört.
Doch meinen Ohren habe ich immer trauen können.
Damit die Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, habe ich sie aufgeschrieben.
Nichts ist so klein und unscheinbar, als dass es nicht unsere Beachtung verdiente.
Costa Rica, 08. Januar 2020
Der Kunde hatte den Supermercado in Puntarenas (Costa Rica) verlassen. Kathrin nutzte die kurze Pause, um vor dem Schichtwechsel die im Außenbereich stehenden Verkaufsständer zu kontrollieren und die aktuellen Bestände von Sonnenbrillen, Sonnenhüten, Badelatschen und Bastbadematten dem Filialleiter Vasco zu melden. Vasco erledigte indessen die Kassenabrechnung und kümmerte sich um die Bestellungen, die Kathrin ihm zuvor auf einem Papierbogen hingelegt hatte.
Der Supermercado war rund um die Uhr im Dreischichtenbetrieb geöffnet. Um zwanzig Uhr würde ihre Ablöserin Rosaria den Markt für die Nacht übernehmen. Mit Rosaria teilte sich Kathrin ein Zimmer, das der geschäftstüchtige Vasco ihnen vermietete. Praktischerweise lag es im selben Haus nur eine Etage über dem Supermercado, war aber geschickt aufgeteilt und geräumig genug, um eine Privatsphäre zu gewährleisten.
Sie gaben sich praktisch die Klinke in die Hand, als Rosaria das Zimmer für die Nachtschicht verließ und Kathrin es betrat.
„Es ist Post für dich gekommen“, sagte Rosaria zwischen Tür und Angel. „Wie immer vom gleichen Absender.“
Kathrin nahm eine Cola aus dem Kühlschrank, zündete eine Zigarette an und setzte sich mit dem Brief ans offene Fenster.
Liebe Kathrin,
in all den Jahren, in denen ich mit Briefen Kontakt zu dir pflege, habe ich dich stets auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. Du weißt, was ich meine: Dir zu erklären, warum ich dich damals nach dem Tod deiner Mama nicht zu mir habe nehmen können. Umso dankbarer bin ich, dass du die Verbindung zu mir nicht abgebrochen hast, wie es bestimmt dein gutes Recht gewesen wäre. Dass du auf meine Briefe geantwortet hast.
Jetzt, liebe Kathrin, ist der Fall eingetreten, der es mir erlaubt, dir in meinem Hause einen Platz anzubieten. Eine Heimat, wenn du so willst. Es mag ein bisschen verrückt klingen, aber auf diesen Moment habe ich fast ein halbes Leben lang gewartet. Die ständige Sorge, dass dir in meinem Hause Unglück geschehen könnte, besteht seit Weihnachten nicht mehr. Denn mein Mann Hubert ist vor Weihnachten gestorben.
Vielleicht kommt meine Einladung für dich viel zu spät. Aber wenn du willst, dann steht ab heute meine Tür für dich offen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich dich bald in meine Arme schließen dürfte. Bitte schreibe mir kurz Bescheid, wie du zu meinem Angebot stehst.
In Liebe und im Gedenken an deine Mama und an meine Schwester.
Magda
Kathrin nahm einen letzten Zug aus der Zigarette und quetschte die Kippe im Aschenbecher auf der Fensterbank aus. Sie überflog den Brief noch einmal und ließ das Blatt Papier dann sinken. Wenn sie den Kopf aus dem Fenster streckte, konnte sie mit Blick entlang der Hausfassade das Meer sehen. Den Pazifischen Ozean.
Sechzehn Jahre lang hielt sie sich schon in Costa Rica auf. Reich geworden, wie man eventuell vom Namen des Landes ableiten könnte, war sie in all der Zeit nicht. Sie hatte zwar immer einen Job gehabt, aber nie etwas auf die hohe Kante legen können. Nach dem kläglichen Scheitern ihres Restaurantprojekts gemeinsam mit Rolo hatte sie weitere feste Beziehungen vermieden und war nur kurzzeitige Techtelmechtel eingegangen. Nichts wirklich Ernstes, und sie war auch niemandem etwas schuldig.
Liebe Kathrin … jetzt ist der Fall eingetreten … dir einen Platz anzubieten.
Der Fall. Hubert ist gestorben. Onkel Hubert? Kathrin fragte sich, warum der Tod ihres Onkels bei Magda ein Umdenken bewirkte. Hatte er vielleicht eine ansteckende Krankheit gehabt? Über eine so lange Zeit? Und falls es so gewesen war – weshalb hatte man nicht darüber reden können? Das konnte Kathrin sich nur schwer vorstellen.
Sie sah sich im Zimmer um. Nichts darin gehörte ihr, wenn man von den paar Klamotten und dem bisschen Make-up absah. Im Grunde ging das, was sie in Vascos Supermercado verdiente, für Miete und Essen drauf. Was aber würde in ein paar Jahren sein? In zwanzig, dreißig, vierzig Jahren? Sie hatte nicht vor, sich hinsichtlich der sozialen Grundversorgung wie Krankenkasse oder Rente vom Geld eines Kerls abhängig zu machen. Müsste sie dann immer noch Regale einräumen und an Vascos Kasse sitzen?
Okay, auch in Deutschland müsste sie von vorne beginnen. Aber immerhin existierte dort ein soziales Netz, das sie im Notfall auffangen würde. In Costa Rica gab es nichts; jedenfalls nichts, auf das sie einen Anspruch geltend machen könnte. Sie war nicht mal krankenversichert.
Und das dickste Pfund: Magda war Familie. Gesetzt den Fall, Kathrin würde sich entscheiden, nach Deutschland zurückzukehren – wie sollte sie das anstellen? Ein Flugticket konnte sie sich garantiert nicht leisten. Oder doch oder wie oder was? Was kostete solch ein Ticket heutzutage? Sie würde sich erkundigen. Denn Kathrins Blick ging über die kaum wahrnehmbare, aber vorhandene leichte Krümmung des Meeresspiegels hinaus, wo sie merkwürdigerweise ihre eigene Seele entdeckte, die mit geblähten Segeln vor dem Wind in ein unbekanntes Land namens Sehnsucht fuhr.
Sechzehn Jahre vorher.
Mit achtzehn war sie durchgebrannt. Ziel Costa Rica. Ein windiger Kerl mit luftigen Ideen, Roland, Rolo gerufen, hatte sie dazu überredet, gemeinsam mit ihm im mittelamerikanischen Land eine Existenz aufzubauen. Ein Lokal, ein Café, eine Kneipe, etwas in der Art. Dass man auch dort Geld brauchen würde, mehr als geplant, hatte sie erst mal dazu gezwungen, vor Ort durch Hilfsarbeiterjobs das Startkapital zu verdienen. Ungefähr zwei harte Jahre hatte es gedauert, bis sie die Summe für eine heruntergekommene Spelunke in Strandnähe annähernd zusammen hatten. Den fehlenden Betrag, der ihnen zum Kauf noch fehlte, hatten sie, beziehungsweise hatte er, über einen privaten Kredit in Höhe von zehntausend US-Dollar finanziert. Kathrin wäre nicht darauf eingegangen, hätte lieber noch ein Jahr gejobt, doch ihr Partner hatte das nicht mehr gewollt. Arbeiten, hatte er gesagt, kann ich auch in der eigenen Kneipe.
Strandnähe wäre zu schön gewesen, doch hatte ihnen niemand gesagt, dass zwischen Strand und ihrem Lokal eine Straße gebaut werden würde. Eine viel befahrene Straße, und somit war es mit der Gemütlichkeit und der Ruhe vorbei gewesen. Gäste zu zählen hatte sich nur noch gelohnt, wenn all die anderen Restaurants und Kneipen schon voll besetzt waren. Und es waren immer nur die gleichen Nasen gekommen. Einheimische, die dem touristischen Trubel aus dem Weg gingen und stundenlang vor einem Kaffee oder einem Bier sitzen blieben. Damit hatte sich kein Reibach machen lassen.
War da noch dieser lästige Kredit. Sie hatten kaum genug verdient, um die Zinsen zu bedienen, von Rückzahlung ganz zu schweigen, und Kathrin hatte sich genötigt gesehen, wieder jobben zu gehen. Sie kellnerte in Gaststätten, deren Gäste sie gerne im eigenen Haus gesehen hätte.
Dann war eines Abends, während Rolo das Lokal alleine hütete und sich vor der Eingangstür den Arsch platt saß, in zwei Pick-ups eine Gang vorgefahren, die mit Baseballschlägern die Einrichtung zertrümmerten und einen schönen Gruß des Kredithais hinterließen. Das war das Ende gewesen. Zumindest für Rolo, denn Kathrin hatte noch ihren Job, dem sie auch weiterhin nachging. Ihr Traumlokal wurde als Bringschuld von zehntausend US-Dollar von jenem Mann übernommen, der den Kredit gegeben hatte.
Darüber war Kathrins Beziehung mit Rolo in die Brüche gegangen. Was aus ihm nach der Pleite geworden war, bekam sie nur über vage Andeutungen mit. Nichts Genaues. Mal hatte es geheißen, er sei ins Drogenmilieu abgerutscht, dann wieder hörte sie, er sei obdachlos und alkoholabhängig geworden und sähe sehr ungesund aus. Wieder andere wollten gewusst haben, dass er das Land mit unbekanntem Ziel verlassen hätte. Zu Gesicht hatte sie ihn in Costa Rica nicht mehr bekommen.
*
Sanderhofen, 11. Juni 2020
Der Bahnhofsvorplatz in Durlangen sah anders aus, als Kathrin ihn in Erinnerung hatte. Früher führte die Straße direkt vor den Stufen der Bahnhofshalle vorbei. Die Bushaltestellen lagen nur ein paar Meter weiter rechts. Wer zum Gleis der Nebenbahn wollte, die die wenigen Ortschaften im Tal mit der Hauptstrecke verband, musste über einen Zebrastreifen auf die andere Straßenseite wechseln und Glück haben, nicht überfahren zu werden.
Heute war die Straße einem Platz für Radfahrer und Fußgänger gewichen. Man hatte Porphyrpflaster verlegt und kleine Platanen gepflanzt, von denen man sich in Zukunft viel Schatten versprach. Die Nebenbahn hatte ein schmuckes Wartehäuschen bekommen, und der stinkende Dieseltriebwagen von damals war durch eine elektrische Zugeinheit ersetzt worden.
Kathrin war nach Durchquerung der Bahnhofshalle auf der obersten Stufe stehengeblieben und atmete tief ein. Wenn ich jetzt noch einen Schritt vorwärts gehe, werde ich nie wieder umkehren, dachte sie. Soll ich wirklich?
Sie war mit dem ICE von Frankfurt Flughafen gekommen und in Baden-Baden auf die Regio-S-Bahn nach Durlangen umgestiegen. Nun fehlte noch eine halbe Stunde Fahrt mit dem Entenköpfer, wie man den Schienenbus früher genannt hatte, nach Sanderhofen. Sie trug einen schweren Rucksack, eine Handtasche, und zog einen voluminösen Koffer hinter sich her. Der Einstieg in den E-Zug war gegenüber früher viel leichter zu bewerkstelligen. In den Niederflurwagen genügte ihr ein Schritt, während sie für den alten Schienenbus einen Gewichtheber gebraucht hätte.
Modern sei sie, die neue Bahn, was immer auch man darunter verstehen sollte. Der Kabineninnenraum war schmucklos und steril. Er roch nach Plastik und verströmte jenen künstlichen Duft, der einem allgegenwärtig aufgenötigt wurde. Textilwaschmittel und Putzmittel verbreiteten ihn, die Kleider der Menschen stanken einheitlich, und selbst Müllbeutel waren damit behandelt. Der Duft der weiten Welt.
Als der Zug anfuhr, lauschte Kathrin nach den typischen Nagelgeräuschen des alten Dieselmotors. Aber außer einem leisen Surren hörte sie nichts. Sie wartete darauf, dass wie früher die Fenster klapperten, aber auch in dieser Richtung wurde sie enttäuscht. Die ergonomisch geformten Sitzpolster dämpften die Vibrationen, auf die sie insgeheim gehofft und die man früher über die harten Holzlattensitzbänke besonders gespürt hatte. Damals war das Reisen noch eine Gefühlssache gewesen. Heute empfand sie die Bequemlichkeit irgendwie als charakterlos.
Die Landschaft, die an ihrem Fenster vorbeiflog, hatte sich nicht geändert. Die Berge und Täler waren noch die gleichen wie seit Ewigkeiten. Aber in punkto Bebauung hatte sich enorm viel getan. Neubaugebiete wohin das Auge reichte. Und wie dem ständig präsenten Duft nicht zu entkommen war, waren auch die Häuser überwiegend im gleichen kubischen Stil erbaut. Kathrin fiel kein geeigneteres Wort dafür ein, als seelenlos.
Sanderhofen. Ein Luftkurort. Kathrin erinnerte sich, dass sie zuletzt im Alter von elf Jahren hier gewesen war. Vor dreiundzwanzig Jahren. Mit ihrer Mutter, als diese noch gelebt hatte. Von vor dreiundzwanzig Jahren bis heute war in Kathrins Leben viel passiert, davon allerdings das meiste in einem anderen Land in einem anderen Kontinent. Sie konnte sagen: in einem anderen Leben.
Das gravierendste Ereignis im Alter von vierzehn Jahren war wohl der Tod der alleinerziehenden Mutter gewesen. Von heute auf morgen war Kathrin plötzlich ohne Familie dagestanden. Da sie ohne Vater, den sie nie kennengelernt hatte, aufgewachsen war, hätte eigentlich Mutters Schwester Magda in Sanderhofen sie aufnehmen sollen. Aber Magda war aus Gründen, die sie nie geäußert hatte, dagegen gewesen. Also war Kathrin vom Jugendamt in Celle, wo sie mit ihrer Mutter bisher gewohnt hatte, in eine Einrichtung für elternlose Jugendliche gesteckt worden.
Trotz ihres ablehnenden Bescheids hatte Tante Magda den Kontakt mit Kathrin über all die Jahre aufrechterhalten. Brieflich nur, aber mindestens einmal pro Jahr. Jedes Mal hatte Magda ihr versichert, dass die Zeit kommen werde, in der sie Kathrin den Grund für die zurückweisende Haltung erklären konnte. In der Kathrin verstehen würde. Und jetzt, wie es schien, war diese Zeit gekommen. Als Kathrin mit ihrem Gepäck an dem kleinen Kopfbahnhof in Sanderhofen aus dem Zug stieg, war sie vierunddreißig Jahre alt.
Kathrin überlegte kurz, ob sie ein Taxi nehmen sollte. Vom Bahnhof Sanderhofen bis zum Haus ihrer Tante waren es immerhin zweieinhalb Kilometer Fußweg, wie sie von früheren Besuchen her noch wusste. Damals war ihr als Kind die Tippelei schier endlos vorgekommen. Quer durch das Dorf und dann hinein in das langgestreckte Seitental, wo Magdas Haus am sonnigen Südhang stand. Onkel Hubert hatte sie meist mit einer Handkarre fürs Gepäck abgeholt. Heute brauchte Kathrin nicht nach Magdas Mann Ausschau zu halten, denn er lebte nicht mehr. Was Kathrin nur recht war, denn ihr hatte das überfreundliche, ja, sogar aufdringliche Benehmen des Onkels nie besonders gefallen, und, soweit sie sich erinnerte, ihrer Mutter gleichfalls nicht.
Sie wählte den Fußweg. Konnte sie bei der Gelegenheit doch gleich sehen, was sich in all den Jahren im Dorf geändert hatte. Oder auch nicht geändert. Manchmal blieben die Dinge einfach so, wie sie immer waren.
Magda hatte sich entschuldigt, dass sie Kathrin nicht am Bahnhof würde abholen können. Eine offene Wunde am Fuß, die nicht heilen wollte, hatte sie am Telefon gesagt.