Der Bassist - Peter Siefermann - E-Book

Der Bassist E-Book

Peter Siefermann

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Beschreibung

Schon aus Prinzip durfte es in dem Nest Durlangen nicht all das geben, was es in Köln gegeben hatte. Wem auch die Pizza nicht schmeckte, dem fiel es leicht, an allem anderen herumzumeckern. Was es für Jugendliche an Angeboten gab, war für Jack gleichbedeutend mit Spießbürgerlichkeit. Schließlich war er nicht ganz freiwillig in dieses Provinzkaff geraten. Wäre da nicht das Geschäft mit den Musikinstrumenten gewesen, für Jack hatte das neue Leben nicht trostloser beginnen können. Ach ja, und dann war da noch das Mädchen Jo, diese blöde Kuh ...

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Schon aus Prinzip durfte es in dem Nest Durlangen nicht all das geben, was es in Köln gegeben hatte. Wem auch die Pizza nicht schmeckte, dem fiel es leicht, an allem anderen herumzumeckern. Was es für Jugendliche an Angeboten gab, war für Jack gleichbedeutend mit Spießbürgerlichkeit. Schließlich war er nicht ganz freiwillig in dieses Provinzkaff geraten. Wäre da nicht das Geschäft mit den Musikinstrumenten gewesen, für Jack hatte das neue Leben nicht trostloser beginnen können. Ach ja, und dann war da noch das Mädchen Jo, diese blöde Kuh ...

Anmerkung des Autors: Der von mir verwendete Ortsname Durlangen hat nichts mit dem tatsächlich existierenden Durlangen in Württemberg zu tun.

Driving in my car, smoking my cigar, the only time I´m happy ´s when I play my guitar

Cream 1966, Text: Jack Bruce

Inhaltsverzeichnis

27. Juli 2015

28. Juli 2015

29. Juli 2015

30. Juli 2015 bis 13. September 2015, Sommerferien

14. September 2015

15. September 2015

16. – 20. September 2015

21. – 27. September 2015

28. – 30. September 2015

01. – 04. Oktober 2015

05. – 06. Oktober 2015

07. – 25. Oktober 2015

27. Oktober 2015

14. November 2015

06. Mai 2016

27. Juli 2015

Der Möbelwagen hatte den Stadtrand von Durlangen erreicht. Dreihundertsechzig Kilometer Autobahnstrecke, dreihundertsiebzig Kilometer von Köln entfernt. Durlangen. Nicht mal groß genug, um in Googles Streetview-Programm berücksichtigt zu werden. Gerade noch so, dass man bei Google Earth nachschauen konnte, wo die neue Adresse im Stadtgebiet angesiedelt war. Schon die Bezeichnung Stadt war ein schlechter Witz. Fünfundzwanzigtausend Einwohner. Welcher Größenwahnsinnige war bloß auf die Idee gekommen, solch einen Flecken Stadt zu nennen?

All ihre Habe hatte in diesen Möbelwagen gepasst. Mehr besaßen sie nicht. Sie, das waren seine Mutter und er, Jack. Eigentlich hieß er gar nicht Jack, sondern Jermaine, nach einem der Jackson-Brüder, ja, die von Michael Jackson, obwohl er weder eine schwarze Hautfarbe hatte noch krause Haare trug. Mutter hatte den Namen einst, als sie noch ein Backfisch war, für absolut angesagt gehalten, selbst dann noch, als nach Jermaine Jackson längst kein Hahn mehr krähte. Aber irgendwann war einem Typ aus seiner Klasse in Köln das Jermaine phonetisch zu Deutsch vorgekommen, klang zu sehr nach Germany, und hatte ihn Jack gerufen. Die anderen hatten es übernommen, einem Steppenbrand ähnlich, so wie sich auch Gerüchte wundersamerweise verbreiten, und sogar seine Mutter nannte ihn heute so. Der Name Jack hatte noch mit einer anderen Begebenheit zu tun, aber daran durfte er im Augenblick überhaupt nicht denken, weil er sonst heulen müsste, und das wollte er nicht. Nicht vor diesem idiotischen Möbelwagenfahrer, mit dem sie zusammen im Führerhaus hockten, der aussah wie ein erregter Kugelfisch mit Glubschaugen, und der seit ihrer Abfahrt in Köln keine Minute hatte schweigen können. Jack hätte diesen Labersack keinen weiteren Kilometer mehr ertragen, ohne aus der Haut zu fahren. Selbst die Ablenkung mit Computerspielen auf dem Smartphone und lauter Musik auf den Kopfhörern hatte wenig geholfen. Arme Mama. Die hatte nichts dergleichen. Aber jetzt bog der LKW von der Bundesstraße ab in die Kanalstraße, ihre neue Straße. Nummer vierundvierzig musste das Haus am Ende der Straße sein, einer Sackgasse, so wenigstens hatte Google Earth es gesehen, und danach kam Lands End. Direkt am sogenannten Wendehammer vorbei floss der Kanal. Sie waren angekommen.

Aus der Vogelperspektive des Google Earth-Satelliten hatte es besser ausgesehen als die aktuelle Straßenansicht. Es handelte sich um ein Fertig-Reihenendhaus, eineinhalbstöckig, dem die billige Bauweise auf Anhieb anzusehen war. Aber, hatte seine Mutter gesagt, die das Objekt einmal im Voraus begutachten konnte, der Zustand sei mit geringen Abstrichen ganz akzeptabel, es gäbe einen Keller, und Jack dürfe sich auf den kompletten halben Stock unter dem Dach freuen. Allemal besser als die vorherige Wohnung in Köln, Altbau, Mietshaus. Neben dem winzigen Vorgarten, gerade Platz genug für ein Fahrrad, existierte auf der Rückseite des Hauses ein verhältnismäßig größeres Gartengrundstück, ungefähr sieben Meter breit und zehn Meter lang, das vom Kanal, der hier um das Reihenhausgelände einen Bogen beschrieb, begrenzt wurde.

Der Möbelwagenfahrer riss die Flügeltüren zur Ladefläche des LKW auf, spuckte in die Hände und sagte:

„Na, dann woll´n wir mal.“

Jack ging erst einmal mit leeren Händen ins Haus, um sich grundsätzlich zu orientieren. Gleich links nach der Eingangstür führte eine Treppe in den oberen halben Stock. Den würde er später anschauen. Geradeaus ging es in den Wohnzimmer-Küchen-Bereich mit Essecke. Links davon ein schmaler, länglicher Raum mit Fenster ebenfalls in den Garten. Vor dem Wohnzimmer rechts ein größeres Zimmer, das vermutlich Mutters Schlafzimmer werden würde. Davor, unmittelbar neben der Haustür rechts das Bad und WC mit Verbindungstür zum Schlafzimmer. Die Kellertreppe befand sich direkt unter der Ersten-Stock-Treppe.

So gesehen gar nicht so schlecht, doch die Wände waren allesamt dünn, die Böden aus teilweise schon abgenutztem Laminat, die Türen wie auch die Türrahmen aus folienüberzogener Spahnplatte. Überall roch es noch nach Dispersionsfarbe, mit der alle Wände gestrichen waren. Frisch renoviert, das war doch schon was.

Er stieg die Treppe nach oben, die in einem winzigen Flur endete. Eine einzige Tür ging davon ab, durch die er den oberen Raum betrat. Dieser nahm ohne weitere Zwischenwände die gesamte Grundfläche des Hauses ein, was auf eine Fläche von ungefähr sechzig Quadratmetern schließen ließ. Allerdings waren durch die Dachschrägen nur die wenigsten davon in aufrechter Körperhaltung nutzbar. Aber immerhin. Er hatte sowieso nicht vor, in seinem Reich überwiegend zu stehen, also was soll´s. Neben der Tür, praktisch an der einzigen vertikalen Wand, war ein kleines Waschbecken montiert. Die Dachschrägen waren verkleidet und weiß getüncht. Er klopfte dagegen: es klang hohl. Es gab ein Dachfenster mit sonnengebleichtem Rollo und ein Fenster an der Hausgiebelseite. Das alles sollte ihm gehören? Hatte sich Mutter mit ihrem Versprechen da nicht etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt?

Er stieg nach unten, um beim Ausladen zu helfen, und lief seiner Mutter in die Arme.

„Und? Gefällt´s dir?“, fragte sie.

„Geht so“, sagte er, um ihr ja keinen Anlass für Hoffnungen zu geben, dass ihm der Umzug auch nur im Geringsten gefallen könnte. Das würde gerade noch fehlen.

Nach ungefähr drei Stunden war der Möbelwagen komplett entladen. Der Fahrer war immerhin so freundlich gewesen, beim Zusammenbau der Möbel zu helfen, die nicht in Gänze hatten transportiert werden können. Mit einem Trinkgeld versehen ließ er sie endlich allein.

Jacks Mutter öffnete die Glastür zur Veranda, nahm einen Stuhl von der Essgruppe mit nach draußen, setzte sich und rauchte. Jack schlenderte über den vermoosten Rasen zum Kanal. Eine graue Betonrinne, ungefähr zwei Meter breit, in der unerwartet klares Wasser floss. Am Grund wucherte grünes Gras, das sich in der Strömung bewegte wie lange Haare im Wind. Jenseits des Kanals zog sich ein etwa mannshoher, von Unkraut überwucherter Damm hin, dahinter erstreckte sich flaches Brachland, das an den Hängen der Weinberge endete. Irgendeiner der Vormieter oder Vorbesitzer des Hauses hatte ein paar Stufen zum Wasser hinab gebaut. Er setzte sich auf eine davon, stützte die Ellenbogen auf die Knie und stierte ins Wasser.

Der Kanal wurde vom Siedelbach gespeist, der etwas weiter südlich an der Stadt vorbeifloss. Nach der Wasserentnahme für den Kanal wurde der Siedelbach zu einem traurigen Rinnsal degradiert, das sommers meistens völlig austrocknete und die Mündung in den westlich gelegenen Rhein nur nach ausgiebigen Regenfällen erreichte. Fische oder andere Wassertiere hatten keine Überlebenschance.

Er hörte Schritte hinter sich.

„Das ist unser neues Zuhause, Jack“, sagte die Mutter. „Es ist unser Eigentum. Niemand kann es uns mehr wegnehmen.“

„Ein Eigentum auf Pump, Mama“, antwortete er mit der markanten Stimme, die nicht so recht zu ihm passen wollte. Sie klang wie chronisch erkältet, als vermutliche Folge seiner geneigten Kopfhaltung

„Ja, aber nicht von der Bank, sondern von meinen Eltern. Das ist was anderes.“

Jack spuckte ins Wasser.

„Sei nicht so gemein, Jack“, sagte sie, mit einer Spur Traurigkeit in der Stimme. „Du wirst hier neue Freunde finden, da bin ich mir sicher. Wenn du hier in die Schule gehst ...“

Er unterbrach sie barsch. „Du kapierst es einfach nicht. Du tust so, als sei dieses Kaff der Hotspot, in dem man auf Leute wie uns nur gewartet hat. Du vergleichst Durlangen mit Köln. Was glaubst du eigentlich, was hier los ist? Hier ist doch echt tote Hose.“

„Aber das kannst du doch noch überhaupt nicht wissen. Komm´ doch erst einmal richtig hier an, Jack.“

„Und ob ich das weiß. Es gibt ja schließlich Internet, wo man sich über solche Orte informieren kann. Das habe ich getan. Hier ist nichts. Es gibt nicht einmal mehr ein Kino, weil sie es wegen mangelnder Besucher schließen mussten. Es gibt ...es gibt ...“, er wedelte mit den Händen in der Luft herum, „... nichts!“

„Aber ...“

„Kein Basketball, keine Bowlingbahn, kein astronomisches Observatorium, keine ...“

„Als ob du dich je für Basketball interessiert hättest. Dafür gibt es hier die Jugendfeuerwehr, die Katholische Landjugend, Musikvereine, Schützenvereine, Sportvereine und noch mehr. Auch ich habe mich informiert. Es liegt auch an dir, ob du Anschluss finden willst oder nicht.“

„Pfff“, machte er verächtlich. „Anschluss? Zu Landjugend und Spießbürgern? Diese Gegend ist total abgehängt. Nicht mal schnelles Internet gibt es hier. Begreifst du nicht, dass wir hier in Sibirien sind?“ Stand auf und rannte zum Haus.

Sie ließ die Schultern sinken. „Willkommen im neuen Leben. Willkommen in Durlangen“, murmelte sie in den Kanal, der die Worte rasch davontrug.

Durch die unterschiedliche Sommerferienregelung der einzelnen Bundesländer traf es Jack dieses Jahr besonders gut. Er würde fünf Wochen länger Ferien haben als sonst, denn in Baden-Württemberg begannen sie fünf Wochen später als in Nordrhein-Westfalen. Allerdings waren seit Ferienbeginn in NRW schon vier Wochen vergangen, Zeit, die einesteils zum Vorbereiten des Umzugs nach Durlangen, also zum Packen und Putzen genutzt worden war, andernteils Jack die Möglichkeit geboten hatte, seine persönliche Trennung von der Stadt zu zelebrieren. Konsequent durchstreifte er wie ein Kater die ihm ans Herz gewachsenen Reviere, nur dass er diese nicht katergleich mit seinem Urin markierte. Er besuchte alle Museen, in denen er je gewesen war, und auch diejenigen, die er bis dahin noch nicht frequentiert hatte. Was ihn jedoch am meisten betrübte und in eine tiefe Verzweiflung stürzte, war der Verlust seiner Band Black Throat, und damit verbunden auch der Verlust seines Instruments. Mit Beginn der Ferien war ihr Proberaum geschlossen worden, denn er befand sich im Keller des Schulgebäudes. Die anderen beiden Bandmitglieder hatten sich Richtung Spanien verabschiedet. Die Instrumente - Schlagzeug, Lead-Gitarre und Bass - waren Eigentum des Vaters des Schlagzeugers, sodass Jack nicht mehr an den Fender-Bass, den er jahrelang gespielt hatte, herankam. Für einen eigenen qualitativ guten Bass fehlte ihm schlichtweg das Geld. Bis vor vier Monaten hatte es noch nicht mal Anzeichen dafür gegeben, dass er eines Tages aus der Band aussteigen musste. Wer hatte auch damit rechnen können, dass sein Vater die Flatter machen und somit Mutter und ihn zum Umzug zwingen würde? Natürlich war er deswegen stinksauer auf seinen Erzeuger, und dann komischerweise auch wieder nicht, denn der hatte sich wenigstens was getraut.

Jack hatte die Versetzung in die zehnte Klasse in Köln nicht geschafft und würde demnach, wenn er ab September das hiesige Gymnasium besuchte, die neunte Klasse wiederholen. Das war zwar nicht der Grund, weshalb sie von Köln weggezogen sind, aber es passte, wie ein Zahnrad ins andere, zu dem zurückliegenden Seuchenjahr. Er kam sich vor wie entwurzelt und deportiert. Köln war der Organismus gewesen, mit dem er eine Symbiose eingegangen war. Nicht dass Köln großen Nutzen aus ihm gezogen hätte, bei Gott nicht. Aber er hatte aus der Stadt das Lebenselixier gewonnen, das ihm allein auf den Leib geschneidert war. Der Atem der Stadt war sein Atem, und sein Puls war der Puls der Stadt. Dabei war er nicht mal ein typisches Kölner Kind, obwohl dort geboren und aufgewachsen. Mit dem Kölner Fasching zum Beispiel hatte er überhaupt nichts am Hut, und sowieso war ihm das rheinische Naturell ein Graus. Seine Verbundenheit mit Köln hatte andere Gründe, die einer, der nicht war wie er, nicht verstehen konnte. Er verglich es oft mit einem Spiel. Er spielte mit der Stadt. Er vertraute ihr blind, und sein Spiel war, mit verbundenen Augen durch die Gassen zu streifen. An Geräuschen und Düften würde er jeden Winkel der Altstadt erkennen. Er kannte jeden einzelnen Geschäftseingang, jede Passage, jede Ecke, jeden Platz, alle Brunnen, jedes Straßenpflaster und jeden Gullideckel. Es war seine Heimat. Und noch etwas war sehr wichtig für Jack. In der Stadt fiel er überhaupt nicht auf. Er war nichts, er war niemand, er war ein Teil, das zum Stadtbild gehörte wie ein einzelner Mauerstein in der alten Stadtmauer. Keiner scherte sich, keiner kümmerte sich um ihn, und das war gut.

Er fühlte sich hässlich und von der Natur eindeutig benachteiligt Er war zu dick, er hatte starke Gesichtsakne, ein riesiges flammendes Feuermal, das wie eine blutige Hand mit gespreizten Fingern wie ein ewiger Ohrfeigenabdruck vom Hals bis auf die rechte Wange strahlte, und er war unsportlich und linkisch. Mit fünfzehn Jahren maß er annähernd ein Meter achtzig und wog fünfundachtzig Kilo. Keine Fakten, mit denen man gern hausieren ging.

Wegen des Feuermals trug er die Haare lang, und über die Jahre war ihm die schräge Kopfhaltung, mit der er die betroffene Gesichtshälfte durch die herabhängenden Haare zu verdecken suchte, in Fleisch und Blut übergegangen. Von der Körpergröße her schlug er seinem Vater nach, während er die Charakterzüge und das weiche Haar ganz der Mutter zuschreiben musste. Nur betrieb er zurzeit relativ viel Aufwand, die mütterlichen Anlagen zu verbergen, indem er sich übellaunig, ungerecht, ablehnend und ruppig präsentierte.

Seine Mutter hatte nicht unrecht gehabt als sie sagte, dass er sich nicht für Basketball interessierte. Er war zu schwerfällig, zu plump dafür. Genauso verhielt es sich mit Bowlen. Er gehörte keiner entsprechenden Clique an, um dabei sein zu können. Dennoch war es eine unumstößliche Tatsache, dass es in Köln all diese tollen Einrichtungen gab und er die freie Wahl hatte, sich für oder gegen sie zu entscheiden. Weil in Durlangen dagegen nichts von all dem geboten wurde, bekam er auch die Gelegenheit zur Wahl nicht, weshalb er sich von vornherein entmündigt fühlte. Das war´s.

„Soll ich uns eine Pizza bestellen? Hast du Lust drauf?“, fragte seine Mutter, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Den Vorwurf, der aus seinem Gesicht plumpste, konnte sie nicht übersehen. Einen ganzen Kopf kleiner als Jack, ging sie zu ihm hin und schloss ihn in die Arme. „Komm´, mein Großer“, sagte sie geduldig, „lass´ uns hier ein wenig Ordnung schaffen. Du rufst beim Pizzaservice an, und dann packen wir die Umzugskartons aus und räumen unsere Reichtümer ein, hm?“

„Kann ich auch in meinem Zimmer beginnen?“

„Na klar. Die Reihenfolge ist doch egal. Aber ruf´ vorher bitte an. Ich hab´ mächtig Kohldampf.“

Zuerst schleppte sie die Kartons in die zum Wohnzimmer hin offene Küche, auf denen Geschirr, Besteck und Küchengeräte geschrieben stand. Sie wusste, dass es sich bei der Küche nicht um ein Qualitätsprodukt aus hochwertigen Materialien handelte. Die Frontseiten der Schränke waren mit Folie in Nussbaumdekor laminiert, die Innenseiten in Resopal-Ausfertigung gehalten. Aber alle Türen schlossen exakt, nichts war versifft, keine Scharniere ausgebrochen, der hohe Kühlschrank verfügte über ein separates Gefrierabteil, und zu guter Letzt gab es eine Geschirrspülmaschine, ein Luxus, den sie in ihrer vorigen Küche stets vermisst hatte. Kein Grund also zu jammern, um wie viel besser es andere Frauen im Leben getroffen hatten.

Es hatte Jahre gegeben, in denen sie bemüht war, gesellschaftlich mehr zu erreichen als das, worin sie meinte festzustecken. Ein bisschen mehr an Ansehen in einem niveauvolleren Zirkel war ihr Ziel gewesen. Zuallererst raus aus der Altstadtwohnung, raus aus dem Kölner Klüngel, unter Leute, oder wenigstens in deren Nähe, die es geschafft hatten, wodurch auch immer, einen Status vorweisen zu können. Sie wollte den Stallgeruch loswerden, den sie allein durch den Ort, an dem sie wohnte, automatisch verströmte. Aber sie machte keinerlei Fortschritte, auch weil ihr Ehemann Volker Mattern einer Veränderung ihrer Wohnsituation stets widersprach und überhaupt all ihre Bemühungen konterkarierte, indem er sich absichtlich nicht als gesellschaftsfähig aufführte. Mit ihm konnte sie sich weder auf Empfängen noch zu anderen öffentlichen oder internen Anlässen sehen lassen. Entweder war er nicht bereit, sich passend anzuziehen, oder betrunken, und wenn er betrunken war, führte er sich als Rüpel auf und fühlte sich prächtig dabei, wenn er es den Schmarotzern und Schleimern wieder mal zeigen konnte. Als sie merkte, dass ihr Streben nach mehr Anerkennung ihre Kraft zu übersteigen drohte, gab sie das Ansinnen von heute auf morgen auf.

Heute nun stand sie hier in ihrer eigenen Küche, in ihrem eigenen Haus. In Durlangen statt in Köln. Ohne Ehemann, aber mit Sohn. Sie hatte sich die veränderte Situation nicht ausgesucht. Die Idee war nicht auf ihrem Mist gewachsen, was nicht heißen sollte, dass sie per se schlecht war. Was sie getan hatte, als alles den Bach hinunter zu gehen schien, als sie Hilfe brauchte, war, die ihr angetragene Hilfe anzunehmen. Egal, auch wenn sie mitten aus dem Herz der Familie kam. Und was speziell dieses Haus betraf: Sie würde heute nicht damit beginnen, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen, denn das war es. Das ganze Haus. Ein Geschenk ihrer Eltern. Jermaine, ihr Sohn, besser gesagt, Jack, wusste das allerdings nicht und sollte es auch nicht wissen. Für ihn galt die Losung, dass sie von den Eltern einen Kredit zum Hauskauf erhalten hatte und diesen natürlich abstottern musste. Dass sie ihrem Sohn damit nicht ganz die Wahrheit sagte, meinte sie verantworten zu können, und ihre Eltern würden sich an diese Sichtweise der Dinge halten.

Sie hieß Pia, was vielleicht erklärte, weshalb sie ein Faible für den Namen Jermaine entwickelt und ihren Sohn danach genannt hatte, waren es doch eine gewisse Sängerin Pia Zadora und eben Jermaine Jackson gewesen, die in den achtziger Jahren mit ihrem Duett When the rain begins to fall einen Welthit landen konnten. Pia Zeininger mit vollem Namen, Zeininger ihr Mädchennamen, den sie nach der Sache mit ihrem Mann auf Anraten nicht nur ihres Vaters wieder angenommen hatte. Jack jedoch wollte seinen Nachnamen behalten. Jermaine Jack Mattern. Er fand den Namen Zeininger nicht gut. Na, sollte er.

Ein Geräusch schob sich zwischen Pias Gedanken. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es die Haustürglocke war. Sie eilte zur Tür, riss sie auf. Der Pizzaservice mit zwei Pizzen. Sie nahm die beiden flachen Kartons in Empfang, legte sie auf eine Stufe der Dachbodentreppe, holte ihre Geldbörse, bezahlte und gab ein viel zu hohes Trinkgeld. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, streifte sie die Erkenntnis wie ein Bus: Das Leben im neuen Heim hatte begonnen. Sie hatte eine Adresse, eine Hausnummer, ein Namensschild neben der Klingel, sodass sie der Pizzabote, oder wer auch immer, finden konnte. Ich bin Pia Zeininger, und hier bin ich zu Hause, dachte sie voller Stolz und Zuversicht.

Sie rief die Treppe hinauf: „Jack, Pizza! Kommst du?“

Sie saßen am Esstisch neben einem der Fenster. Jack schaufelte die Pizza in sich hinein. Er machte sich nicht die Mühe, die Pizza mit Messer und Gabel in mundgerechte Stücke zu schneiden, sondern riss sie mit den Fingern auseinander.

„Die Pizza schmeckt scheiße“, motzte er, die Backen voller Teig und Salamibrei. „Die können nicht mal anständige Pizzas hier backen.“

Pia musste unwillkürlich grinsen. Die Pizza durfte ihm schon aus Prinzip nicht schmecken, das war so klar wie Kloßbrühe. Bestimmt riecht auch die Atemluft scheiße. „Dafür, dass sie scheiße schmeckt, hast du sie in Nullkommanix regelrecht, entschuldige, dass ich das so salopp sage, aufgefressen.“

Er grunzte: „Der pure Hunger.“

„Wie weit bist du oben mit Einräumen? Brauchst du Hilfe?“

„Was ich brauche ist WLAN.“

Aha, die nächste Baustelle, dachte Pia. „Magst du den Rest meiner Pizza noch? Ich schaff´ sie nicht ganz.“

Jack ergriff ihren Teller und zog ihn zu sich. „Ich sagte doch: schmeckt scheiße“, und schob sich den Rest in den Mund. „WLAN, Mama“, mampfte er.

„Das wird diese Woche schon noch eingerichtet werden. Es ist ja erst Montag. Musst dich bis dahin halt mit deinen Computerspielen begnügen. Oder du fragst bei den Nachbarn, ob du dich über ihren Router einloggen darfst.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Mama. Mit den Nachbarn, mein´ ich.“

„Wieso? So lernst du die Leute gleich kennen. Wenn ich Kuchen backe und mir fehlt ein Ei, dann klingele ich auch bei den Nachbarn und frage, ob sie ein Ei übrig haben. So funktioniert die Gesellschaft. Aktives Sozialverhalten. Du kannst mir nachher helfen, mein Bett zu beziehen.“

„Seit wann backst du Kuchen?“, fragte er zynisch.

„Das war nur ein Beispiel, um dir ...“

„Vergiss´ es, Mama.“

Jack half seiner Mutter, ihr Bett zu beziehen. Wozu braucht sie eigentlich noch ein Doppelbett, jetzt, wo Papa nicht mehr da ist?, fragte er sich, behielt seine Gedanken diesbezüglich aber für sich. Wenn er ehrlich sein wollte, musste er zugeben, dass er über das Verhältnis seiner Eltern zueinander eigentlich gar nichts wusste. Seit er mehr oder weniger eigene Interessen verfolgte, und das waren immerhin schon ein paar Jahre, hatte er sich um den Zustand der Familie kaum noch gekümmert. Er hatte wie eine Bienenkönigin in seiner Bude vegetiert, ohne dass er sich zu irgendeiner Beteiligung am Familienleben verpflichtet gefühlt hätte. Er bekam seine Mahlzeiten, seine Schmutzwäsche wurde gewaschen, er ging dafür zur Schule und sie gönnten ihm die Freiräume, die er sich eigenständig schuf. Was seine Eltern machten – entschuldige – das war doch wohl deren Sache, oder? Manchmal, ganz tumb war er ja nicht, spürte er freilich die Stimmungsschwankungen, die in der Luft der Altbauwohnung lagen. Atmosphärische Störungen, wie er sie nannte. Er merkte zum Beispiel, wenn sein Vater zu tief ins Glas geschaut hatte, was in letzter Zeit häufiger der Fall gewesen war. Dann wurde er irgendwie aufmüpfig, auch gemein. Aber Vater war kein Schlägertyp, prügelte weder Mutter noch ihn, was Jack durchaus unter Harmonie verbuchte.

„Weißt du, in welchem Karton die Schraubhaken sind? Ich möchte heute noch das Planetensystem aufhängen.“

Mutter wusste, wo sie zu finden waren. „Ja, willst du? Ach schön. Das hast du echt toll hingekriegt.“

Ja, das hatte er. Toll gemacht. Das Planetensystem mit der Sonne als Modell, das er wie ein Mobile an die Decke hängen konnte. Ganz ohne Hilfe. Das heißt Hilfe hatte er schon. Aus etlichen Büchern, die er sich in der Bücherei in Köln ausgeliehen hatte, um alles, was es über die Planeten zu wissen gab, zu lesen und sich anzueignen. Und nicht nur über die Planeten. Im ganzen Universum kannte er sich theoretisch aus wie in seiner Westentasche. Keine noch so entfernte Galaxie war ihm fremd, sofern sie entdeckt war. Über Planeten und das All wusste er praktisch alles. Das war sein insgeheim großer Traum: Nach dem Abitur Astrophysik zu studieren, oder Astronomie. Aber blöderweise hatte er die neunte Klasse nicht geschafft, dummerweise musste er sie wiederholen, und katastrophalerweise in diesem Kuhkaff Durlangen, in dem es bezeichnenderweise kein astronomisches Observatorium gab. Vielleicht, dachte er, wenn ich Opa ein wenig Senf ums Maul schmiere, oder sagt man Honig?, gibt er mir das Geld für ein eigenes Teleskop. Ich werde mal bei Mama vorfühlen, wie sich Opa zu dem Vorschlag stellen würde. Er wusste auch schon, wo er es hinstellen würde. Das Dachfenster war wie geschaffen für die eigene Sternwarte. Der erste Pluspunkt für das neue Domizil.

28. Juli 2015

Die erste Nacht im neuen Haus. Jack wusste beim Aufwachen nicht, wo er sich befand. In dem für seine Verhältnisse riesigen Raum kam er sich ziemlich verloren, um nicht zu sagen, klein vor. Aus der liegenden Perspektive wirkte das Zimmer noch größer als aus der aufrechten. Sein altes Zimmer in Köln war dagegen eine Kammer gewesen. Vier auf drei Meter. Ein Bett, ein Schrank, Schreibtisch, Bücherregal, Planeten an der Decke. Extrem gemütlich. Wenn er im neuen Raum sprach oder sich räusperte, meinte er ein Echo zu hören. Könnte interessant sein, hier Musik zu machen, dachte er.

Als er zum Pinkeln nach unten ins Bad ging, stellte er fest, dass Mutter im Schlafzimmer zugange war. Er lugte durch die offene Tür. „Mor´n.“

Sie legte das Kleidungsstück, das sie in den Hängen gehalten hatte, aufs Bett und kam auf ihn zu. „Guten Morgen, Großer“, sagte sie fröhlich und drückte ihm einen Kuss auf die Schnute. Er zeigte sich überrascht. Diese Art von Herzlichkeit war neu. Er musterte sie skeptisch.

„Äääh, alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, wieso?“

„Ach, nichts.“

„Keine Sorge, Großer“, schmunzelte Pia. „Es bleibt unter uns.“

Er wurde rot im Gesicht und beeilte sich, aufs Klo zu kommen. Pia summte eine Melodie.

„Übrigens: Dein Opa kommt nachher vorbei und bringt verschiedene Dinge mit“, erwähnte sie, als er wieder aus dem Bad kam. „Hilfst du ihm bitte beim Ausladen? Er hat schwere Geräte.“

„Okay, und was ist mit Frühstück?“

„Bringt er auch mit. Anschließend fahren wir mit seinem Auto zum Einkaufen. Kommst du mit?“

„Nööö“, nölte er, „ich will heute mal Downtown.“

„Wohin?“

„Na in die Stadtmitte. Sag´ mal, meinst du, Opa ist bereit für ein Gespräch unter Männern?“

Pia wurde hellhörig. „Was immer du von ihm willst, musst du mit ihm bereden. Hab´ halt keine Angst und fang´s geschickt an. So mach´ ich das immer.“

„Wie bei dem Kredit fürs Haus?“

Sie starrte ihn an. War er jetzt unverschämt, oder was? Plötzlich musste sie kichern. „Genau“, blinzelte sie ihm mit einem Auge zu. „Wie beim Kredit fürs Haus.“

Opa Zeininger erschien kurze Zeit später, ein drahtiger Rentner mit stoppelkurzen Haaren wie eine Drahtbürste. Er stellte einen Leinenbeutel auf den Tisch, aus dem es nach warmen Croissants duftete. „Hallo, Süße“, umarmte er Pia. „Gut siehst du aus. Hat gestern alles geklappt?“

„Wie du siehst, Papa. Hier sind wir also. Danke für alles.“

„Hallo Jermaine, gut geschlafen die erste Nacht?“