Handkerchief - Peter Siefermann - E-Book

Handkerchief E-Book

Peter Siefermann

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Beschreibung

Hank Schiefer, Spitzname Handkerchief, geschasster Risiko-Banker, sucht eine neue Herausforderung. Er findet sie in Durlangens stillgelegter Ziegelei, einer Industriebrache. Gemeinsam mit seiner Bekannten Doro eröffnet er in den alten Gemäuern einen Dauer-Flohmarkt. Die Sache läuft gut an, doch nicht jedem gefallen die Menschen, die Doro und Hank unter ihrem Dach beschäftigen.

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Hank Schiefer, Spitzname „Handkerchief“, geschasster Risiko-Banker, sucht eine neue Herausforderung. Er findet sie in Durlangens stillgelegter Ziegelei, einer Industriebrache. Gemeinsam mit seiner Bekannten Doro eröffnet er in den alten Gemäuern einen Dauer-Flohmarkt. Die Sache läuft gut an, doch nicht jedem gefallen die Menschen, die Doro und Hank unter ihrem Dach beschäftigen.

Die im Buch genannte Ortschaft Durlangen ist mit dem württembergischen Durlangen nicht identisch. Die Handlung des Buches sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden.

Für alle Heimatlosen

Inhaltsverzeichnis

Oktober 2015

Heute * Erinnerungen

Oktober 2015

Heute * Erinnerungen

Oktober 2015

Heute * Erinnerungen

November 2015

Heute * Erinnerungen

Dezember 2015

Februar 2016

Heute * Erinnerungen

Februar 2016

Heute * Erinnerungen

März 2016

Heute * Erinnerungen

Helmut

März 2016

März 2016

Heute * Erinnerungen

März 2016

Chris

Mai 2016

Doro

Heute * Erinnerungen

Nassima

Mai, 2016

Juni 2016

Juni 2016

Heute * Mitte September 2016

Zweieinhalb Wochen später

Ein Jahr später, 2017

Oktober 2015

Durch das kleine Fenster fiel trübes Herbstlicht. Es erweckte den Eindruck, als würde es nur ungern in das Haus mit den niedrigen Decken eindringen, weshalb es den Raum nur spärlich erleuchtete. Unter der grauen Zimmerdecke schien es sich wegzuducken, als wäre es in Überkopfhöhe unerwünscht, wie auch der Bewohner des Hauses den Kopf einziehen musste, um nicht an die Decke zu stoßen. Vielleicht lag es daran, dass es im engeren Sinne eigentlich gar kein Haus war, sondern eher ein Häuschen. Ein Häuschen mit kleinen Fenstern.

Es hatte nur vier Zimmer anzubieten. Kleine Zimmer, wohlgemerkt, von denen aber nur zwei wirklich genutzt wurden: Die Küche und ein kombiniertes Wohn/Schlafzimmer. Die anderen beiden Räume standen mehr oder weniger leer. Aber es verfügte über ein Bad. Wie nicht anders zu erwarten, war es relativ eng.

Der Mann im Badezimmer schaute in den Spiegel und überlegte, ob er die Haare schneiden sollte, die ihm bis auf die Schultern fielen. Du wirst alt, sagte er zu seinem Spiegelbild. Die silbernen Strähnen werden immer dicker. Du gleichst immer mehr einem Dachs.

Er fletschte die Zähne und war dankbar, dass er damit so gut wie nie Probleme gehabt hatte, wie so viele seiner ehemaligen Bekannten. Nur kurz schweiften seine Gedanken zurück in jene schwierige Zeit, als er ein Leben am Rande geführt hatte. Als er aber die Schere zur Hand nahm und an seinem grau melierten Vollbart herumschnippelte, verdrängte er die Erinnerung erfolgreich. Es wird nicht schaden, wenn ich heute etwas manierlicher aussehe als sonst, dachte er.

Er setzte sich an den Küchentisch, um zu frühstücken. Als einzigen Luxus gönnte er sich Kaffee einer etwas teureren Marke, wogegen er an anderer Stelle wieder sparte. Spartanisch kommt von Sparen, lautete sein Motto, und dementsprechend gab es Brot, Margarine und Marmelade nur vom Discounter. Dass er würde sparen müssen, war ihm bewusst, seit er die letzte Arbeitsstelle verloren hatte. Nicht aus eigener Schuld, aber er musste sich trotzdem danach richten.

Vielleicht habe ich heute etwas Glück, dachte er und räumte den Tisch ab, den er selber gezimmert hatte, wie im Übrigen alle Möbel in den zwei Zimmern in Eigenarbeit entstanden waren. Helle Hölzer, um den kleinen Fenstern etwas entgegenzusetzen. Er dachte bezüglich des Glücks an die Anzeige in der Zeitung.

Im grauen Anzug und mit Hut auf dem Kopf verließ er das Häuschen, ging an dem flachen Holzschuppen vorbei, in dem er all seine Maschinen aufbewahrte, den Schotterweg hinunter zur Samariterstraße, wo er nach rechts abbog. Vielleicht habe ich heute etwas Glück.

Heute * Erinnerungen

Wenn es noch eine Welt gibt, dann steht sie Kopf. Was unten war, ist oben, und was oben war, ist unten. Links ist rechts, und rechts ist links. Kalt und heiß, leicht und schwer – alles umgekehrt. Verschoben. Keine bekannten Größen mehr. Was dunkel war, ist ...Nein. Stopp. Was dunkel war, ist dunkel, was hell war, ist ... dunkel.

Ich weiß nicht, wo ich bin. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Ich weiß nicht, wo ich bin.

Durch meinen Kopf treibt schwarzer Schnee. Oder ist es Asche? Verwehungen überall. Die vertrauten Wege sind verschüttet.

Ich bin allein.

*

Ich will gar nicht lange drum herumreden, denn bei so viel Ähnlichkeit macht es auch überhaupt keinen Sinn. Man muss kein Sprachkünstler sein, um von meinem Namen zu Handkerchief eine Brücke bauen zu können. Es ist ja nicht mal ein Zungenbrecher.

Mein Name ist Hank Schiefer. Vor- und Zuname habe ich meinem Erzeuger zu verdanken. Meine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, mich Hank zu nennen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich heute vielleicht Lukas heißen oder Kevin. Aber es war nicht nach ihr gegangen, sondern nach ihrem damaligen Mann, und nur weil er den amerikanischen Countrysänger Hank Williams verehrte, musste ich so heißen wie der. Nämlich Hank.

Dem näselnden Gesang Hank Williams´ hatte ich nie viel abgewinnen können, von daher fühlte ich mich ihm nicht verbunden, doch mein Vater musste einen Narren an ihm gefressen haben. Er war, bevor er meine Mutter kennengelernt und geschwängert hatte, einige Zeit in den USA gewesen und dort mit seinem Faible für Country-Musik infiziert worden. Meine persönliche Geschmacksrichtung in puncto Musik tendiert eher zu Neil Young, Led Zeppelin, Deep Purple, Chris Rea und Genesis.

Hank Schiefer also, von den Mitschülern in meiner Klasse dankbar aufgegriffen und nach einigen Stunden Englischunterricht zu Handkerchief verballhornt. Auf Deutsch: Taschentuch.

Über all die Jahre war er an mir hängengeblieben, der Spitzname, Handkerchief, und weil ich ihn partout nicht wieder loswerden konnte, hatte ich daraus schließlich eine Marke gemacht.

Wer heutzutage in Durlangen „Handkerchief“ sagt oder darüber spricht oder sich danach erkundigt, meint entweder mich oder mein Geschäft. Es steht in großen Lettern, sowohl in Druck- als auch in Lautschrift, über dem Eingang und dem Schaufenster zu meinem Laden. Handkerchief.

Ich bin Inhaber und Betreiber einer sogenannten Brockenstube, was mehr oder weniger ein Dauer-Flohmarkt und Secondhandshop ist, mit angegliederten Serviceangeboten wie An- und Verkauf von Waren (Möbel, Geschirre, Bestecke, Kleider, Teppiche, Bilder, Musikinstrumente, LP´s und CD´s, Kunstgegenstände, Elektrogeräte, Spielzeug, Bücher), sowie Entrümpelungen von Wohnungen und Häusern, und Umzüge innerhalb der Stadt bis maximal fünfundzwanzig Kilometer im Umkreis.

Ich hatte die ehemalige Ziegelei am Stadtrand Durlangens schon immer als erhaltenswerte Architektur empfunden. Sie liegt zwischen der ehemaligen französischen Militärkaserne und der Großgärtnerei Schmauch, ganz in der Nähe des Bahnhofs und des Freibads. Ein herrliches Gebäude, ganz aus Ziegelsteinen errichtet, mit hohen schmalen Rundbogenfenstern auf beiden Seiten, die ihm, von außen betrachtet, fast einen sakralen Charakter verleihen. Der gemauerte Industrieschornstein fügt der Illusion, es mit einer Kirche oder einer Moschee zu tun zu haben, ein Übriges dazu. Tatsächlich ist das Handkerchief aber weit von einem Sakralbau entfernt, und ich bin weder Imam noch Pfaffe.

Neben der eigentlichen Produktionshalle der Ziegelei, dem Herzstück der Anlage, steht, parallel dazu, ein zweites Gebäude mit gleicher Grundfläche, doch weniger hoch und nur mit kleinen Fenstern, dafür mit einem breiten Rolltor versehen, durch das früher ganze Güterwagen der Eisenbahn passten. Es handelt sich um die ehemalige Lagerhalle für verkaufsfertige Ziegel, und die Schienen für die Eisenbahnwagen liegen immer noch unter deren Dach. Auf dem freien Gelände der Zufahrt davor hat man sie allerdings herausgerissen. Auch ich nutze die Halle und nenne sie Werkshalle. Alle frisch ankommenden Waren landen zuerst dort, denn bevor sie zum Verkauf ausgestellt werden können, sind etliche Arbeiten zu erledigen: Textilien müssen gewaschen, getrocknet und gebügelt, Geschirre gespült, Möbel zusammengebaut und gereinigt, von –zig Jahre alter Patina befreit werden, und so weiter. Das dauert alles eine gewisse Zeit, aber so ist es nun mal.

Als ich die Ziegelei übernahm, befanden sich noch sämtliche Produktionsmaschinen und Brennöfen in der Halle. Industrieschrott, sozusagen. Die brauchbarsten Großgeräte konnte ich für einen Spottpreis an eine andere, noch aktive Ziegelei verscherbeln. Der Rest brachte immerhin einige Euro beim Altmetallhändler ein.

Von Seiten der Stadt Durlangen war man meinem Antrag zur Nutzung der Ziegelei zunächst sehr skeptisch gegenübergestanden. Schließlich handelte es sich um Gemeindebesitz, und als solcher war er Teil der potenziellen Gelddruckmaschine, wenn man Industriebrachen so bezeichnen wollte. Flächen für Spekulanten, für zukünftige Investoren. Abgesteckte Claims für zu erwartende Goldgräber. Was mir wahrscheinlich zugutekam, war, dass die Stadt in jüngerer Zeit bereits mehrere großflächige Areale ehemaliger Industrieanlagen hatte veräußern können, und der Geldbeutel des Kämmerers somit prall gefüllt war. Man bot mir zunächst einen siebenjährigen Nutzungsvertrag an, mit einer Option zum eventuellen späteren Kauf.

Das Dach musste repariert, einige Fenster verglast, und die Fassade gegen weiteren Zerfall gesichert werden, zum Schutz allfälliger Besucher einerseits, und zum Werterhalt andererseits, womit der von der Stadt zu erbringende Aufwand beschrieben war. Selbst baute ich in den hinteren Teil der Halle zwei nebeneinanderliegende kleine Wohnungen ein – fertig war das Handkerchief.

Beinahe fertig, um bei der Wahrheit zu bleiben, und so einfach wie gesagt war es dann doch nicht, denn der Anfang war hartes Brot für einen Bleistiftspitzer, wie ich einer gewesen war. Ständig fielen Arbeiten an, wie Erweiterungen oder Verbesserungen, aber die geschahen und geschehen, auch heute noch, praktisch bei laufendem Betrieb. So baute ich zum Beispiel eine erhöhte umlaufende Galerie mit Zugangstreppen ein, um mehr Platz zu gewinnen; eine ausziehbare Bühne für Konzerte, Theater- und Kabarettaufführungen, und die dafür erforderliche Elektrik. Dazu jedoch später mehr.

Oktober 2015

Doro beobachtete den Mann schon seit einigen Minuten. Seinem sonderbaren Tun nach schien er nicht die Absicht zu hegen, etwas aus der Ausstellungshalle kaufen zu wollen. Falls er überhaupt ein Interesse für eine Ware zeigte, dann waren es die Möbel. An allem anderen ging er, ohne auch nur hinzusehen, achtlos vorbei.

Die Möbel waren es, mit denen er sich intensiv beschäftigte. Er schien sie einer Art Kontrolle zu unterziehen. Er öffnete Schranktüren, prüfte sie auf Passgenauigkeit und ob die Schlösser funktionierten, betrachtete die Innenregale; strich über schadhafte Furniere; zog und schob Schubladen auf und zu, testete deren Leichtgängigkeit; drückte an Stühlen und Tischen herum, setzte sich auch probeweise; rüttelte an verkanteten Regalen wegen der Stabilität.

Sein dunkelgrauer Anzug war ziemlich abgetragen, wie Doro feststellte, aber sauber. Er trug schwere Arbeitsschuhe und einen grauen Hut, unter dem schwarzes Haar mit weißen Strähnen bis auf die Schultern fiel. Die untere Hälfte des Gesichts verschwand hinter einem graumelierten Bart. Doro schätzte ihn aus der Ferne ihres Büros heraus auf ungefähr fünfzig Jahre.

Vielleicht habe ich mich getäuscht, und er will doch etwas kaufen, dachte sie, als der Mann sich anschickte, die eiserne Treppe zu ihrem Büro hinaufzusteigen, das in etwa drei Meter Höhe über dem Niveau des Hallenbodens lag. Affenkasten, wie sie es nannte. Zwei Fenster, eine Tür, zwei Schreibtische, einige Regale mit Ordnern, zwei Computer, zwei Drucker, ein Festnetztelefon an einer schwenkbaren Scherengitterhalterung.

Die eiserne Treppe dröhnte unter seinen schweren Schritten, wogegen sein Klopfen zaghaft wirkte, bevor er das Büro betrat.

„Guten Morgen“, begrüßte Doro ihn freundlich, „sind Sie fündig geworden?“ Sie betrachtete sein Gesicht. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, die zudem noch im Schatten der Hutkrempe lagen. Der Schnitt der Gesichtszüge wirkte irgendwie kühn, wenn auch hager. Oder verwechselte sie das mit ausgezehrt?

„Guten Morgen, ja, allerdings“, antwortete er mit einer Baritonstimme, mit der er problemlos Zigarettenwerbung sprechen könnte. Er nahm den Hut vom Kopf. Volles Haar kam zum Vorschein, das er mit einer Hand aus der Stirn nach hinten strich.

„Und? Was darf´s denn sein?“

„So ist es nicht“, lächelte er scheu. „Verkaufen Sie viele von den Möbeln?“

Doro guckte verdutzt. Welch eine Frage. „Warum wollen Sie das wissen?“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun“, sagte er, „ich will ja nicht unverschämt sein, aber in der Qualität, wie sie dort unten stehen, würde ich sie keinem Kunden anbieten.“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

Ha, das wird ja immer besser. Kommt in unsere Halle, rüttelt an den Möbeln herum und macht sie dann noch madig. „Die Möbel sind einwandfrei. Zwar nicht neu, aber diesen Anspruch erheben wir und unsere Kunden auch nicht. Bei Gebrauchtware muss man halt ein paar Abstriche machen. Dafür sind sie schließlich sehr preiswert.“

Der Mann zog ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich umständlich. „Preiswert und gut wäre besser“, antwortete er dann. „Sind Sie die Chefin hier?“

„Nein“, sagte Doro spitz, „der Chef ist unterwegs und kommt wahrscheinlich mit einer Fuhre Gebrauchtmöbel wieder zurück. In ein bis zwei Stunden.“

„Okay, dann komm´ ich später wieder“, sagte er und schob den Hut auf den Kopf.

„Entschuldigen Sie, bitte. Nur um den Chef vorzuwarnen: Wie heißen Sie überhaupt?“

„Ach so, ja. Mein Name ist Christian Gutmund. Also dann, bis später“, sagte er und schloss die Bürotür von außen.

Ich bin zwar nicht die Chefin, aber ich habe Mitbestimmungsrecht, dachte Doro, während sie ihm hinterherschaute, bis er die Halle durchquert und sie durch die Eisentür nach draußen verlassen hatte. Komischer Vogel.

Auch nach einer Viertelstunde spukte ihr der Mann noch im Kopf herum. Verkaufen Sie viele von den Möbeln? Preiswert und gut wäre besser. Herrschaftszeiten, sie waren doch kein Möbelhaus, sondern eine Brockenstube. Jeder, der die Halle besuchte, war sich im Klaren darüber, dass er hier nur Ware aus zweiter, manchmal aus dritter oder vierter Hand finden würde, die Möbel eingeschlossen. Dabei, und darauf wurde Wert gelegt, führten sie ausschließlich Möbel aus Massivholz. Also keinen Spanplattenmist.

Aus reiner Neugier stieg Doro aus dem Affenkasten hinunter in die Halle, um ihrerseits die Möbel anzusehen. Auch sie öffnete und schloss Schranktüren und Schubladen, saß auf Stühle, rüttelte an Regalen. Klar, da klemmte schon mal eine Schublade. Musste man halt ein wenig Druck ausüben, dann klappte das schon. Mit einem Tropfen Geschirrspülmittel rutschte noch jede Schublade, oder etwa nicht? Sicher, an manchen Schranktüren musste man ein bisschen nachhelfen, die Tür geringfügig anheben, mit dem Schlüssel spielen, dann funktionierte es. Man hatte da so seine Kniffe, und zudem wuchsen einem die Stücke mit ihren Marotten ans Herz, wurden Unikate, quasi unersetzlich. Dass der eine oder andere Stuhl auf wackligen Beinen stand – mein Gott, unterlegte man eben einen Bierdeckel. Ihrer Meinung nach gab es an den Möbeln nichts auszusetzen. Für das Geld, was sie dafür verlangten?

Zugegeben, der Verkauf könnte in der Tat besser laufen. Sie hatten etliche Ladenhüter in der Halle stehen, seit Jahren schon, für die sich keine Käufer finden wollten. Und heute brächte der Chef garantiert frische alte Ware. Aus der Haushaltsauflösung einer neunzigjährigen alleinstehenden Frau. Gestorben oder Pflegeheim, das wusste Doro nicht genau. Der Anruf war erst heute Morgen gekommen.

War ihr Chef zuständig für die Hardware, so war Doro verantwortlich für die Software, wie sie spaßeshalber zu unterscheiden pflegten. Zur Software gehörten Textilien aller Art, von Bettwäsche bis zu Topflappen, Bekleidung hauptsächlich, aber auch Geschirre, Gläser und Bestecke, Ziergegenstände und Nippes. Sie war mit der Ressortaufteilung ganz zufrieden und hatte im Großen und Ganzen freie Hand, was wichtig war, wenn man Hand in Hand arbeiten wollte.

Und dann hörte sie ihn auch schon, den Chef mit seinem Diesel-Lkw, wie er in den Hof vor der Halle gefahren kam, bremste und den Motor abstellte, die Ladefläche voll beladen. Kaum dass der Motor die letzte Zündung genagelt hatte, stand er bereits in der Halle, mit den Augen einen Stellplatz für die frische Hardware suchend, sobald sie entsprechend hergerichtet sein würde. Der Chef. Hank. Also der Handkerchief.

„Ein Mann war da, Hank“, Doro nannte ihn stets bei seinem richtigen Namen. Ihr gefiel das Handkerchief nicht und sie fand es geradezu albern, ihn so zu anzusprechen. Er war ein erwachsener Mann und kein Halbstarker mehr, den man vielleicht so rufen konnte. Für sie war er und blieb er Hank. Dass die Firma Handkerchief hieß, fand sie, war eine andere Sache. Dafür war es eine Firma.

„Ein gewisser Christian Kunterbunt, oder so ähnlich, war da. Kennst du ihn? Sagt dir der Name was?“

„Nie gehört“, antwortete Hank. „Was wollte er?“ Sie waren im Büro angekommen. Affenkasten.

„Es ist noch Kaffee da. Willst du?“

Hank nickte und brummte Zustimmung. Doro füllte seinen Kaffeebecher aus der Glaskanne. „Er hat sich an den Möbeln zu schaffen gemacht und mehr oder weniger zum Ausdruck gebracht, dass er sie Scheiße findet.“

Er stoppte die Tasse auf dem Weg zum Mund. „Hat er sie nicht alle? Ein Spinner? Was hat er für einen Eindruck auf dich gemacht?“

Doro hob die Schultern. „Weiß nicht. Er schien sich auszukennen. Er hat gesagt, dass er später noch einmal vorbeikommt.“

„Okay. Schick´ ihn rüber in die Werkshalle, wenn du ihn siehst. Wir laden den Lastwagen ab und fangen schon mal mit dem Aufbau der Möbel an.“

Transporte nach Wohnungsauflösungen, oder komplette Wohnungsumzüge, konnte Hank natürlich nicht alleine stemmen. Er beschäftigte für diese Zwecke und andere Arbeiten auf dem Areal der Ziegelei Doros Vater Helmut, Frührentner und Witwer, dem zu Hause die Decke auf den Kopf fallen würde, wie er einmal am Tag zu sagen pflegte. Er war praktisch ständig anwesend, war Mädchen für alles und Laufbursche, half bei den körperlich schwereren Arbeiten und kümmerte sich sonst um das Erscheinungsbild des Handkerchief