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Mitsch gilt als Sonderling und ist ein Eremit aus Überzeugung. Die Leute im Dorf halten ihn wegen seiner merkwürdigen Gewohnheiten für einen Spinner. Doch ihm ist das gleichgültig. Eines Tages verändert eine unverhoffte Begegnung sein Leben.
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Seitenzahl: 82
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Mitsch gilt als Sonderling und ist ein Eremit aus Überzeugung. Die Leute im Dorf halten ihn wegen seiner merkwürdigen Gewohnheiten für einen Spinner. Doch ihm ist das gleichgültig.
Eines Tages verändert eine unverhoffte Begegnung sein Leben.
Für alle „Mitschs“
Er legte den Gitarrenkoffer aufs Sofa, öffnete ihn, nahm die Gitarre heraus und trocknete sie mit einem weichen Lappen ab. Seine gute alte Lady. Er besaß sie schon über dreißig Jahre, und obwohl er seit einiger Zeit eine sogenannte Meistergitarre der renommierten Gitarrenbaufirma Hopf sein eigen nannte, spielte er überwiegend und bevorzugt auf der alten, treuen Gefährtin. Im Testament, das er aufgesetzt hatte, war verfügt, dass sie dereinst, wenn seine Zeit gekommen war, mit ihm verbrannt werden sollte. Bis dahin jedoch, hoffte er, würde es noch einige Zeit dauern, auch wenn er aktiv wenig dafür tat, die Hoffnung dahingehend zu unterstützen.
Er war am Bach gewesen, unter der einsamen alten Trauerweide, einem seiner Lieblingsorte, nicht mehr als einen Steinwurf von seinem Haus entfernt. Den Rücken an den knorrigen Stamm gelehnt, hatte er für Dorle gespielt und gesungen. Dorle, eine Ente, die er auf den Tag genau vor zwei Jahren dort gefunden hatte, tot, bereits von Maden befallen, der schönen warmen Augen für immer beraubt. Wie sie ums Leben gekommen war, blieb zwar für immer ein Rätsel, vielleicht war sie einfach nur alt, so wie er sich mit einundfünfzig ebenfalls für alt hielt, aber zwischen Weide und Wasser hatte er sie mühsam, der Wurzeln wegen, am Ufer begraben und ihr den Namen gegeben: Dorle. Er fand es nicht gut, wenn jemand, ob Mensch oder Tier, anonym in der Erde ruhen musste, sofern nicht eine dahingehende Willensbekundung existierte, was er bei einer Ente ausschloss.
Als er sich bei der Weide niedergelassen und über den Bach geschaut hatte, war der Himmel in seinem Gesichtsfeld noch blau gewesen, frei jeglicher bedrohlicher Störungen. Dass sich in seinem Rücken eine schwarzblaue Gewitterwand mit schwefelgelben Rändern aufbaute, hatte er erst bemerkt, als ein Windstoß die hängenden Zweige zur Seite wehte, hinter denen er, von der Straße aus gesehen, so gut wie unsichtbar war. Mit einem Donnerschlag setzte der Sturm ein, die Zweige peitschten schmerzhaft über sein Gesicht und schleuderten ihm den leichten Sonnenhut vom Kopf. Dann prasselte der Starkregen hernieder, und weil er mit dem letzten Lied für die Ente Dorle nicht fertig gewesen war, waren die Gitarre und er nass geworden. Was hätte Dorle auch mit einem abgebrochenen Lied anfangen sollen? Sie liebte den Folk-Song Donna Donna, zumindest dachte er das, und sie liebte ihn in voller Länge. Ja, eben. Soviel Zeit musste sein.
Wahrscheinlich war er so in Gedanken vertieft gewesen, dass er dem Geschehen um sich herum wie so oft entrückt war. Das Gurgeln und Glucksen des Baches mochte ein Übriges dazu beigetragen haben, wobei ihm jedoch aufgefallen war, dass die Geräusche des Wassers niemals dieselben waren. Im Entferntesten waren sie sich vielleicht gleich, wenn man sich keine Mühe gab, ihnen zuzuhören. Dem geschulten Gehör allerdings entgingen die feinen Nuancen nicht, mit denen der Bach seine Verse erzählte, und der Sprachschatz des Wassers, so dünkte es ihn, war schier unbegrenzt, war unendlich, war Lyrik in Reinstform. Wie klug und reich musste die Ente Dorle gewesen sein, dass sie diesen wunderbaren und so belesenen Ort als ihre Heimat auserkoren hatte.
Zu Hause stellte er die Gitarre vorsätzlich beiläufig für einige Minuten ins Sonnenlicht, was gewiss einen Widerspruch in sich beinhaltete, aber er hatte seine Gründe dafür. Ja, und komisch, das Gewitter hatte gerade so lange gedauert, um ihn vom Bach zu vertreiben, um danach wieder einem weiteren unbefleckten Himmel Platz zu machen. Er hatte das Gefühl, dass sich die Gitarre nach dem Licht sehnte, wie eine lebendige Pflanze, ohne es freilich zu wissen oder beweisen zu können, doch pflegte er dieses gewohnte Ritual in dem Glauben, sie danke es ihm mit ihrem speziellen silberhellen Klang. Es hatte Phasen gegeben, zum Beispiel als er selber wegen einer Krankheit siechte, in denen die Gitarre überhaupt nicht klang. Entweder konnte sie nicht, oder sie wollte nicht, jedenfalls versagte sie ihm das Gefolge, möglicherweise aus Solidarität, und er kam nach langen sorgenvollen Stunden zu der Einsicht, dass es in seiner Schuld lag, weshalb es so war wie es war. Denn kaum war er selber einigermaßen genesen und lebensfroh und tüchtig genug, sich ihr zu widmen und sich um sie gebührend zu kümmern, wie er es vor der Krankheit getan hatte, erklang die Gitarre auf einmal wieder in alter gewohnter Reinheit und Qualität, vielleicht sogar besser noch. Die Sonne war´s, er beschwor es, und was war schon dabei, es schadete ja nicht, und wenn er das Geheimnis für sich behielt, konnte ihm auch keiner etwas nachsagen. Und wenn doch einmal einer käme und sagte, Hey, du hast deine Gitarre in die Sonne gestellt, dann würde er so tun, als wäre es aus Versehen geschehen, er würde sich mit der flachen Hand an die Stirn klatschen und sagen Hast recht, verflixt, das ist das erste Mal, dass mir das passiert ist, und würde die Gitarre aus dem Sonnenlicht nehmen. Doch konnte er in dieser Beziehung ruhigen Blutes sein: Zu ihm kam nie einer. Nicht zufällig und schon gar nicht gezielt.
Man konnte meinen, es sei ein wunderliches Gebaren, nicht weit von zwanghaftem Verhalten entfernt, vielleicht sogar eine Psychose, aber man konnte nicht sagen, es sei aus den Fingern gesogen, und wenn man ihn einer peinlichen Befragung aussetzen würde, wüsste er es bestimmt zu begründen. Irgendwie.
Er hatte frühzeitig und effektiv dafür Sorge getragen, dass er in seinem Universum nicht gestört wurde. Nicht, dass er außer seiner Person etwas zu verbergen gehabt hätte, beileibe nicht. Bei ihm zu Hause war alles in Ordnung. Es gab keine Leichen im Keller, das kleine Haus war sauber und gepflegt, weder bastelte er Bomben noch sammelte er Waffen, seine sexuellen Neigungen, sofern er überhaupt welche hatte, waren weder abartig noch pervers, und selbst politisch bewegte er sich auf einem linken Level, das man getrost als naiv bezeichnen durfte. Er hatte einfach keine Lust auf Menschen, und manchmal war er sich sogar selbst zu viel.
Letztendlich hatte man ihn im Dorf, in dem er lebte, irgendwie akzeptiert. Er tat schließlich keiner Seele etwas zuleide, und dass er sich aus sämtlichen sozialen Verbindungen, die ein Dorfleben ausmachten und bestimmten, geflissentlich heraushielt, betrachtete manch einer eher als Vor- denn als Nachteil. Was sollte es auch bringen, wenn einer die Zähne nicht auseinanderbrachte, sich jeglicher Gemeinschaft verweigerte, nirgendwo engagiert war und Menschenansammlungen mied wie der Teufel das Weihwasser? Gleichwohl war und blieb er regelmäßig wiederkehrendes Thema diverser Stammtischrunden, in denen mehr oder minder über seinen Lebensstil spekuliert und gewerweißt wurde, ohne jedoch wirklich Erhellendes in die Dunkelheit des ihnen Verborgenen befördern zu können. Ihn direkt anzusprechen wagte indes keiner, und so blieben sein Status, sein Lebenswandel und seine Beweggründe weitestgehend unbekannt. Ihm gefiel das.
Früher war er Polizist gewesen, in Mannheim, und er war kein besserer oder schlechterer Polizist als andere, doch hatte er das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Er war bei einem Einsatz mit seinem Kollegen zu einer Schlägerei gerufen worden, die, vielleicht sogar erst durch ihr Erscheinen, eskalierte. Denn plötzlich hatte sich der Mob zu einer Front gegen sie als Verkörperung der Staatsgewalt vereinigt und sie gnadenlos zusammengeprügelt. Flaschen, Baseballschläger, Fußtritte, genug, um zwei Polizisten außer Gefecht zu setzen. Während sein Kollege glimpflicher davon gekommen war, wurde er und blieb er auf Dauer dienstunfähig, verbrachte zwei Jahre in Krankenhäusern, Reha-Kliniken und bei Psychologen, und wurde mit fünfundvierzig Jahren Frühpensionär. Äußerlich an Leib und Gestalt zwar unversehrt, war er innerlich jedoch beschädigt, ohne dass er es auf einen exakten Nenner bringen konnte. Der Punkt war: Er war nicht mehr derselbe wie früher, doch gab er sich nicht auf, sondern fand für sich ein Lebens-Modell, eine Nische, und wurde, als Ergebnis einer Art Gelübde, einer erweiterten Konsequenz, zu dem, der er heute war.
Sein Häuschen stand ungefähr fünfzig Meter vom Bach entfernt etwas abseits der Straße nach Durlangen und war das letzte Gebäude des Dorfes. Für den Zeitungsboten und den Briefträger hatte er neben der Einmündung der Zufahrt zu seinem Grundstück eine mit einem Deckel versehene Kiste aufgestellt. Die Zufahrt nämlich war unbefestigt und bei Regenwetter eine pure Zumutung, die er niemandem aufnötigen wollte. Erreichte man das Grundstück, wurde man links und rechts des Weges von je einer schlanken hohen Pappel empfangen. Das Haus ruhte auf einem dicken Sockel aus Granitblöcken, war aus Backsteinen errichtet und bot die Annehmlichkeit von drei Räumen: Schlafzimmer links, Wohnzimmer rechts, Küche in der Mitte. Bad und WC waren aus Holz errichtet und wie ein Rucksack an die Rückseite des Hauses angehängt. Darin befand sich auch die Waschmaschine. Ins Badezimmer hatte er am meisten Geld investiert, um es einerseits zu isolieren, andererseits zu fliesen. Über den drei Haupträumen befand sich ein Speicher von geringer Höhe, der nur von außen über eine Leiter, die man umständlich anstellen musste, zugänglich war.