Maren und Jonas - Peter Siefermann - E-Book

Maren und Jonas E-Book

Peter Siefermann

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Beschreibung

Da sind zum einen der See mit seinem Panorama- und Wilde Seite-Rundweg, zum anderen zwei Menschen, die sich auf diesem Weg begegnen. Aus dem einen oder anderen Grund nicht unbedingt gewollt, aber letzten Endes doch unvermeidlich. Zwei Personen, eine Frau und ein Mann, die vom Schicksal gebeutelt sind und den Zenit des Lebens bereits überschritten haben. Ein Maler, der nicht mehr malt, und eine Lehrerin, die nicht mehr unterrichtet. Irgendwo dort draußen in einem Dorf an einem See.

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Da sind zum einen der See mit seinem Panorama- und Wilde Seite-Rundweg, zum anderen zwei Menschen, die sich auf diesem Weg begegnen. Aus dem einen oder anderen Grund nicht unbedingt gewollt, aber letzten Endes doch unvermeidlich. Zwei Personen, eine Frau und ein Mann, die vom Schicksal gebeutelt sind und den Zenit des Lebens bereits überschritten haben. Ein Maler, der nicht mehr malt, und eine Lehrerin, die nicht mehr unterrichtet. Irgendwo dort draußen in einem Dorf an einem See.

Für alle, die an Leib und Seele versehrt sind

Inhaltsverzeichnis

21. März 2022

Jonas

Maren

Jonas

Maren

22. März 2022

Jonas

Maren

Jonas

Maren

23. März 2022

Jonas

Maren

26. März 2022

Jonas

25. März 2022 – 30. März 2022

Maren

27. März 2022 – 30. März 2022

Jonas

31. März 2022 – 09. April 2022

Maren

31. März 2022 – 23. April 2022

Jonas

20. April 2022 – 23. April 2022

Maren

23. April 2022

Jonas

23. April 2022

Maren/Jonas

24. April 2022

Maren/Jonas

April/Mai 2022

Maren/Jonas

22. Mai 2022 – 25. Mai 2022

Jonas

Maren

25. Mai 2022 – 27. Mai.2022

Jonas

Maren/Jonas

Maren/Jonas

28. Mai 2022

Maren/Jonas

Juni 2022

Maren/Jonas

Anmerkungen des Autors

21. März 2022

Jonas.

Der Himmel lag hoch über der Landschaft, wie eine gigantische Kuppel aus klarem Kristallglas. Über dem fernen Horizont war am Übergang zwischen der Atmosphäre zum Weltall in blassem Blau die Krümmung der Erdkugel zu erahnen. Sonnenstrahlen nahmen wie eine Armee in breitgefächerter Phalanx die sichtbare Welt ein. Alles geschah auf einmal im verschwenderischen Übermaß. Auf den Wiesen explodierten Blüten in allen nur möglichen Farben, wo immer der zufällige Blick die Zündung dafür auslöste. Bäume schäumten über zarten Grüntönen ihre Kronen in weißen und rosa Wolken, dufteten mal mehr oder weniger aufdringlich nach billigen Deosprays oder betörend schweren Parfums. Lebenstrunkene, flugfähige Insekten eroberten, die Energiespeicher durch photovoltaische Prozesse zum Bersten aufgeladen, den Luftraum, während andere, erdgebundene Arten, durch ihr emsiges Schuften und Wühlen den Humus für eine neuen fruchtbaren Zyklus bereiteten. Die Luft war erfüllt von den Klängen der Natur. Empfindliche Ohren hörten die Säfte in die Pflanzen schießen; das Atmen und Seufzen auf den Wiesen und Feldern; die Gesänge der Vögel in den Hecken, Sträuchern und Bäumen; das Erwachen von Leben.

Gesetzten Schrittes, die Arme bequem auf dem Rücken, ging er, leicht nach vorne gebeugt, den Weg am See entlang. Unter den schweren Schuhen knirschte vornehm der Kies, was ihn zu dem kühnen Gedankenspiel verleitete, dieser gesamte Landstrich gehöre dem Grafen, und der Graf sei er. Er blieb des Öfteren stehen und ließ die Blicke über den See schweifen, als bemerke er ihn zum ersten Mal, gönnte dem Auge die wohltuende ungestörte Weite. Dabei atmete er die runderneuerte frische Luft genießerisch durch die Nase ein. Es lag ein Hauch von Aufbruchstimmung in ihr. Zwar nur leise, doch mit der Zuverlässigkeit eines Versprechens.

Es war einer der kleineren Seen des bayrischen Alpenvorlandes, längst nicht so bekannt wie etwa der Starnberger See, der Tegernsee oder der Chiemsee. Doch immerhin verdankte er seinen Ursprung einem eigenen Gletscher, den er gehabt hatte, als Gletscher noch in Mode gewesen waren. Damals.

Es war Montag. Der erste Frühlingswerktag dieses Jahres, den er bewusst wahrnahm.

Begonnen hatte der Frühling gestern, doch gestern war ein Sonntag gewesen, und sonntags begab sich Jonas nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Er hatte seine Gründe.

Er hieß Jonas. Jonas Baumann.

Wie gesagt, blieb er an Sonntagen zu Hause. Wie im Übrigen auch samstags. Es lag an den Leuten. Nicht an den Einheimischen, sondern an den Fremden, die an den Wochenenden zu Hauf an die Ufer des Sees strömten. Ganze Scharen von Menschen. Hordenweise. Jung wie alt. Familien und solche, die erst planten, eine zu werden. Angesichts solcher Menschenmassen verkroch er sich lieber in den eigenen vier Wänden. Atelier oder Werkstatt, was bei ihm im Prinzip ein und dasselbe war.

Werktags gehörte ihm der Weg am See alleine. Also fast allein, aber die paar Wenigen, denen er möglicherweise begegnete, kannte er in der Regel. Und sie kannten ihn. Einheimische eben, wie auch er einer war. Sie beachteten ihn kaum noch.

Meistens spazierte er in der Mitte des Weges, der bei einer Länge von zweieinhalb Kilometern durchgehend ungefähr zwei Meter breit war. Manchmal, wenn er in Laune war, ließ er sich waghalsig treiben, wie eine weggeworfene Zeitung an einem windigen Tag in der Gasse einer Stadt, ohne System. Dass er dabei das Bild eines Säufers abgab, störte ihn nicht. Wie gesagt: man kannte ihn.

Etwa alle hundert Meter hatte man, abwechselnd links und rechts, eine Sitzbank aufgestellt. Doch Jonas setzte sich nicht auf eine dieser Bänke. Wenn, dann bevorzugte er eine der Sitzgelegenheiten auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Der `minderen Seite´, wie die Leute es hier ausdrückten. Manche sagten auch `die wildere Seite´. Dort verlief nur ein unbefestigter Trampelpfad am Ufer entlang, das an manchen Stellen, bedingt durch das bergige Gelände, steil in den See abfiel und eine Mindestanforderung von Trittsicherheit verlangte. Über die verfügte Jonas in ausreichendem Maße, und außerdem trug er die richtigen Schuhe. Sitzbänke gab es dort auf ganzer Strecke nur deren drei. Wegen der bis ans Wasser reichenden Hänge war der Weg auf jener Seeseite circa dreihundert Meter länger. Aber Jonas zählte die Schritte nicht.

Nun war es so, dass ihm in der vergangenen Woche an zwei Tagen nacheinander auf der minderen Seite eine unbekannte Frau entgegenkommen war. Dienstag und Mittwoch war es gewesen, und dann noch ein drittes Mal am Freitag der gleichen Woche. Am Donnerstag dazwischen nicht. An jenem Tag war er irritiert zu Hause geblieben. Diese zufälligen Begegnungen bargen das Potenzial in sich, ihn aus der Bahn werfen zu können. Erst recht, wenn sich herausstellen sollte, dass sie es nicht waren: zufällig.

Eine Frau also. Eine Fremde, wie er annahm, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen, obwohl er ihr, um das mit Sicherheit behaupten zu können, gar nicht so nah gekommen war. Fünfzig Meter vielleicht. Oder sechzig. Denn Jonas hatte, bevor es auf dem schmalen Pfad zu einer direkten Begegnung geführt hätte, jeweils impulsiv, um nicht zu sagen erschreckt, kehrt gemacht und war, ohne sich auch nur einmal umzuschauen, den Weg zurückgegangen. Oder vielmehr davongeeilt, um bei der Wahrheit zu bleiben.

Einen tannengrünen Mantel hatte sie jedes Mal getragen, wie ihm in Erinnerung geblieben war, sowie trotz des trüben Wetters in jener Woche eine Sonnenbrille mit extragroßen Gläsern. Eine, die das halbe Gesicht bedeckte. Ja. Und ihr Haar hatte wie eine Infrarotlampe geleuchtet. Jedenfalls war sein Gesicht bei ihrem Anblick in Hitze geraten.

Noch etwas, das ihm im Gedächtnis haften geblieben war, war ihr Gang. Natürlich setzte sie Schritt vor Schritt, da gab es keine zwei Meinungen. Doch wie sie es tat – wie eine Tänzerin. Wie eine Seiltänzerin vielleicht? Wegen der besseren Balance mit nach außen gewinkelten Händen? Jonas war sich da nicht ganz sicher. Irgendwie graziös. Ja genau.

Jonas musste davon ausgehen, dass die Frau ihm, wenn er heute wie eigentlich normalerweise immer rund um den See ginge, wieder begegnen würde. Es war ungefähr die gleiche Uhrzeit wie an den anderen Tagen, und er lief stets morgens nach dem Frühstück los. Wobei er das Frühstück selten vor neun Uhr einnahm. Zu einer Zeit also, in der andere bereits ans Mittagessen dachten. Aber auf andere brauchte er keine Rücksicht zu nehmen und es war sein Takt, den er sich angewöhnt hatte.

Er würde auf sie vorbereitet sein. Übers Wochenende hatte er reichlich Muße gehabt, über die Sache der Begegnung im Allgemeinen und über sein unverständliches Verhalten im Besonderen nachzudenken. Er stand ja auf keiner Fahndungsliste, sodass er sich vor den Leuten verstecken musste. Er war Jonas Baumann, vierundfünfzig, eins neunundsiebzig groß und schlank, alleinstehend und … Künstler. Das wars dann aber schon an positiven Dingen, die er dachte, vorweisen zu können. Was darüber hinaus noch an Haben aufzuzählen wäre, ging vorderhand niemand etwas an.

Vorbereitet sein hieß, dass er ebenfalls eine Sonnenbrille dabei hatte. In der Jackentasche bislang, aber sofort griffbereit, sobald er sie zu Angesicht bekommen würde. Er war fest entschlossen, heute nicht zu weichen.

Schon nach ein paar Metern spürte er einen Krampf im rechten Arm, weil er die Sonnenbrille in der Hand vor Anspannung schier zerquetschte. Sich selbst ermahnend, zog er die Hand aus der Jackentasche zurück. Er hüstelte verlegen, war sich selber peinlich, und schaute sich vorsichtshalber um, doch entdeckte er niemanden, der von ihm Notiz hätte nehmen können.

Alter Spinner, dachte er und setzte seinen Weg fort.

Frühling, jaha, und er fühlte sich bald zu warm angezogen. Er kleidete sich stets so, dass er, wenn es sein müsste, sofort ein Amt oder das Krankenhaus oder die Kirche betreten könnte. Ein Anzug mit passender Weste, Krawatte auf weißem Hemd, und Hut. Nur die klobigen Schuhe fielen etwas aus dem Rahmen.

Je länger er unterwegs war, desto mehr verlor er das wache Interesse an der Natur. Als er endlich vom breiteren Panoramaweg auf den Pfad des minderen Ufers einbog, spürte er deutlich den Spannungsbogen, den abzuschreiten er sich vorgenommen hatte. Im Schatten unter den Bäumen setzte er wider alle Vernunft die Sonnenbrille auf die Nase. Er war aufgeregt, keine Frage. In den Achselhöhlen sonderte er einen unangenehmen kühlen Schweiß ab, was ihn mürrisch werden ließ, und auf einmal fühlte er sich beobachtet. Wähnte er hinter jedem Baumstamm und jeder Hecke neugierige unfreundliche Augen und ging automatisch schneller.

Eine kleine Bucht lag hinter ihm und er schritt auf einen Bergausläufer zu, der sich wie eine Zunge in den See hinaus schob und den Pfad zu einer unübersichtlichen Rechtsbiegung zwang. Mit kurzgehaltenem Atem, nahe am Hecheln, begann er das natürliche Hindernis zu umrunden. Was er normalerweise im Blindflug durcheilte, denn er kannte die Halbinsel von etlichen früheren Wanderungen auswendig, erschien ihm heute wie ein Hindernis. Denn heute kam ihm jeder Grashalm in die Quere, der die Frechheit besaß, in das Wegeprofil zu ragen und ihn in der Sicht störte. So war es nicht verwunderlich, dass er fürchterlich erschrak, als gerade an dieser Stelle das eintraf, auf das er im Grunde die ganze Zeit vorbereitet gewesen war: Nämlich dass der tannengrüne Mantel plötzlich direkt vor ihm stand. Blick links, Blick rechts - und keine Möglichkeit, in großem Bogen auszuweichen.

Vorbereitet ja, jedoch nicht ausgerechnet hier. Er hatte in Gedanken ein anderes Gesichtsfeld erwartet. Breiter mit mehr Raum. Einige Dutzend Meter weiter hätte es mehrere solcher Stellen gegeben. Aber nein, ausgerechnet hier musste es sein, und er fragte sich, ob sie früher von zu Hause aufgebrochen war als vergangene Woche.

Tannengrüner Mantel, der sich als Trenchcoat entpuppte, Sonnenbrille, roter Haarschopf – zwei Meter vor ihm. Dann nur noch ein Meter. Zum Donner, das wird eng.

Irgendwie trat er zur Seite ins Kraut. Sie balancierte, hoch auf dem Seil, auf halbe Armeslänge an ihm vorbei, oder er an ihr – die Sache blieb auf ewig ungeklärt. Ein Urlaut entschwand seiner Kehle, als würde er das Wort Kartoffel ohne die Verwendung von Konsonanten sagen, und das war´s. Aaooee.

Doch da!! Da!! Mein Gott! In der Luft. Ein Hauch, ein Odeur, der zarte Duft eines Parfums, flüchtig, ätherisch – ihr Atem, nein, ihr Odem … Quatsch … ach, sie selbst …

Aaooee. Du bist ein Schwachkopf, Jonas.

Jonas verspürte gute Lust, wie ein Kastenteufel zu hüpfen. Vorbereiteter auf eine Begegnung als er konnte man eigentlich gar nicht sein. Doch er hatte es vermasselt. Hatte vor lauter Perplexität nicht einmal daran gedacht, sich ein Bild von ihr zu merken. Beziehungsweise auf der Festplatte im Kopf zu speichern. Weder aus der Nähe von vorne, noch im Profil, als sie ihn passiert hatte. Oder er sie. Nicht mal den genauen Ablauf konnte er rekonstruieren. Lediglich ihren Duft hatte er in der Nase. Wenn er wenigstens ein Fläschchen mitgenommen hätte, mit dem er hätte die angereicherten Luftmoleküle einfangen können. Pfropf runter, Duft hinein, Pfropf drauf. Doch er hatte nichts. Aaooee.

Und sie? Hatte sie irgendwie dergleichen getan, als ob sie Interesse an einem Schwatz … an ihm …? Hatte sie ihn etwa gegrüßt und er hatte es nicht gehört?

Noch immer befand er sich den einen Schritt neben dem Pfad und trampelte mit den groben Schuhsohlen das wuchernde Grün zu Brei. Japanisches Springkraut, wie er nebenbei und blödsinnigerweise meinte festzustellen. Er schüttelte den Kopf und meinte, ein kleines Kügelchen klickerdiklick im Schädel hin und her rollen zu registrieren.

Das wird ja immer lustiger, dachte er und setzte reichlich demotiviert seine Wanderung um den See fort.

*

Maren.

Wenn Maren eine Wahl gehabt hätte, dann hätte sie mit dem Umzug gerne noch ein Vierteljahr gewartet. Wäre erst zum Frühlingsbeginn hierher gezogen.

Aber so war es nicht gewesen. Sie war wegen Eigenbedarfs des Vermieters auf Ende Januar aus ihrer bisherigen Wohnung in der Stadt herausgekündigt worden, und es war ein Glück gewesen, dass sie das kleine Häuschen, in dem sie jetzt wohnte, rechtzeitig im Portfolio eines Maklers entdeckt und hatte kaufen können.

Mitten im Winter also, Wohnungs- und Ortswechsel.

Einfach gewesen war es nicht. Die Handwerker hatten sich noch im zu renovierenden Häuschen befunden, als die Spedition bereits die Möbel lieferte. Neue Fenster hatte sie bestellt sowie eine neue Haustür, aber es war hauptsächlich an der alten Heizung gelegen, die Sperenzchen gemacht hatte. Maren musste ihretwegen die ersten Nächte in voller Bekleidung und mit einer Wärmflasche schlafen, um die Kälte innerhalb der vier Wände einigermaßen zu überstehen. Als die Heizung dann endlich und zuverlässig funktionierte, konnte Maren das Schreckgespenst eines eventuellen Fehlkaufs wegen Überstürzung vergessen.

Gut, vielleicht war sie hereingelegt worden. Nicht nur, dass ihr ehemaliger Vermieter keinen echten Eigenbedarf in Anspruch nahm, sondern dass der Makler durch zwei Scheinkäufer den Preis für das Häuschen in die Höhe getrieben hatte. Nicht übermäßig, aber bestimmt lukrativ für ihn. Nun, wenn es ihn glücklich macht?, dachte sie.

Im Grunde war es nicht mehr als eine Hütte, das Häuschen, doch es besaß Charme, und außerdem gehörte ein respektabler Garten dazu.

Es war ein einstöckiger Backsteinbau im Geviert von fünf auf fünfeinhalb Metern, einen zweiten Stock in Holzbauweise aufgesetzt, insgesamt nicht mehr als ein sogenanntes Tiny House. Im Erdgeschoss befanden sich eine kleine Küche, ein Wohnzimmerchen, ein Badezimmer und eine Speisekammer; im ersten Stock ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, eine Besenkammer und ein weiteres Bad. Kleinformat für schmale Geldbeutel. Ganz oben unterm Dach ein winziger Speicher, zu dem man über eine Ausziehleiter gelangte.

Peu à peu hatte sich Maren in das neue Haus und die neue Umgebung eingelebt. Handwerklich zwar keine Idealbesetzung, doch auch nicht ungeschickt, verschönerte sie ihr überschaubares Heim in eine kuschelige Wohnstatt.

Anfänglich etwas betrübt darüber, dass ihr neues Domizil nicht direkt am See stand, sondern verdeckt hinter dem Wall einer eiszeitlichen Seitenmoräne, arrangierte sich Maren in kurzer Zeit mit der Lage. Nicht zuletzt Einwohner des nahen Dorfes waren es, die sie anhand von zu Ferienzeiten aufgenommenen Fotografien eines Besseren belehrten. Touristen, die in nicht abreißen wollenden Schlangen um den See pilgerten. Auf solche Bilder und die damit zusammenhängenden negativen Nebenerscheinungen konnte sie gerne verzichten.

Wenn sie also an den See oder ins Dorf wollte, dann musste sie zuerst diesen einen Hügel überschreiten. War sie unten am Wasser angekommen, hatte sie die Wahl zwischen links und rechts. Wandte sie sich nach rechts, erreichte sie nach zweihundertfünfzig Metern das Dorf, wo sie alles bekam, was man an Lebensmitteln und Haushaltwaren brauchte. Ging sie nach links, betrat sie den Pfad entlang der minderen Seite des Sees.

Sie spürte es jeweils körperlich, wenn nach den Schulferien der Unterricht wieder begann. Ihren über Jahre hinweg ausgebildeten inneren Kalender konnte sie nicht ignorieren, so sehr sie sich auch bemühte. Zu lange war ihr Leben danach getaktet. Gewesen, musste sie sagen, denn sie unterrichtete nicht mehr. Nicht mehr seit der Brustkrebsdiagnose vor nun zehn Monaten.

Der Stundenplan jedoch steckte wie eine Computerfestplatte, die sich nicht löschen ließ, in ihrer biologischen Struktur. Montags zum Beispiel ab neun Uhr fünfundvierzig zwei Unterrichtsstunden Chemie. Danach eine Stunde Geschichte. Die Unfähigkeit, die Erinnerungen an den Beruf nüchtern zu verwalten, war Segen und Fluch gleichermaßen. Einesteils war sie mit Leib und Seele Lehrerin gewesen, andernteils sehnte sie sich nach dem erforderlichen Abstand, um mit Kraft und Ruhe der hässlichen Krankheit widerstehen zu können. Hässlich, natürlich, denn wie konnte eine Frau mit nur einer Brust schön sein?

Die Kündigung ihrer ehemaligen Wohnung war Maren gar nicht mal so ungeschickt erschienen. Klar war es anfangs ein recht übler Schock gewesen. Krank sein und auf der Straße landen? Doch bald hatte sie die Herausforderung angenommen und für sich genutzt. Sie hatte einen Schnitt gebraucht. Eine Zäsur. So gesehen war ihr die erzwungene Veränderung wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Vielleicht hätte sie darum kämpfen können, eine andere Wohnung zu mieten und dadurch am gewohnten Ort und an ihrer Schule zu bleiben. Ja, vielleicht. Aber zugegebenermaßen hatten sie ein großer Anteil Lethargie und ein erkleckliches Maß Selbstaufgabe von jederlei Widerstand abgehalten. Diese beiden Komponenten waren es auch, die Maren gar heute noch für ihre häufigen Stimmungsschwankungen verantwortlich machte. War sie auf der einer Seite durchaus mit Zuversicht ausgestattet, neigte sie auf der anderen Seite zur Schwermut.

Der Arzt hatte ihr Bewegung verordnet. „Aber machen Sie um Gottes Willen nichts Dramatisches“, bremste er sie ein. „Spaziergänge werden Ihnen gut tun. Frische Luft, verstehen Sie?“

Spaziergänge.

Seit einer Woche bog sie jetzt, nachdem sie den Moränenhügel neben ihrem Haus überquert hatte, am Seeufer nach links ab. Der schmale Pfad unter den Wipfeln der Bäume schien ihr grundsätzlich sympathischer als der breite Weg drüben beim Dorf. Es war die Stille, die sie lockte, und dass ihr, wenn nicht gerade Ferien waren und der See von Touristen überrannt wurde, vermutlich kaum jemand begegnen würde. Sie trug den Trenchcoat, den sie extra dafür gekauft hatte. In Tannengrün.

Etwas gab ihr jedoch, was ihre Sicherheit betraf, zu denken. Dreimal schon war ihr ein Mann auf dem Pfad begegnet, dessen Verhalten sie merkwürdig fand. Jedes Mal nämlich war er, sobald er ihrer Gewahr worden war, auf der Stelle umgekehrt und hatte, so musste sie es sehen, das Weite gesucht. Oder ein Versteck?!

Sie war dann jedenfalls selbst nicht mehr weiter gegangen, sondern hatte ebenfalls gewendet und war nach Hause oder ins Dorf zurückgeeilt. Denn weiß der Teufel, was der Kerl eventuell vorgehabt hatte. Man wusste ja nie. Immerhin war sie eine gutaussende Frau mittleren Alters, durchaus attraktiv, wenn man von den Brüsten absah, und dass ihr eine Brust fehlte, konnte der Mann, woher denn auch, ja nicht ahnen.

Dreimal. Dienstag, Mittwoch und Freitag. Donnerstags war sie zu Hause geblieben, und übers Wochenende auch.

So. Und heute war Montag und Maren war etwas früher als üblich aufgebrochen, weil sie den Pfad endlich einmal von Anfang bis Ende gehen wollte, ohne dass ihr unterwegs aufgelauert wurde. Ach, ist doch wahr!

Auf der Wanderkarte, die sie zu Rate gezogen hatte, schlängelte sich der Weg in etlichen Kurven am Ufer entlang. Genau in einer Biegung, die einen Bergvorsprung umrundete, geschah es. Plötzlich standen sie sich frontal gegenüber. Sie und dieser … Mann. Viel näher als die dreimal vorher. Sehr viel näher. Zwei Meter vielleicht. Dann einer.

Ich weiche nicht aus, dachte Maren mutig und hielt die Luft an.

Da trat er einen Schritt zur Seite und machte ihr Platz.

Langsam und zitternd ließ Maren die Luft aus der Lunge entweichen. Mannomann. Ups, hat er was gesagt? Alohahe? Was ist das denn für eine Sprache? Ist es hawaiianisch?

Maren umrundete nun mit schnellen Beinen und fliegendem Atem den See in Gänze und hielt erstmalig wieder an, als sie von der Erhebung der Moräne herab ihr Haus unter sich sah. Wie oft sie nach hinten geschaut und sich versichert hatte, dass sie nicht verfolgt wurde, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Ähnlich dürftig, musste sie eingestehen, würde eine detaillierte Beschreibung des Mannes ausfallen, wenn sie gezwungen wäre, eine abzugeben. Mann im dunklen Anzug mit Hut und … Sonnenbrille? Ja, Sonnenbrille. Hundertprozentig genau wusste sie es aber nicht.