Der "Zach" - Peter Siefermann - E-Book

Der "Zach" E-Book

Peter Siefermann

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Beschreibung

Ist er verschollen? Oder ist er gar tot? Seit dreizehn Jahren hatte ihn niemand mehr gesehen. Ihn: den Zach. Dann glaubt Mathias Morgenstern, Matis genannt, ihn während eines Sommergewitters auf einem Flohmarkt gesehen zu haben. Um sicher zu gehen, wendet er sich an seine Schulfreundin Elke. Tatsächlich weiß sie mehr über diesen Zach zu erzählen, und bald wird klar, dass Zach keineswegs tot ist.

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Ist er verschollen? Oder ist er gar tot? Seit dreizehn Jahren hatte ihn niemand mehr gesehen. Ihn: den „Zach“. Dann glaubt Mathias Morgenstern, Matis genannt, ihn während eines Sommergewitters auf einem Flohmarkt gesehen zu haben. Um sicher zu gehen, wendet er sich an seine Schulfreundin Elke. Tatsächlich weiß sie mehr über diesen „Zach“ zu erzählen, und bald wird klar, dass „Zach“ keineswegs tot ist.

I wanna know what love is.

I want you to show me.

Mick Jones (Foreigner) 1984

In den Zehen hatte er schon längst kein Gefühl mehr. Jetzt kletterte die Kälte die Beine hoch. Er war zu eitel gewesen, die langbeinigen Unterhosen anzuziehen. Selber schuld, sozusagen. Wenn die Kälte das Herz erreicht, bin ich tot, dachte er und verzog das Gesicht zu einem steifen Grinsen, weil er wusste, dass es nicht soweit kommen würde. Hatte er doch sein bewährtes Hausmittelchen, um gegen den Herztod vorzubeugen. Und wenn er ehrlich sein wollte, beugte er schon eine ganze Weile vor. Er griff in eine der vielen Jackentaschen und zog den zweiten Flachmann hervor, gefüllt mit Wodka seiner Lieblingsmarke.

Zwischen den hohen Bäumen weiter unten hing die Dunkelheit, als sei sie für ewig dorthin verbannt. Hingegen war die Fläche, wo der Wald vor Jahren gerodet worden war, an deren Rand der Hochsitz stand, überzogen von bodennahem Nebel. Er sah aus vier Metern Höhe darüber hinweg wie der Pfarrer in der Kirche von der Kanzel über seine Schäfchen. Bald würde die aufgehende Sonne den Nebel illuminieren und bewegen. Bilder würden entstehen, von zarten Feen beim Tanz, von transparenten Geisterwesen, bis die zunehmende Wärme sie in die Lüfte erhob und vernichtete. Noch allerdings war es nicht an der Zeit. Das erste Grau zeigte sich erst hinter den Wipfeln der entfernten Bäume.

Zu seinen Füßen das Dach des Landrovers. Wenn er wollte, könnte er von seinem Hochsitz aus draufspucken.

Er kannte die Abläufe des frühen Morgens beinahe minutiös. Auch wenn sie sich häufig zu wiederholen schienen, waren sie doch nie gleich. Mit der Zeit gewöhnte er sich jedoch daran, sodass er sein Staunen darüber vernachlässigte und es verkümmern ließ. Andere Eindrücke drängten sich in den Vordergrund, wie zum Beispiel die kalten Beine. Und manchmal war er bloß hier, um Frustbewältigung zu betreiben, unterstützt von seinem Freund Wodka und dem glatten Holzschaft seines teuren Gewehrs.

Wie oft er hier schon gesessen hatte, konnte er fürwahr nicht mehr zählen. Nicht immer war seine Frau schuld daran gewesen. Heute aber mal wieder.

Er war spät nach Hause gekommen, sehr spät, was beileibe keine Seltenheit in seinem Metier war, dazu leicht angesäuselt, was hauptsächlich an seinem Klienten Oberstaatsanwalt Melchior gelegen hatte, und mit Lust auf ein bisschen Sex, den er mit seiner Frau zu haben dachte. Die hatte dummerweise schon geschlafen, hatte ihn ergo kalt abblitzen lassen, was ihm den Grund dafür gab, ihr eine zu scheuern. Oder zwei, er zählte schon lange nicht mehr nach. Dass daraufhin ihre Beine praktisch von selbst in die richtige Position gefallen waren, hatte er als Einwilligung betrachtet und sich an ihr bedient. Weil sie jedoch viel zu verkrampft gewesen war, hatte er einen viel zu schnellen Erguss gehabt. Ja, verdammt.

Die Jacke angezogen, den Wodka in die Taschen gesteckt, das Gewehr in den Landrover geworfen und hierher gefahren.

Lange würde sich der Hochsitz nicht mehr rentieren. Jagdtechnisch. Das Unterholz wurde zu dicht. Krüppelige Buchen, junge Kiefern, wucherndes Heidelbeerkraut und Brombeerhecken stellten das Schussfeld mehr und mehr zu. Die Viecher liebten zwar die jungen Triebe, sie waren zudem für sie bequem zu erreichen, boten jedoch auch reichlich Deckung. Und sie waren schlau genug, sich bei einsetzendem Sonnenlicht in den Wald zurückzuziehen. Anders herum gesagt: Solange die Sonne nicht schien, konnte man die Tiere nicht sehen. Worauf also schießen?

Er besaß den Jagdschein schon seit Jahren. Ein eigenes Revier freilich lag in weiter Ferne. Solange er aber als Gast hier sein durfte, hegte er keine Ambitionen in diese Richtung. Irgendwann ...

Er spürte, dass er mehr vorbeugen musste, denn er begann nun auch am Leib zu frösteln. Kein Wunder, es war Ende Oktober. Ob er heute zu einem Schuss kommen würde?

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass in einer Viertelstunde die Sonne aufgehen würde. Als Jäger wusste man sowas. Dann müsste er sowieso abbrechen. Was würde er dann tun? Nach Hause zu seiner Frau? Mit einem Strauß Blumen? Er wusste einen Blumenladen, der schon sehr früh öffnete. Oder eine Schachtel Pralinen? Entschuldigung Schatz, es tut mir leid, du weißt, dass es mir leid tut, aber es war nicht meine Schuld? Oder direkt ins Geschäft fahren? Dusche und Anzug befand sich alles auch dort.

Er machte sich zum Abstieg fertig, sicherte das Gewehr. Vielen Jägern war es schon passiert, dass sie sich beim Verlassen des Hochsitzes mit dem eigenen Gewehr erschossen, weil sie es nicht gesichert hatten. Das sollte ihm nicht passieren.

Doch was war das? Still. Da war doch was.

Er setzte sich wieder hin. Lauschte. Schaute.

Dort. Eine Bewegung. Ganz deutlich. Ein Tier.

Mist, es ist unter den hohen Bäumen. Die gehören nicht zum Revier. Die Reviergrenze verläuft unmittelbar hinter dem Hochsitz. Dort drüben ist ein anderes Revier.

Aber jetzt sieht er es. Das Tier. Ein Reh? Die Farbe könnte stimmen. Aber nicht die Größe. Ist es dann ein Wolf? Nein, Wölfe gibt es hier noch keine. Im Osten Deutschlands, ja, dort gab es Wölfe. Hier nicht.

Dann ist es ein Fuchs. Ein ziemlich großer Fuchs, zugegeben, aber was soll´s. Ein Fuchs fällt unter das Jagdgesetz. Darf geschossen werden. Im November genießen Füchse keinen Schutz mehr. Die Aufzucht eventueller Jungtiere ist abgeschlossen. Oder etwa nicht? Entscheide dich. Jetzt!

Er entscheidet sich. Entsichert das Drillingsgewehr. Auswahl: Schrot oder Kugel? Keine Frage. Kugel durch den gezogenen Lauf. Zielfernrohr. Gut, das Licht reicht aus. Büchsenlicht, wie man sagt, hähähä. Wo ist der Fuchs? Da ist er ja. Bleib stehen, du Mistvieh. Jetzt. Schau her. Hasta la vista, baby.

Dann schießt er.

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Matis

Sommer 2015

Fünfzehn Jahre früher

Zurück zur Jetztzeit

Teil II: Zach

August 1995 – August 2015

September 1995

Oktober 1995

November 1995

Januar 1996

Oktober 1998

August 2015, Magerbüchel

Oktober/November 1998

Februar 1999

August 2015, Magerbüchel

März 2000

September 2000

August 2015, Magerbüchel

September 2000

Februar 2001

März 2001

Mai 2001

Juli 2001

August 2001

Juni 2002

Teil III: Viviane

Juli 2015

August 2015

Juli 2015

September 2015

Teil I

Matis

Sommer 2015

Mit dem ersten Donnerschlag setzte der Regen ein. Fette Tropfen, die in den Sand vor meinem Verkaufswagen platzten und als panierte Wasserkügelchen in alle Richtungen stoben. Auf der Seitenwand des Anhängers, die ich wie eine Markise hochklappen konnte, erhob sich ein Trommelwirbel von Hagelkörnern, als würde Ian Paice von Deep Purple zu Speed King die Stöcke tanzen lassen. Sie nutzten es als Sprungbrett, als letzte Zwischenstation, um von dort endgültig in den Staub zu meinen Füßen zu springen, wo sie kläglich verenden mussten.

Ich hasste Wettervorhersagen, besonders dann, wenn sie zutrafen. Was hier der Fall war. Samstagnachmittags heftige Gewitter mit Starkregen und Hagel im Südwesten Deutschlands. Es war Samstagnachmittag, es blitzte und donnerte, starker Regen fiel mit Hagel, und ich befand mich im Südwesten. Genauer gesagt in Durlangen. Durlangen in Baden, wohlgemerkt, nicht im württembergischen Durlangen. Großer Flohmarkt, einmal monatlich. Meine Haupteinnahmequelle. Flohmärkte und Jahrmärkte.

Ich bereiste mit meinem mobilen Antiquariat die Floh- und Jahrmärkte des Südwestens, und war praktisch, außer im August während der Ferienzeit, jeden Tag an einem anderen Ort. Die Bücher und Faksimiledrucke, die zu meiner Angebotspalette gehörten und die man bei mir erwerben konnte, waren in einem geräumigen Anhänger untergebracht, der über zwei Türen zugänglich war. Eine Seitenwand des Anhängers war zu einer Markise hochklappbar, sodass man einen Teil des Angebots auch von außen betrachten konnte.

Ich bemerkte ihn, als ich die Seitenwand des Anhängers herunterklappte, um die Bücher und Grafiken vor Nässe zu schützen. Nichts ist schlimmer für Papier als Feuchtigkeit. Mittlerweile schüttete es wie aus Kübeln, blitzte und krachte es in bedrohlicher Nähe, doch er stand mitten auf dem Weg, über den vor einer Minute noch Massen von Leuten flaniert waren. Er stand plötzlich da, einem Hologramm gleich, wie vom Sturzbach aus der schwarzen Wolke auf die Erde projiziert, triefend nass, einen Leinenbeutel in einer Hand. Das Bild prägte sich mir ein, noch bevor ich handeln konnte. Grau war das Wort, das mir zu ihm einfiel, denn er schien allein aus dieser Farbe zu bestehen. Jacke und Hose waren grau, seine schweren Wanderschuhe waren grau, sein Hemd war grau und das Haar und der Bart waren grau. Grau, zudem noch verstärkt durch die Nässe, die ihn durchdringen musste.

Ich rief: Hey Sie, doch schien er mich nicht zu hören, jedenfalls reagierte er nicht auf meine Stimme. Ein hastiger Blick zum Himmel, ein kurzes Stoßgebet bitte nicht gerade jetzt ein Blitz, und ich spurtete zu ihm hinüber, fasste ihn am Arm und sagte, nein, brüllte: Kommen Sie, Sie können nicht hier stehen bleiben, es ist zu gefährlich, zog ihn am Ärmel seiner Jacke hinter mir her zu meinem alten Mitsubishi Pajero, riss die Beifahrertür auf und drückte ihn beinahe gewaltsam auf den Autositz. Sekunden später warf ich mich hinter das Lenkrad. Im Handumdrehen beschlugen die Fensterscheiben von innen. Er schien regelrecht zu dampfen, ich meinte klamme Dunstschwaden aus seiner Kleidung aufsteigen zu sehen. Mit gekrümmtem Rücken hockte er neben mir und starrte stumm vor sich hin. Er zeigte mir nur sein Profil. Aus den Haaren, die der Regen ihm an den Kopf geklatscht hatte, rannen kleine Bäche in seinen Bart und tropften von dort auf seine Hose. Aus seinem Jackenkragen ragte ein graues Halstuch. Wieso trägt er bei dieser Bruthitze ein Halstuch?, fragte ich mich.

Auf dem Rücksitz lag meine Tasche mit Verpflegung, die ich mir stets morgens vor einem Markttag zu Hause zusammenstellte. Nicht viel, einige belegte Brote, Kekse, einen Apfel, eine Banane, ausreichend Wasser, Lutschbonbons. Als starker Kaffeetrinker hatte ich immer eine Thermoskanne des Gebräus dabei. Ich zog die Kanne hervor und goss einen Becher voll, den ich ihm reichte. Zitternd schlossen sich seine Finger um das warme Gefäß. Mich beschlich ein Gefühl, als hätte ich diesen Mann schon einmal gesehen.

„Haben Sie einen Schirm dabei?“, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, aber er antwortete nicht. Vielleicht, dachte ich, hat er mich nicht verstanden, denn der Hagel prasselte auf die Karosserie, dass man sein eigenes Wort kaum hörte, als würde ein Lastwagen eine Ladung Kies auf das Autodach kippen.

Unbedacht berührte ich ihn am Arm. „Haben Sie einen Schirm ...“

Abrupt zog er den Arm zurück, was in Sprache übersetzt so viel wie Pfoten weg hieß. „Es hört gleich wieder auf, dauert nicht lange“, antwortete er barsch, was sich für mich ziemlich unfreundlich anhörte und mich auch unmittelbar beeindruckte. Man kann mich nämlich durch resolutes oder abweisendes Auftreten rasch aus der Fasson bringen, und wenn ich, wie in diesem Fall, meine Selbstsicherheit verlor, begann ich in der Regel zu stottern. Um das zu vermeiden, verfiel ich meistens in Schweigen und in eine Art Schockstarre. So auch jetzt. Ich krallte meine Hände um das Lenkrad und blieb steif und stumm sitzen.

Wie er vorhergesagt hatte, war das Gewitter nach wenigen Minuten vorbei. Die schwarze Wolke zog weiter, und dahinter leuchtete der strahlende Himmel. Der Mann leerte den Becher, stellte ihn mit einer Behutsamkeit auf das Armaturenbrett, die seine harte Stimme Lügen strafte, knurrte ein Danke, stieß die Tür auf und stieg aus. Nur Augenblicke später folgte ich seinem Beispiel, um den Bücheranhänger wieder zu öffnen. Dabei schaute ich mich nach ihm um, aber er war wie vom Erdboden verschwunden.

Wo sich all die Menschen vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatten, war mir angesichts der Tatsache, dass nur Minuten nach den letzten Tropfen und noch vor dem ersten Sonnenstrahl in den Gassen zwischen den Ständen und Tischen wieder das gewohnte Gedränge und Geschiebe vorherrschte, unbegreiflich. Für die vielen privaten Flohmarktverkäufer und die professionellen Marktfahrer per se nicht schlecht, bedeutete sonst solch ein Wetterwechsel oft das Ende des Marktes und somit der Geschäfte.

Für mein Büchergeschäft jedenfalls stellte das heutige Unwetter eine Zäsur dar. Es gingen nur noch eine sechsbändige Ausgabe des Gesamtwerkes von Wilhelm Busch aus dem Jahre 1959 für fünfundsechzig Euro, sowie eine gebundene Reiseerzählung über Sven Hedins Durchquerung der Wüste Gobi für sieben Euro über den Ladentisch. Normalerweise legte ich Wert darauf, meinen Wagen bis zum Marktende offenzuhalten, denn ich lebte davon, dass man mir Bücher abkaufte. Wenn ich ergo aus einer Laune heraus den Laden einfach früher zumachen würde, würde ich mir selber Schaden zufügen. Heute allerdings wurde mir jede Minute zur Last und ich war entsprechend froh, als ich den Mitsubishi Pajero vor den Anhänger spannen und den Heimweg nach Magerbüchel antreten konnte.

Ich vergaß mich vorzustellen. Ich heiße Mathias Morgenstern, kurz und bündig Matis gerufen. Meine Adresse lautet, auch heute noch, Im Hinterwasser 2, Magerbüchel.

Mein Heim ist ein umgebauter Kuhstall mit angeschlossener Scheune und aufgesetztem Heuboden. In der Scheune, wo früher die Heuwägen und Traktoren des Bauern gestanden hatten, von dem ich den Stall einst kaufte, findet heute mein Anhänger und der Mitsubishi Pajero als komplettes Gespann Platz. Ich brauche nur das große hölzerne Scheunentor zu öffnen und geradewegs hineinzufahren. Die Scheune ist so breit, dass auch mein zweiter, etwas kleinerer Anhänger darin unterkommt, den ich für den reinen Transport von Büchern verwende, und den ich mit einer Plane abdecken kann.

Die Wohnung befindet sich im früheren Heuboden über dem ehemaligen Kuhstall. Wände und Dach natürlich isoliert, ist es ein riesiger offener Raum mit Sicht auf das Dachgebälk, ziemlich rustikal das Ganze, doch sehr gemütlich. Die Wohnraumfläche beträgt ungefähr hundertzwanzig Quadratmeter. Wo sich einst der Futterschacht befand, hatte ich eine Treppe nach unten einbauen lassen. Im ebenerdigen Stall selber ist mein Lager untergebracht. In unzähligen Regalen schlummern meine Reichtümer. Könnte ich alle Bücher und Gemälde auf einen Schlag verkaufen, wäre ich vermutlich ein reicher Mann, doch dieses Glück werde ich aller Wahrscheinlichkeit nicht haben.

Reichtümer werde ich mit meinem Geschäftsmodell also nicht verdienen. Ich komme, bei dem Aufwand, den ich betreibe, gerade so über die Runden. Wie bereits erwähnt, befahre ich mit meinem Bücheranhänger die Märkte im Südwesten der Republik. Das heißt früh aufstehen, spät nach Hause kommen. Liegt der Marktort weit entfernt, reise ich auch schon am Vorabend an. Zur Not kann ich in meinem Anhänger einigermaßen passabel schlafen, was für mich kein Problem darstellt. Einen Schlafsack führe ich stets mit. Im Durchschnitt komme ich auf vier Markttage pro Woche. Mal sind es nur drei, dann wieder fünf. Nebenher sehe ich zu, dass ich Nachschub an Büchern und Bildern besorgen kann. Ich kaufe Nachlässe auf, inseriere auch in Zeitungen. Manchmal, wenn ich abends nach Hause komme, stehen Kartons voller Bücher vor der Tür, die mir entweder geschenkt werden, oder, wenn eine Nachricht mit Adresse und Telefonnummer dabei ist, ich nach Sichtung einen Preis für den Erwerb vorschlage. Meistens nenne ich Preise über den Erwartungen.

Zweimal im Jahr veranstalte ich im Kuhstall, als mein zweites geschäftliches Standbein, eine Vernissage mit den Öl- und Acrylgemälden sowie den Aquarellen, die mir für die Märkte zu heikel im Transport und überhaupt zu wertvoll sind. Diese Aktionen haben sich mittlerweile unter Sammlern und Kennern herumgesprochen, sodass zu den angekündigten Daten alle Hotels und Pensionen der Umgebung ausgebucht sind.

Schon während der Fahrt von Durlangen nach Magerbüchel war mir der graue Regenmann sinnbildlich nicht mehr von der Seite gewichen. Wo hatte ich ihn schon einmal gesehen? Oder kannte ich ihn sogar? Eine vage Erinnerung formte sich heraus, steckte alsbald hinter meiner Stirn fest wie eine Zecke in der Haut, schwer zu greifen und schlecht zu lesen, wie ein in eine Wasseroberfläche gekritzeltes Wort. Der Duft einer Ahnung war es bloß, die Flüchtigkeit eines Geruchs, wie wenn bei der Wanderung über eine Kräuterwiese die Nuance eines Krauts den Weg in die Nase findet, und man es nicht benennen kann.

Kurz flammte eine Idee auf, nicht länger dauernd wie das Licht vom Mond zur Erde benötigte, eine Idee, die ich aber rasch verwarf, weil sie mir dann doch zu abenteuerlich vorkam, zumal eben jener, auf den sie sich bezog, seit Jahren sozusagen als verschollen galt. Zwar wurde er behördlicherseits nach wie vor nicht als vermisst geführt, war aber offiziell nirgendwo ordentlich gemeldet, war dem Hörensagen nach jedoch verschwunden, untergetaucht, unauffindbar, inexistent. Manchmal schwirrten Gerüchte ihn betreffend über die Stammtische der dörflichen Beizen, so regelmäßig wiederkehrend wie auch falsch, er sei gesichtet worden, da und dort, manchmal an zwei Orten gleichzeitig, wie es die typische Eigenart geheimnisvoller Schemen ist, einem Phantom gleich. Als ich aber zu Hause ankam, Auto und Anhänger in der Scheune, und ich den Wohnraum über dem Kuhstall beziehungsweise dem Bücherlager betrat, ließ es mir keine Ruhe. Er ließ mir keine Ruhe.

Normalerweise streckte ich nach einem Markttag alle Viere von mir. Also: Schuhe aus, Kognak in ein Glas, Feuer an eine Zigarette, rein in den Sessel und Beine auf den Tisch. Ja, kein Problem, bei mir wohnt niemand, dem das missfallen könnte, um es elegant zu formulieren. Will heißen, dass ich alleine lebe und weder auf Partnerin noch Partner Rücksicht zu nehmen brauche. Zumindest aktuell nicht.

Heute tat es eine Flasche Bier, und anstatt Beine hoch fasste ich meine Rumpelecke ins Auge, die hinter meinem Schreibtisch die persönlichen Schätze und Erinnerungen, verpackt in Kisten und Kartons, in Form von Fotoalben und allerlei Papierkram enthielten. Bierflasche und Aschenbecher auf den Schreibtisch, zog ich den Karton hervor, auf dem Realschule geschrieben stand. Zuoberst, das wusste ich, lagen meine alten Zeugnisse. Es mussten aber auch Fotos von der Schulentlassfeier und den wenigen Klassentreffen enthalten sein. Nicht, dass der Regenmann einst einer meiner Klassenkameraden gewesen war, nein, so schlecht arbeitete mein Gedächtnis nun doch nicht. Eher vermutete ich, dass mich die diffuse Spur in das nähere (oder erweiterte?) Umfeld der damaligen Schulklasse leiten würde. Die Fotos könnten mir eventuell einen Denkanstoß geben, wer zu jener Zeit die- oder derjenige gewesen sein könnte, die oder der am besten über alles und alle informiert war. Es gab solche Leute, denen, aus welchen Gründen auch immer, die Informationen, wichtige und nebensächliche, wie von Geisterhand immer zuflossen, und sie besaßen zudem die Fähigkeit, sie im Allgemeinen auch zu speichern und zu behalten. Es gab sie früher und gibt sie heute, und es wird sie in Zukunft geben, diese Leute. Wer unter meinen Klassenkameraden konnte also die Person sein, bei der ich mich am besten nach meinem Regenmann erkundigen konnte?

Ich bin heute fünfundvierzig Jahre alt und damit an die dreißig Jahre von der Schulentlassfeier entfernt. Klassentreffen wurden nur zu den runden Zehnerjahrgängen veranstaltet, in unserem Fall also das Dreißig- und das Vierzigjährige. (Das Zwanzigjährige wurde übersprungen.) Klassentreffen folgten von jeher eigenen Gesetzen, basierend auf der Natur der Menschen, sich nach Abschluss der Schule in alle Winde zu verstreuen, sodass zwar immer eine fast konstant gleiche Teilnehmerzahl um einen harten Kern zu verzeichnen war, doch mit stets wechselnden Leuten. Aber es müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn mir bei der Durchsicht der Gruppenfotos nicht ein Licht aufginge, welches von all den Gesichtern mir für Informationen am geeignetsten schien.

Es existierte eine Liste mit allen Namen, Adressen und Telefonnummern, die vor fünf Jahren noch auf dem Stand der Zeit waren. Meine Wahl fiel auf Viktor. Warum er? Er wohnte und lebte als einer von wenigen seit Geburt in der alten Heimat, genauer gesagt in Kirchenrottach. Er war dort zur Realschule gegangen, in unsere Realschule wohlgemerkt, war nie weggezogen, besaß ein eigenes Steuerberatungsbüro, und war Mitorganisator des vierzigjährigen Klassentreffens gewesen. Ich schrieb seine Telefonnummer auf ein Blatt Papier.

Zuerst aber meldete sich der Hunger bei mir an, weshalb ich die Flasche Bier in den Küchenbereich trug, um ein paar übrig gebliebene Salzkartoffeln von vorgestern aufzubraten und mit Rührei und Schinken aufzupeppen. Während ich aß, stierte ich unablässig auf die Telefonnummer, als könnte ich allein Kraft meines Geistes eine Verbindung zustande bringen. Was natürlich nicht geschah.

Sollte ich wirklich anrufen? Immerhin war Samstagabend, Juli, Sommer, und die Leute hatten womöglich Sinnvolleres zu tun, als in alten Geschichten herumzustochern. Ich wählte die Nummer trotzdem.

Ich hörte das Freizeichen ertönen, doch dauerte es geraume Zeit und ich stand kurz davor, den Versuch abzubrechen, als schließlich doch das Gespräch angenommen wurde.

„Lauenbacher. Guten Abend.“ Eine Frauenstimme. Gattin? Tochter? Mutter? Schwer zu sagen. Ich getraute mich nicht, explizit nachzuhaken. Ich ...äääh ...hatte da gewisse Hemmungen.

„Guten Abend, entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Mathias Morgenstern. Ist Viktor zu sprechen? Ich bin ein Schulkamerad von ihm.“ Genau in diesem Moment fiel mir der Name des Mannes ein, nach dem ich mich erkundigen wollte. Der Name des Regenmannes. Er hieß Zacharias, genannt Zach. Es war mir unmöglich zu entschlüsseln, unter welchem Schuttberg des Gedächtnisses der Name verschüttet gewesen war, und durch welche Art Impuls er sich aufgefordert fühlte, nach oben und ins Tagesgeschehen zu drängen. So, oder so ähnlich muss es gewesen sein, denn ich war selbst dermaßen überrascht, dass ich meinem letzten Satz Folgendes hinterherschickte: „Ich wollte wissen, ob er etwas über einen gewissen Zacharias sagen kann. Zacharias, genannt Zach.“

Ich vernahm ein Geräusch durch den Äther, als würde jemand vor Schreck scharf die Luft einziehen und anhalten, etwa so, als hätte sich derjenige versehentlich mit einem Messer geschnitten oder an etwas Heißem just die Finger verbrannt. In der Leitung blieb es einige Sekunden lang still. Dann klang es, als würde die Luft langsam und wie in Stakkato entweichen.

„Tut mir leid, Viktor ist nicht da.“

„Können Sie ...?“ Tüt, tüt, tüt ... Aufgelegt. Na sowas.

Dieses abrupt beendete Gespräch musste als Alibi für einen Kognak herhalten. Ich goss eine doppelte Daumenbreite in einen Schwenker, nahm Telefon, Zigaretten und die Adressenliste nebst Klassenfotos mit hinaus auf den Balkon, um auf den Sonnenuntergang zu warten. Den Balkon hatte ich vor einigen Jahren nachträglich anfertigen lassen. Die Aussicht von hier über Magerbüchel hinweg bis hinüber in die französischen Vogesen war unbezahlbar.

Es war ein schwüler Sommerabend. Das nachmittägliche Gewitter über Durlangen war auch in Magerbüchel aktiv gewesen, und aus den Wiesen rund um die Scheune stieg feuchtigkeitsschwangerer schwerer Dunst. Ich schwitzte sogar bei völliger Bewegungslosigkeit, und der Kognak multiplizierte die Wirkung um mindestens Faktor drei. Bald klebte mir das Hemd auf der Haut. Aber anstatt mir Freizügigkeit zu verschaffen, indem ich mir die Klamotten vom Leib riss, blieb ich meiner Linie treu. Ich fand es nämlich hässlich und widerwärtig, wenn Männer halbnackt herumliefen, und ich gestattete mir deswegen auch zu Hause nicht, ohne Kleidung zu sein, obwohl mich hier keine Menschenseele sehen konnte.

Ich entdeckte einen weiteren Namen mit Adresse in Kirchenrottach. Nein, falsch. Ich entdeckte den Namen nicht, sondern ich wusste, dass er auf der Liste stand. Nämlich Elke. Elke, wegen der ich mich einst zu einem Schwachsinn hatte verleiten lassen. Eine heiße Welle schlechten Gewissens schoss aus dem Magen herauf und schwappte über meinen Kopf. Das Herz begann zu rasen und ich spürte das harte Pochen umgehend wie einen Dampfhammer im Schädel.

Den Fotos von den beiden Klassentreffen nach hatte sie sich in all den Jahren äußerlich kaum verändert. Stiltreu, fiel mir dazu ein. Oder war das schon wieder negativ? Ihre hervorstechendsten Merkmale waren die Flut lockiger roter Haare, die sie wie eine Flagge trug, sowie die Unzahl von Sommersprossen im Gesicht. Elke war Kindergärtnerin, wie ich mich zu erinnern glaubte. Stopp, wieder falsch. Ich glaubte mich nicht zu erinnern, sondern ich erinnerte mich eindeutig. Ein Blick auf die Uhr. Die Zeiger bewegten sich auf die Acht zu. Sollte ich sie tatsächlich anrufen? Vielleicht gibt es eine Verjährungsfrist für jugendlichen Schwachsinn, dachte ich. Hoffte ich. Ich tippte ihre Nummer ein.

„Petzold.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Erstens, dass mich ein Stich ins Herz traf, als ich ihre Stimme erkannte. Wie gesagt, nicht damit gerechnet nach all der Zeit. Und zweitens der Name. Auf der Liste wurde sie unter Elke Weishaupt geführt. Petzold war ihr Mädchenname.

„Hallo Elke. Mathias Morgenstern hier“, sagte ich an dem Knoten im Hals vorbei. Ob sie das Zittern in meiner Stimme bemerkt hat?

„Matis? Das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir?“

Der übliche ländliche Begrüßungsablauf. Ich war noch nie ein Meister des Smalltalks, das merkt man mir an, weshalb man meistens recht bald auf den Trichter kommt, dass ich nicht wegen des Tratschens anrufe. Was Elke betraf, gesellte sich zu meiner normalen Sprachlosigkeit noch ein gutes Quantum Befangenheit. Eine Geschichte, deren Peinlichkeit ich mir gerne erspart hätte. Aber warum hatte ich sie dann überhaupt angerufen?

„Warum rufst du an, Matis?“

Genau, das war die Frage. Warum gerade sie? Zu meiner Verteidigung durfte ich anführen, dass ich es zuerst bei Viktor versucht hatte. Das wusste Elke aber nicht. „Tja, Elke, kannst du etwas mit dem Namen Zacharias anfangen? Zach?“

„Wieso willst du das wissen?“

„Nun“, sagte ich, „mir ist heute ein Mann begegnet, der mich an ihn erinnert.“

„Zach? Das kann nicht sein.“ Die Antwort kam für meinen Begriff etwas zu schnell. Zu ablehnend. Als handle es sich bei dem Thema um gefährlichen Stoff oder um eine verbotene Zone. War es das eventuell sogar? Vor meinen inneren Augen entstand ein hoher Zaun mit ekliger Stacheldrahtkrone, versehen mit einem Schild: Danger! Keep out! Wieso ich es in englischer Sprache dachte, muss an meiner Vorliebe für amerikanische Krimis liegen.

„Ich weiß, was man so redet. Dass er verschwunden sei, und so weiter. Trotzdem ...Ich dachte, du wüsstest vielleicht, was ... “ Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Fernsehen? Familie? Etwas klirrte. Gläser? Geschirr?

„Moment mal, Matis“, hörte ich sie sagen, und dann etwas zu jemandem rufen, der sich wohl in ihrer Nähe befand, das ich aber nicht verstehen konnte.

„Entschuldige, Matis. Meine Tochter spült Geschirr. Chaos mit System. Weißt du was? Hast du morgen Zeit?“

„Äääh, ja, warum?“

„Du wohnst doch in Magerbüchel, nicht wahr?“

„Ja“, sagte ich erstaunt.

„Dann treffen wir uns morgen bei dir. Sagen wir um elf Uhr? Ist dir das recht? Oder lieber später?“

Ich war perplex. „Okay“, antwortete ich, „morgen um elf.“

Bei Klassentreffen stand man irgendwie unter ständiger Beobachtung. Vertrauliche Gespräche konnten erfahrungsgemäß nicht stattfinden. Alles war auf Gemeinsamkeit ausgerichtet, auf kollektives Erleben. Derjenige, der in der Schule schon immer der Witzbold gewesen war, schwang sich auch bei diesen Anlässen zum Alleinunterhalter auf. Was man übereinander wusste oder zu hören bekam, berührte, einem ungeschriebenen Gesetz folgend, nur die Oberflächen. Mir war das recht, denn dadurch verlief sich das allgemeine Interesse an meiner Person und meiner Karriere wohltuend im Sande. Es genügte mir, dass die anderen wussten, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiente, und das war wahrlich nichts, womit ich glänzen konnte. Es war meine Entscheidung gewesen, mein Weg, und ich war´s zufrieden. Immer, wenn mein Streber-Gen von mir verlangt hatte, ich müsste dieses oder jenes tun, hatte ich geflissentlich weggehört. Ich musste zugegebenermaßen um mein tägliches Brot ringen, aber ich hatte meine Bücher und ein eigenes originelles Zuhause, das man in keinem Fertighauskatalog kaufen konnte. Für mich war das ein echtes Pfund.

Bei den beiden bisherigen Klassentreffen war Elke freilich mit dabei gewesen, aber, wie erwähnt, waren das keine Gelegenheiten, um irgendwelche Verwerfungen oder Entfremdungen auszubügeln. Dass jedoch etwas zwischen uns existierte, hatte uns sichtlich beschäftigt, denn es war schon fast ulkig, wie sehr wir erpicht waren, gerade noch haarscharf bemüht am anderen vorbeizuschauen. Immerhin war Elke so nobel, mich nicht vor aller Augen bloßzustellen oder aufs Korn zu nehmen.

Jetzt also morgen. Elf Uhr. Elke.

Mein Auge schielte nach einem weiteren Kognak, und bevor ich mir eine Sehstörung einhandelte, gab ich dem Drängen nach.

Beine auf dem Balkongeländer, Zigarette in der Hand, überlegte ich, ob ich ein Mittagessen für Elke zubereiten sollte, entschied mich letztlich jedoch dagegen, gab es in Magerbüchel doch den Adler, ein gut geführtes Restaurant mit ansprechender regionaler Küche.

Vielleicht, dachte ich, sollte ich mich eher um meine Wohnung kümmern. Aufräumen, hauptsächlich, aber nicht so sehr, dass man meine Lebensweise nicht mehr erkennt und das Ambiente verloren geht. Bad und Küche putzen. Morgen, dachte ich, morgen früh.

Die Sonne bereitete sich vor, von Magerbüchels Kirchturm aufgespießt zu werden. Vom kleinen Bach, der an meiner Scheune vorbeifloss, startete ein Wildentenpaar und flog mit knatternden Flügelschlägen Richtung Westen zum Rhein. Wenn es nicht wahr wäre, dann wäre zumindest die Vorstellung kitschig schön.

Dass ich nervöser war als ich eingestehen wollte, merkte ich an meinem Zigaretten- und Kaffeekonsum. Ich hatte leidlich Ordnung im Haus gemacht, nicht übertrieben penibel, und wartete nun auf dem Balkon, dass es elf Uhr werden würde. Mir wurde bewusst, dass ich seit dem gestrigen Telefonat mit Elke nicht mehr an den Grund ihres Besuches, nämlich Zach, gedacht hatte. Gleichzeitig stellte ich mir die Frage, ob mir dieser Zach im Grunde nicht total schnuppe sein konnte. Was hatte ich mit ihm am Hut? Nichts. So what?

Kurz vor elf Uhr kam ein knallrotes Auto die Straße vom Dorf her gefahren. Ein alter VW Polo, wie ich beim Näherkommen feststellte, mit altersstumpfem Lack. Ich ging nach unten und wischte beim Gehen meine feuchten Hände an den Hosenbeinen ab. Verdammt, hoffentlich erzähl´ ich keinen Schrott.

Da stieg sie aus, die ungebändigte Lockenmähne leuchtete in der Sonne, ihr fröhliches Gesicht wirkte vor lauter Sommersprossen sonnengebräunt, und blieb neben dem Auto stehen. Sie trug ein knöchellanges, luftiges Kleid in verschiedenen Rottönen, und Sandaletten.

„Hallo Elke“, ging ich auf sie zu, fasste sie an den Oberarmen, Küsschen links/rechts/links (so nah war ich ihr noch nie gekommen), „schön, dass du gekommen bist. Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

„Landkarte“, sagte sie aus Überzeugung, „ganz analog. Hallo Matis. Schön hast du´s hier. Ist das dein Haus?“ Sie blickte sich um. „Ruhige Gegend, oder?“

„Sehr ruhig“, antwortete ich. „Ich brauche das, kann Lärm nicht ertragen.“

„Hilf mir mal“, sagte sie. „Ich hab´ uns was zu essen mitgebracht. Und Kuchen. Du hast doch bestimmt Kaffee im Haus?“ Sie warf eine Umhängetasche über die Schulter und öffnete den Kofferraum. „Wenn du den Stahltopf und die Jutetasche nimmst, bringe ich den Rest.“

Nachdem wir die Sachen im Küchenbereich vorläufig abgestellt hatten, führte ich sie durchs Haus: Scheune, Bücherlager, Wohnbereich.

„Wow, das sind bestimmt zehntausend Bücher. Die hast du aber nicht alle selber gelesen, oder?“

„Gut geschätzt, es sind ein paar mehr, und nein, ich habe sie nicht alle gelesen.“

„Und die verkaufst du mit deinem Anhänger auf den Märkten!“, stellte sie fest.

„Ich versuche es zumindest.“

Wir stiegen die Treppe hinauf. „Hier wohnst du also. Ich hatte keine Idee, wie es bei dir aussehen könnte. Es gefällt mir. Der lichte Raum ist gewaltig.“

Ich bemerkte, dass sie in meiner Schlafecke das schmale Bett musterte. „Du lebst allein“, lautete ihre nächste Feststellung, die ich unkommentiert ließ. Sie hätte sicher kein Essen mitgebracht, wenn sie davon ausgegangen wäre, dass ich mit jemandem zusammenlebte.

„Ich müsste mal für kleine Elke.“

„Klein Elke muss die Treppe hinunter, dann scharf links halten.“

„Du kannst dich in der Zwischenzeit entscheiden, ob du lieber Nudeln oder Kartoffeln essen möchtest. Es gibt ein Ragout und Blattsalat.“

Elke wusch den Salat. Sie hatte ein fertiges Dressing in eine Flasche abgefüllt und mitgebracht. Ich schälte derweil Kartoffeln und schnippelte sie zu Würfeln. Es gibt für alles ein erstes Mal, dachte ich, denn unter diesem meinem Dach hatten noch nie zwei Personen zusammen Essen gekocht.

„Wie kommst du eigentlich auf die Idee mit Zach?“, fragte sie nebenbei, und war nun doch bei der Hauptsache angekommen.

Ich erzählte ihr vom gestrigen Markttag in Durlangen, vom Gewitter, und wie ich dem grauen Regenmann Schutz gewährt hatte. „Ich hatte Zach damals nur sporadisch gesehen. Gerade noch dass ich wusste, wie er hieß. Ach, sporadisch ist schon zu hoch gegriffen. Selten. Ich hatte ihn selten gesehen. Dreißig Jahre können einen Menschen schon sehr verändern, und doch meinte ich, in diesem Regenmann ihn zu erkennen. Zach.“ Ich gab Salz zum Kartoffelwasser und drehte die Elektroplatte an.

„Du kannst jetzt auch das Ragout einschalten, Matis. Nimm die mittlere Stufe. Mit dem Salat bin ich soweit fertig. Ich hatte gesagt, dass es eigentlich nicht sein kann. Zach ist verschwunden. Einfach weg, verstehst du?“

Ich nahm einen Kaffeelöffel zur Hand und probierte von der Ragout-Soße. Perfekt. „Ja, das ist das, was ich auch weiß. Gestern jedoch hatte ich kurz den Eindruck, dass du etwas mehr über ihn weißt. Korrigiere mich, wenn ich mich täusche.“

Elke schleuderte mit einem Tuch Restfeuchtigkeit aus dem Salat. „Zach war gebürtiger Kirchenrottacher. Ich sage absichtlich war, weil ich nicht glaube, dass er noch lebt. Er war zwei oder drei Jahre älter als wir.

Genau weiß ich das nicht. Aber schon damals rankten sich abenteuerliche Geschichten um ihn. Man sagte ihm zum Beispiel nach, dass er nachts durch die Dörfer der Umgebung schlich, Hasenställe öffnete und die Hasen frei ließ. Angeblich soll er Weidezäune zerstört und das Vieh hinaus getrieben haben. Dass er sich einer Tierschutzorganisation angeschlossen und mit versteckter Kamera die Zustände in Geflügelhöfen gefilmt und veröffentlicht hätte. Er soll auch nie Fleisch oder Wurst gegessen haben. Solch ein Verhalten machte ihn für die Einheimischen natürlich suspekt.“

„Ja schon, aber deswegen verschwindet man doch nicht einfach so. Was also ist es?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Mist, die Kartoffeln sind noch nicht durch. Nein, kann ich nicht.“

„Zach war sehr konsequent. In allem, was er tat. In jedem Lebensbereich. Es gab für ihn nur schwarz oder weiß. Dazwischen kannte er nichts. Was würdest du alles aus Liebe tun, Matis?“

Ich erstarrte. Das fragst du den Richtigen, dachte ich, nämlich mich, den Großmeister der Liebe himself. Was würde ich aus Liebe tun? Ich und Liebe? Wieso fragt sie nicht gleich, wie ein Ochse einen dreifachen Salto springt? Oder tue ich ihr jetzt Unrecht, weil sie ja nicht wissen kann, in welchem Verhältnis die Liebe und ich stehen? Oder kann sie es wissen? Kann sie es ...?

„Matis? Matis? Maaatiiisss?“

„Äääh, was hast du gesagt?“

„Du warst soeben wie weggetreten. Was ich sagen wollte: Allgemein munkelt man, dass Zach unsterblich verliebt war.“

„Aha. Ich kombiniere. Er war verliebt, sie hat ihn nicht erhört, und konsequent, wie er nun mal war, hat er die Flatter gemacht. Wie auch immer. Dead or alive. Denkst du das?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Zuzutrauen wär´s ihm.“

Das Ragout schmeckte köstlich. Wir saßen uns am Esstisch vis-à-vis. Ich musste zugeben, dass ich schon lange nicht mehr so gut gegessen hatte.

„Du schluderst wohl bei deiner Ernährung“, sagte Elke.

„Stimmt. Ich nehme mir einfach zu wenig Zeit dafür. Auf den Märkten bekommt man höchstens ´ne Wurstsemmel oder eine Bratwurst, und wenn ich abends nach Hause komme, bin ich meistens zu müde.“

„Dass das nicht gesund ist, weißt du aber.“

„Gestern“, lenkte ich ab, „bevor ich dich angerufen habe, hatte ich versucht, Viktor zu erreichen. Das war etwas seltsam. Es war eine Frau am Apparat. Als ich auf Zach zu sprechen gekommen bin, hatte ich das Empfinden, dass sie ziemlich erschrak. Jedenfalls hat sie das Gespräch danach sofort abgewürgt.“

Elke hüllte sich in Schweigen. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

Wir räumten den Tisch ab, das Geschirr in die Geschirrspülmaschine, die Essensreste in eine Schüssel.

„Das kannst du dir morgen nochmal aufwärmen, wenn du magst“, sagte sie. „Hast du bitte eine Zigarette für mich?“

Wir rauchten auf dem Balkon. Da er nach Westen ausgerichtet war, lag er zur Mittagszeit noch im Schatten. Elkes Blicke reichten in weite Ferne. Ich dachte: Wenn die Blicke durch die Erd-Gravitation gekrümmt werden, wie zum Beispiel das Einsteinsche Licht, schaut sie einmal um den Erdball herum und sieht uns dann von hinten hier sitzen.

„Es war sie, die er geliebt hat.“

Ich stutzte und benötigte einige Sekunden, um zu begreifen. „Du meinst Viktors Frau? Sie war Zachs unsterbliche Liebe?“