Teddor - Peter Siefermann - E-Book

Teddor E-Book

Peter Siefermann

0,0

Beschreibung

Teddor, ein junger Mann, im Leben verunsichert, im Beruf desillusioniert, schlägt, nachdem er sich in die Enge getrieben und zu Unrecht angeklagt fühlt, einen Weg in die vermeintliche Freiheit ein. Aber wie so oft in seinem bisherigen Leben leistet er sich bei der Auswahl des Segelbootes, das ihn der erträumten Zukunft näherbringen soll, einen fatalen Fehlgriff. Das Boot stellt sich als Kurierboot für Drogen heraus, und so gerät er in den Fokus von Leuten, deren Arm weiter reicht als ihm lieb ist. Doch er lernt eine Frau kennen, die in ihm mehr zu sehen vermag als er selber von sich weiß.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 343

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Teddor, ein junger Mann, im Leben verunsichert, im Beruf desillusioniert, schlägt, nachdem er sich in die Enge getrieben und zu Unrecht angeklagt fühlt, einen Weg in die vermeintliche Freiheit ein. Aber wie so oft in seinem bisherigen Leben leistet er sich bei der Auswahl des Segelbootes, das ihn der erträumten Zukunft näher bringen soll, einen fatalen Fehlgriff. Das Boot stellt sich als Kurierboot für Drogen heraus, und so gerät er in den Fokus von Leuten, deren Arm weiter reicht als ihm lieb ist. Doch er lernt eine Frau kennen, die in ihm mehr zu sehen vermag als er selber von sich weiß.

Für Emily und Otmar

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 1

Freitag, 28. Juni 2013

Als die ersten Sonnenstrahlen über den Kamm der Dünen auf seine geschlossenen Augenlider fielen, begannen die Erinnerungen wie zähflüssiger Leim langsam in sein Gehirn zu sickern. Er zitterte vor innerer Kälte, obwohl es eine Tropennacht mit über zwanzig Grad Celsius gewesen war. Die Mundhöhle fühlte sich an, als hätte er in der Nacht in den trockenen Sand, auf dem er lag, gebissen, und er dachte an den billigen schweren Rotwein, den er den gesamten vergangenen Abend über getrunken hatte, gezapft aus einem fünf Liter fassenden Kartonbehälter, von denen genau acht Stück um das Feuer herum gestanden hatten, und den man eigentlich mit Öl hätte schmieren müssen, damit er überhaupt die Kehle hinunter zu bekommen war. Er lag auf der Seite, in einer Art embryonalen Haltung, seinen Rucksack vor dem Bauch mit beiden Armen umklammernd, in einem knallroten Schlafsack aus Nylon, billigste Ware, was sowohl den Rucksack als auch den Schlafsack betraf. Das Fußende des Schlafsacks war ungefähr eine Schrittlänge von dem Steinkreis entfernt, innerhalb dessen das Lagerfeuer die halbe Nacht über gelodert und dessen Nähe er gesucht hatte, als die anderen alle gingen, nach Hause oder sonst wohin, um von den niedergehenden Flammen und danach der verbleibenden Glut etwas Wärme abzubekommen. Er versuchte Spucke zu sammeln, damit er einmal Flüssigkeit schlucken konnte, aber es gelang ihm nicht. Die rechte Gesichtshälfte bereitete ihm Unbehagen, als wäre sie einmal mit heißem Eisen gebügelt worden, aber die Ursache war der feine Sand, der, als er vom Wein betäubt schlief, in den Schlafsack geraten sein musste und der ihm die Gesichtshaut bearbeitet hatte wie Schmirgelpapier. Na bestens.

Vorsichtig hob er den Kopf, tonnenschwer und zugenagelt, blinzelte in das Sonnenlicht, das gerade flimmerte wie ein Filmprojektor im Kino, wenn man aus der Dunkelheit hinauf schaute zum Vorführungsraum, aber natürlich war es heller in den Dünen, und er stellte fest, dass es das Dünengras war, das vom Wind bewegt wurde und vor der Sonne stand und nervöse Schattenspiele produzierte. Der Sand hatte die Farbe des Mondes, dachte er, obwohl der Mond überhaupt nicht schien, und er dachte, dass er pinkeln gehen müsste, und wie er es eben noch dachte, konnte er kaum die Blase noch kontrollieren, merkte, dass plötzlich auch der Darm wie aus heiterem Himmel rebellierte, wie aus heiterem Himmel ist gut, dachte er, und dann sollte er besser nicht mehr denken, sondern handeln, sonst hätte er ein Problem.

Halb verbrannt, innerhalb des Steinkreises voller Asche, entdeckte er zerknülltes Papier, Zeitungspapier, nicht schlecht, Reste, worin vielleicht die Muscheln eingewickelt gewesen waren, oder die Bratwürste, die man gestern gegrillt hatte, oder die zu eben diesem Zweck, nämlich sich hinter den Dünen erleichtern zu können, hier liegengelassen worden waren, sodass jeder gerade nehmen konnte, was er brauchte. Er wühlte sich aus dem Schlafsack, ginge besser wenn der Reißverschluss offen wär‘, schalt er sich, taumelte und fiel mit dem Gesicht in den Sand, so, nun hatte er dieses Gefühl von Sand im Mund im Original, fluchte, schnappte sich von dem Papier und verschwand zwischen zwei Dünen und setzte sich mit heruntergelassener Hose, sonst wär´s blöd. Es war eine Stelle, von der aus er seinen Schlafsack im Blickfeld hatte. Nicht, dass der Schlafsack viel Wert gewesen wäre, aber es war nun mal seiner, einen anderen besaß er nicht, und wenn er im Freien übernachtete, so wie vergangene Nacht, gab er ihm zumindest die Illusion, umhüllt, zugedeckt und somit geschützt zu sein, mehr brauchte und verlangte er nicht. Wichtiger noch war der Rucksack, ein Modell mit Tragerahmen aus Aluminiumrohren, den er beim Schlafsack liegen gelassen hatte in der Annahme, er sei allein auf weiter Flur, und in dem all sein Hab und Gut steckte, was an Gut nicht besonders viel sein konnte, obwohl der Rucksack nicht klein bemessen, aber was das Hab anging, womit er all das Geld meinte, das nicht unbedingt sein Eigentum war aber sich nun eben in seinem Besitz befand, er ihn geradezu leichtfertig hatte liegenlassen. In diesem Augenblick sah er, dass heute Nacht nicht alle nach Hause oder sonst wohin verschwunden waren, sondern dass neben seinem Schlafsack ein weiteres Lager hergerichtet war, dem er den Rücken zugekehrt hatte, weswegen er es nicht hatte sehen können, und dass in dem Lager jemand lag. Schlafend oder wach? Und wer?

Was hätte er bloß gemacht ohne Papier? So war diese Sache noch mal gut gegangen, und war nicht noch etwas anderes mit gut? Ach doch, den stillen Ort gut mit Sand bedecken, stimmt, wegen der Fliegen und der Diskretion und so, und irgendwie fand er nun, dass der Tag auch gut begonnen hatte, trotz des dicken Kopfes. Soviel Wein aber auch. Wie viel war es denn? Mannomann, die Franzosen wissen aber auch zu feiern, und wenn sie dann noch die Cognacflasche herumreichen, darf man sich fast wie adoptiert fühlen. Wer mochte wohl in dem anderen Schlafsack liegen?

Papier, das er nicht benutzt hatte, raffte er zusammen und nahm es mit zum Lager. Zwei Augen und eine Nasenspitze lugten ihm aus dem benachbarten Schlafsack entgegen, der Rest von Gesicht und Kopf war eingemummelt in ein Tuch oder einen Schal, und der Schlafsack war von entschieden höherer Qualität als sein eigener, ein Mumienschlafsack, in welchem er mit Sicherheit Platzangst bekommen würde, weil die Bewegungsfreiheit der Beine eingeschränkt wurde. Hallo, fragte er, bist du wach, und hier, sagte er, ist Papier für den Fall, dass du mal musst, und warf das Papier den zwei Augen und der Nase vor die Nase. Ein Stöhnen oder ein Seufzen kam als Reaktion, und eine Hand und ein Arm tauchten aus den Tiefen des Schlafsackes auf und zogen den Schal oder das Tuch, jetzt erkannte er, dass es ein Tuch war, eine Art Kopftuch mit Palästinensermuster, vom Kopf.

Hallo, antwortete der Kopf mit einer Frauenstimme, die Stimme belegt und die Zunge steif, wie es nach dem Genuss von zu viel billigen Rotweins und much to much aus der Cognacflasche nicht anders zu erwarten war, in einer noch universellen Sprache, denn allein mit dem Wort „Hallo“ war längst kein Herkunftsnachweis erbracht. Als die Hand den Kopf irgendwie widerwillig von der Kapuze des Mumienschlafsacks befreite, erkannte er die Person, die Frau wieder, er hatte sie gestern Abend im Kreis der Leute um das Lagerfeuer wahrgenommen, essend, trinkend, lachend und singend, ja singend, und Gitarre spielend. Nur allmählich erweiterte sich sein Gesichtsfeld, die Weitwinkelfunktion der Augen hinkte merkwürdig behäbig hinter der aufsteigenden Form seiner sonstigen Verfassung her, weshalb er die Gitarrenhülle neben dem Lager der Frau erst jetzt sah.

Sie war nicht die einzige Gitarrenspielerin gewesen, mehr oder weniger war das Instrument reihum gereicht worden, gerade immer zu demjenigen als nächsten, der danach die Hände streckte, und auf diese Weise war ständig einer am Klimpern, brachte andere, neue Songs, bekannte, unbekannte, die meisten französischen unbekannt, aber er selber spielte nicht, konnte nicht spielen, hatte es nie gelernt.

Marie, war sie genannt worden, oder Martine oder Marianne, oder so ähnlich. Sie hatte dunkelblondes Haar bis über die Schultern und auf den Rücken und im Feuerschein flackerte es rötlich und rot, als würde es brennen, und wenn sie den Kopf nach hinten warf oder vor Lachen hin und her, schienen goldene Funken daraus in die Nacht zu stieben zu den Sternen und dort neue Sterne zu werden. Die Anzahl der Leute, die anwesend gewesen waren, schwankte ständig ungefähr zwischen zwölf und zwanzig, unmöglich, es mit Bestimmtheit zu sagen, denn es war ein Kommen und Gehen, neue Leute kamen hinzu, andere verabschiedeten sich, manche Pärchen, die sich wie zufällig bildeten, verkrümelten sich kurzfristig zwischen den Dünen, um nach gewisser Zeit wieder im Kreis der anderen zu erscheinen, aber Marie oder Martine oder Marianne oder wie sie nun hieß, ließ sich auf keinen Zufall ein, genauso wenig wie er, aber er war ihr auch sonst nicht in die Quere oder Nähe gekommen. Er hatte nicht speziell auf sie oder allgemein darauf geachtet, wollte wegen seiner Beobachtungen nicht wie ein Spießer dastehen, wollte ebenfalls locker und leger bleiben, wie man das an diesem gestrigen Abend allgemein zur Schau stellte, ja, es war eine Schau gleichwohl, denn alle zeigten wie unter Zwangsneurose stehend, einer fast penetranten Aufdringlichkeit und enormer Schauspielkunst, wie generös und tolerant und gegenüber allem aufgeschlossen man doch war. Seht her, seht her, hörte er einen imaginären Großkotz rufen, ich lasse diese Frau an meiner Seite, die im wirklichen Leben meine Freundin ist, mit jenem Hippie dort zwischen die Dünen verschwinden, wohlwissend, was sie dort treiben, und es macht mir nicht im Geringsten was aus, so modernen Geistes bin ich. Dabei würde just jener Rufer der Erste sein, der seine Frau am folgenden Tag wegen Untreue verprügelte, die Lüge und die Eifersucht wären ihm bereits anzusehen, noch während er dumme Sprüche klopfte.

Ab einer vorgerückten Stunde, zu welcher genau konnte er nicht mehr nennen, war er so betrunken, dass weder vom Weitergang noch vom Ende der Party etwas in seinem Gedächtnis haften geblieben war. Nun stand er da, die persönliche Freiheit vor lauter Kopfweh und Kater auf Halbmast gehisst, pfeif drauf auf die Freiheit, oh Mann, wer hat bloß behauptet, dass er sich in aufsteigender Form in irgendeiner sonstigen Verfassung befände, vor einem mit einem fremden weiblichen Wesen gefüllten Mumienschlafsack, und er wusste noch nichts weiter von der Unbekannten als dieses eine Hallo.

Kannst du mal auf meine Sachen aufpassen, fragte sie ihn endlich doch auf Englisch, während sie sich aus ihrem Schlafsack pulte, ihre verwaschene rote Tunika in Form zupfte, nach dem Papier klaubte und durch den Sand stapfte, unsicher und staksig noch auf den Beinen, die in ebenso ausgebleichten Jeans steckten, und hinter einer der Dünen verschwand. Noch immer nicht besser auf eigenen Beinen, drehte er sich um die eigene Achse, um den Schauplatz des nächtlichen Geschehens besser in Augenschein nehmen zu können. Zerwühlt und zertrampelt sah alles aus, kein Wunder, hatte man doch um das Feuer getanzt, mit leeren Weinkartons Fußball gespielt, Männlein wie Weiblein, ausgelassen und lebensfroh, wie junge Leute um die Zwanzig, einige darunter, einige darüber, halt so sind, wenn sie genug geraucht, Marihuana, Haschisch, und getrunken haben. Ein einziger Weinkarton stand mitten auf dem Festplatz, nicht weit vom Steinkreis, etwa vergessen? Er musste zugeben, dass der Ort beinahe peinlich sauber aufgeräumt und hinterlassen war, bis auf die Frau und ihn selbst als Übrigbleiber, und diesen Karton, zu dem er nun ging und feststellte, dass er noch halb voll war, ungefähr zwei Liter Rotwein oder mehr. Er nahm ihn mit zu seinem Schlafsack und setzte sich, hob den Karton an den Mund und trank, es war der bekannte grausame erste Schluck, der ihn erschauern ließ und Brechreiz in ihm auslöste, den er aber tapfer zuschüttete und mit zusammengepressten Lippen in sich behalten konnte. Schlagartig fühlte er sich besser, näherte sich schnell einem Wohlfühlpegel an, mit dem er blendend auszukommen verstand und der ihm nicht unwillkommen war. Mit dem nächsten Schluck festigte er die gewonnene Basis, betonierte sie als ein Bassin, in das er noch nachfüllen konnte, wenn ihm danach sein sollte.

Er beobachtete sie, wie sie hinter der Düne zum Vorschein kam. Sie sah übernächtigt aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, und er konnte sich vorstellen, wie er selber nach dieser Nacht ausschauen mochte, blendete diese Vorstellung aber rasch aus als sie näher kam und ihn fragte, was er da habe. Ihre Haut war sonnengebräunt, sie verbrachte bestimmt schon längere Zeit im Süden, war Sonne und Hitze besser gewohnt als er. Er schätzte sie spontan auf achtzehn oder zwanzig Jahre, durfte demnach etwas jünger sein, sie war nicht geschminkt und trotzdem schön, war schlank in der Taille mit dezentem Hüftschwung, die Tunika verdeckte geschickt ihren Oberkörper, und da ihm Oberweitenmaße ziemlich egal waren, dachte er in der folgenden Sekunde sowieso nicht mehr daran. Überhaupt lagen ihm Bewertungen oder Vergleiche nach oder von Aussehen fern, er war nicht fähig dazu, verfügte über keinen gesicherten Geschmack und Stil, konnte Kitsch von Klasse kaum unterscheiden, urteilte nach dem einfachen Prinzip gefällt mir oder gefällt mir nicht, weshalb er in der gleichen Sekunde für jetzt und alle Zeit unumstößlich für sich feststellte: Sie gefällt mir. Wobei mit alle Zeit die Zeit gemeint war, die er glaubte eigenverantwortlich verwalten zu dürfen so lange er sein Leben ertragen wollte, und mit unumstößlich eine zukünftig nicht zu diskutierende und in keinster Weise infrage zu stellende Entscheidung.

Er reichte ihr den Weinkarton. Wie heißt du, wollte er im selben Augenblick fragen, aber sie kam ihm zuvor und sagte, ich heiße Marlene, komme aus Norwegen, und als sie Norwegen genannt hatte, fiel ihm ein alter Bekannter, nein, ein entfernter Verwandter ein, der einmal vor einiger Zeit etwas über Norwegen gesagt hatte, doch ausgerechnet in diesem Moment waren ihm Gedanken daran, über was er gesprochen hatte, höchst unangenehm, auch unangebracht, weswegen er sie mit einem kurzen Kopfschütteln aufforderte, zu verschwinden, was sie auch unumwunden taten, lauerten aber, das ahnte er, irgendwo hinter einer Ecke seines Gedächtnisses, bereit, jederzeit hervorzustürzen. Sie schielte skeptisch mit einem Auge in die Schraubverschlussöffnung des Kartons, setzte den Karton an den Mund und trank einen Schluck. Er sah ihr an, dass sie ähnliche Mühe hatte, den ersten Schluck behalten zu können, wie sie einen schnellen Moment lang Anzeichen von Würgereiz im Gesicht zeigte, diesen schließlich überwand und, wie er, mit einem folgenden Schluck niederkämpfte. Sie beide mussten nach dieser Nacht und dieser morgendlichen Prozedur aus dem Munde stinken wie ein Gülleloch, doch sie hatten nicht die Absicht, einander oder jemand anderen zu küssen, und dann fiel ihm ein, dass er in seinem Rucksack eine Tube Zahnpasta dabei hatte, die er unverzüglich hervorkramte, sich eine Fingerlänge über die Zähne schmierte, um die Tube dann an Marlene weiterzureichen, die jedoch den Kopf schüttelte und erklärte, dass sie eigene Zahnpasta habe. Die Zahnpasta hinderte beide allerdings nicht daran, ständig an dem Weinkarton zu nippen, kleine Schlucke nun, aber beständig, um die Motoren quasi auf Betriebstemperatur zu halten. Zeit, um die Menge und die Verbrennung herunterzufahren, würde noch reichlich auf sie zukommen.

Er heiße Teddor, stellte er sich vor, Teddor von Theodor, aus Deutschland, fummelte an seiner Jacke herum und brachte eine blaue Packung Gitanes Filter zum Vorschein, prüfte die Menge an vorhandenen Glimmstängeln und entschied, dass er für Marlene ruhig eine entbehren könnte, die sie nicht ablehnte, doch müsste spätestens heute für Nachschub gesorgt werden. Wo waren sie hier überhaupt? In der Morgenluft lag ein starker Duft nach Meer. Er war vorher erst einmal am Meer, an der See gewesen, auf Kreta, mit der InterRail-Karte, von Deutschland über Österreich und dem West-Balkan nach Griechenland, Athen, und mit der Fähre übergesetzt nach Heraklion, per Anhalter weiter nach Chersonisos an der Nordküste Kretas. Die meisten der anderen Tramper und InterRailer, die er auf der Fähre getroffen hatte, wollten unbedingt nach Matala an der Südküste, dem angesagten Hippietreff auf der Insel, doch ihm war nicht nach Gesellschaft gewesen und er blieb lieber allein auf seiner Tour.

Wenn du das Meer sehen willst, brauchst du nur auf die Düne zu klettern, sagte Marlene und deutete mit dem Zeigefinger über seine Schulter. Konnte sie Gedanken lesen? Eine oberflächliche Einschätzung der Düne hinter sich ließ sein Interesse am Meerblick für den Moment jedoch rasch erheblich kleiner werden, viel zu hoch und viel zu steil für die augenblickliche Fitness, und viel zu viel Sand, der bestimmt mit dem ungünstigen Rutschfaktor vier zu eins ausgestattet, also vier Schritte aufwärts um effektiv einen vorwärtszukommen, nicht gerade wie eine Einladung aussah, was er dankbar registrierte und für ihn einen berechtigten Grund zum Untenbleiben darstellte. Was sich dann wohl auf der anderen Seite befinden mochte? Auf der anderen Seite, Marlene schien sich bestens auszukennen, verläuft eine Straße, der Küste entlang, von Ost nach West, oder umgekehrt, und die nächste Ortschaft heißt Palavas-les-Flots, wohin, erwähnte sie, sie sowieso hinwollte. Das trifft sich, meinte er, dass er nämlich gestern Abend das gleiche Ziel gehabt hatte, erzählt er dann, bevor ihn die vier Leute aufgrund seines ausgestreckten Daumens in ihrem uralten R4 auf der Straße zwischen Montpellier und diesem Palavas-les-Flots aufgegabelt und nach hier in die Dünen mitgenommen hätten, einfach so. Wildfremd, verstehst du?

Sie lächelte nachsichtig, mochte mit wildfremd und einfach so vielleicht schon reichlichere Erfahrungen gesammelt haben als er, und er ahnte in dem Moment einen Zipfel von der ganzen Tischdecke, dass es gewiss ein Unterschied war, ob man seine Nase wie ein Greenhorn in die sogenannte alternative Lebensweise steckte, oder ob man sie mehr oder weniger mit dem Löffel gefressen oder mit der Muttermilch getrunken und verinnerlicht hatte. Er kannte die Szene, die sich um das von allen bürgerlichen Konventionen befreite Leben drehte, zugegebenermaßen nur vom Hörensagen, denn er sah sich in vielen Dingen massivst gehandicapt, dass er oft nicht mal sicher war, ob ihm ein normaler Gang durch wechselseitiges Bewegen der Beine, mal links nach vorne, dann rechts nach vorne, ohne Aufsehen zu erregen gelingen würde, oder ob es nicht überhaupt besser sei, liegen, sitzen oder stehen zu bleiben. Tatsächlich fühlte er sich, in allem was er tat, ständig beobachtet und, typisch für ihn, natürlich negativ bewertet. Dagegen war ihm die pure Lebensfreude, wie er sie zum Beispiel gestern Abend bei Marlene, aber auch bei allen anderen gesehen hatte, ein unerreichbar fernes Ziel, was ihm sein ganz persönlicher Neid stets und immer wieder wie eine Gebetsmühle einflüsterte. Politisch war er dermaßen desinteressiert, dass der Name Mao Tsetung genauso gut für ein chemisches Produkt von BASF oder Bayer zur Bekämpfung von Stechmücken stehen könnte, oder Ho Tschi Minh ein Synonym oder Markenname für Schwarztee aus Fernost wäre. Ein Wunder, dass er es trotz all seiner empfundenen Widrigkeiten bis hierher geschafft hatte.

Sie stapften mit den Rucksäcken, dem Weinkanister und Marlenes Gitarre durch den Sand zur Straße, brauchten nicht lange zu warten, was freilich dem aparten Erscheinungsbild Marlenes zuzuschreiben war, bis sie von einem Citroen-Well-blech-Kastenwagen, der im Grunde zu einer ausgestorbenen Spezies gehörte, am Straßenrand aufgelesen und nach kaum drei Kilometern Fahrt in Palavas-les-Flots im Zentrum am Quai Paul Cunq neben dem Canal de Palavas, dem Le Lez, abgesetzt wurden. Es war Ende Juni.

Marlenes Weg aus Norwegen hatte sie über Deutschland und Österreich erst nach Venedig geführt, wobei sie das Glück hatte, ab Dänemark von einem freundlichen Trucker im Fernlaster bis nach Mailand kutschiert zu werden. Nach Venedig hatte sie Florenz und Siena besucht, um von dort aus die Küste entlang nach La Ciotat in Frankreich zu trampen, wo sie zwei Wochen lang bei einer Brieffreundin wohnen konnte, deren Freund in der Sommerzeit allabendlich im benachbarten Cassis eine Hauskatzendressur vor den Touristen im Hafen vorführte. Über Avignon und Montpellier war sie gestern hier gelandet, wo sie praktisch durch Zufall auf die gleiche Weise wie Teddor zu der Dünenparty eingeladen worden war. Sie plante, über Sète weiter der französischen Mittelmeerküste zu folgen, bei Port Bou nach Spanien zu wechseln, Barcelona zu sehen, Valencia, Alicante, Malaga mitzunehmen und in Sevilla einen längeren Aufenthalt bei einer weiteren Brieffreundin einzulegen, bevor sie sich Richtung Portugal wenden wollte um in Lissabon ein vorläufiges Endziel zu erreichen. Wie es dann weitergehen würde, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, sie hatte definitiv keine ferneren Vorstellungen, Zeit würde keine Rolle spielen, da sie weder zu Hause in Norwegen noch sonst wo Bindungen oder Verpflichtungen irgendeiner Art hatte. Vielleicht ergab sich von Portugal aus die Möglichkeit, irgendwie mit einem Schiff zu den Kanarischen Inseln zu gelangen, aber das würde sie dann entscheiden, oder eben auch nicht, wenn die Frage in Betracht zu ziehen sein würde. Die Kanaren kamen deswegen in ihren weiteren Überlegungen vor, weil eine von Mutters drei Schwestern auf Fuerteventura verheiratet war, wenigstens war sie es noch, als sie vor einigen Wochen von zu Hause losgezogen war, aber man weiß ja nie.

Keine Bindungen zu Hause in Norwegen, genauer gesagt in Bergen, bedeutete indes nicht, dass sie völlig allein auf der Welt stand, keineswegs, denn neben Vater und Mutter lebten dort noch eine ältere Schwester, die ihrerseits schon verheiratet war, und ihr jüngerer Bruder, der noch zur Schule ging, doch sie hatte keine Beziehung, weder zu einem festen Freund noch zu einer Freundin. Sie selbst hatte vor einem Jahr das Abitur als Klassenbeste bestanden und hatte den Schlüssel für ein Studium ihrer Wahl praktisch in der Tasche, was sie in die komfortable Lage versetzte, die Rosinen aus dem Kuchen zu picken, der ihr am besten schmeckte. Diese bequeme Situation der völlig druckfreien Perspektive, was die Auswahl möglicher Studienfächer betraf, und ihre ausgeprägte Lust auf Reisen hatten ihr im Sommer nach dem Abitur die Freiheit ermöglicht, unterstützt von den Eltern, durch alle skandinavischen Länder zu trampen. Den norwegischen Winter mit dem typischen Schmuddelwetter Bergens hatte sie hauptsächlich lesend im Hause der Eltern abgesessen, bevor sie, animiert von den ersten Frühlingstemperaturen, Mutter und Vater ihre Pläne für eine ausgedehnte Europatour unterbreitete. Gewohnt, von ihren finanziell unabhängigen und liberal eingestellten Eltern jegliche Unterstützung zu erhalten, Vater steuerte, „für alle Notfälle“ wie er sagte, sogar eine Kreditkarte bei, war sie zu Beginn des Mai in Bergen gestartet und bis heute hatte sie nicht einen Tag bereut oder war von Heimweh geplagt. Sie meldete sich regelmäßig zu Hause, ließ sich mehr oder minder auch jeweils das Okay für ihre Pläne geben, war gesund, konnte ganz gut auf sich aufpassen und war clever genug, vage Situationen richtig einzuschätzen, nicht kopflos zu handeln, und falls nötig, selbstbewusst und bestimmt aufzutreten.

Teddor zuckte auf Marlenes Frage, welche Pläne er habe, bloß mit den Schultern, was er als Antwort für ausreichend betrachtete, ging damit jedoch weiterreichenden Fragen und Erklärungen aus dem Weg, die er allesamt als unangenehm empfunden hätte, gar als lästig, unnötig auch, denn er wollte auf keinen Fall zugeben, dass er es eigentlich gar nicht wusste, dass er keine Pläne hatte, weder für heute oder morgen oder irgendwann. Eben solche oder ähnliche Fragen waren es, vor denen er davongelaufen war und noch immer davonlief, weil er sie nicht beantworten konnte und weil er einfach nicht konkret sagen konnte, was er denn eigentlich wollte, welche Ansichten er vertrat oder welche Position er einnahm, wer er im Grunde als wahrgenommener Mensch war. Verunsichert war er, soweit er zurückdenken konnte, seit er überhaupt denken konnte, wenn er denn ausnahmsweise mal in eine Situation oder Lage geraten war, in der er meinte, unbeobachteter Weise selbstständig denken zu können, was selten genug vorkam. Nein, Fragen aller Art ging er so gut es ging aus dem Weg, denn bevormundet worden, zu tun was andere wollten, oder als eigenes Denken zu übernehmen, was andere dachten er müsse so denken, war er und musste er genug, hatte er zu lange getan, und war dabei nichts weiter geworden als eine willige Marionette, fremdbestimmt und fremdgesteuert, ohne eigenes Ich. Erpressbar war er geworden und dadurch ausgenutzt, seine Sanftheit im Rausch der Macht und Gewalt erschlagen und hingerichtet, ein kranker Typ ohne Struktur und Rückgrat, unfähig, richtig oder falsch voneinander zu unterscheiden, ein Fremdkörper unter Gleichen, nie wie die anderen, einsam alle Zeit.

Sie hatte eingekauft, war schwer bepackt am Strand angekommen, vom Boulevard Sarrail her, beide Hände voll, ein Kanister Rotwein und Kartoffelchips, süße Madeleines und eine Stange Zigaretten, Gitanes, er hatte ihr Geld für den Einkauf gegeben. Dann hatte sie ihn nach seinen Plänen gefragt.

„Du redest nicht viel“, hatte sie gemeint, und seine Reaktion war wieder ein Schulterzucken gewesen. „Bist du geheimnisvoll oder tust du nur so?“

Vielleicht beides, dachte er, aber er lächelte nur vor sich hin, geheimnisvoll, wenn sie es so interpretieren wollte, antwortete nicht, und ihm schien, als würden sich hinter der Frage schon erste Anzeichen von Unmut verbergen, in ihm nicht den eloquenten Gesprächspartner gefunden zu haben, den sie gerne zur Unterhaltung gehabt hätte und nicht bekam, nicht in ihm entdeckte, und er wusste aus hunderten von anderen Begegnungen, dass der nächste Schritt derjenige in die Langeweile war, die man immer um ihn herum verspürte, früher oder später, die er um sich verstreute wie ein Sämann den Samen. In diesem Punkt, der vermuteten Langeweile, irrte er allerdings, so wie er die erwähnten hunderte von Begegnungen vorher fälschlicherweise bereits angenommen hatte, dass es sich um diese handele, denn das, was er als Langeweile auserkoren hatte zu sein, war nichts anderes als graue, lichtlose Trostlosigkeit, die jedweden Funken von Esprit, jeden Hauch von Lebensfreude, jedes zarte Gewächs einer Hoffnung verschlang und fraß wie ein Schwarzes Loch, verbrannte, wüste Erde war. Wenigstens, hielt er ihr zugute, hat sie mich wahrgenommen, und das wollte schon was bedeuten, war ihm doch viel zu oft widerfahren, dass er nicht einmal jemandem aufgefallen war, unsichtbar war. Doch wichtig war ihm das alles nicht mehr. Von den Geheimnissen, die ihn tatsächlich umgaben, durfte und würde er ihr absolut nichts erzählen, denn wer konnte schon wissen, wessen Geistes Kind jemand war, der nicht unbedingt der gleichen Meinung war wie er und meinte, dass derartige Geheimnisse nun wirklich keine Privatsache waren und öffentlich gemacht werden sollten.

„Hast du zufällig ein Boot?“

„Ob ich ein Boot besitze?“, fragte sie zurück. „Mein Vater in Norwegen hat ein Boot.“

„Nein, ich meine hier. Ob du hier ein Boot hast?“

„Nein, wieso?“

„Ach, vergiss es“, winkte er mit der Hand ab. „Blöde Frage.“

Ja, blöde Frage. Darin war er Meister, blöde Fragen zu stellen, die für niemanden je einen Sinn ergaben oder einen Zusammenhang zu irgendeinem Thema bildeten, das vielleicht gerade aktuell anstand, aufgegriffen und erklärt oder besprochen zu werden; und nachher mit einem geistesabwesenden Gesichtsausdruck, einem vernebelten, verschleierten Blick in eine trübe, milchglasige Zukunft zu glotzen wie ein besoffener Philosoph, dümmlich dabei zu grinsen und zu meinen, andere Menschen müssten hinter solcher Art, hinter solchem Schauspiel eine tiefere Bedeutung vermuten, deren Zugang ihnen deswegen verborgen bleiben sollte, weil sie den geheimnisumwitterten Wegen des Meisters mangels Klugheit nicht folgen konnten. Dabei fischte er, nicht gerade dumm, aber deftig unsortiert, ziemlich seicht in den trüben Gewässern einer angelesenen Bildung herum, die ihm zwar von allem ein wenig, und von nichts wirklich alles vermittelte.

Sie lagen, jeder auf dem eigenen Schlafsack, nebeneinander am Strand, der grellen Sonne ausgesetzt, die fast senkrecht über ihren Köpfen stand, und knabberten wachsweiche Kartoffelchips und klebrige Madeleines und süffelten von dem pelzigen, schweren, lauwarmen Wein aus dem Kanister. Marlene hatte ungeniert ihre Tunika und die Hose ausgezogen, tankte Sonne nur mit Slip und Büstenhalter bekleidet, und verbarg ihre Augen hinter einer runden Sonnenbrille mit Nickelgestell. Teddor tat wieder einmal, als würde ihn der Anblick der schönen Frau nicht die Bohne interessieren und sah doch aus wie die lächerliche Figur, die krampfhaft versucht zu verbergen so auszusehen wie einer, der eine andere Person förmlich mit den Blicken entkleidet, und der gerade deswegen so aussieht wie einer, der eine andere Person mit den Blicken auszieht.

Definitiv war es ihm zu heiß. Er schwitzte wie Sau und der Wein schleppte ihn allmählich in Regionen, in denen es keinen Widerstand mehr geben würde. Die Zigaretten schmeckten ihm nicht, flutschten ihm nicht wie üblich die Kehle hinunter, als würde er fettige Wurstschnitten inhalieren, sondern brannten trocken im Mundraum und am Gaumen wie ein mit einem Bunsenbrenner entfachter Steppenbrand. Schweiß rann ihm aus den wie ein Schwamm vollgesogenen Augenbrauen in die Augen, unaufhaltsam, nicht zu stoppen, als säße hinter der Stirn eine nie versiegende Quelle, deren Betreiber gerade in Urlaub war und vergessen hatte, die Ventile zu schließen.

Unvermittelt stand er auf, schwankte unbeholfen im tiefen Sand, murmelte etwas von Hitze und Abkühlung in deutscher Sprache, das Marlene nicht verstand, und taumelte, jetzt mehr betrunken als es in liegendem Zustand der Fall gewesen war, ins flache Wasser, wo er sich der Länge nach einfach fallen ließ und den Schock des Temperaturunterschieds die ersten Momente, eine gefühlte Ewigkeit, regungs- und atemlos verdauen musste. Es kam erst wieder Leben in ihn, als er eine resolute Hand auf seiner Schulter spürte, die kräftig an ihm rüttelte und er sich schwerfällig auf den Rücken wälzen konnte. Eine neue Welle spülte über ihn hinweg, und durch den Wasserschleier auf seinem Gesicht erkannte er Marlene, die gebeugt über ihm stand, deren Mund sich bewegte, als würde sie sprechen, er jedoch keine Silbe verstand, denn es dröhnte, rauschte und blubberte in seinen Ohren. Dann schaffte er es, sich auf die Ellenbogen zu stützen.

Wieder sah er Marlenes Lippen sich bewegen: „ …les in Ordnung mit dir?“

Teddor hustete, autsch, der Hals schmerzte, als würde er zerreißen, schüttelte den Kopf und das Wasser aus den Haaren: „Hitze“, vermochte er zu krächzen, „viel zu heiß für mich.“

Marlene half ihm auf die Beine, kurz wurde ihm schwarz vor Augen, dass er Halt an ihr suchen musste, um nicht zu stürzen, stand dann selbstständig und fühlte sich augenblicklich besser, wie in der ersten Sekunde an einem frischen, nüchternen Morgen, bevor die Realität und die Aussichten auf den kommenden Tag den jungfräulich reinen Morgen verdarben. Warum konnte es nicht nur erste Sekunden eines Morgens geben, da die zweite Sekunde bereits die Tendenz zum Müll in sich trug?

Sie räumten Schlafsäcke, Rucksäcke, Chipstüte, Weinkanister und Gitarre zusammen und trollten sich Richtung Canal de Palavas davon, überquerten ihn und ließen sich im Gebäudeschatten am Quai Georges Clemenceau nieder, da die Sonne ihren Lauf nach Westen fortsetzte. Gegen siebzehn Uhr an diesem Freitag gab Teddor ihr wieder etwas Geld, und sie schlenderte an den Geschäften der Westseite des Kanals entlang, um etwas zu essen aufzutreiben, denn allein von Chips und Madeleines würden sie nicht satt werden. Gerade als Marlene mit einem Baguette, mit Käse und zwei Paar gegrillten Merquez zurückkam, fiel ihm das Boot in der Nähe ihres Sitzplatzes an der Kaimauer auf.

Kapitel 2

Das Boot, ein Segelboot, weiß mit blauem Streifen, war das einzige, auf dem Betrieb herrschte, wenn man die Anwesenheit eines Menschen, der untätig in einem Boot saß, als Betrieb bezeichnen wollte. Zwischen acht und zehn Meter lang, lag es in ungefähr sechs Meter Entfernung am Quai Georges Clemenceau, die Segel eingerollt, festgezurrt; mehrere Taschen, vielleicht zehn, Reisetaschen, Sporttaschen, standen in Reih und Glied an Deck, allem Anschein nach proppenvoll gepackt. Was brauchen eine oder zwei Personen so viele Taschen?, fragte er sich, mehr Leute haben auf dem Boot kaum Platz. Der Kerl, der im offenen Cockpit des Seglers lümmelte und zu warten schien, rauchend, dunkle Sonnenbrille und braungebrannt, Goldkette um den Hals, Schnauzbart, ärmelloses Shirt, Bodybuilderfigur, kurze schwarze Haare, ließ die Taschen nicht aus den Augen. Teddor hatte die Ankunft des Bootes nicht bemerkt, konnte nur sagen, dass vor einer halben Stunde der Platz am Quai noch nicht belegt gewesen war.

Als ein weißer Kombi an der Straße am Bordstein hielt und die Hecktüren geöffnet wurden, bewegte sich der Typ vom Boot, schaute demonstrativ auf eine teuer aussehende Uhr am Handgelenk und rüffelte den Kombifahrer an, so wie das aussah, aber der Kombifahrer, vom Aussehen her entweder Zwillingsbruder, zumindest aber eng verwandt mit dem anderen, meckerte wohl zurück, und gemeinsam begannen sie die Taschen vom Boot über den Quai zum Transporter zu tragen und darin zu verstauen, was man mit etwas gutem Willen vielleicht als Arbeit betiteln konnte, aber Teddor war überzeugt, dass die beiden Kerle noch nie einen Finger für redliche Arbeit gekrümmt hatten. Sie sahen nach viel Geld aus, so wie Leute eben aussehen, die dem Tag die Zeit stehlen, auch wenn sie sogenannte Geschäfte tätigen, von der Art wie Prostitution, Drogenhandel und Schmuggel in diversen Kreisen als Geschäfte bezeichnet wurden. Danach schleppten sie einige handelsübliche Kanister mit Trinkwasser vom Kombi auf das Boot und gleich den schmalen Niedergang hinunter, gefolgt von vier Klappcontainern aus Kunststoff, gefüllt mit Lebensmitteln, und einige Flaschenbehälter mit Wein, Wodka, wie Teddor beobachten konnte, doch die Flaschenbehälter wurden leer wieder zurückgebracht. Man bereitete das Boot wohl auf einen längeren nächsten Turn vor, so wie es beladen wurde.

Der Mann mit dem Kombi verabschiedete sich nach dem Ladegeschäft, rief noch ‚also dann bis morgen‘ und fuhr davon, während der mit der Goldkette das Segelboot abschloss, die Festmacher beziehungsweise die Taue kontrollierte und dann zu Fuß wegging, schlendernd, rauchend, in kurzen Hosen und Sandaletten.

Jetzt war Freitagabend, nach achtzehn Uhr, die Promenade am Quai füllte sich zunehmend mit Leuten, entweder auf der Suche nach einem Restaurant oder nur, um zu flanieren und um zu sehen und gesehen zu werden. Straßenmusikanten tauchten vor den Cafés und Restaurants mit Allmendbestuhlung auf, brachten überwiegend französische Chansons zu Gehör, sammelten ihren Obolus ein und zogen eine Station weiter.

„Hast du nicht auch Lust, mit deiner Gitarre Geld zu verdienen?“, fragte er Marlene.

„Nein“, erklärte sie, „das ist eine andere Art von Musik, die mir zwar gefällt, aber die ich nicht bieten kann. Zudem ist das Angebot schon ziemlich überstrapaziert, wie du siehst. Die Musikanten treten sich förmlich auf die Füße, und das Publikum ist sichtlich genervt von der ständigen Belagerung.“

„Aber wenn du nun darauf angewiesen wärst?“, hakte er nach, aber sie fuhr ihm beinahe barsch über den Mund: „Bin ich aber nicht“, sagte sie, und weiter, „es gibt einen Bus von hier nach Montpellier. Den werde ich nehmen und mir heute Abend dort in der Jugendherberge ein Bett suchen. Ich muss mal wieder richtig schlafen, ausschlafen, in einem richtigen Bett, und vor allen Dingen brauch ich eine Dusche. Kommst du mit oder was hast du vor?“

„Äääh …“

Immer, wenn er es mit Leuten zu tun hatte, die in der Lage waren, konkrete Pläne zu bilden und zu äußern, denen man ansah, dass sie wussten, was sie wollten, bekam er Schwierigkeiten damit, eigene Einstellungen oder Vorstellungen zu finden. In der Regel reichte ihm die zur Verfügung stehende Zeit nicht aus, in seinem zusammengewürfelten Fundus aus Ideen und Wünschen rasch die passende Antwort auszugraben, in welcher der Gesprächspartner eine Erwiderung erwartete. Es gab in seinem Inneren keine festen Anlagen oder Gefüge, auf die er sich verlassen und zurückgreifen konnte, keine Charakteristika, die eine Basis für das Seelenleben hätten bilden können, außer natürlich der, dass er gerade dies alles nicht besaß. Seine Psyche war blind, taubstumm, gehbehindert und hing an Gummifäden mit angeklebten Windfahnen. Mit Fragen, die er nicht einfach nur mit Kopfnicken oder Kopfschütteln beantworten konnte, sondern so etwas wie eine Entscheidung von ihm verlangten, konnte er nicht umgehen, sodass er meistens die Antwort wählte, die ihm am meisten widerstrebte, die ihn mehr oder weniger zum Märtyrer himself machte. Irgendwie schien er das Leiden geradezu zu lieben, tat jedenfalls nichts dafür, es zu ändern, machte im Gegenteil daraus einen Kult, eine Passion, und war, um es gar zu einer Wissenschaft zu erheben, darin nach wie vor ein Dilettant.

Natürlich würde er gern mit Marlene nach Montpellier fahren, konnte jedoch unmöglich vor ihr zugeben, dass er das wollte. Er wollte cool wirken, wollte auf die Rolle Einsamer Wolf setzen, wollte geheimnisvoll sein und bleiben, ach Scheiße, wollte sie nicht langweilen, denn davon war er überzeugt, er täte das und glaubte zudem, dass ihre Frage, so wie sie gestellt war, aus purer Freundlichkeit und des Anstands halber gestellt wurde und sie insgeheim Marlenes Hoffnung zum Ausdruck brächte Hoffentlich will er nicht mit! Mein Gott, war er verkorkst und kompliziert. Also sagte er lieber:

„… nein, ich bleibe hier, schau mir das Leben hier und die Boote noch etwas an und schlafe heute Nacht am Strand.“

„Na denn“, gab Marlene zurück, „dann wünsch´ ich dir mal einen netten Abend. Vielleicht sehen wir uns morgen ja noch mal.“ Packte den Rucksack und die Gitarre, ließ ihn zurück mit all dem Wein und seiner traurigen Persönlichkeit. Er dachte, wenn sie vielleicht sehen wir uns morgen noch mal gesagt hat, dann hat sie gemeint, dass sie mich besser nie wieder sehen möchte, und sie wird heilfroh sein, dass sie mich los ist.

Er blieb in der Nähe des Bootes sitzen, er hatte Brot und Käse, Zigaretten und Wein, streckte die Beine aus, lehnte sich an einen Laternenpfahl und genoss das bunte Treiben diesseits und jenseits des Le Lez, des Canal de Palavas. Keinem fiel er auf, keinem fiel er zur Last, er wurde so gut wie nicht beachtet, denn er war niemandem im Weg, und er verschmolz mit dem Straßenleben als wäre er Teil eines Gemäldes, an dessen Rand er als Füllsel, als Beigabe, als Randfigur erschien, während alle Welt das große Sujet bestaunte. So gesehen könnte er genauso gut ein Hund, eine Katze, eine Schubkarre oder ein Auto sein, er wäre ein Nichts, ein Niemand, und im Grunde war das genau die Rolle, die er seit Jahren spielte, die Figur, die ihm auf den Leib geschrieben wurde und die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Er war Teddor. Teddor, von Theodor.

Wenn ihm ab und zu das Sitzfleisch einschlief, stand er auf und stellte sich an die Kaimauer bei dem Segelboot und musterte es verstohlen und unauffällig, legte sich bald auf eine Länge von nunmehr acht Meter fünfzig fest. Vorne am Bug prangte der Name des Bootes. Salope, stand da in schwarzer Schrift. Salope, auf Deutsch Schlampe. Na, wem´s gefällt. Die Bauweise war aus Kunststoff mit einem Mast aus Aluminium, der maximal zwei Segel tragen konnte, ein Vorsegel und ein Hauptsegel. Der kleine Aufbau ließ eine Kajüte für Steuer und Küche vermuten, sowie eine größere Schlafkabine am Bug und höchstens ein Notbett unter dem Cockpit, also eine kleine Ausführung eines Segelbootes. Vom Cockpit aus wurde die Ruderpinne bedient. Die Tür des Niedergangs, sah er, war mit einer Glasscheibe versehen und das Segelboot war lediglich mit Tauen an Ringen an der Kaimauer festgemacht, keine Kette, kein Schloss, welch ein Leichtsinn. Er ging davon aus, dass sich vor dem morgigen Samstag niemand mehr um das Boot kümmern würde, sofern er die beiden Männer, die er am frühen Abend am Boot gesehen hatte, richtig verstanden hatte. Morgen würden sie wieder hier sein, und er nahm sich vor, dass er dann ebenfalls zugegen sein würde.

Mit diesem Entschluss schnappte sich Teddor sein Gepäck sowie die Tüte mit Essen und den Wein, überquerte wieder den Canal und begab sich an den Strand, um dort die Nacht zu verbringen.

Samstag, 29. Juni 2013

Die Sonne war schon vor einigen Stunden aufgegangen, als er am Samstagmorgen erwachte. Am gestrigen Abend hatte er sich, sitzend an die Mauer gelehnt, die den Strand von dem Boulevard Sarrail trennte, unterstützt von dem dicken Kanisterwein, in einer seltsam wohligen Stimmung befunden, die von einem Glücksgefühl nicht weit entfernt war, was natürlich eine trügerische Angelegenheit war und gleichsam eine gefährliche Strömung bedeutete, von der er sich hatte treiben lassen. Es war die Situation des verführerischen Augenblicks, von dem man sich erhoffte, dass er sich endlos wiederholte wie eine Vinyl-Schallplatte mit einem Sprung, deren Genuss jedoch nur der aktuellen Sekunde, vielleicht auch einer Stunde geschuldet war, die man nicht beliebig mit sich transportieren konnte. Die Illusion, man sei am Ziel all seiner Träume und Wünsche angekommen, barg genau die Gefahr, diese Illusion selbstständig und beliebig oft wiederholen zu wollen, wobei man in der Regel vergaß, dass sich äußere Umstände naturgemäß nicht ständig wiederholen ließen, beziehungsweise man überhaupt keinen Einfluss auf sie ausüben konnte. Wind, Wetter und Temperatur waren Größen, denen man zwar nachlaufen oder nachreisen, die man aber nicht beugen konnte. Deswegen waren schöne einsame Stunden an einem sommerlichen Strand mit reichlich Meer und süßem Wein, einer Zigarette und trägem Kopf lediglich Momentaufnahmen, die man nicht überbewerten sollte. Gesellte sich nämlich eine mentale Erschöpfung, gepaart mit einer gewissen naiven Romantik dazu und ließ sich vorgaukeln, dieses wäre nun ein verdientes Glück, dann befand man sich auf einem dünnen Seil und ehe man sich versah stellte man fest, dass man keine Balance mehr hatte.

Trotzdem war er irgendwie glücklich eingeschlafen, die Uhrzeit wusste er nicht, irgendwann muss es gewesen sein, als die Lichter der Stadt bereits erloschen waren, den wertvollen Rucksack wie ein Kuscheltier in seinen Armen. Gestört wurde er mitten in der Nacht zur Wolfsstunde, als er aufschreckte, weil jemand oder etwas auf ihm herumtrampelte, er gegen den dunklen Nachthimmel die Umrisse eines massigen Hundeschädels über seinem Gesicht erkannte und blindlings mit der Faust reflexartig auf diesen Schädel schlug, der seinerseits vor Schreck aufheulte und schleunigst das Weite suchte. Eine Minute später aber schlief er schon wieder, betäubt, haltlos, bindungslos, kraftlos.

Dumpf glotzte er, die Augen ungeschützt, in die Sonne, erkannte, dass sie ein pulsierendes Schwarzes Loch sein musste, vielleicht ein Schwarzes Loch mit Fehlzündungen, der Auspuff eines außerirdischen Motors von Aliens, die die Erde vergasten, warum nicht, eine Vorstellung, die ihn zum Grinsen veranlasste, eine für ihn höchst seltene Aktivierung der Gesichtsmuskeln, beinahe schmerzhaft. Die erste Zigarette an diesem Samstagmorgen wollte nicht schmecken, er fühlte sich gehetzt, weil er dringend eine Toilette brauchte und er sich bewusst wurde, dass er in seinem Zustand, für den er den nächtlichen Rausch