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Um ihre Vergangenheit und ihre Probleme hinter sich zu lassen, zieht Nele vom Land in die große laute Stadt. Endlich eine tolle Wohnung gefunden, muss sie ihre neue Bleibe mit ihrer Mitbewohnerin Maya teilen. Wer ist eigentlich Maya? Beide arbeiten zu verschiedenen Tageszeiten und bekommen sich gar nicht zu Gesicht. Nele lebt mit einer Wildfremden zusammen. Um ihre Mitbewohnerin kennenzulernen, hinterlässt Nele auf einer alten Tafel Nachrichten. SMS auf altmodische Art. Irgendwie kommen sich beide dadurch näher. In der neuen Wohnung erlebt Nele ein noch nie dagewesenes Gefühlschaos. Maya ist nämlich homosexuell und das kennt Nele nur aus dem Fernsehen.
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Inhaltsverzeichnis
Nele
Nele
Maya
Nele
Maya
Nele
Maya
Nele
Maya
Maya
Jolene Walker
Blau Rosa
Roman
Überarbeitete Ausgabe
Dezember 2015
Impressum
Copyright: © 2015 Jolene Walker
c/o AutorenServices.de
König-Konrad-Str. 22
36039 Fulda
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Lektorat: Rohlmann & Engels
Cover unter Lizenzierung eines Motives von Maridav aus Shutterstock.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
»Komm rein in die gute Stube.« Svenja steckt den Schlüssel ins Schloss und schließt mir die weiß lackierte Tür zur Altbauwohnung auf. Als das Licht eingeschaltet wird, eröffnet sich mir ein langer, breiter Flur. Sofort wird mein Blick von dem wundervollen Stuck hoch oben an der Decke angezogen. Die hellen Dielen knatschen unter unseren Füßen. Mein Herz macht einen kleinen Satz. Mehr muss ich nicht sehen. Hier will ich wohnen! Seit Wochen suche ich händeringend nach einer neuen Bleibe. Das hier könnte sie werden.
Svenja schließt die Tür hinter uns. Sie wirft den Schlüsselbund von einer Hand in die andere. »Na los, schau dich um«, fordert sie mich auf. Kurz streicht sie ihr blondiertes, schulterlanges Haar hinters Ohr und schmunzelt. Ich mag Svenjas Lächeln. Mit ihren hellen Haaren und der angenehmen Bräune erinnert sie mich an den Sommer. Jetzt zum Herbst hin haben wir zwar noch Sonne, aber nur für einige Stunden. Es ist gerade mal 19 Uhr und draußen brennen bereits die Laternen.
»Das rechte Zimmer wäre deins. Das linke gehört Maya.« Die Zimmertüren liegen sich gegenüber und sind keine zwei Meter voneinander entfernt. Die von Maya ist verschlossen.
Etwas scheu betrete ich das Zimmer, das künftig hoffentlich meins sein wird. Der Raum ist nicht gerade groß, dafür bereits möbliert: ein Doppelbett mit Matratze, zwei Nachttische, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Kleiderschrank mit Spiegel. Was brauche ich mehr?
Heute in der Mittagspause habe ich Svenja vorgeheult, dass mich das Pendeln tierisch nervt. Ich habe ihr erzählt, dass ich in Bremen eine nette Wohnung suche, und sie gebeten, mir bei der Suche zu helfen.
Svenja ist meine neue Arbeitskollegin. Wir arbeiten beide als Werbedesignerin in derselben Abteilung. Sie damit zu belasten, war mir zunächst unangenehm, aber selber habe ich einfach keine passende Wohnung in der Umgebung gefunden. Da kam mir der Gedanke, dass sie als Urbremerin sicher mehr Ahnung hat.
Kurz vor Feierabend meinte Svenja schließlich, eine ihrer Freundinnen würde schon länger nach einem Mitbewohner suchen.
Bis jetzt habe ich bei meinen Eltern gelebt. Mit jemand Fremdes zusammenzuziehen, ist für mich gewöhnungsbedürftig. Andererseits sind wir beide Frauen, ich brauche mir also keine allzu großen Sorgen machen, dass es unangenehm werden könnte.
Das Bad liegt schräg gegenüber meinem Zimmer. Ich öffne die Tür und schaue hinein. Breite, neue Fliesen sind darin verlegt worden. Eine Dusche, eine Wanne und ein Fenster! Endlich eine Wohnung, in der das Badezimmer ein Fenster hat. Ich kann es nicht leiden, wenn es nur einen Abzugslüfter gibt. Egal, wie oft so ein Ding anspringt, das Bad müffelt trotzdem.
»Wie ist Maya denn so? Wär es echt in Ordnung, wenn ich sofort einziehe? Ich meine, will sie mich nicht erst kennenlernen?«, frage ich Svenja nachdenklich.
Am Ende des Flurs befindet sich der Raum, der als Wohnzimmer und Küche herhält. Die Wohnung ist wirklich geräumig für Bremer Verhältnisse und in Anbetracht der bezahlbaren Miete. Auf der linken Seite stehen ein breites Ledersofa und ein Fernseher. Auf dem Couchtisch liegen viele Magazine, fast wie im Wartezimmer einer Arztpraxis. In der Mitte des Raumes steht ein langer Esstisch für acht Personen. Aus echtem Holz, das gefällt mir besonders gut. Ob Maya viel Besuch bekommt? Auf der rechten Seite befindet sich die weiße Küche mit einer dunklen Arbeitsfläche. Sie ist durch eine Thekenzeile vom Ess- und Wohnbereich abgetrennt. Ein Traum, in solch einer modernen Wohnung zu leben!
Auf den Fensterbänken stehen vereinzelt ein paar Blumentöpfe, die schon bessere Tage gesehen haben. In Gedanken versunken lege ich meine Sachen auf einen der Barhocker, die an der Thekenzeile stehen, und betrete die Küche. Dort suche ich in den Schränken nach einem Glas, fülle es am Wasserhahn auf und gehe die Blumen ab, um sie zu gießen.
Die Wohnung wirkt nicht gerade gemütlich. Keine Familienfotos, keine persönlichen Gegenstände. Ohne die Möbel wäre alles kahl und leer. Ob Maya hier wirklich schon länger wohnt? Irgendwie kommt es mir gar nicht so vor, als würde eine Frau hier leben.
»Ich sehe, du fühlst dich wohl«, merkt Svenja an. Verlegen lächle ich. Ich falle wieder in meine alten Muster zurück. Für mich ist es ein Zwang, solche Dinge, wie Blumengießen, zu erledigen. Unterlasse ich es, schwirren die unverrichteten Sachen bis in die späte Nacht hinein in meinem Kopf umher und ich finde keine Ruhe.
Svenja setzt sich aufs Sofa und schlägt ihre schlanken Beine übereinander. »Mit dem Kennenlernen wird es schwer. Maya gehört eine Bar. Sie fängt mit der Arbeit an, wenn wir Feierabend haben, und arbeitet dann bis in den Morgen hinein.«
Bar? Wie alt sie wohl ist?
»Maya ist ein echt toller Mensch und eine wirklich gute Freundin. Trotzdem kann sie ein bisschen grantig werden.«
Okay, das hört sich gar nicht gut an. Ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass wir uns eh kaum sehen werden.
»Und? Was sagst du?« Kritisch mustert mich Svenja. Fast so, als würde sie kein Nein akzeptieren. Ich grinse und gehe zurück zur Küche. Dort stelle ich das leere Glas in die Spüle.
»Es ist wirklich eine schöne Wohnung«, gestehe ich. Noch einmal schaue ich mich um und spanne Svenja auf die Folter. »Wann kann ich einziehen?«, frage ich sie schließlich mit einem breiten Lächeln. Ich möchte zu ihr rüber gehen, um mich zu ihr zu setzen, da wirft mir Svenja ohne Vorwarnung den Schlüsselbund zu.
»Jederzeit. Du hast einen Schlüssel für die Wohnung, für den Briefkasten und den Keller.«
»Wie, jederzeit?«, entgegne ich ungläubig.
»Wenn du willst, zieh heute Abend noch ein.« Sie wirft kurz einen Blick auf ihr Smartphone. »Du, ich muss jetzt auch. Die Straßenbahn kommt gleich. Niklas wartet auf mich.« Svenja steht von ihrem Platz auf und winkt mir zum Abschied zu. Ich höre nur noch, wie die Tür zufällt. Die hatte es eilig. Svenja und Niklas haben sich letztes Wochenende bei einer Feier kennengelernt. Selbst im Büro schaut sie alle zehn Minuten auf ihr Handy und wartet auf eine Nachricht von ihm. Hals über Kopf hat sie sich in ihn verliebt.
Verliebt zu sein … ich vermisse es.
Kaum ist Svenja weg, kann ich endlich meinen Zwängen nachgeben. Ich laufe mit klackernden Absätzen alle Blumentöpfe ab und rupfe die gelben, verwelkten Blätter heraus. Dann entsorge ich den Abfall im Mülleimer. Erleichtert darüber, die Pflanzen versorgt zu haben, nehme ich meine Sachen und schalte das Licht aus, bevor ich die Wohnungstür abschließe.
Im Treppenhaus wird es auf einmal laut. »Maya?«, ruft eine tiefe Stimme von oben. Ich lehne mich ans Geländer und schaue hoch. Ein Kleinkind schreit. Ich versuche dagegen anzureden.
»Nein, ich bin Nele. Ich bin ihre neue Mitbewohnerin.« Ein Mann schaut zu mir hinunter. Er sieht südländisch aus. Vielleicht ein Italiener? Skeptisch mustert er mich und zieht seine Augenbrauen tief zusammen. Eingeschüchtert lächle ich ihm zu. Das hat mir noch gefehlt. Ein unfreundlicher Nachbar.
»Aha«, gibt er von sich und verschwindet dann einfach wieder. Wie unhöflich. Er hätte sich wenigstens vorstellen können. Missmutig steige ich die erste Stufe runter.
»Warte mal!«, ruft mir der Mann unerwartet hinterher. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Was kommt jetzt? Gekleidet in Joggingklamotten und einer Mütze auf dem Kopf, steht er, mit einem unzufriedenen Baby auf dem Arm, vor mir. »Hi, ich bin Tomas. Das hier ist mein Sohn Max. Wir wohnen direkt über euch. Maya hat mir nicht erzählt, dass sie eine Frau als Mitbewohner sucht.«
Was meint er damit?
»Deswegen … wunderte ich mich eben nur.« Nachdenklich legt er die Stirn in Falten. »Kannst du das bitte Maya geben?« Er reicht mir einen Umschlag. »Es ist derzeit schwer, sie zu erreichen und ich wollte ihn nur ungern in den Briefkasten werfen.«
Max fängt wieder an, laut zu quengeln. Ohne zu zögern, nehme ich Tomas den dicken Brief ab, damit er die Hand frei hat. Indem er ihn sanft hin und her schaukelt, versucht er den Kleinen zu beruhigen. »Er hat die Koliken. Du wirst die nächsten Nächte nicht gut schlafen.« Diesmal lächelt er verlegen. Schließlich verabschiedet er sich und geht die Treppen hoch zu seiner Wohnung. Anscheinend hält ihn sein Sohn mächtig auf Trab. Sein ungepflegter Bart und die tiefblauen Tränensäcke unter den Augen verraten ihn. So ein Kind will auch groß werden.
Ich schließe die Wohnungstür wieder auf. Irgendwie fühlt sich das richtig gut an, wie ein Stück mehr Unabhängigkeit. Erst als ich wieder in der Wohnung stehe, um den Brief abzulegen, bemerke ich einen angenehmen Duft, den ich vor Aufregung zuvor gar nicht bemerkt habe. Ist das der Geruch der Wohnung? Ich gehe einige Schritte den Flur entlang und schnuppere fast schon wie ein Hund nach einer Fährte. Tatsache, der Geruch kommt von der Wohnung. Bin ich froh, dass Maya keine Raucherin ist. Ich lege den Umschlag auf die Kommode im Flur und schnuppere erneut. Der Geruch ist hier viel stärker. Neugierig trete ich zu den Jacken, die in der Nähe an der Wand hängen. Erst als ich die Kleidungstücke berühre, bemerke ich, was ich gerade tue. Wie schrecklich von mir, dass ich bereit bin die Sachen anderer zu durchwühlen! Ich zögere, aber ich will schließlich nichts klauen und krame nun doch in den Jacken herum. Ich muss wissen von wo der Geruch herkommt. Ganz sachte ziehe ich einen Sommerschal hervor, der nur mit einem Zipfel herauslugte. Der unterschwellige, süße Duft ist doch nicht der Geruch der Wohnung, sondern ein Parfum? Zu gerne wüsste ich die Marke. Er ist so angenehm, dass sich vor meinem inneren Auge eine bezaubernde Szenerie entfaltet: Ein heller Raum mit fliederfarbenen Rauchschwaden, die immer wieder in sanften Bewegungen hinauf- und hinuntergleiten. Mitten im Zimmer steht auf einer weißen Säule ein transparenter, kantiger Parfumflakon. Eine geschwungene Schrift ziert das gläserne Behältnis, doch kann ich den Namen nicht erkennen. Die Verschlusskappe hat die Form eines Diamanten und eine kleine schwarze Schleife ist um den zierlichen Hals gebunden. So sehr versinke ich in meine Fantasie, dass ich das Tuch fest an meine Nase und meine Lippen drücke.
Viel zu spät bemerke ich, was mit mir passiert. Mein Verstand und Anstand meldet sich endlich. Erschrocken über meine mangelnde Selbstkontrolle, lasse ich sofort den Schal los und sehe zu, wie er vom Haken auf den Boden rutscht. Was mach ich da?! Was ist, wenn mich jemand gesehen hätte?! Oh Gott! Wie peinlich! Hektisch hebe ich den Schal auf und hänge ihn zurück an seinen Platz. So gut es geht, versuche ich ihn zwischen den Jacken zu verstauen. Nachher bemerkt Maya noch, dass ich an ihren Sachen war. Das wäre unangenehm!
In einer hektischen Bewegung stoße ich versehentlich die Kommode an und der Umschlag fällt hinunter. Meine Augen weiten sich panisch, als sich die grünen Scheine vor meinen Füßen verteilen. So viel Geld! Warum gibt Tomas Maya so viel Geld?! Das Licht draußen im Hausflur geht aus. Nervös schließe ich die Tür und sammle die Scheine auf, um sie zurück in den Umschlag zu packen. Anschließend puste ich erleichtert die Luft aus den Lungen und lege das Geld zurück auf die Kommode.
Das müssten über tausend Euro sein! Auch noch in bar! Ob Maya Tomas das Geld gegeben hat? Er ist Familienvater. Vielleicht ist es ihm ausgegangen und Maya hat ihm etwas geliehen. Wirklich nett. Das würden nicht viele machen. In meiner Umhängetasche krame ich nach einem Kugelschreiber. Auf den weißen Umschlag schreibe ich Tomas drauf. Vielleicht schulden ihr viele Leute Geld und dann könnte sie sich nicht einmal an alle erinnern. Sicher ist sicher.
»Du, Mama!«, rufe ich meine Mutter zur Hilfe.
»Du, Nele!«, erwidert sie. »Was machst du denn da? Bring mir nicht alles durcheinander«, meckert sie, als sie mich sieht. »Ich bin diejenige, die wieder aufräumen muss.« Eindeutig gelogen! Diejenige, die aufräumt, bin ich.
»Wegen Hannes hattest du doch mal ein Buch über Koliken gekauft. Ich finde es nicht.« Die ganze Zeit schon knie ich in der Abstellkammer auf dem Boden und suche erfolglos danach.
»Hier.« Gezielt zieht meine Mutter aus dem Stapel Kinderbücher eines heraus. »Damit willst du mir aber nicht zu verstehen geben, dass du schwanger bist, oder?« Vorwurfsvoll sieht sie mich an.
»Nein«, antworte ich schnippisch. »Über mir in der neuen Wohnung lebt eine junge Familie. Die haben ein Baby mit Koliken. Bevor ich die Nächte nicht durchschlafen kann, dachte ich mir, ich helfe.«
»Du kannst natürlich auch weiterhin hier wohnen bleiben. Dann musst du dir auch nicht das Geschrei von einem Baby anhören.«
Es ist bereits spät in der Nacht und ich bin immer noch dabei, meine Sachen für meinen Umzug zu packen. Dass ich meine Möbel nicht mitnehmen muss, erleichtert mir die Arbeit enorm. Denn ich will mir nicht helfen lassen. Es ist mein neues Leben und ich will nicht, dass mir irgendjemand in die Quere kommt.
»Ich bin fünfundzwanzig, Mama. Langsam sollte ich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.« Bedrückt zieht meine Mutter ihre Mundwinkel nach unten und versucht mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen. Davon lasse ich mich aber nicht mehr beeinflussen. Ich will hier weg. Weg von den alten Freunden, meinem cholerischen Arbeitgeber und den Erinnerungen an Markus. Es soll alles anders werden. Ich will ein neuer Mensch sein. Ich will endlich nach meinen eigenen Prinzipien leben.
»Mach nicht mehr lang, du musst morgen arbeiten.« Mama bleibt noch auf ihrem Fleck stehen und schaut angestrengt in die Kammer. »Oh, schau mal da!«, ruft sie plötzlich und reicht mir das Buch in ihrer Hand. »Es ist etwas verstaubt, aber es funktioniert sicherlich noch.« Sie drängt mich von meinem Platz und kramt in einer Tüte. »Hier, das ist eine Einschlafhilfe für Babys. Ich war verzweifelt, als Hannes nachts nicht schlafen wollte. Das Gerät bewirkt wahre Wunder. Man kann damit Geräusche abspielen. Zum Beispiel Herztöne oder das Rauschen von Blutgefäßen. Kannst du gerne mitnehmen. Hannes geht ja schon zur Vorschule, der braucht das schon lange nicht mehr.« Sie drückt mir den länglich, grauen Plastikkasten in die Hände und klopft sich den Staub ab.
Ich mustere es neugierig. Naja, nicht das neueste Modell, aber es sollte seinen Zweck erfüllen.
In der Mittagspause komme ich mit meinem Chef ins Gespräch. Für mich ist das nichts Ungewohntes, denn bei meiner letzten Arbeitsstelle durfte ich meinen Chef sogar duzen. In den dreißig Minuten, in denen wir gemeinsam Kaffee trinken, erfahre ich viel über den Mann. Er ist wahnsinnig gesprächig. Das macht es mir leicht, die Konversation am Laufen zu halten.
»Die Mittagspause ist vorbei. Ich muss jetzt an die Arbeit, Herr Nolte«, merke ich an, als ich auf die Uhr im Pausenraum sehe.
»Wirklich? Ist es denn schon so spät? Gut, wir sehen uns dann, Nele.« Er nennt mich bereits beim Vornamen. Nicht schlecht. Svenja fängt mich vor dem Pausenraum ab.
»Was war das denn?« Erstaunt sieht sie mich an. »Ihr habt so viel gequasselt, er hat die Zeit komplett vergessen«, bemerkt sie und begleitet mich kichernd ins Büro.
»Herr Nolte kennt meinen alten Arbeitgeber. Wir haben ein bisschen über ihn geredet.« Ich muss lächeln.
»Das verbindet.« Svenja wirft mir ein wölfisches Grinsen zu. »Und, sind die Sachen gepackt?«, fragt sie nach, bevor sich unsere Wege trennen. Ich nicke und dann fällt mir noch etwas ein.
»Sag mal, ich hab versucht Maya auf ihrem Handy zu erreichen. Aber anscheinend ist die Nummer, die du mir gegeben hast, nicht richtig. Denn ich bekomme immer die Meldung, dass die Nummer nicht vergeben ist.« Svenja sieht mich starr an und schluckt, als hätte ich sie ertappt. Doch bei was? Ihr Gesichtsausdruck verwirrt mich.
»Warum ... willst du sie anrufen?«, fragt sie stockend.
»Na, weil ich etwas mit ihr reden möchte, um sie kennenzulernen«, antworte ich skeptisch.
»Sicher hatte sie nur viel zu tun und hat bestimmt ihr Handy ausgeschaltet.«
Ihr Handy ausgeschaltet? Dann meldet sich doch die Ansage, dass der Teilnehmer zur Zeit nicht erreichbar ist.
»Svenja, Maya weiß schon, dass ich bei ihr eingezogen bin, oder?« Ich stochere noch einmal nach.
»Ich habe ihr Bescheid gegeben.« Svenja wendet den Blick zu ihrem Büro. »Ich muss jetzt auch weitermachen.«
Sie lenkt vom Thema ab und macht es mir schwer, ruhig zu bleiben. Ich könnte ihr jetzt hinterher und weiter fragen, aber ich möchte nicht unnötig aufdringlich werden. Früher oder später wird Maya erfahren, dass ich bei ihr wohne.
Ich gehe an meinen Schreibtisch und setze mich. Direkt hinter der Glaswand ist das Büro von Svenja. Drei Monate sind bereits vergangen, seitdem ich die neue Stelle in der Marketingabteilung angetreten bin. Obwohl es ein ziemlich großer Schritt war, bin ich dennoch glücklich darüber, meine Arbeitsstelle gewechselt zu haben. Denn in meinem neuen Job geht es alleine darum, was ich leiste. Nicht mit wem ich zusammen oder befreundet bin.
In Bremen einen Parkplatz zu finden, ist echt besch ... eiden. Schnaufend trage ich die Umzugskartons vom Wagen vors Haus und bunkere sie am Treppengeländer. Ich hätte den einen Karton mit den Schuhen ruhig zu Hause lassen können, dann hätte ich weniger schleppen müssen.
Als ich einen der Kartons anhebe, um ihn nach oben zu tragen, höre ich ein Baby weinen. Das muss Max sein. Naja, wer hat denn schon gerne Verstopfung? Armer Tomas und armer Max. Als meinen Sachen in der Wohnung stehen, setze ich mich erschöpft auf den Stuhl am Schreibtisch. Das war ein hartes Stück Arbeit. Besonders, wenn man mit hohen Schuhen hin und her stöckelt. Zum Glück habe ich nicht alle meine Sachen mitgenommen, sonst wäre ich heute gar nicht fertig geworden. Nachdem ich etwas verschnauft habe, überlege ich, welchen der fünf Kartons ich zuerst auspacke. Ehe ich überhaupt dazu komme, fängt mein Magen an zu knurren. Ich habe Hunger.
Die Zimmertür von Maya ist noch immer verschlossen. Wie Svenja schon sagte, sie ist nicht da. Irgendwie wiegt es mich in Sicherheit und ich kann mich freier in der Wohnung bewegen. Sicher wird es komisch, wenn wir zum ersten Mal aufeinandertreffen. Nachher passt Maya meine Nase nicht. Was mach ich dann? Ob sie mich einfach so vor die Tür setzen würde? Warum sollte ich auch hier bleiben wollen, wenn sie mich nicht leiden kann? Aber wo sollte ich dann hin? Zurück würde ich keinesfalls gehen.
Als ich in der Küche stehe, werfe ich einen Blick in den Kühlschrank. Nur eine abgelaufene Packung Milch und verschiedene Soßen zum Dippen stehen in den Fächern. Nicht sehr einladend. Ich denke nicht, dass Maya und ich unsere Lebensmittel teilen werden. Nachher gibt es diese typischen Diskussionen von wegen: »Du hast meinen Joghurt gegessen!« Ich will auch nicht unbedingt die grimmige Maya reizen. Auch in den Vorratsschränken finde ich nichts außer einigen Teesorten und geöffnete Müslischachteln. Schließlich fällt mir auf, dass die Wohnung kein bisschen nach Essen riecht. Ich meine, das ist immerhin eine Wohnküche. Die Gerüche müssten sich doch in den Gardinen oder im Sofa festsetzen. Ob es Maya nervt, wenn ich koche? Ich ernähre mich anders als der Durchschnittsmensch. Kochen zu können, ist dafür die Voraussetzung.
Das Tolle an Bremen sind die sonderlichen Läden für sonderliche Menschen wie mich. Im Bioladen habe ich ein Vermögen gelassen, aber ich musste so vieles neu kaufen. Ich wohne nicht mehr im Hotel Mama, wo ich einfach nur Wohngeld bezahle und alles mitbenutzen kann.
Als ich in der Küche stehe und anfange das Gemüse für mein veganes Curry zu braten, fällt mir auf, wie wenig Töpfe und Pfannen da sind. Das Messer ist stumpf, doch dafür ist das Schneidebrett neu. In den nächsten Tagen werde ich wohl noch mehr von meinem gesparten Geld ausgeben müssen. Schade, trotzdem schön zu wissen, jetzt auf eigenen Beinen zu stehen und keine Mutti zu haben, die in alles reinredet.
Vor dem Fernseher esse ich gemütlich mein Curry. Für mich ist es ungewohnt, am Abend alleine zu sein. Zum Abendbrot hätte ich mich mit meiner Mutter über Gott und die Welt unterhalten. Mein kleiner Bruder Hannes hätte stundenlang darum gebettelt, etwas vorgelesen zu bekommen, damit er noch länger aufbleiben kann. Mit Papa hätte ich vermutlich über etwas Banales diskutiert.
Nachdem ich aufgegessen habe, schalte ich den Fernseher aus. Ich sitze im Zimmer und höre dem lauten Verkehr draußen auf der Straße zu. Es ist komisch, so viel Zeit nur für mich zu haben. Satt und zufrieden stehe ich schließlich von meinem Platz auf und bringe mein Geschirr zurück in die Küche. Im Topf ist noch Curry übrig. Ich könnte die Reste morgen zur Arbeit mitnehmen, doch irgendwie habe ich keine Lust, das Gleiche zu essen. Kurz überlege ich, ob ich den Inhalt entsorgen soll, aber ermahne mich sofort mit dem Gedanken an die Menschen, die nicht so viel zu essen haben. Letztendlich fülle ich die übrige Portion auf einen sauberen Teller um. Mit Folie decke ich die Reste ab und verstaue sie im Kühlschrank. Maya kommt spät von der Arbeit. Vielleicht mag sie es ja essen.
Spüli ist auch fast alle. Ich vermenge den Rest mit Wasser und wasche das Geschirr von Hand ab. Zum Abtrocknen bin ich zu faul. Mit der Ausrede, einen harten Tag gehabt zu haben, lasse ich es stehen.
Nachdem ich meine Hände getrocknet habe, öffne ich die Fenster und die Balkontür, um den Geruch vom Kochen aus der Wohnung zu treiben. Die Abende sind ziemlich kühl geworden. In meinem Zimmer krame ich nach einem Strickpullover, den ich überziehe. Es ist spät, als ich anfange meine Klamotten in den Kleiderschrank zu hängen und einen Karton nach dem anderen auspacke. Eine gefühlte Ewigkeit später bin ich endlich fertig. Müde sehe ich mich im Zimmer um und überlege, wo ich die Kartons verstauen kann. Schließlich entscheide ich mich dazu, sie unters Bett zu legen.
Was ist das? Ich kann die Kartons nicht drunter schieben. Ich knie mich hin und beuge mich zum Boden hinab, um nachzusehen, was mir den Weg versperrt. Eine Tafel! Ich ziehe die schwere Platte hervor. Eine kleine, weiße Packung rutscht von der schwarzen Vertäfelung und fällt mir vor die Knie. Was sucht das unter meinem Bett? In der Schachtel befindet sich Kreide. Vier kleine Stücke in Blau und Rosa.
Die Tafel ist ziemlich sperrig. Umständlich trage ich sie in den Flur und hebe das schwere Ding auf die Kommode, um sie dort zu platzieren. Als Probe aufs Exempel rüttle ich an meiner Konstruktion. Nicht, dass die Tafel plötzlich runterfällt. Mit dem Stück blauer Kreide schreibe ich Maya einen kurzen Text: Essen im Kühlschrank. Lass es dir schmecken! SMS auf altmodische Art. Wie haben sich die Menschen nur früher Nachrichten geschrieben?
Am nächsten Morgen weckt mich mein schriller Handywecker. Müde schalte ich ihn aus. Die Nacht war viel zu kurz. Normalerweise bin ich um Punkt zweiundzwanzig Uhr im Bett und schlafe. Spießig, ich weiß, aber dafür bin ich am nächsten Morgen ausgeruht. Zerknautscht steige ich von der Matratze und hole ein Handtuch aus dem Schrank. Als ich mein Zimmer verlassen habe, lese ich auf der Tafel mit rosa Kreide geschrieben ein Danke. Mayas Schrift gefällt mir. Im Gegensatz zu meiner sind ihre Buchstaben geschwungen und stehen genau nebeneinander. Als hätte man sie mit einem Computer getippt. Beneidenswert. Ich mag Ordnung in allen ihren Möglichkeiten.
Auf der Kommode liegt ein Fünfeuroschein. Geld für das Essen? Was mache ich denn jetzt? Das kann ich nicht behalten. Wir sind aber auch keine Familie. Hier gibt es vermutlich gar kein Wir. Ich schaffe es nicht, mein Gewissen zu beruhigen. Nur, weil ich mir zu fein war, das gleiche Gericht noch einmal zu essen, sollte Maya nicht dafür bezahlen müssen. Ich lasse das Geld liegen und schreibe ihr wieder mit blauer Kreide eine Nachricht. Behalt dein Geld, waren nur Reste.
»Hast du schon gehört?« Kurz vor Feierabend schaut Svenja bei mir rein.
Ich sehe vom Bürostuhl zu ihr auf.
»Was denn?«, frage ich neugierig.
»Ein No-Name-Unternehmen wird hier demnächst einen großen Auftrag platzieren.«
»Und?«, frage ich sie wieder, denn das ist nichts Besonderes, das gängige Tagesgeschäft.
»Die Werbung soll deutschlandweit geschaltet werden.«
»Was?!« Auf diese Reaktion hat Svenja wohl gewartet. »Deutschlandweit?«, hake ich nach.
»Du hast richtig gehört.« Sie nickt mir zu und kreuzt ihre Arme vor der Brust. Wenn ich Svenja sehe, denke ich immer wieder daran, dass ich mich viel zu förmlich fürs Büro anziehe. Sie trägt zur Arbeit eine legere Bluse, eine enge Jeans und Sportschuhe. Ich hingegen trage ein gestärktes Hemd mit einem knielangen Rock. Vielleicht sollte ich mir auch mal andere Kleidung gönnen. Ob mir das überhaupt stehen würde?
»Was ist das für ein Unternehmen?«, frage ich schließlich.
»Ein Automobilhersteller, der seine Elektroautos und Elektromotorräder vermarkten will. Den Auftrag bekommen wir auch nur, weil die vorherige Werbeagentur ausgebucht ist und dieser Auftrag wohl den Rahmen sprengt. Es werden nämlich zwei verschiedene Werbekampagnen zur gleichen Zeit geschaltet. Ein Mordsding. Das bedeutet Überstunden«, erzählt Svenja und staunt dabei nicht schlecht. »Naja, mal schauen was passiert. Ich wünsche dir noch einen schönen Feierabend«, verabschiedet sie sich und geht.
Der Auftrag wäre die Chance für mich! Damit könnte ich mir endlich einen Namen machen. Ich lehne mich im Bürostuhl zurück und stelle mir das genervte Gesicht meines alten Vorgesetzten vor. Er würde sich schwarzärgern, wenn ich den Auftrag bekommen würde. Eine ganz andere Hausnummer, als ständig für Tierfutter Layouts zu entwerfen und Texte zu korrigieren.
Kaum dass ich die Wohnungstür geöffnet habe, steigt mir wieder der Duft von Mayas Parfum in die Nase. Er ist so schön, dass es mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Komisch, was so ein Geruch alles bei mir auslöst. Eigentlich reagiere ich ziemlich empfindlich darauf. Ein falscher Duft und ich habe den ganzen Tag Kopfschmerzen. Damit meine ich die Damen und Herren, die in den Dufttopf gefallen und nicht ertrunken sind. Es ist fast so, als würde mein Körper den Gestank absorbieren und direkt in meinen Kopf leiten.
Auf der Kommode im Flur liegt noch immer der Fünfeuroschein. Unter meiner Nachricht hat mir Maya eine weitere Antwort hinterlassen. Für Reste sehr lecker! Wieder hat sie die rosa Kreide benutzt. Ob sie ein Faible für diesen Pastellton hat?
Es ist kurz nach siebzehn Uhr, als ich auf die Uhr im Wohnzimmer schaue. Hunger! Ich muss was essen. Ich habe Lust auf eine Gemüsepfanne.
Eigentlich ist es vorbildlich, wie ich mich ernähre, wenn es da nur nicht die Süßigkeiten gäbe. Ich kann nicht anders und bereite mir noch einen Nachtisch zu. Ob Maya das auch mögen würde? Diesmal wollte ich weniger kochen, aber der Gedanke, Maya hier in der Küche essen zu sehen, lässt mich automatisch mehr schälen, schnippeln und braten. Immer wieder versuche ich mir vorzustellen, wie Maya aussieht. Da sie Svenjas Freundin ist, denke ich mir, sie sehen sich vermutlich ähnlich. Schlank, etwas größer als ich. Vielleicht hat sie langes, blondiertes Haar. Ich schwelge in Gedanken und werde traurig, dass ich nicht so toll aussehe. Stöhnend rühre ich in der Pfanne und irgendwie vergeht mir der Appetit.
Nach dem Abendessen packe ich die Reste wieder ein und mache den Abwasch. Für die Bratpfanne ist nicht mehr genug Spülmischung übrig. Lust einzukaufen habe ich nicht wirklich. Ich lasse die Pfanne in der Spüle liegen und setze mich zurück aufs Sofa, um weiter fernzusehen. Mein Blick bleibt an den Zeitschriften haften, die ungeordnet auf dem Couchtisch herumliegen. Ob ich in denen stöbern darf? Ich meine, wenn Maya was dagegen hat, hätte sie die Magazine wegräumen sollen.
Während eines uninteressanten Beitrags im Fernsehprogramm, greife ich mir eines der Hefte. Alle haben sie etwas mit Fitness und Ernährung zu tun. Auf jedem Cover sind athletische Frauen oder muskulöse Männer abgebildet. Maya steht wohl auf so ein Zeug. Wenn sie wirklich körperbewusst ist, wird sie den Mikrowellenschokokuchen wohl nicht essen, den ich ihr zum Nachtisch übrig gelassen habe. Ich sollte auch besser auf meine Ernährung achten. Aber was könnte ich noch besser machen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht und ich feiere ungern. Essen ist also eigentlich die einzige Sache, in der ich richtig aufgehe. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich könnte auch locker zehn Kilo abnehmen, um auf mein Idealgewicht zu kommen. Ich könnte aber ich schaffe es nie. Wenn es ums Essen geht, habe ich keinerlei Disziplin und Sport ist auch nicht gerade meine liebste Freizeitbeschäftigung. Ein straffer Popo würde mir trotzdem gut tun.
Ich schalte den Fernseher aus und stöbere weiter in den Zeitschriften. In den verschiedenen Berichten, die ich lese, erzählen Sportler von ihren Erfahrungen: »Sport ist meine Droge.« Ja, genau. Meine ist Pommes mit Ketchup.
Ich ordne die Zeitschriften und öffne die Fenster wieder zum Lüften. Schade, dass die Wohnung in der Nähe der Hauptstraße liegt. Es wäre schön, mich mit einer Tasse Tee nach draußen zu setzen und den Abend in einer kuscheligen Decke ausklingen zu lassen, aber bei dem Verkehr ist das bestimmt nicht gesund. Ich kann förmlich fühlen, wie sich die Rußpartikel in meinen Lungen absetzen. Dort, wo ich herkomme, ist es ländlich. Morgens wirst du nicht von der schrillenden Straßenbahn geweckt, sondern von den Kühen auf der Weide. Ich bin froh, wenn ich das Wochenende zurück nach Hause kann. Obwohl ich ehrlich gesagt meine Ruhe genieße, fehlt mir meine Familie.
Das Schreien von einem Baby weckt mich mitten in der Nacht. Verschlafen greife ich nach meinem Handy. Es ist zwanzig vor eins. Max klingt so, als würde man ihn foltern. Im Altbau sind die Wände ziemlich dünn. Es vergeht eine halbe Stunde und der kleine Mann weint noch immer. Es nützt nichts. Tomas kann seinem Sohn so oft er will gut zureden, Max' Lungen geben nicht nach.
Am Fußende vom Bett suche ich nach meiner Pyjamahose und schlüpfe hinein. Während ich schlafe, ziehe ich sie immer aus. Macht der Gewohnheit. Vor dem Zubettgehen bin ich nämlich ein echter Eisklotz, doch sobald ich eindöse, verwandle ich mich in einen Hochofen.
Ich schalte das Licht ein und greife nach meiner Strickjacke, die ich ans Bett gehangen habe. Ich ziehe das weiche, warme Material über und überlege, im Wohnzimmer auf dem Sofa weiter zu schlafen. Kaum bin ich aus meinem Zimmer raus, klopft es auf einmal, aber nicht an meiner Tür. Ich höre jemanden herummaulen. Neugierig geworden schleiche ich an die Wohnungstür. Ich lege mein Ohr an und versuche zu lauschen.
»Was ist denn schon wieder bei Ihnen los? Das geht schon seit zwei Monaten so«, schimpft ein Mann genervt. Nach der tiefen, kratzigen Stimme zu urteilen, ein älterer Herr.
»Was soll ich denn machen? Ich sag dem Kind nicht, es soll schreien«, argumentiert Tomas. Die Männer oben streiten sich. Ich nutze die Gelegenheit und hole die Sachen von Hannes, die mir Mama mitgab. Während ich die Treppe hoch zur oberen Etage steige, diskutieren die Herren immer noch.
»Willst du dich jetzt auch beschweren?«, fährt mich Tomas an. Gestresst rauft er sich die Haare. Ihm stehen die Tränen in den Augen.
»Nein. Ich weiß, Kinder haben keinen Ausschalter.« Ich schaue den alten Mann mit Knollnase eindringlich an. Er schüttelt nur genervt den Kopf und stolziert zurück in seine Wohnung. Mit einem lauten Knall lässt er die Wohnungstür zufallen und nörgelt dahinter undeutlich weiter. Anscheinend hat ihn seine Frau auf Tomas gehetzt.
»Hier, das soll helfen. Vielleicht versuchen du und deine Frau es mal mit dieser Einschlafhilfe. Sicher habt ihr schon tonnenweise solcher Sachen ausprobiert. Nur, das hier hat meinem kleinen Bruder echt geholfen.« Etwas verlegen halte ich ihm die Sachen hin. Ich hätte sie ihm gerne vorher gegeben, doch in der Hektik des Umzugs kam ich noch nicht dazu. Wortlos starrt mich Tomas an. Seine Unterlippe zittert und er wird ganz blass. Bin ich zu weit gegangen? Hoffentlich explodiert er nicht gleich vor Wut.
»Ich … ich muss kurz an die frische Luft. Würdest du … Bitte, nur für ein paar Minuten.«
Ich kann kaum darauf reagieren, schon poltert er mit Hausschuhen die Treppe hinunter. Ist der irre? Der kann mich doch nicht mit seinem Kind alleine lassen! Nachher bin ich eine kriminelle Kinderhändlerin! Seine Frau wird sich sicher nicht darüber freuen. Ob sie auch so fertig ist? Perplex bleibe ich noch einige Sekunden wie angewurzelt stehen und sehe ihm nach. Schließlich entscheide ich mich hineinzugehen, denn Max schreit noch immer lauthals.
Was ist denn hier passiert?! Kaum habe ich die Wohnung betreten, sehe ich überall Kleidungsstücke liegen. Es ist richtig dreckig! Die Küche ist in einem separaten Raum. In der Spüle stapelt sich das Geschirr. Überall stehen leere Plastikflaschen und Schachteln vom Lieferservice. Weiß Tomas nicht, dass Plastik krank macht? Die Wohnung ist etwas anders aufgeteilt als die von Maya. Max liegt in einem kleinen Bettchen im Wohnzimmer und schreit aus voller Kehle. Sein Kopf ist hochrot. Sofort lege ich die Sachen ab, um ihn auf meinen Arm zu heben.
»Na, kleiner Mann? Dir kann wohl keiner so richtig helfen?« Ich schaukele ihn und für einen Moment ist er still. Ob er bemerkt hat, dass ich eine fremde Person bin? Sein Schweigen hält leider nicht lange an. Wie kräftig seine Lungen sind. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder? »Armer, armer Max. Das Leben ist so gemein.« Ich wiege ihn weiter und klopfe leicht auf seinen Rücken. Das gefällt ihm wohl. Sein Geschrei ändert sich in ein lautes Winseln und ich schlendere mit ihm durch die Wohnung.
Ob Max' Mutter arbeitet? Die einzige Tür, die geschlossen ist, ist die vom Schlafzimmer. Ungeniert öffne ich sie und knipse das Licht an. Tomas hat mich mit Max alleine gelassen, also darf ich das. Er hat mir damit die Hausrechte übergeben. Ungeschriebenes Gesetz!