Hund fürs Herz - Jolene Walker - E-Book

Hund fürs Herz E-Book

Jolene Walker

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Beschreibung

Antti ist ein tollkühner Schwedischer Jämthund. Der junge Rüde ist aufgeweckt und hat Freude an seinem Leben. Doch eins kann er gar nicht leiden – an der Leine zu gehen. Der selbstständige Jagdhund sieht nicht nur aus wie ein Wolf, er ist genauso schlau und lässt Hannah vergessen, wie einsam sie wirklich ist. Denn Hannahs Eltern sind geschieden, jeder von ihnen geht seinen eigenen Weg. Und Hannahs Weg hat nicht gerade dazu geführt, das Leben zu leben, von dem sie fantasierte. Bis Antti dafür sorgt, dass Hannah auf Umwegen auf Mona trifft und ihr Schicksal einen neuen Lauf nimmt.

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Inhaltsverzeichnis

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Epilog

Jolene Walker

Hund fürs Herz

Deutsche Erstausgabe Mai 2018

Impressum Copyright: © 2018 Jolene Walker c/o AutorenServices.de König-Konrad-Str. 22 36039 Fulda

[email protected] Ihr könnt mich auf Twitter finden: twitter.com/walkerjole

Korrektorat: sks-heinen.de

Cover unter Lizenzierung eines Motives von canva.com Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Etwaige unerlaubte Verbreitungen werden strafrechtlich verfolgt.

1

Draußen war es nass und kalt. Hannah hastete durch die Wohnung, als wollte sie sich aufwärmen, ehe sie hinausmusste. Sie zog den dicken Parka an und setzte die gestrickte Bommelmütze mit dem Fellball auf, die sie vor Jahren aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Ihr hellblondes langes Haar war von Natur aus leicht gewellt und ließ sich mühelos in die Mütze stopfen. Dabei hampelte sie unruhig vor dem Spiegel an der Garderobe herum. »Komm schon, mein Junge. Wir müssen jetzt«, sagte sie und zog ihre flachen Halbstiefel an. Hannah mochte keine Absätze. Sie war groß und wollte nicht weiter auffallen. Ihre hellblonden Wimpern und Augenbrauen waren Grund genug, dass die Leute sie anstarrten. Viele fanden ihren nordischen Typ hübsch. Doch sie glaubte auszusehen wie eine böse Eiskönigin. Besonders dann, wenn sie lange genug regungslos in den Spiegel blickte und das Sonnenlicht ihr in die tiefblauen Augen fiel. Sie funkelten wie klares Bergwasser und man wartete nur noch darauf, dass ein Fisch durch die Lichtwaben schwamm.

Die Sonne ging langsam auf und tauchte den schwarzen Himmel in ein helles Grau. Hannah wurde ungeduldiger und stampfte zum Schlafzimmer. »Wird’s bald? Ich kann nicht ewig auf dich warten, Antti«, schimpfte sie diesmal. Ein junger Jämthund lag neben dem Bett in seinem großen Körbchen. Er wälzte sich, jaulte unzufrieden und nörgelte wie ein alter Mann. Antti war ein nordischer Jagdhund und hatte dichtes weißes Bauchfell. Auf dem Rücken war es dunkelgrau und wurde zu den Beinen hin immer heller. Die Rute war gebogen wie die eines Spitzes. Äußerlich ähnelte er einem Husky, zumindest war er so schlau wie ein Wolf. Er wedelte mit dem Schwanz und flehte regelrecht, liegen bleiben zu dürfen. Er war doch noch so müde.

»Nein, wir bleiben nicht zu Hause! Aus Langeweile zerreißt du mir später alle meine Bücher und ich habe nichts mehr zu lesen!« Genervt stemmte Hannah die Hände an die Hüfte. Sie hatte nicht vergessen, wenn sie mit Antti nachlässig wurde, dass er sich gleich rächte, indem er das Wohnzimmer verwüstete und sie Stunden brauchte, um das Chaos zu beseitigen. Dennoch bewegte sich Antti nicht aus seinem gemütlichen Bettchen und heulte weiter.

»So nicht, Freundchen.«

Antti war eigensinnig und ließ sich ungern kommandieren. Hannah musste schon selbst Hand anlegen, wenn sie es rechtzeitig zur Arbeit schaffen wollte. Sie stemmte Anttis gute dreißig Kilo aus dem Korb und klopfte ihm schließlich lachend auf den Rücken. »Na komm, jetzt sei nicht so patzig. Du kannst schlafen, wenn wir zurück sind.«

Antti schüttelte den Stress aus dem Fell und öffnete das Maul. Er entspannte sich und sah mit seinen aufgestellten Ohren aus wie ein frecher junger Mann. Er hatte einen stolzen Gang und tapste zur Wohnungstür voran.

An der Garderobe hingen mehrere Hundeleinen, doch keine davon nahm Hannah mit. Antti mochte nicht, an der Leine zu gehen. Er wurde trotziger, bockte und wenn er konnte, riss er sich frei. So, dass Hannah ihn jagen musste. Das gefiel ihm, doch Hannah raubte es den letzten Nerv. Ohne Leine und das Zerren war er wesentlich umgänglicher. Er hörte sogar, wenn Hannah ihn rief.

»Warte!« Hannah blieb abrupt stehen und Antti setzte sich. Die Wohnungstür stand auf. Der Vierbeiner sah Hannah neugierig nach, wie sie zurück in die Wohnung flüchtete, um mit einem Buch zurückzukehren. Nachdenklich kippte Antti den Kopf und musste zu seinem Leid erkennen, dass es keine Leckerli waren. Wo waren sie dann? Er konnte sie doch riechen. Ihm blieb keine Wahl, als artig zu bleiben. Dann erst würde er welche bekommen.

Hannah schmunzelte und ahnte, was ihr treuer Begleiter dachte. Mit einem Grinsen kramte sie in ihrer Jackentasche und gab ihm ein Stück seiner heiß geliebten Nascherei. Antti war zu Beginn nicht ihr Hund gewesen. Er hatte auf dem kleinen Bauernhof ihres Vaters gelebt, der der Liebe wegen nach Norwegen gezogen war. Liebe auf den ersten Klick, oder so ähnlich. Hannah war noch immer frustriert, dass ihr Vater angesichts einer Onlinebekanntschaft so weit weggezogen war und sie nur noch über Skype telefonieren konnten. Dort lebte er mit seiner Traumfrau, hütete ein paar Schafe und fuhr aufs Meer, um zu fischen. Hannahs Eltern hatten sich früh scheiden lassen. Da war sie kaum zwei Jahre alt gewesen. Aber ihr Vater war jetzt glücklich, besonders, wenn er sich voller Tatendrang in der Kälte die Hände rieb und die nächste Herausforderung annahm. Er lebte seinen Traum von der Unabhängigkeit und Hannah blieb nichts anderes übrig, als es akzeptieren.

Dass ihr Vater gegangen war, war ihr zumal leichter gefallen, als dass ihre Mutter aufgrund ihres Jobs nach München ziehen musste. Alle beide waren weg, lebten ihr eigenes Leben und Hannah war geblieben, weil sie ihre Heimatstadt Bremen nicht verlassen mochte. Die Beziehung zu ihren Eltern war von Anfang an eine Zerreißprobe für sie gewesen. Das gemeinsame Sorgerecht und die Unruhe zwischen ihnen hatten nicht gerade dazu beigetragen, dass sie sich wohlfühlte. Sie wollte bei ihrer Mutter und ihrem Vater gleichzeitig sein, das war ihr jedoch nicht vergönnt. Dafür hatte sie jetzt Antti. Der hübsche Rüde, der sich Hals über Kopf nach Hannahs letztem Besuch in sie verliebt hatte. Und als sie nach Hause fuhr, so traurig wurde, dass er Tage nichts mehr gefressen hatte. Letztendlich hatte ihr Vater beschlossen, ihn per Luftfracht auf Reisen zu schicken. Er war bei der Ankunft durch die Beruhigungsmedikamente so benommen gewesen und dennoch hatte er es sich nicht nehmen lassen, vor Freude herumzuspringen, um später in Hannahs Armen einzuschlafen.

Antti war ihr bester Freund. Ein Hund für die Seele. Er konnte es riechen, wenn sie angespannt und traurig war. Dann stupste er sie, jaulte und fiepste so lange, bis sie sich endlich zu ihm hockte und ihn umarmte. Erst dann brach sie in Tränen aus und kam zur Ruhe.

Draußen vor der Haustür wehte ein scharfer Wind, wirbelte dunkle Blätter vom Boden, die eigentlich viel zu schwer waren, als dass sie fliegen konnten. Die kahlen Bäume in den Seitenstraßen ragten mit ihren dürren Ästen in den grauen Himmel und waren ihm näher als jeder andere. Die Luft knisterte. Es roch regelrecht nach Schnee.

Hannahs Augen tränten durch die Kälte. Sie schniefte, zog am Kragen ihres Parkas und schritt voran. Antti trabte freudig hinterher. Er genoss das Wetter, auch wenn er sich zuvor gewehrt hatte, die Wohnung zu verlassen. Im Sommer hielt er sich im Hausflur auf, dort war es schattig und kühl. Die Nachbarn hatten sich damit arrangiert, sie freuten sich sogar, wenn er sie nach dem harten Arbeitstag freudig begrüßte. Solange es nicht abgekühlt war, verließ er auch nicht sein Plätzchen. Ab und zu knabberte er an Eiswürfeln und manchmal hatte Hannah zum Zeitvertreib Leckerli mit eingefroren, die er dann aus dem Eisblock herausbeißen musste. Doch jetzt blies ihm der Wind durch das dichte dicke Fell. Zwischendurch blieb er stehen und schnupperte neugierig mal hier und da. Hannah schlenderte weiter, sie wusste, auf Antti war Verlass. Gleich würde er ihr nachlaufen und sogar aufpassen, ob ein Auto kam, wenn er die Straße überquerte. Gemeinsam begaben sie sich zum Bremer Stadtpark. Auf den Hauptstraßen war bereits reges Leben. Die Straßenbahnen fuhren über die Schienen, die Autos bremsten scharf vor roten Ampeln und Fahrradfahrer klingelten aufgebracht, schimpften wütend, weil sie ihre Vorfahrt nicht bekamen. Das alles mieden sie geschickt, indem sie durch die Alleen mit ihren hohen Bäumen und den Seitenstraßen eilten. Die Fassaden der angrenzenden Mehrfamilienhäuser waren von untalentierten Künstlern ohne Namen beschmiert und wiederum gab es Kunstwerke, die man einen Moment länger betrachtete. Bremen war bunt, laut und dennoch Heimat.

Nach einem halben Kilometer kamen Hannah und Antti Kindergartenkinder und ihre zwei Erzieher entgegen. Anstatt ihren Hund ranzunehmen, lief Antti freudig voraus und kläffte ein paar Mal laut. Die Erzieherinnen lachten und die Kinder, die Hand in Hand sich pärchenweise auf den Weg zum Spielplatz im Park begaben, sprachen aufgeregt durcheinander.

»Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst«, sagte eine der Erzieherinnen, während sich die Kinder voneinander lösten und eine Traube um Antti bildeten. Er setzte sich brav, wedelte mit der Rute und hechelte vor Glück, weil ihm die winzigen Hände so viel Liebe gaben.

»Ich will auch mal!«

»Und ich auch!« Die Kinder drängelten sich, um das weiche glatte Fell zu streicheln, und trotzdem blieb Antti ruhig.

»Nicht in die Augen!«, ermahnte die Erzieherin von eben, als eins der Kinder neugierig Anttis Augenlid drückte.

Hannah lachte und stieß endlich zu ihnen.

»Wir haben schon befürchtet, heute nicht auf euch zu treffen«, meinte die junge Erzieherin. Ihre ältere Kollegin lächelte und hielt die Kinder im Blick.

»Heute waren wir ein bisschen spät«, erklärte Hannah. »Der liebe Herr brauchte noch einen Moment länger im Körbchen.« Die Erzieherin lachte wieder. Sie war kleiner und schmaler als Hannah. Ihre Haarfarben ähnelten sich. Jedoch erkannte man an ihren dunklen Augenbrauen, dass sie keine echte Blondine war. Dennoch änderte es nichts an der Tatsache, dass sie verdammt niedlich aussah und Hannah schon länger eine kleine Schwäche für sie hatte.

»Nur wegen Antti? Du siehst auch ziemlich müde aus«, meinte die junge Erzieherin und wirkte diesmal leicht besorgt.

Hannah war erst verblüfft und lächelte verlegen. Sie wusste nie genau, was sie von dem Plausch mit der hübschen Kindergärtnerin halten sollte. Schließlich redete die andere Erzieherin kaum ein Wort mit ihr. Wie sie hieß, wusste sie bis heute nicht. Es hatte sich einfach nicht ergeben.

»Wir gehen schon einmal mit Antti voraus«, sagte Hannah, als sie bemerkte, dass die Kindergruppe sich langsam beruhigte. Nachdem auch der Letzte den Nordischen Elchhund liebevoll gestreichelt hatte, stand er auf. Die Kinder verabschiedeten sich im Chor und Hannah winkte ihnen zu. Sie lächelte noch einmal die süße Kindergartenlehrerin an und atmete leise auf. Da waren wieder zu viele Gedanken im Kopf, die sie nicht in Ruhe ließen. War die namenlose Kindergärtnerin lesbisch? Eine Einbildung, ein Wunschdenken, sonst nichts mehr? Hannah lächelte bitter. Ihr fehlte einfach der Mut zu fragen.

Der Park war in sich geschlossen, umgeben von uralten Bäumen und dichten Sträuchern. Drumherum wohnte die reiche Gesellschaft der Neustadt. Gepflegte Altbauten von Reihenhäusern, die nach Villen aussahen. Gepflegt und gehegt. Es war hier ruhig und dennoch zentral gelegen. Hannah hingegen lebte in der Nähe der Hauptstraße. Es war schön, jeden Tag in den Park kommen zu können, um sich kurz von dem Lärm auszuruhen. Selbst in der Nacht war es nicht möglich, da Lkws schwer beladen über die Straßen und Schienen ratterten und es sich im Altbau anfühlte, als würde die Erde beben.

Der feste sandige Boden knirschte unter ihren Sohlen. Einige Meter weiter stand eine Bank, auf die sich Hannah jeden Morgen setzte. Sie schlug ihr Buch auf und Antti schnupperte in der Gegend. Es war selten, dass sie gemeinsam eine Runde gingen. Hannah war zu ungeduldig und Antti frustrierte es. Im Frühling und im Herbst joggten sie ab und zu zusammen, aber das war auch das Höchste an Gefühlen. Antti war ein guter Hund. Er wusste genau, wie er sich zu verhalten hatte. Mit anderen Hunden gab es nie Probleme. Meist wartete er darauf, dass seine üblichen Spielkameraden vorbeikamen und sie gemeinsam über die Wiesen jagten. In der Zwischenzeit schlich sich Antti herum, stöberte in Gebüschen und verzog sich nach einer Weile zu dem Volleyballfeld und buddelte aus Spaß im weichen Sand. In dieser Zeit las Hannah ein Buch. Sie liebte es zu lesen.

Jetzt hatte sie kaum noch Verwandte. Ihre Großeltern waren alt und zum Schluss im Heim gewesen. Sie hatte sie nach der Schule täglich besucht, damit sie nicht alleine waren. Hannah hasste es, einsam zu sein. Es gab nur einen Fernseher im Gemeinschaftsraum. Ihre Großeltern waren viel zu müde dafür. Deswegen las sie alles, was ihr zwischen die Finger kam, während sie in ihren Betten ruhten. Ihr literarischer Geschmack war nicht wirklich leicht. Mit schnulzigen Romanen konnte sie nichts anfangen. Reiche, gut aussehende Männer, die in Windeseile das Herz eines tollen Mädchens eroberten. Ihre Geschichten mussten Hand und Fuß haben. Einen höheren Sinn. Sie liebte es, wenn die Charaktere voller Fehler waren und sich mit der Zeit entwickelten. Ein Happy End musste es nicht geben, schließlich hatte sie auch keines.

Ihr Vater hatte früher oft mit ihr geschimpft, weil sie für ihren Büchergeschmack viel zu schlechte Noten schrieb. Als sie sogar die siebte Klasse wiederholen musste, nahm er ihr ihre Bücher weg. Ab da waren die Jahre anstrengend gewesen. Letztendlich brach Hannah die Schule ab. Ihre Eltern protestierten, aber sie war alt genug und zog aus. Die Schule war kein Ort für sie, sie hasste es, stundenlang sitzen zu müssen, für etwas, was nicht gut war. Heizungsvolumen musste sie bis heute nicht berechnen. Es war verschwendete Zeit, Zeit, die sie nicht mit ihren Büchern verbringen konnte. Doch mit 29 bereute sie langsam ihre Entscheidungen. Ständig wechselte ihr Arbeitsplatz. Sie arbeitete für eine Leihfirma, musste Getränkekästen stapeln und Regale einräumen. Die Bezahlung war mies, die Miete ihrer Wohnung zu teuer, obwohl sie günstig für ihre Lage war. Dennoch schaffte sie es kaum, etwas auf die hohe Kante zu legen. Das hielt sie aber nicht davon ab, von einer Weltreise zu träumen und wie Hemingway von seinem Erlebten zu schreiben. Sie würde zumindest eine Jodsalbe bei sich tragen, sollte sie in der sengenden Hitze der ostafrikanischen Wildnis festsitzen. Und dann würde sie zurückkommen, nach Bremen, ihre einzige Konstante. Für einen Moment belächelte sie sich selbst.

Wer würde sie schon lesen wollen? Sie war Hannah, die Träumerin, nicht die Weltenbummlerin. Dafür war sie zu feige, es war zu unbequem. Würde sie hier fortgehen, würde sie alle Sicherheiten verlieren, die ihr geblieben waren. Selbst als sie damals ihren Vater in seiner neuen Heimat besuchte, fühlte sie sich unwohl. Nicht wegen der Streitigkeiten. Sie stritten kaum noch und bei ihrem kurzen Besuch erst gar nicht. Auch seine neue Freundin mit den hübschen Lachfältchen hatte sich bemüht, damit sie sich wohlfühlte. Hannah war dankbar dafür, aber die Bauchschmerzen verschwanden erst, als sie wieder in ihrem eigenen Bett lag.

Hannah blätterte zur nächsten Seite um und wurde stutzig. Irgendetwas fehlte. Abgesehen vom entfernten Verkehr drangen kaum Geräusche aus der Umgebung zu ihr hin. Sie sah auf, lauschte dem Wind, der durch die Sträucher raschelte, den Wintervögeln, die verspielt in den Bäumen zwitscherten. Aber irgendwie war es viel zu still. Etwas fehlte. Kein Hund schnupperte in ihrer Gegend herum. Hannah sah sich um. Antti war nicht mehr in der Nähe, obwohl er sich nie wirklich aus ihrer Sichtweite begab. Vielleicht hatte er in der Entfernung einen Spielkameraden entdeckt? Und dennoch war er nicht gekommen, um ein Leckerli abzuholen?

Plötzlich schrie eine Frau. Hannah zuckte, klappte instinktiv das Buch zusammen und lief dem Schrei hinterher. Sie ahnte, dass es etwas mit Antti zu tun hatte. Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert!

Atemlos kam Hannah am anderen Ende des Parkes an und entdeckte die aufgebrachte Frau, die eben geschrien haben musste. Sie trug einen cremefarbenen Schlafanzug und war mit Pantoffeln unterwegs. Ihr braunes langes Haar hing in einem zerwühlten Zopf, als wäre sie erst eben aus dem Bett gesprungen. Sie musste doch frieren. Halb stand sie im Busch und jammerte. »Geh weg! Geh weg! Lass mein Mädchen in Ruhe!« Sie schluchzte und weinte. Was war passiert?

Im nächsten Moment gelang ein lautes Fiepsen aus dem Gebüsch. Hatte sich Antti etwas getan?! Hatte er sich etwa an einer Glasflasche geschnitten, die überall herumlagen, weil Feierwütige sie einfach liegen gelassen hatten?! Hannahs Herz schlug schneller. Sie zwang sich durch den zwei Meter hohen Strauch.

»Ach du Scheiße«, entglitt es ihr.

»Warum hast du Antti aus den Augen gelassen?!«, schluchzte die junge Frau. Woher kannte sie Antti? Hatte Hannah nach ihm gerufen und die junge Frau hatte es sich zusammengereimt? Hannah wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie war steif vor Schreck, als sie Antti entdeckte, wie er Schoß an Schoß an einer Hündin hing. Sie war ein Charles Spaniel, viel kleiner als er. Ein Edelhund mit langen Ohren und einem treuen Blick. Das Fell war glänzend weiß und mit gleichförmigen kastanienroten Flecken versehen. Ein Hund für Prinzessinnen. Sie kamen nicht mehr voneinander los, nachdem Antti sie bestiegen hatte. So etwas hatte er noch nie getan! Er hatte noch nie eine Hündin bestiegen! Ihren Hintern vielleicht mal beschnuppert, aber niemals dominiert! Hannah glaubte sogar, ihr Hund wäre homosexuell wie sie, weil er lieber Rüden hinterherjagte. Der Hund war doch nur für ein paar Minuten außer Sichtweite gewesen, wie konnte das nur so schnell passieren?

Plötzlich traf Hannah ein harter Schlag auf den Oberarm. »Aua!« Hannah sah zu dem Mädchen. Sie war jünger als sie.

»Warum haben Sie nicht aufgepasst?!«, keifte sie entrüstet und schniefte. Diesmal duzte sie Hannah nicht. Dafür kullerten ihr dicke Tränen über die Wangen. Ihre Augen waren braun und das Sinnbild des Herbstes.

»Warum führen Sie Ihren Hund nicht an der Leine?!«, schrie sie diesmal, weil Hannah nicht reagierte. Sie schlug wütend zu und tat Hannah wieder weh. Sie konnte sich gar nicht wehren, wie die Fäuste auf ihren Oberarm trommelten.

»Warum lassen Sie Ihre läufige Hündin aus dem Haus?!«, konterte Hannah schließlich und rieb sich die schmerzenden Stellen.

»Ich habe sie nicht rausgelassen! Sie ist davongelaufen!« Das Mädchen wurde laut und hockte sich erschrocken hin, als ihre Hündin diesmal qualvoll winselte. Sie zog an ihr und wollte sie so voneinander zerren, bis Antti vor Schmerz jaulte.

»Sie tun den Hunden doch weh!«, gab Hannah entsetzt von sich und die Fremde ließ los. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und ertrug es nicht, wie sehr ihr Mädchen litt.

»Bella«, schluchzte sie und Hannah tat es leid. Sie wollte sich entschuldigen und ehe sie etwas sagen konnte, lösten sich die Hunde endlich voneinander. Die junge Frau schnappte ihren Hund und hob ihn auf die Arme. Unter Tränen drückte sie ihre süße Bella und warf Hannah einen wütenden Blick zu. »Halten Sie Ihren Streuner von uns fern!«, forderte sie und stampfte hastig davon zu einem noblen Altbau, einem Reihenendhaus gleich gegenüber. Die Hausfassade war weiß gestrichen, im oberen und unteren Stock gab es Erkerfenster. Hannah verstand sofort, sie war ein reiches Mädchen. Der Eingang war opulent mit einer großen Tür. Sie stieg die sechs Stufen hinauf und schlug die Tür hinter sich zu. Antti wollte den beiden Mädchen gleich nach, doch Hannah hielt ihn an seinem Nietenhalsband auf.

»Komm, mein Junge, die ist nichts für dich.«

Am Abend, nach Feierabend, saß Hannah auf ihrem Bett und lockte Antti aus dem Körbchen. Sie hatte getrockneten Fisch in der Hand, der ihrer Meinung nach bestialisch stank. Es waren Anttis Lieblingsnaschereien, die ihr Vater ihr alle paar Monate mit der Post aus der Heimat schickte. Wenn es ums Essen ging, war Antti einfach gestrickt. Kartoffeln, frisches Herz und Leber vom Metzger. Ab und zu, wenn es Hannahs Geldbeutel erlaubte, gab es dann auch mal feines Muskelfleisch. Aber Dosenfutter rührte er nicht an. Schließlich war er ein halber Wolf und kein Schoßhündchen wie die Prinzessin, der er jetzt nachtrauerte.

2

Am nächsten Morgen war Antti nicht aufzuhalten. Eine halbe Stunde früher, als Hannah überhaupt aufstehen musste, sprang er ihr ins Gesicht und hüpfte aufgebracht auf dem Bett herum. Fressen wollte er nicht und beim Frühstücken ließ er Hannah nicht in Ruhe, bis sie endlich aufstand, sich anzog und sie in den Park konnten. Immerzu lief er voran, wartete ungeduldig in den beleuchteten Straßen und drang sie dazu, sich zu beeilen, indem er an ihrer Jacke zerrte. Schließlich kamen sie im Dunkeln im Park an. Es würde noch dauern, bis es hell wurde, doch mit Antti an ihrer Seite fürchtete Hannah sich nicht. Antti war ein Beschützer. Er konnte es riechen, wenn die Menschen nichts Gutes im Sinn hatten, und verbellte sie dann.

Zielstrebig durchwanderten sie die kurvigen Wege. Hannah wusste, wohin es ihn trieb. Dennoch hielt sie ihn nicht auf, weil er gestern so traurig gewesen war.

Direkt auf dem Bürgersteig, vor dem Reihenendhaus, stoppten sie. Antti fiepste, setzte sich brav und war dennoch aufgeregt, dass er abwechselnd mit den Vorderpfoten auftrat. Er sah hinauf in das verschlafene Haus, keiner bewegte sich und er fiepste lauter. Näher konnten sie nicht heran, der Vorgarten war verschlossen. Viel näher hätte sich Hannah auch nicht getraut. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Wie Antti sah sie hinauf zu den Schlafzimmerfenstern. Schließlich heulte er laut und tief wie ein Wolf. Er heulte ein Lied von Liebeskummer und Hannah lächelte bedrückt. Vor Kälte steckte sie die Hände in die Jackentaschen. Ihr Atem verließ als sichtbarer Nebel ihren Mund und Antti sang weiter. Sie fürchtete kurz, die Nachbarn würden schimpfen. Doch niemand stand am Fenster und kein weiterer Hund knüpfte an Anttis Gesang an. So ließ sie ihn. Es war das erste Mal, dass ihr Freund jemand anderes liebte, und sie gönnte es ihm.

Im nächsten Moment hielt Antti ein und leckte sich nickend die Lefzen. Er hatte erreicht, was er wollte. Jemand schaute plötzlich durchs Fenster, doch kein lieblich lächelndes Mädchen stand dort. Mürrisch und verschlafen schaute die junge Frau aus dem Park zu ihnen hinunter. Hannah lächelte verlegen und winkte ihr zu. Auf die Hoffnung hin, dass sich der Streit zwischen ihnen gelegt hatte. Doch entrüstet riss das Mädchen die dicken Vorhänge zu. Antti jaulte traurig, er verstand, dass er unerwünscht war.

»Du hast wohl keine Chance«, sagte Hannah. Antti gab nörgelnde Laute von sich, als würde er aus Frust Hannah die Schuld an allem geben. »Schau mich nicht so an, sie ist eine Capulet, mein junger Romeo.« Hannah sah nochmals hoch, hatte noch einen Funken Hoffnung, doch als sich nichts regte, seufzte sie. »Da hast du wohl ziemlichen Mist gebaut.« Hannah sprach zwar mit Antti, aber meinte sich selbst. Schließlich hatte sie ihren Hund aus Gewohnheit einfach laufen lassen.

Kaum setzte sie einen Fuß, um zu gehen, da leuchtete unten im Flur Licht auf. Wider Erwarten ging die Haustür auf und Anttis große Liebe erschien an der Türschwelle. Kerzengerade stand sie da mit ihrem fedrigen Fell. Wie ein Fächer wedelte ihre Rute, während sie abschätzte, ob es wirklich Antti war, der dort wartete. Dann hopste sie unsicher die hohen Stufen hinunter und Antti gurgelte vor Freude. Die Schnauze zwang er durch die Gitterstäbe und leckte mit großen Augen Bella zur Begrüßung die Lefzen. Hannah war so erleichtert, dass sie aufatmete. Sie glaubte, das Mädchen aus dem Park hätte ihnen verziehen. Doch jemand anderes schleppte sich mit einem müden Lächeln die Stufen hinunter. Eine junge Frau mit fuchsroten Dreadlocks und gepiercten Lippen. Sie trug einen verwaschenen gestreiften Morgenmantel und war noch in den Hausschuhen.

»Guten Morgen«, flüsterte sie und lächelte. Kurz warf sie einen prüfenden Blick über ihre Schulter und wendete sich zurück zu dem eigentlich unerwünschten Besuch. »Ihr seid also die Übeltäter?« Als sie grinste, kam ihr funkelndes Lippenbandpiercing zum Vorschein. Auf Anhieb war sie Hannah sympathisch. »Mona hat den ganzen Tag gemeckert und Bella war so traurig. Ich habe wirklich gehofft, ihr kommt vorbei, damit die kleine Maus sich endlich freut.« Die junge Frau beugte sich zu dem britischen Rassehund und kraulte sie hinterm Ohr. Bella wartete geduldig, dass man ihr das Tor öffnete, doch es blieb zu. Vermutlich aus Vorsicht.

»Ist es wirklich so schlimm?«, fragte Hannah und massierte bedrückt ihren Nacken.

»Na ja. Selbst ihr Hund ist jetzt keine Jungfrau mehr. Vermutlich geht ihr das an die Nieren.« Sie kicherte frech und hielt die Hand vor dem Mund. Hannah weitete die Augen und wurde verlegen. Mit so viel Information hatte sie nicht gerechnet. Es wurde kurz still, nur die Hunde unterhielten sich mit leisen fiepsenden Lauten. Die beiden sahen ihnen zu und dann blickte Hannah zur offenen Haustür. Hatte sie etwa Hoffnung, das Mädchen aus dem Park würde noch kommen?

»Seid ihr Geschwister?«, fragte Hannah schließlich. Die jungen Mädchen waren sich nicht wirklich ähnlich.

»Nein. Sie ist meine Freundin.«

»Oh«, gab Hannah erstaunt von sich.

»Nein.« Das Mädchen kicherte. »Nicht diese Art von Freundin. Eher die Schulfreundin.«

»Ach so«, sagte Hannah und wirkte schon fast erleichtert.

»Aber anscheinend bist du diese Art von Freundin? Ist sie dein Typ?« Die Augen der Rothaarigen funkelten amüsiert.

»Ähm …« Die Fremde war so frech, dass Hannah ins Schleudern kam. Ihr fehlten die Worte und das Mädchen lachte lauter.

»Ich bin Jule«, stellte sie sich schließlich vor und reichte Hannah nicht die Hand, weil sie sie vor Kälte unter den Achseln geklemmt hatte. »Mona und ich studieren. Ihre Eltern sind schon einige Zeit gemeinsam auf Weltreise und da Mona nicht allein sein wollte, durfte ich einziehen.« Jule sah sich um, blickte ein weiteres Mal hinter sich zum Reihenendhaus. »Schon ’ne schicke Gegend. Ich hatte Glück.« Beide schmunzelten.

»Eine Weltreise ist schon cool«, meinte Hannah dann. Jule nickte und irgendwie hatten sie nicht mehr zu erzählen. Die Sonne ging langsam auf. Das Dunkel am Himmel wurde grauer. Die Hunde hatten noch immer nicht genug voneinander und fingen an, ihre Pfoten durch die Gitter zu stecken. Sie wollten beieinander sein. Wie verliebt sie waren.

»Ach, ja«, meinte Hannah schließlich, »und ich bin Hannah.« Diesmal reichte sie aus Höflichkeit die Hand. Jules Finger waren eiskalt und Hannah lächelte bedrückt. Sie nahm die Kälte in Kauf, damit sich Bella heimlich mit Antti treffen durfte.

»Warum steht die Tür auf?! Wir heizen doch nicht für draußen!«, kam es schrill durch die offene Haustür. Jule und Hannah zuckten vor Schreck zusammen. Selbst die Hunde sahen von ihrem Liebesspiel auf. »Jule?! Und warum steht die leere Packung Milch im Kühlschrank?!«

»Damit du weißt, dass sie leer ist und du sie nachkaufen sollst!«, rief Jule ihr zu. Hannah verkrampfte. Die beiden waren so laut, sie fürchtete spätestens jetzt würden die Nachbarn auf der Matte stehen. Doch niemand ärgerte sich über die Schreihälse. Anscheinend waren es die Anwohner gewohnt.

»Herrgott! Wenn Milch im Kühlschrank steht, dann denk ich doch, dass sie voll ist!«, rief Mona dann.

»Und wie willst du wissen, wann sie leer ist?!« Jule stand da wie ein trotziges Kind.

»Warum schreibst du es nicht wie jeder normale Mensch auf den Einkaufzettel?!« Mona kam zur Tür, die Milchpackung in der Hand. »Warum muss ich mich immer um alles kümmern?! Ich muss lernen und die Küche sieht wieder aus wie Sau!« Plötzlich versteinerte sie. Monas Augen wurden schmal, als würde sie ohne Brille nicht in die Ferne sehen können. Hannah sträubten sich die Haare. Sie ahnte, was auf sie zukam.

»Wir sollten dann«, meinte sie hastig. Doch Antti hielt sie auf. Er wollte nicht gehen.

»Hey!«, rief Mona schließlich. Sie hatte Hannah wiedererkannt und kam zielstrebig auf sie zu. Vor Zorn zog sie die Schultern hoch. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie Ihren Hund fernhalten sollen!« Diesmal warf sie Jule einen giftigen Blick zu und schnappte sich ihr Mädchen. Antti regte sich auf, stellte sich auf die Hinterbeine und stützte sich ans Tor. Er wollte Bella zurückhaben, er kläffte, doch Mona stampfte wütend davon.

»Ich habe mein Bestes versucht«, sagte Jule und seufzte. Sie kraulte Antti am Nacken. Damit ließ er sich nicht trösten und fiepste Bella laut hinterher. »Sie wird mich jetzt wohl umbringen. Ich gehe lieber rein, dann habe ich das Donnerwetter hinter mir.«

»Danke«, sagte Hannah schwermütig.

Am Abend legte sich Hannah früh ins Bett. Der Arbeitstag war anstrengend gewesen, dass sie zu müde war, sich ein Brot zu schmieren, geschweige irgendetwas für sich zu kochen. Ihre Mutter hatte während der Arbeit angerufen. Hannah hatte nicht die Möglichkeit gehabt zu antworten und jetzt war es zu spät. Dann musste Hannah noch mit Antti raus, um eine kleine Runde zu drehen. Eigentlich wartete er immer ungeduldig vor der Wohnungstür, bis sie die Treppe hinaufkam. Aber diesmal war er ausgeglichen. Ob der nette Nachbar von nebenan heute länger mit ihm unterwegs gewesen war? Karl war fünfunddreißig, arbeitslos und dass er nichts zu tun hatte, frustrierte ihn. Für ihn war es eine gefundene Abwechslung, wenn er mit dem Hund nach dem Mittag aus dem Haus konnte. Was für ein Glück Hannah hatte. Sonst hätte Antti in eine Tierpension gemusst. Es gab da noch die Alternative für einen Hundesitter, aber das kostete wieder Geld. Egal, wohin sie sich streckte, nichts war umsonst.

Antti kletterte aus dem Körbchen und setzte sich zu Hannah ans Bett. Es war so niedrig, dass er sie mit der Schnauze anstupsen konnte. »Hast du schon Hunger?«, fragte sie und Antti fiepste. Anscheinend hatte der liebestolle Hund sein Mädchen nicht vergessen und suchte Trost. Er stupste weiter mit der Nase, schnupperte an Hannahs T-Shirt. Sie glaubte, dass sie mit dem Mittagessen gekleckert haben musste, als Antti weiter witterte. Vorsichtig schnüffelte er über ihren Bauch, über ihren Brustkorb, er weitete die Augen und stieß gegen Hannahs Brust.

»Aua«, jammerte sie, als die Stelle schmerzhaft stach. Sie schubste den Hund, der anfing zu quengeln. Hannah setzte sich auf. Der Schmerz klang noch immer nach, obwohl Antti gar nicht so grob gewesen war. Hannah tastete die Stelle ab. Seitlich an ihrer rechten Brust war etwas Hartes, wenn sie drückte. Wann hatte sie sich bei der Arbeit gestoßen?

3

»Zuerst ist da Wasserdampf, der abkühlt und zu winzigen Tropfen kondensiert. Er setzt sich an Partikeln ab, einem kleinen Staubkorn. Kühlt es weiter ab, bilden sich Eiskristalle. Sie werden schwerer, fallen und verketten sich miteinander.« So oder so ähnlich entstanden Schneeflocken. Das hatte Hannah zumindest einmal gelesen.

Ein paar Tage waren verstrichen und am Morgen, bevor es hell wurde, fielen sie weich und sanft vom Himmel. Die einzelnen dicken Flocken schwebten dahin und schmolzen, da berührten sie kaum den Boden. Es war noch nicht kalt genug, um Schneemänner zu bauen. Dafür war es grau, die ganze Zeit über, nur der unangekündigte Schneefall erhellte für einen Moment die Gemüter der Menschen.

Hannah und Antti machten sie wie gewohnt auf den Weg zum Park. Auch wenn es noch zu warm für die Schneeflocken war, bibberte Hannah und tröstete sich damit, dass sie der Spaziergang früher oder später aufwärmen würde. Antti schnappte spielerisch nach einigen Flocken und sprang ihnen sogar entgegen. Dann blieb er stehen, blickte sich um und spielte weiter. Er hielt Ausschau nach den Kindergartenkindern. Aber es schien, dass sie noch nicht losgegangen waren.

Nach einigen Metern kamen sie am Kindergarten an und Antti ging am bunt beklebten Fenster auf und ab. Dann stemmte er sich an die Fensterbank, wie der große böse Wolf, der die Kinder fressen wollte. Doch wie er freudig die Zunge ausstreckte und sie seitlich heraushing, sah eher aus wie ein süßer Tollpatsch. Die Kinder bemerkten ihn sofort und liefen allesamt zum Fenster. Einige hatten bereits ihre Stiefel und Regenhosen an. Diesmal waren sie spät dran. Die Kinder trommelten an die Fensterscheibe und grölten, damit Antti sie ja nicht überhörte. Hannah lachte und entdeckte die junge Erzieherin, die sie unter der Woche fast täglich sah. Sie trug bunte Socken, eine helle Jeans und einen weißen Strickpullover. Hannah lächelte verlegen und winkte ihr zu. Die Kindergärtnerin tat es ihr gleich und blieb auf Abstand. Schließlich rief sie die Kinder zu sich und einer nach dem anderen begab sich zurück, um sich anzuziehen.

---ENDE DER LESEPROBE---