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Sarah weiß, sie muss etwas verändern. Durch den Hass in ihrer Vergangenheit ist sie zu einem Menschen geworden, der sie nicht länger sein möchte. Doch so schnell kann sie keinen Schlussstrich unter ihr rechtsradikales Leben ziehen. Nach einem Verkehrsunfall wacht sie im Krankenhaus auf und wird dort von der liebenswerten syrischen Schwester Almina umsorgt. Mit dunkler Haut und honigfarbenen Augen stellt sie Sarahs Leben auf den Kopf.
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Inhaltsverzeichnis
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Jolene Walker
Rechts vom Leben findest du keine Liebe
Roman
Deutsche Erstausgabe
Mai 2016
Impressum
Copyright: © 2016 Jolene Walker
c/o AutorenServices.de
König-Konrad-Str. 22
36039 Fulda
Ihr könnt mich auf Twitter finden:
twitter.com/walkerjole
Lektorat: Rohlmann & Engels
Korrektorat: D. Eichhorn-Zeller
Cover unter Lizenzierung eines Motives von Joe Belanger aus Shutterstock.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Etwaige unerlaubte Verbreitungen werden strafrechtlich verfolgt.
Sarah
»Vaterland! Vaterland! Vaterland!
Unser Vaterland geht unter.
Seht ihr nicht den Dreck der Fremden, die unser Land beschmutzen?
Vaterland! Vaterland! Vaterland!
Unser Vaterland geht unter.«
Die Musik dröhnt ohrenbetäubend aus den Lautsprechern. Ein groß gewachsener Sänger steht mit seiner Band auf einem Podest und brüllt sein Lied ins Mikrofon. Schweißperlen laufen an seiner Glatze hinunter. Die Luft ist schwül und so dick, man könnte sie schneiden. Der tanzenden Meute ist das egal. Mein Bier schmeckt nicht. Ich drücke die Flasche irgendjemandem in die Hand und dränge mich durch die Menschenmenge zum Ausgang. Es ist ein Freitagabend wie jeder andere. Zusammen mit Freunden bin ich Zur Halle, um etwas zu feiern und den nervigen Alltag zu vergessen.
Doch heute ist irgendwie alles anders. Heute kotzt mich mein Leben besonders an.
Draußen an der kühlen Luft geht es mir besser. Die schwere Tür der ehemaligen Fabrikhalle knallt zu und die Musik klingt nur noch dumpf durch die dicken Betonmauern. Ich ziehe den frischen Wind in die Nase und mein Magen fühlt sich weniger flau an. Neben dem Eingang steht ein knutschendes Paar. Ich gehe an den beiden vorbei und lehne mich einige Meter von ihnen entfernt ans Gebäude. Aus meiner dunklen Lederjacke hole ich ein Feuerzeug und eine zerdrückte Schachtel Zigaretten mit Selbstgedrehten hervor. Ich schüttle die Packung, bis eine Kippe an der offenen Seite herausragt, und fische sie mit den Lippen heraus, um sie anzuzünden. Der Stängel glimmt auf und ich kann den scharfen Qualm tief in mich hineinziehen. Ich rauche zwar nicht oft, aber es ist ein schöner Zeitvertreib.
Über den brachliegenden Ackerfeldern scheint die Abendsonne und verabschiedet sich für den Tag. Ich sehe ihr bedrückt nach, bis das Paar neben mir heftiger knutscht und ich unwillkürlich hinschaue.
Das Mädchen trägt Springerstiefel und eine Halbglatze - besser gesagt, einen Sidecut, mit langen, dunkel gefärbten Haaren. Ihre schwarze Netzstrumpfhose ist an einigen Stellen zerrissen und ihr Rock ist viel zu kurz. Sie ist an der Nase gepierct und stark geschminkt. Wenn ich solche Mädels sehe, kann ich nie ausmachen, ob es doch nur Punker sind. Der Typ sieht unscheinbar aus. Niemals würde man auf die Idee kommen, er wäre einer von uns. Gebügeltes Hemd, teure Sneakers und 'ne ganz normale Frisur. Keine Glatze, keine Bomberjacke und keine auffälligen Tattoos.
Nach einer Weile wende ich meinen Blick von dem Pärchen ab. Ich hole tief Luft und seufze leise. Meine letzte Beziehung ist lange her. Ich bin mit meinen Klamotten und meiner Art kein typisches Mädchen. Die Jungs mögen das nicht so gerne. Als ich noch in der Schule war, habe ich mich herausgeputzt. Aber irgendwann holte mich das wirkliche Leben ein und ich hatte keine Zeit mehr, mir das Gesicht zuzuspachteln.
Die Tür knallt auf und die Musik wird wieder laut. Torkelnd kommt ein Typ raus. Es ist abends, kurz vor neun, und mein Freund Ben ist jetzt schon sturzbetrunken. Ich stoße mich mit dem Fuß von der Wand ab und komme ihm zu Hilfe.
»Was hast du in der kurzen Zeit alles getrunken?«, nuschle ich mit der halb aufgerauchten Zigarette zwischen den Lippen. Er lacht kurz und krümmt sich dann, als würde er jeden Moment erbrechen. Das hat mir jetzt noch gefehlt! Doch Ben holt nur tief Luft und richtet sich auf. Als hätte er, genau wie ich, nur aus der stickigen Partybude rausmüssen. Er atmet noch einmal auf und fährt sich mit den Fingern durch die strubbeligen blonden Haare. Ben ist viel größer als ich, dabei bin ich mit meinen 1,76 nicht gerade klein. Er sieht athletisch aus, obwohl er kaum einen Finger krümmt und sich dazu so ungesund ernährt. Ich würde es kaum glauben, wenn ich ihn nicht fast täglich an der Backe hätte.
Die Sonne ist nicht mehr da. Es ist dunkel und ein paar Straßenlaternen an der unbefahrenen Landstraße leuchten.
»Ich muss mal«, stöhnt Ben und stampft über den Kies hinters Gebäude.
Die Turteltäubchen neben dem Eingang lassen sich wirklich nichts nehmen. Sie küssen sich noch immer, als gäbe es kein Morgen. Während er sich die Hosen zumacht, kommt Ben zurück. »Was tust du eigentlich hier draußen?«, fragt er mit halb offenen Augen.
»Mir war‘s zu laut«, antworte ich und zucke mit den Schultern. Ich lasse den glühenden Zigarettenstummel auf den Boden fallen und trete ihn aus. »Können wir nach Hause?«
»Jetzt schon?«
»Ich muss arbeiten. Hab ich dir doch gesagt.«
»Lass uns noch ein wenig bleiben.«
Genervt sehe ich ihn an. Es ist immer dieselbe Leier. Ben kreuzt mit Freunden bei mir zu Hause auf, quengelt so lange, bis ich nachgebe und schließlich mit ihnen herkomme. Er verspricht mir, mich vor zehn wieder nach Hause zu bringen, damit ich ausgeschlafen am nächsten Morgen zur Arbeit kann. Doch wie immer hält er sich nicht daran!
»Immer derselbe Scheiß. Darauf habe ich echt keinen Bock mehr. Hast du 'ne Ahnung, wie anstrengend es ist, morgens um vier Paletten auszupacken, wenn du todmüde bist?«
»Mach blau«, meint er albern.
»Ich will meinen Job behalten und es wäre gut, wenn du bald auch mal wieder arbeitest«, gebe ich vorwurfsvoll von mir.
»Für was die Mühe? Hä? Früher oder später nimmt ihn dir eh ein Ausländer weg. Was machst du dir vor? Die arbeiten doch für einen Appel und ein Ei.«
Ben spielt auf seine letzte Anstellung bei einem Automobilhersteller an, wo er am Band tätig war. Anfang des Jahres baute seine Firma Stellen ab und Ben wurde entlassen. Das pisst ihn noch immer an. Er ist der Meinung, dass ihm die Polen den Job weggenommen haben, wobei ich ganz genau weiß, dass er einfach nicht hart genug gearbeitet hat. Er nahm sich Urlaub und nach dem Urlaub ließ er sich krankschreiben, obwohl er nicht krank war. Gesund genug fürs Partymachen war er jedenfalls.
»Wir haben beide nur ein Abgangszeugnis und in der Vergangenheit zu viel Scheiße gebaut, als dass wir darauf hoffen können, einen Bürojob zu bekommen. Meinst du, ich hab Bock drauf, in der Kühlhalle von Peters zu arbeiten? Aber ich bezahle wenigstens selber meine Miete.«
»Alter …« Ben rüttelt entsetzt an meiner Schulter. »Du hörst dich an, als würdest du 'nem Schwarzen den Schwanz lutschen. Was ist denn los mit dir?«
»Wie kommst du auf den Scheiß?!«, fauche ich. Dabei wandert mein Blick zu dem Pärchen. Die beiden haben ihr wildes Gefummel abgebrochen und lauschen unserer Auseinandersetzung.
»Was gibt es da zu gucken?!«, fahre ich sie an. Eingeschüchtert gehen beide händchenhaltend in Richtung der Parkplätze.
»Du nimmst dieses Pack doch nicht etwa in Schutz?«, entgegnet mir Ben wütend.
»Das habe ich nicht gesagt! Aber du verhältst dich wie ein Riesenbaby. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Benutz dein Hirn, anstatt immer hier rumzuhängen. Setz dich vor den PC und such dir einen Job!«
»Du hast dich verändert … Ich wollte es nicht sagen, aber du kommst mir schon länger von oben herab vor.« Ben wendet sich aufgebracht ab. Er scheint nicht zu wissen, wo ihm der Kopf steht.
»Dir stinkt die ganze Bude und die Leute sind dir nicht mehr gut genug. Alles ist für dich ein Spiel, das ist es aber nicht! Wir sind füreinander da, aber auf dich ist kein Verlass mehr. Du kommst ja nicht mal mehr zu den Versammlungen!«, ruft er und schaut mich enttäuscht an. »Die Leute tuscheln schon. Ständig nehme ich dich in Schutz. Weißt du was?! Ich bin lieber arbeitslos, als für einen Türken zu arbeiten, und dafür werde ich von den anderen respektiert. Dabei bist du meine beste Freundin. Du solltest mich unterstützen.« Ben macht mir ein schlechtes Gewissen und hat Erfolg damit. »Wir waren für dich da, als die Schwarzköpfe dich mit dem Messer bedroht haben. Wir haben dich gerächt, als das Pack dich wegen deines Tattoos krankenhausreif geprügelt hat. Wegen deiner Ideale, deiner Freunde, deiner Familie …«
Ich schlucke an Bens Worten. Er hat recht. Die Sachen, die sie für mich in der Vergangenheit getan haben, hatte ich fast verdrängt.
»Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit mir los ist. Ich glaube, ich sollte mich wirklich krankschreiben lassen.« Ich stöhne und weiß selbst nicht mehr, was nicht mit mir stimmt. Früher habe ich gerne mit Ben gefeiert.
»Das hört sich doch nach 'nem Plan an. Komm, noch ein Bier, dann fahren wir.« Über meine Antwort sichtlich erfreut, legt Ben grinsend seinen Arm um meine Schultern und bringt mich zurück zur Feier.
Bei einem Bier ist es nicht geblieben. Die meisten sind schon weg, als Ben und ich uns zu seinem Wagen schleppen. Vom vielen Alkohol ist mir schlecht und etwas schwindelig.
»Wir sollten ein Taxi rufen«, schlage ich Ben vor. Auch wenn ich betrunken bin, kommt mir die Idee, ihn fahren zu lassen, absurd vor.
»Nein«, mault er.
Ich weiß, warum er kein Taxi rufen will. Er hat Panik, dass er auf dem Rücksitz eines ausländischen Fahrers landet. Aber es gibt Momente, da muss man seinen Stolz hinunterschlucken.
»Dann lass mich fahren«, sage ich, da ich denke, dass ich viel nüchterner bin als er.
»Nein«, mault er weiter und sucht in seinen Jackentaschen die Autoschlüssel zu seinem alten, blaugrauen Passat. »Du hast nicht mal 'nen Führerschein. Wenn die Bullen uns anhalten, bekomme ich deinetwegen Ärger.« Er hat recht, aber fahren kann ich trotzdem. Früher habe ich oft den Wagen von meinem Vater geklaut, wenn ich nachts noch zu Freunden wollte.
»Aber du bist betrunken! Du bekommst so oder so Ärger, wenn sie uns anhalten.«
»Wenn du keinen Bock hast, kannst du ja zu Fuß nach Hause!«, lallt Ben und macht seine blauen Augen ganz schmal, als müsse er mich fokussieren, um mich zu erkennen. »Jetzt halt die Klappe und steig ein.« Nachdem er den Wagen aufgeschlossen hat, schwingt er sich hinters Lenkrad.
Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass Ben nach Feiern ständig betrunken nach Hause fährt und bisher nichts passiert ist. Diesmal wird bestimmt wieder alles gut gehen. Trotzdem kommt es mir vor, als würde ich mich aus Bequemlichkeit belügen.
Schließlich gebe ich mich geschlagen und steige in seine müffelnde Schrottkarre ein. Mit dem Fuß schiebe ich die alten McDonalds-Tüten beiseite und mache mir Platz.
Ben startet den Wagen und schnallt sich an.
»Warum hast du noch immer keinen Führerschein?«, nörgelt er und gibt ein bisschen zu viel Gas, als er aus der Parklücke rausfährt. Fast kippe ich aus dem Sitz.
»Ich habe keine Lust, dafür Geld auszugeben, und die Straßenbahn fährt auch überall hin.«
»Du arbeitest, genug müsstest du doch haben«, gibt Ben aufgeblasen von sich. Vermutlich will er mir damit vorwerfen, dass er - obwohl er nicht arbeitet - einen Führerschein und sogar ein eigenes Auto besitzt.
»Die Miete ist einfach zu teuer. Das meiste geht dafür weg«, sage ich und lasse mich nicht von ihm reizen.
Es geht nie gut aus, wenn Ben und ich uns streiten. Wir sticheln gerne und machen uns gegenseitig auf unsere Fehler aufmerksam, für die wir beide keine Lösung haben. Das steigert sich, bis wir so heftig diskutieren, dass wir fast aufeinander losgehen. Ben und ich, wir können nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Schließlich gebe ich immer nach, weil ich Ben liebe wie einen Bruder. Ich habe ihm so viel zu verdanken, dass ich es nicht riskieren will, ohne ihn zu sein. Es wäre vielleicht besser für mich, aber so undankbar bin ich dann doch nicht.
»Du könntest mit Marianne zusammenziehen. Sie sucht bereits länger nach einer Mitbewohnerin.«
»Nee. WG ist nicht mein Ding«, antworte ich, was gelogen ist. Es könnte mir finanziell besser gehen, wenn ich mit jemandem die Miete teilen würde. Aber die Leute in unserem Freundeskreis sind mir einfach zu krass. Ich habe keinen Bock, mir die ganze Zeit ihre Parolen anzuhören und wie sie sich ständig über Kleinigkeiten aufregen, die mit Ausländern zusammenhängen. Alleine belgische Kartoffeln werden zu einem Diskussions-Aufhänger. Und auf fremde Menschen habe ich auch keine Lust. Ich muss vertuschen, wer ich bin und was ich so mache. Das nervt, weil die Leute ungern mit einem aus der rechten Szene zu tun haben wollen. Dabei haben sie im Geheimen eigentlich die gleichen Gedanken wie wir und sind nur zu feige, es auszusprechen oder dazu zu stehen.
Merkwürdig. Schon die ganze Fahrt habe ich das Gefühl, dass ich etwas vergessen habe. Ich taste nach meiner Brieftasche und meinem Handy. Alles da. Auch die Zigaretten und das billige Feuerzeug.
»Warum ist die Scheißstraße so dunkel?« Ben regt sich auf. Er beugt sich zum Lenkrad vor und sieht mit schmalen Augen hinaus auf die Straße. Ich tue es ihm gleich.
»Du Idiot hast vergessen das Licht anzumachen.« Ich lehne mich zurück in den Sitz und lache über seine Dummheit.
»Ach so.« Ben staunt und schaltet es ein. Ich atme ein und irgendwie wird mir schlechter, als mir eh schon ist. Vermutlich liegt es am Gestank des Wagens.
»Mir ist übel«, raune ich und halte mir den Magen.
»Kotz mir bloß nicht ins Auto!«
Was regt er sich eigentlich so auf? Sein Wagen würde nicht schlimmer stinken als der Mief, der ohnehin schon in den Sitzen hängt. Unüberlegt streckt sich Ben plötzlich zu meinem Fenster und will an der Kurbel drehen.
»Bist du bescheuert?! Ich kann das selber. Halt den Wagen an, ich muss kotzen!« Ich schubse Ben von mir, dabei reißt er das Lenkrad herum. Der Wagen kommt ins Schleudern! Panisch klammere ich mich an das Armaturenbrett und versuche mich festzuhalten. Die Reifen quietschen, im nächsten Moment kracht es und alles ist schwarz. Ich höre Ben nach mir rufen, die Sirenen schrillen, meine Lider sind so schwer, ich kann sie nicht öffnen. Jemand Fremdes spricht mich an. Ich kann nicht antworten. Obwohl so viel los ist, bleibe ich ruhig. Ich schlafe ein, einfach so.
Sarah
»Können Sie mich hören? Frau Scholz?«
Nur dumpf nehme ich die junge Stimme einer Frau wahr. Ich will antworten, aber mein Mund fühlt sich taub an. Ich versuche die Augen aufzuschlagen, doch sie sind so schwer wie Blei. Ich spüre irgendwie nichts, außer dass mein kalter Körper in einem warmen Bett liegt, und die glatten Laken an meinen nackten Beinen. Ich versuche den Arm zu heben, aber scheitere kraftlos. Ich werde unruhig, bis warme Finger in meine Hand gleiten und sie festhalten.
»Es wird alles gut, Sarah. Ich bin hier …«, flüstert die junge Frau mit lieblich sanfter Stimme. Es schnürt mir den Hals zu und mir rollen die Tränen an den Augenwinkeln hinunter. Ich habe Angst. Was ist nur los mit mir? Ich fühle schmale Finger an meiner Wange, die mir die Tränen wegwischen. Ich seufze erleichtert und finde endlich die Kraft, die Hand, die mich hält, zu drücken.
»Du musst schlafen, um gesund zu werden.«
Nur benommen nehme ich die Worte wahr, als mein Kopf zur Seite kippt und ich wieder einschlafe.
Von Panik erfasst reiße ich die Augen auf, ich schnappe nach Luft und versuche mich hektisch aus meiner liegenden Position aufzurichten. Wo bin ich hier?! Mit schmerzverzerrtem Gesicht sehe ich mich um und erkenne Betten neben mir. Mein ganzer Körper tut mir weh! Es liegt eine Schwesternklingel in meiner Hand. Ich bin im Krankenhaus? Was ist passiert?!
Ohne zu überlegen, drücke ich mit dem Daumen auf den gelben Knopf. Ein Lämpchen leuchtet an der Zimmerwand auf. Schon höre ich hallende Schritte im Flur, die Tür geht auf. Eine junge Frau in weißer Kleidung kommt herein. »Hallo, Frau Scholz«, begrüßt sie mich und stellt sich eilig zu mir ans Bett. Sie dreht am Rad meiner Infusion.
»Sie müssen sich beruhigen. Es wird alles gut«, sagt sie und dreht weiter und klopft gegen den kleinen Behälter, der am Schlauch hängt. »Ich erhöhe jetzt die Dosis Ihres Schmerzmedikaments. Gleich geht es Ihnen besser.« Es dauert einen Moment, bis ein kalter Schauer durch die Nadel in meinem Handrücken strömt und sich dann in meinem kompletten Körper verteilt.
Erst als sich meine Muskeln entspannen, bemerke ich den Gipsverband am linken Arm und das Metallgerüst am rechten Bein. Was?! Mein Bein lugt unter der Decke hervor und ruht auf einem keilförmigen grauen Kissen. Der Anblick ist angsteinflößend. Vom Knie abwärts sind die Haut gelblich und meine Zehennägel orange verfärbt. Drei Metallringe umspannen mein Bein und der vierte liegt am Fußgelenk, damit es angewinkelt bleibt. Die Ringe sind mit Metallstangen verbunden, die in mein Bein verschwinden. Mit flauem Gefühl im Magen klopft mein Herz schneller.
Überfordert von der Situation, sehe ich hilflos hoch zu dieser Frau, die laut Namensschild eine Krankenschwester ist. Sie ist Ausländerin. Na toll, ich kann nicht mal ihren Namen aussprechen. Musste ausgerechnet sie kommen? Ich will nicht von ihr behandelt werden!
Als die Schwester bemerkt, wie aufgeregt ich bin, sieht sie mich an und legt ihre Hand behutsam auf meine Schulter.
»Sie haben das Gröbste überstanden.« Ihre vollen Lippen formen ein liebevolles Lächeln. Ihre Augen glänzen honigfarben und ihre Haut ist viel dunkler als meine. Das schwarzbraune, gewellte Haar trägt sie in einem langen Pferdeschwanz. Viel zu lange starre ich die hübsche Fremde an. Die Berührung erdrückt mich mit einem Mal. Ich schlage ihre Hand weg und bereue es im gleichen Moment, als ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht. Aber was betatscht sie mich auch? Mit schlechtem Gewissen lenke ich von der Situation ab.
»Ben? Was ist passiert? Wo ist Ben?«, nuschle ich leise und kämpfe gegen die plötzliche Kraftlosigkeit.
»Ihrem Freund geht es gut. Sie hatten einen Verkehrsunfall. Der Fahrer verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallte bei voller Fahrt gegen einen Baum. Sie waren nicht angeschnallt …«
»Genau … das war es. Ich hatte vergessen mich anzuschnallen.« Als ich den Satz mit Mühe hervorgebracht habe, schließen sich meine Augen. Die Müdigkeit übermannt mich, als würde mich mein Körper vor der Panik beschützen wollen. Bevor ich wirklich weg bin, fühle ich nochmals, wie die schmalen Finger meine Stirn abtasten und meine Wange zärtlich streicheln. Diesmal erdrückt mich das befremdliche Gefühl nicht.
Als ich die Augen wieder öffne, bin ich ganz allein im Krankenzimmer. In meinem Körper ziept es mal hier und mal dort. So ruhig wie möglich bleibe ich liegen. Und diesmal geht es mir besser. Fast schmerzlos ruhe ich im Krankenbett. Ich habe Hunger. Die Schwesternklingel liegt nicht mehr in meiner Hand. Nur ein kleines Stück richte ich mich auf und sehe zu Boden. Die Klingel hängt am Bettende. Sogar das Kabel ist zu weit weg, um es zu erreichen, und macht es mir somit unmöglich, das Ding heranzuholen.
Neben meinem stehen noch zwei weitere Betten. Sie sind unberührt und mit einer großen, milchigen Plastikfolie bedeckt. Das bedeutet wohl, dass ich das Zimmer für mich alleine habe, was mich ungemein erleichtert.
Auf dem Gang höre ich Schritte und rollende Wagen. Anscheinend wird gerade das Essen verteilt. Darauf wartend, dass jemand kommt, sehe ich mich im Zimmer um. Die Wände sind in einem hellen Gelbton gestrichen. Ein Kruzifix hängt zwischen zwei eingerahmten Bildern. Gegenüber von meinem Bett steht ein kleiner Tisch aus hellem Holz. Darunter stehen zwei Hocker aus dem gleichen Material und daneben ein großer Stuhl. Ich sehe zu den Schränken, die am anderen Ende des Zimmers stehen. Ob mir jemand Kleidung gebracht hat? Wo steckt Ben? Ihm geht es gut, oder? Die Schwester hatte es gesagt. Und wo ist Papa? War klar, dass wieder kein Verlass auf ihn ist.
Ich hebe die Bettdecke und sehe auf das Patientenhemd, das ich trage. Es ist weiß und mit dunkelblauen Ornamenten bedruckt. Das Material raschelt mit jeder Bewegung. Ich brauche vernünftige Klamotten. Wo sind eigentlich meine Sachen? Soweit es mir möglich ist, drehe ich mich nach links und zum Nachttisch hin. Wenn, dann können die Wertgegenstände nur dort sein. Vorsichtig strecke ich mich und ziehe mit den Fingerspitzen meiner rechten Hand die Schublade heraus. Ächzend lehne ich mich noch weiter zur Seite. Wie ich es mir dachte: Mein Handy liegt neben meiner Geldbörse und dem Schmuck. Auch die zerknautschte Zigarettenschachtel ist dabei. Aber eine zu rauchen ist das Letzte, was ich jetzt will. Ich greife mir mein Handy und kann mich endlich wieder richtig hinlegen.
»Verdammt«, fluche ich niedergeschlagen. Das Display ist total zersplittert. Ich schalte es ein, jedoch bleibt der Bildschirm schwarz. Vermutlich ist der Akku leer oder das Handy ist beim Unfall kaputtgegangen. Wie lange liege ich hier?
»Scheiße«, ärgere ich mich ausgelaugt. Wissen die auf der Arbeit, dass ich im Krankenhaus bin? Wenn nicht, schmeißt Mehmet mich sicher raus. Er sucht nur nach Gründen, um mich loszuwerden, und er hasst mich, was auf Gegenseitigkeit beruht.
Als Mehmet als Vorarbeiter in unserer Firma anfing, konnte er mich gut leiden. Weil ich eine der wenigen Frauen bin, gab er mir meistens nur die leichten Aufgaben. Ich fand es unnötig und ungerecht gegenüber den Männern, trotzdem sagte ich nichts, weil es mir meine Arbeit erleichterte.
Irgendwann sah mich Mehmet zufällig, als ich mit Freunden am Wochenende in unser Vereinshaus ging. Ab da wusste er, was für eine ich war. Denn das Vereinshaus ist den Menschen in der Umgebung bekannt. Die Sympathie mir gegenüber verflog. Seitdem macht mir Mehmet meinen Job schwerer, als er eh ist. Ich habe versucht irgendwo anders Fuß zu fassen, aber kein Arbeitgeber war bereit mich einzustellen. Ich vermute, dass Mehmet auch da seine Finger im Spiel hatte.
Ich stöhne und schließe die Augen. Die Zeit will nicht vergehen. Ich hoffe darauf, dass ich wieder einschlafe, doch diesmal finde ich keine Ruhe.
Plötzlich klopft es einmal laut an der Tür. Ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, dass jemand kommt.
»Mahlzeit!«, kräht eine ältere Frau und bringt mir ein Tablett an den Nachttisch. Sie zieht die Tischplatte hervor und stellt es dort ab. Ihre kurzen, dunkelblonden Haare trägt sie in einem viel zu großen Haarband, das mich an die Neunziger erinnert. Sie wünscht mir noch einen guten Appetit und verschwindet wieder, als wäre sie auf der Flucht vor mir.
Die Tür fällt zu. Mühevoll versuche ich mich aufzurichten, aber scheitere kläglich. Mein Bauch tut weh. Ich decke mich auf und taste über meine Seite. Was ist das? Ich fühle ein breites Pflaster und einen Schlauch, der unter dem Hemd bis zum Oberschenkel führt. Ich hebe den Kittel an und entdecke zu meinem Entsetzen einen Plastikbeutel mit blutigem Inhalt. Durch das Pflaster geht ein Katheter, der das Wundwasser in den Beutel transportiert. Ich lasse den Kopf zurückfallen.
»Fuck.« Sie haben mein Tattoo gesehen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Niemand kommt und sieht nach mir. Niemand holt das Tablett ab, das ich nicht mal anrühren konnte, weil es zu weit entfernt von mir steht. Die mürrische Dame von der Essensvergabe hat den Tisch von mir weggeschoben, als sie die Tischplatte auszog. Am ausgestreckten Arm verhungern, bekommt eine ganz neue Bedeutung für mich.
Mein Blick wandert zu dem Tropf, dessen Beutel fast leer ist. Gelangweilt fange ich an am Gipsarm herumzupulen. Meine Hand fühlt sich taub an und die Finger, die halb aus dem Gips schauen, sind geschwollen. Ich wackle mit den Zehen meines operierten Beines und zucke vor Pein zusammen. Das war keine gute Idee. Langsam klingt der Schmerz ab. Ich stöhne und sehe erwartungsvoll zur Tür. Ich denke nicht, dass heute noch jemand kommt, um nach mir zu sehen. Ich muss pinkeln. Schon viel zu lange sträube ich mich dagegen, aufzustehen. Doch ewig halte ich es nicht mehr aus. Schon zu lange habe ich einen unangenehmen Druck auf der Blase.
Angespannt decke ich mich auf. Sobald ich mich mit meinem rechten Arm aufstütze, höre ich auf zu atmen und zwinge mich dazu, mich aufzurichten. Wie ein Roboter versuche ich aus dem Bett zu steigen. Gerade sitzen kann ich nicht. Ich drehe mich zur Seite und jammere vor Schmerz. Mir schießen die Tränen in die Augen und ich japse nach Luft. Am liebsten würde ich liegen bleiben, aber ich kann nicht, sonst pinkle ich ins Bett. Ich habe vergessen an den Dränage-Beutel zu denken, der plötzlich auf den Boden fällt und mir fast die Bauchdecke aufreißt. Ich stöhne laut, mir wird vor Belastung übel und ich sehe schwarze Punkte. Ich kneife die Lider fest zusammen. Meine Hand zittert.
»Was machen Sie da?!« Eine Schwester steht plötzlich in der Tür. Ich erkenne sie nicht, weil mir die Tränen die Sicht versperren.
»Ich muss aufs Klo«, presse ich hervor.
»Warum klingeln Sie nicht?«, gibt sie empört von sich. Sie hat gut reden. Wie soll ich an die Klingel herankommen, wenn ich nicht mal selbstständig aufstehen kann?! Sie eilt mir zu Hilfe, aber drängt mich zurück ins Bett. Hat sie nicht verstanden, dass ich aufs Klo muss?
»Sie hängen am Urinbeutel, Sie müssen nicht zur Toilette«, sagt die Krankenschwester und drückt mich zurück ins Kissen. Was? Urinbeutel?
»Nein! Ich kann selbst zur Toilette.«
»Das haben wir gerade gesehen«, antwortet die Schwester trotzig.
Ich blinzele mir die Tränen aus den Augen und erkenne sie wieder. Es ist die Schwester, die mich vorher behandelt hat. Sie hat ihre dicke Jacke an. Kommt sie etwa von draußen? Sie beugt sich und hebt den Plastikbeutel auf. Die Bewegung überträgt sich auf den Katheter und wieder zieht es unangenehm im Bauch.
»Es wird alles gut«, sagt sie. Die Worte kommen mir so bekannt vor. Es flattert in meiner Brust.
Beruhigend legt sie mir ihre warme Hand auf die Schulter. Die Berührung tut mir unerwartet gut. Als ich mich endlich entspanne, zieht sich die Schwester hastig ihre Jacke aus.
»Ich muss wirklich«, sage ich und stöhne ausgelaugt.
»Lassen Sie einfach laufen.«
»Nein! Ich will das nicht«, zische ich und versuche mich gerade aufzurichten. Dabei schmerzt es mit einem Mal zwischen meinen Beinen.
»Ich kann Sie nicht zur Toilette tragen«, meint die Schwester streng. Genervt verziehe ich das Gesicht.
»Aua«, jammere ich und kneife die Augen zusammen. Mit der heilen Hand fahre ich zu meiner Scheide. Es tut weh!
Plötzlich ist die Schwester wieder ganz lieb, als sie merkt, dass ich Schmerzen habe.
»Ich sehe mal nach, was Ihnen fehlt«, meint sie. Sie deckt mich auf und hebt einfach meinen Kittel. Angestrengt sieht sie mir zwischen die Beine, bis jemand anklopft.
»Almina? Du bist noch hier?« Eine andere Schwester betritt das Zimmer. Anscheinend hat sie mein Gejammer hergelockt. Sie ist mollig, trägt rote, kurze Haare und eine Brille auf der Nase. »Ich dachte, du hast diese Woche Frühschicht. Warum bist du noch hier?«
»Ich bin gleich weg.« Almina kichert und in meiner Brust spüre ich wieder so ein komisches Flattern. Almina? Der Name kommt mir bekannt vor.
Almina, die ihren Feierabend für mich opfert, sieht wieder auf meine Scham, was mir ziemlich unangenehm ist. Die andere Schwester schließt die Tür zu einem schmalen Spalt und kommt mit knatschenden Latschen näher.
»Ist der Katheter draußen?«, fragt sie und linst über Alminas Schulter. Ich könnte mich ärgern, dass meine Vagina zum Schauplatz wird. Doch Almina bäumt sich auf, sodass sie ihrer neugierigen Kollegin den Blick versperrt, und zieht sich Einmalhandschuhe an.
»Nicht wirklich, aber ich kümmere mich darum«, sagt sie und lächelt mich verlegen an. Irgendwie sieht sie ziemlich süß aus. Sie zwinkert mir zu und ihre Wimpern erinnern mich an dunkle, aufgeschlagene Fächer. Die Krankenschwester mit den roten Haaren wirft einen skeptischen Blick auf meine Bauchdecke, aus der die Dränage hängt. Ich muss schlucken. Weiß sie etwa, was unter dem Pflaster ist? Ich werde nervös und schaue zu Almina. Sie verhält sich nicht auffällig. Ob sie es auch weiß? Ich denke nicht. Warum sollte sie mich behandeln wollen, wenn sie wüsste, was das Pflaster verdeckt?
»Gut. Scheint ja so, als hättest du alles unter Kontrolle. Aber mach nicht mehr lang. Du hast genug Überstunden.« Die andere Krankenschwester watschelt wie ein Pinguin über den Kautschukboden und schließt die Tür hinter sich. Als sie fort ist, schnaufe ich erleichtert auf und fühle, wie die Anspannung aus meinen Muskeln weicht.
»Aua«, jammere ich leise, als Almina den Katheter berührt und nachsieht, ob er noch sitzt.
»Tut es sehr weh?«, fragt sie und ihre Stimme ist ruhig und weich. Ich schüttle den Kopf und fühle, wie meine Augenlider immer schwerer werden. Die Müdigkeit legt sich erneut über mich. Doch ich bleibe wach. Almina ist noch hier.
Sie lächelt und deckt mich zu. »Der Katheter sitzt noch. Vermutlich hat der Ruck einfach zu sehr gezogen. Sollte das unangenehme Gefühl nicht abklingen, klingle lieber als es auszuhalten.« Almina siezt mich nicht mehr, das gefällt mir.
»Die Klingel hängt zu weit weg«, murmle ich und zeige zum Bettende. Almina geht zur Fensterseite. Sie nimmt die Klingel und streckt sich zum Nachtlicht, das über dem Kopfende meines Bettes hängt. Dabei ist sie mir so nah, dass ich ihr schwaches Deo rieche, das für heute seinen Geist aufgegeben hat. Mir ist ihr süßlicher Geruch nicht unangenehm. Im Gegenteil, es macht sie menschlich und irgendwie sympathisch. Schließlich stellt sich Almina nah an mein Bett und zeigt mir eine andere Fernbedienung, die sie in der Hand hält.
»Hiermit kannst du die Lehne vom Bett aufrichten.« Sie drückt auf einen der drei Knöpfe und langsam richtet sich mein Oberkörper mit der Matratze auf. Nicht viel, gerade mal so weit, dass ich etwas aufrechter sitze. Sie hängt den Apparat, der mit dem Bett verkabelt ist, an den Griff der Schublade meines Nachttisches und macht das mit der Schwesternklingel genauso, damit sie jederzeit griffbereit sind. Hinterher schiebt sie den Nachttisch zu mir, bis das Essen vor mir steht. Sie nimmt die Haube ab. Es gibt Brot und auf dem Tablett steht eine abgedeckte Suppenschüssel. Almina legt ihre schmalen Hände um die Schüssel und schnauft verärgert. Die Suppe ist sicher kalt. Aber mir ist es egal, ich will nur essen.
Ehe ich nach dem Löffel greifen kann, nimmt sie die Schüssel. »Ich mach das kurz warm«, sagt Almina und verlässt mit meiner Suppe den Raum. Wehleidig sehe ich ihr nach und kann es kaum erwarten, etwas in den Magen zu bekommen. Während ich Almina nachsehe, gehen zwei Schwestern an meiner Tür vorbei. Misstrauisch mustern sie mich, aber sind im nächsten Moment auch wieder verschwunden. Seufzend lehne ich meinen Kopf ans Kissen. Na klasse. Weiß jetzt jeder Bescheid? Schlimmer ist nur, dass sich auch noch eine Ausländerin um mich kümmert und ich es einfach zulasse. Ich habe keine Kraft, dagegen anzukämpfen. Ich will nur essen und schlafen und selbstständig aufs Klo gehen können. Mir ist es peinlich, dass ich wie eine alte Frau ans Bett gefesselt bin.
Es dauert, bis Almina zurückkehrt. Von Weitem höre ich ihre quietschenden Schuhsohlen. Sie geht langsam. Die heiße Schüssel balanciert sie gekonnt auf ihren Händen und bahnt sich ihren Weg zu mir. Es sieht witzig aus, wie sie hoch konzentriert auf die Schüssel schaut. Bei dem Anblick muss ich lächeln. Ungläubig erstarrt Almina in ihrer Bewegung und mustert mich. Verlegen beiße ich mir auf die trockenen Lippen und schiebe die Schuld für mein Verhalten auf die Schmerzmedikamente, die meine Sinne benebeln.
Nachdem sie die Suppenschüssel vor mir abgestellt hat, rückt sie den Tisch näher an mich heran. Die Brühe dampft und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Alminas Oberteil hat große Taschen, in denen sie eine weitere Infusionsflasche verstaut hat. Sie holt sie hervor und schließt sie an.
»Hier ist Schmerzmittel mit drin. Ich werde es diesmal langsamer laufen lassen. Solltest du Schmerzen haben, klingle, dann wird eine der Schwestern dir den Tropf einstellen.«
Ich greife nach dem Löffel, als Almina sich erneut Handschuhe anzieht. Die anderen hatte sie längst entsorgt.
»Ich sehe mir nur noch einmal den Katheter an deinem Bauch an, um sicherzugehen, dass er noch gut sitzt«, sagt sie. Ich lasse Almina gewähren, weil ich vermutlich keine andere Wahl habe. Sie hebt die Decke an und schaut auch unter meinen Kittel. Sie tastet direkt über dem Pflaster nach dem Schlauch und ist dabei so vorsichtig, ich fühle kaum ihre Fingerkuppen. Ihr Blick wandert mit der Zeit zu meiner nackten Scham, die sie diesmal nicht komplett aufgedeckt hat. Viel zu lange schaut sie dorthin. Ich werde verlegen und in meiner Brust fängt es wieder an zu flattern. Mittlerweile schiebe ich auch das auf die Schmerzmedikamente. Ich will Almina danach fragen, doch halte dann den Mund. Sie hat eh schon Feierabend. Ich möchte sie nicht aufhalten. Wenn es schlimmer werden sollte, kann ich bestimmt eine Schwester rufen.
»Warum hängt der Katheter an meinem Bauch?«, frage ich, als ich ihren Blick nicht länger aushalte.
»Nach dem Unfall hattest du innere Blutungen. Die Wunde hat mehr Wundsekret gebildet als sie sollte.« Sie räuspert sich und wendet umgehend ihren Blick von mir ab.
»Ist das schlecht?«
»Nicht unbedingt. Du hast einen Autounfall überlebt, das hier überlebst du sicher auch.« Almina lächelt und das raubt mir den Atem. Auf ihrer linken Wange bildet sich ein tiefes Grübchen und ihre honigfarbenen Augen funkeln amüsiert.
Schließlich deckt mich Almina wieder zu. »Die Dränage sitzt gut. Ich denke, sie wird die nächsten Tage gezogen. Das Wundwasser ist ebenfalls nicht mehr so blutig.« Sie sieht mich mit ihren leuchtenden Augen abwartend an. Ob sie auf ein »Danke« hofft? Aber das ist doch ihr Job. Wäre sie Deutsche, würde ich mich vermutlich nicht so sträuben, es auszusprechen.
»Wie spät ist es?«, frage ich mit trockenem Mund. Almina sieht auf die kleine Uhr, die an ihrem Kittel befestigt ist, und streift danach ihre Gummihandschuhe ab.
»Kurz vor vierzehn Uhr.« Sie sieht mich noch immer so an. Ich weiche ihrem Blick aus und sehe nach draußen.
»War noch keiner bei dir?«, fragt Almina vorsichtig. Ich sehe zu ihr.
»Nein. Kein Arzt und keine Schwester außer dir.«
Bedrückt verzieht sie das Gesicht. Als wüsste sie, warum mich die anderen meiden.
»Die Visite ist meistens morgens. Der Arzt war da und hat nach dir gesehen, als du nicht ansprechbar warst.« Verwirrt sehe ich sie an. Wirklich?
»Wie lange liege ich schon hier?«
»Zwei Tage.« Ich sehe auf die dampfende Suppe. Zwei Tage und keiner meiner Freunde war hier? Vielleicht habe ich sie verpasst. Für den Arzt war ich anscheinend auch nicht ansprechbar.
»Hatte ich in der Zeit Besuch?«
»Nur kurz. Der Fahrer des Wagens, mit dem du den Unfall hattest. Er war selbst zur Behandlung da.«
»Hat er mir irgendwelche Sachen mitgebracht?« Je mehr ich rede, desto trockener wird mein Hals. Ich räuspere mich. Almina schüttelt den Kopf. Ich werde wütend, da mein offenbar gesunder bester Freund es nicht für nötig hält, nach mir zu sehen und mir Sachen zu bringen. Oder sich zu entschuldigen, weil er betrunken Auto gefahren ist, obwohl ich ein Taxi rufen wollte! Grimmig verziehe ich das Gesicht.
Ich weiß nicht, ob ich Almina damit verschreckt habe, aber sie geht. Doch anscheinend kommt sie wieder, denn ihre Jacke liegt noch auf dem Stuhl und die Tür hat sie auch nicht hinter sich geschlossen.