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Ob Kochen, Küssen, Dichten: Wir lernen am besten durch Erfahrungen. Die Frische spontanen Ausdrucks von Haiku, ihre Gegenwärtigkeit, die unmittelbare Beschreibung dessen, was ist, das Ansprechen nicht nur des Verstands, sondern der Sinne ... Über hundert gute Beispiele dafür sind in dieses Buch aufgenommen. Der erste Teil stellt das Grundwissen zum Haiku vor, zeigt uns den Stand dieser Form der Dichtung, so wie sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfestigt hat. Es folgt ein kurzer geschichtlicher Überblick: Die Entwicklung des Haiku in Japan und sein Weg in die Welt werden skizziert. Verbindungen des Haiku mit anderen Künsten, mit Bildern und weiteren Formen der Literatur schließen sich an. Kapitel folgen, die sich als Vertiefungen bezeichnen lassen. Ich hoffe, dass sie geeignet sind, über ein bloßes Nachvollziehen hinauszutragen, dass sie also Wissen nicht einfach nur mehren, sondern auch in Frage stellen, relativieren - und darüber lebendig machen, dass sie zum neuen Lesen, zum genaueren Lesen, womöglich zum neuen Dichten inspirieren. Wissen und Inspiration - das wollen diese Seiten bieten. Wissen ist fest und tot, wenn es aufgeschrieben ist. Inspiration ist lebendig und fließt, schreibt alles Feste immer wieder um. Aus diesem Spannungsfeld blickt das Haiku uns an, blickt Dichtung uns an, und wir blicken vielleicht manchmal zurück.
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Volker Friebel
Das Haiku
Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont
Edition Blaue Felder, Tübingen
Edition Blaue Felder, Volker Friebel
Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)
www.Volker-Friebel.de
Texte, Bilder und Gestaltung: Volker Friebel
Lektorat: Elisabeth Menrad
Erstveröffentlichung: Oktober 2019
Alle Rechte vorbehalten
Die Rechte zitierter Haiku liegen bei ihren Autoren
Inhalt
Vorwort
Grundwissen
Merkmale des Haiku
Kürze
Gegenwärtigkeit
Konkretheit
Externe Orientierung
Offenheit
Was es nicht gibt
Kleine Geschichte des Haiku
Japan
Die Welt
Haiku und ...
Prosa: Haibun
Kettengedicht: Tan-Renga
Bild: Haiga
Lyrik
Besondere Orte
Vertiefungen
Weshalb Haiku?
Aufbau eines Haiku
Skizze nach der Natur: Shasei
Von Silben und Moren
Jahreszeitenwörter?
Die Offenheit des Poesieautomaten
Die Kraft der Bilder
Erlebenslyrik – Gedankenlyrik
Subjektivität – Objektivität
Doppelung
Wie laut schlägt das Haiku-Herz?
Ästhetische Momente
Klang, Melodie
Rhythmus
Gestaltung
Verkürzte Verbindung
Lyrische Wahrheit
Übertragung
Erweiterte Wahrnehmung
Konkret und abstrakt
Nachhall
Gefühl
Feine Beobachtung
Wabi – Sabi
Wortspiel
Bezug
Überraschung
Humor
Nähe und Ferne
Besondere Perspektive
Identifikation
Existenzielles
Politik
Psychologie
Einfachheit
Autorenschaft
Ein Haiku entsteht
Vermittlung von Haiku
Wissen oder Lebendigkeit
Haiku mit Kindern
Haiku in der Grundschule
Haiku im Vorschulalter
Der Horizont
Einäugige Betrachtung eines Baums
Poetologie der Wolken
Literatur
Weitere Informationen
Ob Kochen, Küssen, Dichten: Wir lernen am besten durch Erfahrungen. Die Frische spontanen Ausdrucks von Haiku, ihre Gegenwärtigkeit, die unmittelbare Beschreibung dessen, was ist, das Ansprechen nicht nur des Verstands, sondern der Sinne ... Über hundert gute Beispiele dafür sind in dieses Buch aufgenommen.
Der erste Teil stellt das Grundwissen zum Haiku vor, zeigt uns den Stand dieser Form der Dichtung, so wie sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfestigt hat. Es folgt ein kurzer geschichtlicher Überblick: Die Entwicklung des Haiku in Japan und sein Weg in die Welt werden skizziert. Verbindungen des Haiku mit anderen Künsten, mit Bildern und weiteren Formen der Literatur schließen sich an.
Kapitel folgen, die sich als Vertiefungen bezeichnen lassen. Ich hoffe, dass sie geeignet sind, über ein bloßes Nachvollziehen hinauszutragen, dass sie also Wissen nicht einfach nur mehren, sondern auch in Frage stellen, relativieren – und darüber lebendig machen, dass sie zum neuen Lesen, zum genaueren Lesen, womöglich zum neuen Dichten inspirieren.
Dabei geht es auch um die Frage, was uns am Haiku so besonders anzieht. Diese Gedichtform hat sich die letzten Jahre und Jahrzehnte sehr gut verbreitet, ist inzwischen fast überall auf der Erde zu Hause. Weshalb? Einen Grund dafür sollte es geben, etwas am Haiku muss mit dem, wie sich die Gesellschaften der Erde entwickeln, zusammenklingen.
Eine Form wie das Haiku, Dichtung überhaupt, kann nicht einfach nach einem Anforderungsprofil erfüllt und auf einer Checkliste abgehakt werden, sondern es gilt sie zu leben. Zur Vertiefung der Frage „Was ist ein Haiku?“ gehört deshalb „Was ist Dichtung?“ dazu. Dieser Frage widmet sich der letzte Buchteil „Der Horizont“.
Seit meiner Jugend beschäftige ich mich als Leser, als Autor, als Vortragender, als Herausgeber mit dem Haiku. Der Plan für ein Buch darüber steht schon Jahre auf meiner Agenda. Und jahrelang schreckte ich davor zurück. „Wenn schon, dann muss es ganz subjektiv sein“, meinte eine Stimme in mir. „Ganz subjektiv darf es nicht sein“, widersprach allerdings sofort eine andere, „das missachtet die Leser und ihre Erwartungen.“ Gut zu fühlen begann ich mich erst, als ich einen Aufbau fand, der beidem gerecht wird, der Vielschichtigkeit der Welt und des Haiku – und den Erwartungen des Lesers um Klarheit.
Nach getaner Arbeit habe ich vielen Menschen Dank zu sagen, ganz besonders den Autoren der original deutschsprachigen Haiku für die Erlaubnis zur Verwendung ihrer Texte sowie meiner freundlich-unerbittlichen Lektorin Elisabeth Menrad für ihre unermüdlichen Anregungen, Sprache und Aussage noch einmal zu überdenken.
Wissen und Inspiration – das wollen diese Seiten bieten. Wissen ist fest und tot, wenn es aufgeschrieben ist. Inspiration ist lebendig und fließt, schreibt alles Feste immer wieder um. Aus diesem Spannungsfeld blickt das Haiku uns an, blickt Dichtung uns an, und wir blicken vielleicht manchmal zurück.
Volker Friebel
„Und wenn unter tausend Paaren auch nur eins ist, das sich liebt, so ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel: es gibt das Gesetz an“ (Peter Handke). 1
Gesetze in der Dichtung, in der Kunst überhaupt, scheinen vor allem dazu da, sie zu brechen. Handkes kühne Behauptung sensibilisiert dafür, dass das, was wir suchen, wenn wir nach dem Wesen des Haiku suchen, in den einzelnen Texten auch fehlen kann – und trotzdem ist es das, worum es geht, worum sich die Dichtung dreht wie die Liebe.
Wir werden uns dem Haiku am leichtesten nähern, wenn wir einzelne Texte betrachten und uns fragen, was sie im Kern ausmacht, was sie von anderen Texten abhebt und dem Haiku einen eigenen Namen verdient.
Dazu wollen wir uns zunächst die wichtigsten Merkmale des Haiku an einem Beispiel vergegenwärtigen.
Stromausfall.
In der Wohnung des Nachbarn
spielt jemand Klavier. 2
Am Text von Sigrid Baurmann lassen sich die wichtigsten Merkmale von Haiku gut nachvollziehen:
Kürze: Haiku sind kurze Gedichte. Meist werden sie in drei Zeilen geschrieben.
Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Zeit. Und zwar fast immer in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat.
Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes nicht abstrakt, sondern konkret dar, für einen Leser miterlebbar, sinnlich erlebbar.
Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters.
Offenheit: Mit dem Lesen des Textes sollte das Haiku noch nicht zu Ende sein. Ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes, weiter zu Dichtendes sollte bleiben.
Endreime oder Überschriften gibt es beim Haiku nicht.
Die nächsten Abschnitte behandeln diese Merkmale von Haiku näher. Die Kurzfassung der Merkmale ist jeweils noch einmal kursiv vorangestellt..
Haiku sind kurze Gedichte. Meist werden sie in drei Zeilen geschrieben.
Die japanische Sprache basiert auf Lauteinheiten (Moren) gleicher Länge. Traditionelle japanische Haiku halten meist ein festes Schema von 17 solcher Lauteinheiten ein, geschrieben von oben nach unten in einer Spalte.
Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich auch freie Formen entwickelt, die ohne eine feste Gliederung nach Lauten bestehen. Die Kürze blieb erhalten, sie ist auch bei der Übertragung ins Deutsche das wichtigste Merkmal.
Die japanische Zählung der Lauteinheiten lässt sich allerdings nicht einfach auf deutsche Silben übertragen, da letztere von wechselnder Länge sind und eine Silbe oft aus mehreren Moren besteht. Das Wort Tōkyō etwa besteht je nach Aussprache aus zwei oder drei Silben – aber aus vier Moren. So trägt eine japanische More im Durchschnitt weniger Inhalt als eine deutsche Silbe: 17 japanische Lauteinheiten entsprechen dem Inhalt von etwa 10 deutschen Silben. 3
Nach verschiedenen Versuchen ein ähnlich festes Schema in europäischen Sprachen zu finden, werden heute Haiku in westlichen Ländern meistens in freien Versen geschrieben, fast immer dreizeilig, mit etwa 10 bis 17 Silben; die mittlere Zeile ist meistens die längste.
Die Kunst im Haiku besteht aber nicht darin, einen Text ganz kurz zu machen – sondern so kurz, dass er sich ohne Qualitätsverlust nicht weiter kürzen lässt. Dass das nicht einfach ist, thematisiert ein Haiku von Christof Blumentrath, bei dem wir einem Maler über die Schulter schauen:
zu wenig
der letzte Pinselstrich
zu viel 4
Zu wenig und zu viel lassen sich nicht an einer bestimmten Silbenzahl festmachen. Ein Haiku mit 19 Silben von Ingrid Kunschke:
Winterabend
mit kleinen Stichen kehrt es zurück,
das Lächeln der Puppe 5
Wir sehen in eine gemütliche Stube. Eine Frau sitzt auf dem Sofa und repariert diese alte Puppe, vielleicht ihre eigene aus Kindestagen, vielleicht eine, die beim Spielen ihres Kindes gelitten hat.
Durch das Jahreszeitenwort „Winterabend“ atmet der Text eine selbstversunkene Ruhe aus und einen Frieden, den jedes veränderte Wort beeinträchtigen würde. Die nahe liegende Kürzung auf „Winternacht“ ließe zwar immer noch ein sehr gutes Haiku zurück, aber ein dunkleres. Ein Verzicht auf das „es“ bringt das Haiku in grammatikalische Schwierigkeiten oder verlangt eine ungünstige Umformung.
An diesem Text lässt sich nichts kürzen, ohne ihn zu verschlechtern, es ist ein sehr gutes Haiku – obwohl mit 19 Silben weit weg von den knapp über 10 deutschen Silben, die ein japanisches Haiku haben sollte und sogar noch über den 17 Silben, die als Obergrenze für Haiku in europäischen Sprachen üblich geworden sind.
Beispiel für ein sehr kurzes Haiku von Dietmar Tauchner:
ihre sms fliederduft 6
Einzeilig geschrieben – das entspricht der einen Spalte, in der japanische Haiku meist geschrieben werden. Mit einem Abstand zwischen den beiden Textblöcken. Ich sehe den Mann in sein Telefon schauen: Von der Liebsten kam gerade eine Textnachricht. Während er liest, nimmt er den Duft von Fliederblüten in der Umgebung wahr. Oder: Beim Lesen erinnert er den Flieder ihres Parfüms beim letzten Treffen.
Viel kürzer geht es nicht: acht Silben in gerade mal drei Wörtern. Aber nichts weiter ist nötig. Also sollte auch nichts weiter stehen. Klassischen japanischen Haiku dürfte dieser Text sogar näher sein als das ausgefeilte Haiku von Ingrid Kunschke, das dafür mehr die Tradition klassischer europäischer Dichtung wahrt.
Es ist unnötig, ein Bild in allen Einzelheiten zu beschreiben. Das geht sowieso nicht. Jedes Setzen eines Erlebnisses in Worte ist immer eine Reduktion, geht immer mit Verlusten und Unschärfen einher. Es geht darum, Worte so zu setzen, dass sich der Leser ein eigenes Bild aus ihnen entwickeln kann. Zu viele Worte können dem Leser den Aufbau eines Bildes sogar erschweren.
Haiku sind in der Zeit. Und zwar fast immer in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat.
Traditionelle europäische Dichtung kann sich zwar auch im Augenblick ereignen, meist aber scheint sie in der Zeit zu schweben, etwas über der Zeit zu stehen, gleicht eher in Worten und manchmal Bildern gefassten Gedanken als einem erlebten Augenblick. Und einer Reise statt einem Augenblick, weil verschiedene Bilder aneinandergesetzt sind. Nicht so das Haiku.
„Die ewig alten Geschichten“,
schreit sie.
Draußen fällt Schnee. 7
Das Haiku von Marianne Kunz bietet den Augenblick unvermittelt, wie eine Fotografie oder ein Filmausschnitt.
Das Vergangene ist auch da, als Erinnerung an alte Geschichten, aber ganz in der Gegenwart.
Sehr wichtig in diesem Text ist der fallende Schnee. Auch, aber gar nicht in erster Linie dadurch, dass er die beiden ersten Zeilen atmosphärisch färbt. Vor allem dadurch, dass mit dem fallenden Schnee der Text einen Ort in der Zeit erhält: Es ist Winter. Das verstärkt im Text die Gegenwärtigkeit noch, die schon in der wörtlichen Rede aufscheint.
Im traditionellen japanischen Haiku wurden fast immer Jahreszeitenwörter gesetzt. Das waren meist Wörter aus der Natur, wie eben Schnee oder Blüte oder Beere oder Blätterwirbel. Es konnten aber auch Wörter zu Festtagen sein, die im Jahreskreis verankert sind, auf Europa übertragen also etwa Weihnachtsbaum, Osterei, Lichterketten. Übersetzer japanischer Dichtung in europäische Sprachen nahmen Haiku über japanische Feiertage in ihre Sammlungen seltener auf, da diese erst erklärt werden mussten. So herrschte im Westen Jahrzehnte der Eindruck vor, das Haiku sei ein Naturgedicht. Das kann es, muss es aber nicht sein. Was es braucht, ist allerdings eine Verankerung in der Zeit.
Jahreszeitenwörter gelten im Haiku nicht mehr als verbindlich. Geblieben ist aber der Kern davon, die Gegenwärtigkeit, die Verankerung in der Zeit.
Diese Gegenwärtigkeit des Haiku ist eines seiner stärksten Merkmale. Und sie dürfte eben das sein, was das Haiku so anziehend und für uns hier und heute besonders interessant macht.
In der Gegenwärtigkeit steckt Achtsamkeit, steckt eine Wertschätzung auch des Kleinen, Einfachen, eine Liebe zu den nächsten Dingen, die in der Dichtung des Haiku besonders geschätzt werden.
In der Gegenwärtigkeit steckt die Besinnung auf das, was wirklich vorhanden ist, unter dem Rattern der Gedanken, unter dem Nebel der Vorstellungen, Träume, Fantasien, Erinnerungen.
Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes nicht abstrakt, sondern konkret dar, für einen Leser miterlebbar, sinnlich erlebbar.
Konkret meint sinnlich erfahrbar, beobachtbar, hörbar, fühlbar, schmeckbar. Ein Stuhl ist konkret, eine Rose ist konkret – die Liebe dagegen ist abstrakt. Konkret ist, wie sie sich in etwas sinnlich Erfahrbarem äußert, konkret ist die Umarmung, der Kuss, in den Augen das Leuchten.
Konkret kann auch heißen: Auf einen Einzelfall bezogen. „Was meinst du konkret zu diesem Bericht?“ Wenn denn schon nichts oder wenig sinnlich Nachvollziehbares im Haiku steht, dann sollte es doch einen Einzelfall ansprechen, etwas, was sich im Raum und in der Zeit wirklich ereignet und nichts, was ich mir abstrakt aus Einzelfällen, die mir begegnen, zusammenreime.
Zwischen Amselstrophen
die Tiefe.
Regen beginnt. 8
Der Gesang von Amseln ist konkret erlebbar, auch der beginnende Regen. „Tiefe“ ist dagegen ein abstraktes Wort. Hier wird Tiefe allerdings konkret erfahrbar, als Stille, in die der Leser zwischen den Amselstrophen fällt, die die Tiefe des Raums sinnlich erfahrbar macht – was noch einmal verstärkt wird durch den beginnenden Regen.
Eigentlich, so hatten wir gesagt, gilt es im Haiku als erstrebenswert, dass die mittlere Zeile die längste ist. Dieser Text ist ganz nebenbei ein Beispiel dafür, wie manchmal das Gegenteil einer Regel günstig sein kann: Nach der längeren ersten Zeile (sechs Silben) verlängert die besonders kurze zweite Zeile (drei Silben) unwillkürlich das Verweilen des Lesers in dieser Zeile. Der Leser ist irritiert, eine Leere entsteht – in die dann der Regen der dritten Zeile zu fallen beginnt. Genau so etwas will der Text darstellen – und so erweist sich die besonders kurze Zeile an Stelle der längsten in diesem Beispiel als lyrisch angemessen.
Ein Haiku stellt das Erfahrene möglichst direkt dar und bleibt beim Erlebnis, dem Einzelfall, es formt kein allgemeingültiges Gesetz daraus. „Wenn es still wird, dann kannst du die vielen kleinen Geräusche der Welt hören.“ Das wäre eine allgemeine Aussage, dichterisch eine Sentenz. Das Amselstrophen-Haiku ist die konkrete, sinnliche Ausgestaltung dieses abstrakten Sachverhalts.
Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters.
Die externe Orientierung folgt fast schon aus Gegenwärtigkeit und Konkretheit. Sie soll als eigener Punkt trotzdem besonders hervorgehoben werden.
Das Haiku beschäftigt sich mit Bäumen, Häusern, Menschen, Amseln, Bergen, Tortenstücken, Gräsern, Straßenbahnen. Es beschäftigt sich weniger mit den Ansichten des Dichters über die Welt oder über sich selbst.
Natürlich, auch der Dichter gehört zur Welt. Und er kann sich selbst beobachten, sich so im Text zu einem Beobachtbaren machen. Im Spiegel beispielsweise, mit Marita Bagdahn:
Vor Omas altem
Kommodenspiegel – ich und
ich und ich und ich ... 9
Auch wenn im Text die Dichterin gleich vier mal erscheint, so bleibt das Haiku doch ganz im Äußeren, Beobachtbaren, Nachvollziehbaren. Ist das Ich im Text überhaupt die Dichterin? „Omas Kommodenspiegel“ deutet eher auf ein Kind. Vielleicht ist es von einem beobachteten Kind aus geschrieben. Oder es ist eine Kindheitserinnerung.
Heißt „die äußere Welt“, dass Gefühle und Gedanken, die doch subjektiv sind, keinen Platz im Haiku haben? Warum muss ich beim „Kommodenspiegel“ dann lächeln, ja lachen? Gefühle werden im Haiku selten direkt benannt. Sie werden allerdings häufig durch das Geschilderte hervorgerufen.
U-Bahnstation
ein Schmetterling öffnet
einen Mädchenmund 10
Das Haiku von Simone K. Busch zeigt das Staunen des Mädchens. Das Haiku benennt das Staunen nicht, sondern zeigt es unmittelbar: über den geöffneten Mund. „U-Bahnstation / ein Schmetterling / von einem Mädchen bestaunt“ wäre auch ein Haiku. Aber ein schwächeres. Gerade der direkte Ausdruck des Beobachteten macht die literarische Qualität dieses Textes aus.
Nicht nur Haiku, auch andere literarische Formen gewinnen durch eine solche direkte Herangehensweise meist, werden durch sie lebendiger. Im Haiku wird auf externe Orientierung mit direktem Ausdruck des Beobachteten aber ganz besonderen Wert gelegt.
Mit dem Lesen des Textes sollte das Haiku noch nicht zu Ende sein. Ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes, weiter zu Dichtendes sollte bleiben.
Ein gutes Haiku ist nicht fertig, sondern geht weiter, wenn der Text zu Ende ist. Die Offenheit der Bilder, ihr Nachhall und der Verzicht des Verfassers auf Deutungen und Reflexionen, lassen den Leser weiterdenken, weitersinnen, mitdichten. Nicht unbedingt mit weiteren Worten, aber mit eigenen Assoziationen zu den gesetzten Worten.
Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen werden auch in anderen Gedichtformen geschätzt, in vielen Haiku haben sie einen besonderen Stellenwert.
Im klassischen japanischen Haiku waren vor allem literarische Anspielungen auf frühere Gedichte wichtig. Im Deutschen ist das weit weniger üblich. Vielleicht, weil es bei uns keinen überschaubaren Literaturkanon mehr gibt. Und weil Zitate eher abfällig einem Bildungsbürgertum zugeordnet werden.
Stattdessen wird mit dem Klang- und Bedeutungsfeld der Worte und Begriffe gespielt, mit ihrer Atmosphäre, den durch sie ausgelösten weiteren Worten, Bildern, Stimmungen.
Oft wird auf Satzzeichen verzichtet, was Texte meist vager und damit offener für Interpretation macht. Oder es werden Worte nur lose gesetzt, grammatikalisch unverbunden, mit demselben Effekt.
In der Ausstellung –
das Kind malt ein Bild ab,
die Sonne zuerst 11
Das Haiku von Angelika Wienert beschäftigt den Leser dagegen über die Bedeutung ihrer feinen Beobachtung. Warum malt das Kind die Sonne zuerst ab? Was sagt das über Ausstellung und Kind? Unterscheidet sich das Kunstverständnis von Erwachsenen und Kindern? Wie und weshalb?
Natürlich, inwieweit sich jemand von einem Text zum eigenen Dichten und Denken inspiriert fühlt und inwieweit nicht, hängt von den Vorerfahrungen des Lesers ab, von seinen eigenen existenziellen Fragen, ganz banal auch von seiner momentanen Stimmung und der Umgebung, in der er liest. Bei allen Unterschieden zwischen den Menschen: Haiku mit größerer Offenheit provozieren eine intensivere Beschäftigung des Lesers mit ihnen – so lange die Offenheit nicht so groß wird, dass das Haiku beliebig wirkt, zu wenig Ansatzpunkte für eine Beschäftigung bietet.
Nicht alle Haiku sind offen. Auch Witz und Wortspiel werden von vielen Haiku-Freunden gern geschrieben und gelesen. Fast immer hat sich der witzige Text nach dem Lesen und Lachen aber erschöpft. Das darf sein. An das Wesen des Haiku rühren aber eher offen gehaltene Texte.
Endreime werden im Haiku nicht verwendet. Das liegt zum einen an der Herkunft des Haiku. Im Japanischen haben Reime sprachbedingt wenig ästhetischen Reiz. Alle japanischen Wörter enden auf einen der Vokale a, e, i, o, u oder auf die More n. Da es betonte und unbetonte Silben wie bei uns im Japanischen nicht gibt, bedeutet das, dass sich sehr viel reimt und der Reim daher keinen besonderen Reiz ausübt. So sind Übersetzungen japanischer Haiku reimlos. Und von unserer eigenen Sprache aus betrachtet: Bei so kurzen Gedichten bekämen Reime ein zu großes Gewicht, sie würden den Text ersticken.
Von vielen Autoren gern verwendet werden dagegen Assonanzen (Anklänge, Halbreime, wie Maus und grau), auch mal Binnenreime (Reime nicht von Zeilenende zu Zeilenende, sondern innerhalb der Zeilen) sowie Alliterationen (Stabreime, gleiche Anfangslaute, wie Wind und Wolke). Die Frage ist immer, ob der Klang das Bild unterstützt oder ob er es zu dessen Ungunsten dominiert und damit verstellt.
In Maßen eingesetzt sind solche Klangtechniken eine Bereicherung. Reime sind es nicht.
Verbindliche Zeilenzahl: Haiku werden im Westen manchmal als Dreizeiler bezeichnet. Zwar bietet sich die Aufteilung auf drei Zeilen bei vielen Haiku satztechnisch an. Zum Wesen des Haiku gehört sie aber nicht.
„Der Haiku als ,Dreizeiler‘ ist eine reine Erfindung des Westens.“ Und: „Der Haiku, der vermeintliche Dreizeiler, ist in seiner ursprünglich intendierten Gestalt ein Einzeiler.“ So Arata Takeda 12. Eigentlich ein Einspalter, denn in Japan wird in Spalten geschrieben.
Gegen Einzeiler als Haiku in unserer Sprache lässt sich also nichts einwenden. Außer, dass Einzeiligkeit bei den meisten Haiku des Buchformats wegen unpraktisch ist. Auch Zweizeiler lassen sich gut begründen, mit Rückgriff auf die beiden Gegenstände oder Sachverhalte, die im Haiku meist gegeneinander gestellt werden.
Vierzeiler machen das kurze Gedicht schon fast unübersichtlich, sie sind deshalb sehr selten.
Haiku als Dreizeiler zu schreiben, ist am praktischsten. Verbindlich ist diese Zeilenzahl aber nicht.
Titel oder Überschriften sind nicht gebräuchlich, sie würden den knappen Text zu sehr dominieren. In japanischen Haiku-Büchern kommen manchmal vor oder nach dem Haiku kurze Erläuterungen etwa zum Entstehungsort vor.
Die wichtigsten Merkmale des Haiku sind beschrieben. Damit ist das Wesen dieser Form von Dichtung umrissen.
Aber das Buch endet hier nicht.
Zunächst folgt noch eine kurze Geschichte des Haiku, dann einige Abschnitte zu Verbindungen des Haiku mit anderen Formen der Dichtung und der Kunst.
Eine Darstellung des Bestehenden reicht aber nicht aus. Die tiefere Auseinandersetzung mit dem Dargestellten sollte das Haiku lebendig werden lassen. Dichtung ist vor allem Kreativität, nicht bloße Bestandsaufnahme. Dem stellen sich die anschließenden Vertiefungen und der Blick zum Horizont.
Die Geschichte des Haiku beginnt im japanischen Mittelalter. 13 Es entwickelte sich aus dem damals sehr verbreiteten Kettengedicht heraus, das meist in geselliger Runde nach einem festgelegten Regelapparat von verschiedenen Dichtern zusammen verfasst wurde. Der erste Teil eines Kettengedichts, er wird „Hokku“ genannt, entspricht dem, was wir heute ein Haiku nennen. Dieser erste Teil wurde meist vom Leiter der Dichtrunde vorgegeben. Beispiel für ein Hokku aus späterer Zeit, verfasst von Yosa Buson (1716-1783):
Die Päonie –
abgefallene Blütenblätter,
zwei, drei aufeinander ...
Das auf diesen Eingangsvers aufbauende Kasen (ein 36-teiliges Kettengedicht) 14 dichtete Buson zusammen mit nur einem anderen Dichter, seinem Schüler Taika Kitō (1741-1789). Dieser ergänzte als zweiten Teil:
Am Zwanzigsten im Deutzienmonat,
bei fahlem Mondlicht ganz früh ...
Ebenfalls Kitō als dritten Teil:
Ein alter Mann,
vornehm hüstelnd: Er geht wohl
das Tor öffnen .