Das Muttermal verriet sie - Anne Alexander - E-Book

Das Muttermal verriet sie E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Die junge Frau musste den Bach überqueren, es gab keinen anderen Weg. Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf die Brücke. Sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, ging sie sehr langsam über die Holzplanken. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst, ganz furchtbare Angst. Der Bach wirkte durch den aufkommenden Sturm noch reißender als sonst. Sie wusste genau, würde sie ausrutschen und in das Wasser stürzen, würde es kaum eine Chance für sie geben. Die junge Frau hatte schon fast das Ende der Brücke erreicht, als das linke Halteseil aus seiner Verankerung riss. Die Brücke kippte zur Seite. Bevor Dorothy sich festhalten konnte, stürzte sie kopfüber in den Bach. Niedergeschlagen saß Dorothy Gilman am Fenster des kleinen mit viktorianischen Möbeln eingerichteten Salons und schaute auf die Themse hinaus. Trotz des schlechten Wetters legte gerade eines der Ausflugsboote, die vom Tower kamen, am Ufer an. Uninteressiert beobachtete sie die Leute, die kurz darauf die schmale Treppe zur Straße hinunterstiegen und in Richtung Whitehall davongingen. Als der letzte der Passagiere die Treppe passiert hatte, schlug die Uhr des Big Ben fünfmal. Die junge Frau zuckte heftig zusammen. Automatisch glitt ihr Blick zur Wanduhr. Um diese Zeit hatte sie mit ihrem Vater stets Tee getrunken, wenn er nicht gerade zu einem Krankenbesuch unterwegs gewesen war. Ein dicker Kloß schien in ihrem Hals zu sitzen. Drei Tage waren jetzt seit seiner Beerdigung vergangen, drei Tage, in denen sich die Stunden bis zur Ewigkeit ausdehnten. Dorothy Gilman stand auf.

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Gaslicht – 40 –

Das Muttermal verriet sie

Unveröffentlichter Roman

Anne Alexander

Die junge Frau musste den Bach überqueren, es gab keinen anderen Weg. Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf die Brücke. Sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, ging sie sehr langsam über die Holzplanken. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst, ganz furchtbare Angst. Der Bach wirkte durch den aufkommenden Sturm noch reißender als sonst. Sie wusste genau, würde sie ausrutschen und in das Wasser stürzen, würde es kaum eine Chance für sie geben. Die junge Frau hatte schon fast das Ende der Brücke erreicht, als das linke Halteseil aus seiner Verankerung riss. Die Brücke kippte zur Seite. Bevor Dorothy sich festhalten konnte, stürzte sie kopfüber in den Bach. Sie fühlte noch einen entsetzlichen Schmerz, als ihr Kopf gegen einen der Steine stieß, dachte, jetzt ist alles aus, dann verlor sie das Bewusstsein …

Niedergeschlagen saß Dorothy Gilman am Fenster des kleinen mit viktorianischen Möbeln eingerichteten Salons und schaute auf die Themse hinaus. Trotz des schlechten Wetters legte gerade eines der Ausflugsboote, die vom Tower kamen, am Ufer an. Uninteressiert beobachtete sie die Leute, die kurz darauf die schmale Treppe zur Straße hinunterstiegen und in Richtung Whitehall davongingen. Als der letzte der Passagiere die Treppe passiert hatte, schlug die Uhr des Big Ben fünfmal.

Die junge Frau zuckte heftig zusammen. Automatisch glitt ihr Blick zur Wanduhr. Um diese Zeit hatte sie mit ihrem Vater stets Tee getrunken, wenn er nicht gerade zu einem Krankenbesuch unterwegs gewesen war. Ein dicker Kloß schien in ihrem Hals zu sitzen. Drei Tage waren jetzt seit seiner Beerdigung vergangen, drei Tage, in denen sich die Stunden bis zur Ewigkeit ausdehnten.

Dorothy Gilman stand auf. Sie wollte sich in der Küche Tee aufbrühen. Auf dem Weg zur Tür kam sie an dem Sessel vorbei, in dem ihr Vater abends gesessen und ein Glas Portwein getrunken hatte. Wehmütig strich sie über den verschlissenen Lederbezug.

Es war Mai, doch an diesem trüben Tag wurde es früher dunkel als gewöhnlich. Dorothy musste in der Küche das Licht einschalten. Sie setzte einen Topf mit Wasser auf den Herd, nahm einen Porzellanbecher und einen Teebeutel aus dem Schrank. Die Stille um sie herum legte sich wie eine schwere Last auf ihr Herz.

Mit dem Teebecher in der Hand durchquerte sie den Korridor und öffnete die Tür zu den Praxisräumen, in denen ihr Vater bis vor einer Woche seine Sprechstunde abgehalten hatte. Auf seinem Schreibtisch standen noch die Blumen, die ihm eine dankbare Patientin mitgebracht hatte, nachdem sie von ihrem Leiden befreit worden war. Sie ließen bereits die Köpfe hängen und erfüllten das Zimmer mit dem Geruch des Todes.

Dorothy Gilman setzte den Teebecher ab und ergriff die Vase, um sie in die Küche zu bringen, doch kurz vor der Tür stockte sie. Mit einem Mal erschien es ihr wie ein Sakrileg, die Blumen fortzuwerfen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sich ihr Vater über den Strauß gefreut hatte. Sie brachte die Vase zum Schreibtisch zurück, nahm den Becher und verließ beinahe fluchtartig den Raum.

Jetzt war es erst kurz nach siebzehn Uhr. Die junge Frau fragte sich, wie sie die Stunden bis zum Schlafengehen überbrücken sollte. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Bett gelegt, doch was würde das nützen? Sie war noch nicht müde genug, um einschlafen zu können, und die Gedanken an den Vater ließen sich nicht einfach beiseiteschieben.

Sie umfasste mit der freien Hand das Treppengeländer. Absichtslos schaute sie die Stufen hinauf, verfolgte jede Einzelne und stieg sie dann wie in Trance bis zum Dachgeschoss hoch. Wie lange war sie nicht mehr auf dem Dachboden gewesen? Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. Als Kind hatte sie gern dort oben gespielt, sich die alten Kleider angezogen, die seit Jahrzehnten in den Truhen lagen, Fotos betrachtet, in vergilbten Büchern geblättert. Später hatte sie dann das Interesse daran verloren, und seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren hatte sie nur noch zweimal den Dachboden betreten, um etwas hinaufzubringen.

Jetzt streckte sie die Hand nach der Klinke aus, drückte sie hinunter. Ohne das Schnarren wahrzunehmen, dass die Tür von sich gab, als sie aufgeschoben wurde, trat sie in den dunklen, nach Staub und Verfall riechenden Raum.

Dorothy Gilman schaltete das Licht ein. Die drei kahlen Birnen, die im Raum verteilt an der Decke angebracht waren, erhellten nur notdürftig ihre Umgebung und ließen den größten Teil des Bodens im Schatten liegen. Doch die junge Frau empfand keine Angst. Hier gab es nichts, was sie hätte fürchten müssen. Ihr Blick glitt über die alten Truhen und Möbel, die im Laufe der letzten zweihundert Jahre auf dem Dachboden abgestellt worden waren. Flüchtig dachte sie daran, dass dieser große Raum eine Fundgrube für Antiquitätenhändler sein müsste. Scheinbar war in ihrer Familie seit Generationen nichts mehr weggeworfen worden.

Dorothy stellte ihren Teebecher auf ein rundes Spieltischchen und ging zu der Kommode, in der die Fotoalben lagen, die sie als Kind so oft angesehen hatte. Auf dem Sessel daneben saß eine Puppe, mit der bereits ihre Großmutter gespielt hatte. Dorothy Gilman hob sie hoch und drückte sie vorsichtig an sich. Der Staub, der in der brüchigen Seidenkleidung lag, kitzelte in ihrer Nase und reizte sie zum Niesen.

Mit der Puppe im Arm sah sie sich um. Plötzlich wusste Dorothy, was sie während der nächsten Tage tun würde. Dieser Boden gehörte dringend aufgeräumt. Die Arbeit würde ihr helfen, über den Schmerz hinwegzukommen, und vielleicht auch etwas die Lücke füllen, die der Tod ihres Vaters bei ihr hinterlassen hatte. Dann würde sie wohl auch endlich in der Lage sein, über ihre Zukunft nachzudenken. Auch wenn sie sich keine Geldsorgen machen musste, sie brauchte eine Arbeit, ein Ziel. Jetzt, da ihr Vater nicht mehr lebte und sie ihm nicht mehr den Haushalt führen konnte, musste sie etwas anderes anfangen.

Die junge Frau legte die Puppe zurück und wandte sich den Fotoalben zu. Vorsichtig hob sie die drei dicken Bände aus der obersten Schublade der Kommode. Mit einem Tuch, das über einem Hocker gehangen hatte, wischte sie den Staub ab und schlug das Erste auf.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Langsam drehte sie sich um und schaute nach draußen. Sie hatte weder die Haustür klappen noch Schritte auf der Treppe gehört, dennoch kam es ihr vor, als hätte jemand den Boden betreten. Aber da war niemand.

Dorothy Gilman wollte sich schon wieder den Alben zuwenden, als ihr Blick wie magisch von einer schweren Eichentruhe auf der rechten Seite angezogen wurde. Sie erinnerte sich, dass sie diese Truhe auch als Kind hatte untersuchen wollen, doch sie war abgeschlossen gewesen und ihre Eltern hatten behauptet, der Schlüssel sei verloren gegangen, zudem würden sich in ihr nur ein paar alte Kleider befinden.

Wie in Trance ging Dorothy jetzt zu der Truhe, kauerte sich neben ihr zu Boden. Ihre Fingerspitzen glitten über das kalte Schloss, bevor sie es umfasste. Es löste sich aus der Halterung und fiel in ihre Hand. Erschrocken schrie sie auf und ließ es fallen. Mit einem dumpfen Klingen schlug es auf dem Boden auf.

Die junge Frau sprang auf. Sie konnte das nicht verstehen. Wieso war das Schloss plötzlich auf? Hatte ihr Vater etwa den Schlüssel gefunden gehabt und in der Truhe nachgeschaut, was sie enthielt? Aber warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Sie streckte die Hand aus, um den Truhendeckel anzuheben, zuckte jedoch wieder zurück. »In der Truhe ist nichts, was dich interessieren könnte, Dorothy«, hörte sie ihre verstorbene Mutter sagen. »Du hast hier so viele Sachen, mit denen du spielen kannst, da müssen wir nicht auch noch diese Truhe aufbrechen.«

Die junge Frau schluckte, gab sich einen Ruck und schlug den schweren Deckel nach oben. Modergeruch stieg ihr entgegen, löste sich im Raum auf.

Die Truhe schien tatsächlich nur Kleider zu enthalten. Obenauf lagen feine Seidenschals, brüchig vom Alter, und mit Spitzen besetzte Blusen. Darunter Röcke aus Satin, Samt und Taft. Sie nahm an, dass diese Kleidungsstücke ihre Urgroßmutter getragen hatte. Flüchtig erinnerte sie sich an ein Foto, das sie vor Jahren von ihr gesehen hatte.

Enttäuscht wollte sie den Deckel schon wieder zuschlagen, als sie am Boden der Truhe eine mit Elfenbein und Silber eingelegte Ebenholzschatulle fand. Überrascht nahm sie das Kästchen heraus und setzte sich mit ihm in einen Sessel. Als sie es öffnete, erklang eine lustige Melodie. Ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht.

In dem Fach unter dem Uhrwerk entdeckte Dorothy einen vergilbten Brief, der in einem schmalen Kuvert steckte, und einen schön gearbeiteten Mondsteinring. Sie wollte sich den Ring eben näher ansehen, als mit einem letzten Aufflackern alle drei Lampen verlöschten. Um sie herum wurde es schwarz.

Einen Fluch unterdrückend, stand die junge Frau auf und tastete sich einen Weg zur offenen Tür. Auch im Treppenhaus war es stockdunkel. Die Hauptsicherung im Keller musste ausgefallen sein.

Schritt für Schritt stieg Dorothy Gilman die Treppe zum Salon hinunter. Unten angekommen, stellte sie die Schatulle auf den Kaminsims und steckte die beiden Leuchter an, die rechts und links eines zierlichen Aufsatzes standen.

Sie überlegte, ob sie im Keller nachschauen sollte, doch sie war noch nie gern im Keller gewesen, das hatte Zeit bis zum nächsten Morgen. Im Licht der Kerzen öffnete sie die Schatulle erneut. Wieder erklang die kleine Melodie und entführte sie für kurze Zeit in eine andere Welt. Ihre Hand zitterte etwas, als sie den Ring ergriff und ihn wie unter Zwang an ihren Finger steckte. Erst schien er zu groß zu sein, doch dann sich dem Finger anzupassen, regelrecht mit ihm zu verschmelzen. Silbern strahlte der Stein auf.

Die junge Frau nahm einen Leuchter und trug ihn zum Tisch. Sie griff nach dem Kuvert und zog einen seidigen Bogen aus ihm hervor. Er war mit feinen Schriftzügen in verblichener blauer Tinte bedeckt. Mit angehaltenem Atem begann sie zu lesen:

»Lieber Doktor Gilman!

Ich danke Ihnen tausendmal für das Foto, das Sie mir geschickt haben. Ich bin glücklich, dass es Menschen, wie Sie und Ihre Gattin gibt, die sich eines hilflosen Kindes annehmen. Sie wissen, was mich zu diesem schwerwiegenden Schritt bewog. Hier auf Manton Hall ist alles beim Alten. Der Hauch des Bösen liegt über allem. Es fällt mir nicht leicht, wieder hier zu leben, doch ich muss herausbekommen, wer hinter dem Tod meines geliebten Richard steckt. Ich werde den Verdacht nicht los, dass er und sein Vater ermordet wurden. Sicher werden Sie mir jetzt wieder raten, zur Polizei zu gehen, aber das wäre sinnlos, schließlich habe ich keine Beweise. Nun, ich muss versuchen, selbst den Schuldigen – wenn es einen Schuldigen gibt – zu entlarven. Mein Kind weiß ich in sicherer Obhut.

Ihre dankbare Mary Carr.«

Dorothy Gilman blickte auf. Der Brief war vor zwanzig Jahren geschrieben worden, wie sein Datum verriet. Wer war diese Frau? Um was für ein Kind handelte es sich?

Sie griff sich an den Hals. Ihre Eltern hatten niemals von einer Mrs. Carr gesprochen, geschweige denn von einem Kind, dessen sie sich angenommen hatten. Sollte sie etwa dieses Kind … Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie heiser. Sie war die Tochter von Ellen und Stuart Gilman, daran gab es nicht den geringsten Zweifel.

Gab es den wirklich nicht?

Dorothy trat an den Schrank, in dem die Familienfotos aufbewahrt wurden, die während der Ehe ihrer Eltern gemacht worden waren. Sie nahm ein Album heraus und kehrte damit an den Tisch zurück. Die ersten Seiten im Buch musste sie überschlagen, denn ihre Eltern waren bereits fünfzehn Jahre verheiratet gewesen, bevor sie vor zwanzig Jahren auf die Welt gekommen war.

Nachdenklich betrachtete sie die Bilder. Auf keinem von ihnen war die Schwangerschaft ihrer Mutter zu erkennen. Quasi von einem Tag auf den anderen hielt sie dann ein Baby in den Armen, schaute es liebevoll und stolz zugleich an. Unsere Tochter Dorothy, hatte ihr Vater dazu geschrieben. Wirklich seine Tochter? Warum hatte Mary Carr nicht das Geschlecht des Kindes erwähnt? Wie alt mochte sie auf dem ersten Foto sein? Höchstens ein, zwei Wochen.

Seite um Seite blätterte Dorothy Gilman um. Auf einem Großfoto, das sie an ihrem ersten Schultag in einer blauen Uniform zeigte, war deutlich in ihren dunkelblonden Haaren die silberne Locke zu sehen, die sie auf der rechten Seite hatte. Erst seit einigen Monaten war sie dazu übergegangen, sich diese Haarsträhne zu färben, sodass sie nicht mehr von den anderen abstach.

Die junge Frau fasste in ihre Haare. Wer mochte ihr diese Strähne vererbt haben? Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten sie besessen, und Mary Carr? Ein Schauer rann über ihren Rücken. Ihre ganze Welt schien zusammenzubrechen. Erst der Tod ihrer Mutter, dann der des Vaters und nun noch das.

Die junge Frau schob das Album zur Seite, steckte den Brief in das Kuvert zurück und legte ihn in die Schatulle, dann zog sie den Mondsteinring vom Finger. Es ging nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Fast schien es, als würde er sich nur mit Gewalt von ihrer Hand lösen wollen. Aufatmend ließ sie ihn in die Schatulle fallen und schlug den Deckel zu.

Dorothys Fingerspitzen glitten über die Verzierungen des Kästchens. Sie hatte vorgehabt, es wieder in die Truhe zu versenken und diese abzuschließen, aber sie wusste auch, es würde keine Lösung sein. Sie konnte die Fragen, die plötzlich aufgetaucht waren, nicht ohne Antwort lassen. Sie musste herausfinden, um wen es sich bei dieser Mary Carr handelte und ob sie das Kind war, von dem im Brief gesprochen wurde. Am besten würde es sein, dieser Mrs. Carr zu schreiben und ihr den Tod der Eltern mitzuteilen. Die Adresse stand ja auf der Rückseite des Kuverts.

Ja, das wollte sie tun. Es blieb abzuwarten, wie Mary Carr auf ihren Brief reagierte. Sie hoffte von Herzen, dass es sich bei dieser Frau um eine Fremde handeln würde. Sie war Dorothy Gilman, etwas anderes wollte und durfte sie nicht sein. Die junge Frau griff nach dem Hochzeitsfoto ihrer Eltern und drückte es an ihre Brust.

*

Das schlechte Wetter war strahlendem Sonnenschein gewichen. Der Mai zeigte sich jetzt von seiner schönsten Seite. Fast täglich hatte Dorothy Gilman weite Spaziergänge durch die Parkanlagen gemacht, Kindern und Enten zugesehen und den Beginn des Sommers genossen. Auch wenn sie noch immer um ihren Vater trauerte, sie begann wieder Gefallen am Leben zu finden. Und dann war eines Morgens ein Brief aus Manton Hall gekommen. Allerdings nicht von Mary Carr, sondern von einer Lady Fairbanks. Mary Carr hatte bis zu ihrem Tod bei ihr als Gesellschafterin gearbeitet. Freundlich und zugleich bestimmt hatte sie Dorothy nach Manton Hall eingeladen.

Dorothy schaute aus dem Wagenfenster. Cambridge lag schon seit über einer Stunde hinter ihr. Sie hatte kurz in der alten Universitätsstadt angehalten, um dort zu Mittag zu essen. Noch immer fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, die Einladung von Lady Fairbanks anzunehmen. In ihrem Brief hatte Virginia Fairbanks ganz offen zugegeben, dass es Neugier war, die sie veranlasste, diese Einladung auszusprechen. Die junge Frau musste lächeln. Und auch sie war neugierig, deshalb hatte sie sofort nach Manton Hall geschrieben und ihr Kommen angekündigt.

Es war eine wunderschöne Landschaft, durch die Dorothy Gilman fuhr. Rechts und links der Straße breiteten sich grüne Wiesen und Felder aus. Auf flachen Hügeln standen Laubbäume. Ab und zu entdeckte sie ein einsam gelegenes Farmhaus, dann wieder ein malerisches Dorf, das sich am Ufer der Ouse erstreckte.

Vor ihr tauchte am rechten Flussufer die Kleinstadt Ely auf, deren prächtige, auf dem höchsten Punkt der Stadt gelegene Kathedrale schon von Weitem zu sehen gewesen war. Dorothy hätte gern angehalten, doch sie hatte es eilig, weil sie noch vor Einbruch der Dunkelheit Manton Hall erreichen wollte.

Sie folgte der am Fluss entlangführenden Straße nach Kings Lynn, einer alten Marktstadt am Nordseebecken The Wash, in das die Ouse mündete. Auch hier hielt sie sich nicht lange auf, obwohl sie tanken musste. Im Stehen trank sie eine Limonade und schaute dabei auf die Nordsee hinaus. Ein Ausflugsdampfer bog gerade in den Hafen ein.

Dorothy zuckte zusammen. Sie konnte sich an ein altes Foto erinnern, das ihre Eltern an Bord eines Ausflugsdampfers zeigte. War es hier in Kings Lynn aufgenommen worden? Manton Hall konnte nur noch einige Kilometer entfernt liegen. Vielleicht hatten ihre Eltern Mary Carr bei diesem Ausflug kennengelernt.

Sie stellte die halb leere Limonadenflasche auf den Tresen der kleinen Verkaufsbude und kehrte zu ihrem Wagen zurück, um weiterzufahren. Tief in Gedanken bog sie in die Küstenstraße nach Hunstanton ein, um bereits nach einer Viertelstunde von ihr abzuzweigen.

Schon bald tauchte vor ihr die weiße, halbhohe Mauer auf, die den weitläufigen Besitz der Fairbanks’ umlief. Hinter ihr erstreckten sich grüne Wiesen, so weit Dorothys Augen reichten. Hin und wieder sah sie ein paar Schafe, die von weißen und braunen Collies bewacht wurden. Erst als sie etwa tausend Meter gefahren war, kam sie in ein kleines Dorf mit flachen Häusern, die von blühenden Gärten umgeben waren. Seine Felder dehnten sich bis zum Wald aus.