5,99 €
In London treibt die berüchtigte Eulenbande ihr Unwesen. Ein junger Reporter findet heraus, dass der Bande von der Polizei Rückendeckung gegeben wird. Höchste Beamte stehen womöglich im Dienst der Schurken, was deren Verfolgung zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden lässt...
Der Roman Der Nebelkreis des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
JOHN CASSELLS
Der Nebelkreis
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER NEBELKREIS
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
In London treibt die berüchtigte Eulenbande ihr Unwesen. Ein junger Reporter findet heraus, dass der Bande von der Polizei Rückendeckung gegeben wird. Höchste Beamte stehen womöglich im Dienst der Schurken, was deren Verfolgung zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden lässt...
Der Roman Der Nebelkreis des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
In gewisser Beziehung kann man Zeitungsredaktionen und Polizeiämter miteinander vergleichen, nämlich insofern, als beiden täglich und stündlich Informationen zufließen, die zum größten Teil weder erbeten noch willkommen sind, weil derartige, meist anonyme Zuschriften bekanntlich recht unzuverlässige und zweifelhafte Anhaltspunkte bieten. Und doch muss jeder eingehende Brief gelesen, begutachtet und oftmals sogar auf seinen Inhalt, hin geprüft werden, denn gelegentlich geben, diese sogenannten Menschenfreunde und Beobachter Hinweise, die nicht nur nützlich, sondern auch ausgesprochen wertvoll sind.
Solcherlei Gedanken beschäftigten Mr. Nathaniel Webb, Chefredakteur des Western Orator, als er durch die dicken Gläser seiner Hornbrille ein Blatt billiges liniertes Schreibpapier betrachtete, das er in der Hand hielt. Der gewöhnliche blaue Geschäftsumschlag, in dem der Wisch gesteckt hatte, war in London selbst aufgegeben und abgestempelt worden. Er überlegte einen Moment, drückte dann den Klingelknopf an seinem Schreibtisch und gab dem Büroangestellten, der daraufhin den Kopf hereinsteckte, den kurzen Befehl: »Mr. Rae soll kommen.«
Während der wenigen Minuten, die nötig waren, Peter Rae ausfindig zu machen, rauchte er eine Zigarette. Er zerdrückte eben den Stummel im Aschenbecher, als sich die Tür öffnete und der Gerufene erschien. Er war ein großer, breitschultriger junger Mann von sympathischer Hässlichkeit, mit kornblumenblauen Augen und tief gebräunter Hautfarbe, die von einem wärmeren Klima als dem englischen zeugte. Er nickte zur Begrüßung.
»Mr. Webb, Sie haben nach mir geschickt. Ich wusste gar nicht, dass Sie im Haus sind: Ein Mann in Ihrer gehobenen Stellung und abends um acht noch im Büro – das hätte ich mir niemals träumen lassen. Wohin kommen wir denn da?«
»Setzen Sie sich«, forderte Webb ihn streng auf. Er war ein Mensch von wenig einnehmendem Äußeren und besaß zudem noch einige besonders abschreckende Charaktereigenschaften, die schon so manchen vor den Kopf gestoßen hatten.
Aber Peter Rae ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Er zog sich einen Stuhl heran und. setzte sich. »Worum dreht es sich?«
Mr. Webb rieb sich mit der großen Hand über die vorgewölbte Stirn und blickte den jungen Mann einen Moment nachdenklich an.
»Ich habe in der Stadt eine Verabredung und kam vorher nur auf einen Sprung vorbei. Doch das tut jetzt nichts zur Sache. Was ich Sie fragen wollte: Wo ist Marigold?«
Das vergnügte Zwinkern in Raes blauen Augen erlosch. »Marigold? Haben Sie etwas über ihn gehört?«
Webb sah wieder auf den Zettel in seiner Hand.
»Wie denken Sie über diese ganze Geschichte?«
Peter Rae hob zweifelnd die Schultern.
»Was erwarten Sie von mir? Ich weiß zu wenig über die näheren Umstände, um mir eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem kannte ich Marigold nicht, ich sah ihn nur ein- oder zweimal. Aber soviel ich hörte, hat er sich im Krieg ausgezeichnet.«
Webb rümpfte die Nase.
»Kriegsauszeichnungen sind oft ein guter Deckmantel für Missetaten«, meinte er säuerlich und schielte Rae aus den Augenwinkeln an. »Sie waren ja zu der Zeit nicht hier, das vergaß ich. Die Sache schien mir damals ziemlich zweifelhaft. Wenn ein Chefinspektor von Scotland Yard rausgeschmissen wird, noch dazu unter Verlust seiner Pension – das gibt eben Anlass zu Gerüchten. Und in diesem Fall wirbelte es mächtig viel Staub auf, denn Marigold hatte eine Menge Feinde.«
»Wer hat das nicht?«, fragte Rae freundlich.
»Ich«, entgegnete Mr. Webb schlicht. »Vielleicht bin ich die große Ausnahme. Aber wie dem auch sei, so lag der Fall bei Marigold. Er musste gehen, und dann verschwand er vollständig, niemand wusste, wohin. Viele Leute versuchten es herauszubekommen. Ich setzte damals sogar Draper dafür ein, und Draper ist der findigste Mann, den ich kenne. Aber auch er hatte keinen Erfolg.«
Peter Rae war im Ausland gewesen, als dieser, inzwischen verjährte, schreckliche Skandal die Gemüter erregte. Jetzt sann er über die Affäre nach. Marigold war verdächtigt worden, Bestechungsgelder angenommen zu haben, und man hatte ihn aus diesem Grund von seinem hohen Posten entfernt. Rae stellte diesbezüglich eine Frage, worauf Webb die Stirn runzelte.
»Nein – er ist niemals vor Gericht zitiert worden. Die Beweise genügten dazu nicht.«
Peter Rae gähnte.
»Was für Beweise hatte man denn gegen ihn?«
Webb machte eine wegwerfende Bewegung.
»Beweise! Sie müssen wirklich noch viel lernen, Rae. Wenn Sie erst einmal in meinem Alter sind, werden Sie hoffentlich langsam das nötige Rüstzeug für einen Polizeireporter erworben haben. Ist Ihnen der Name Kominsky ein Begriff?«
»Sie meinen den Polen, der vor einem Jahr starb?«
Webb bejahte.
»Lou Kominsky, ein schlauer Bursche. Er kam nach England mit nichts als den Kleidern, die er auf dem Leibe trug, und einem langen Messer, aber außerdem noch mit einer guten Idee. Jedenfalls raffte er einen Haufen Geld zusammen. Nein, er war nicht nur auf einem Gebiet Spezialist, sondern im Gegenteil äußerst vielseitig – Brandstiftung, Raub, Nötigung, Autodiebstähle, Pelze, Warenhäuser – ich könnte die ganze Nacht mit der Aufzählung verbringen. Lou war der mächtigste Gangster in London. Er beging niemals einen Fehler und bezahlte fürstlich für-alle ihm erwiesenen Dienste.«
»Bezahlte er auch Marigold?«, fragte Peter neugierig.
Webb nickte.
»Irgendwoher floss Marigold Geld zu, denn sein Gehalt betrug achthundert Pfund jährlich und seine Wohnung am Hyde Park kostete ihn allein siebenhundert. Marigold war ein anspruchsvoller Knabe und lebte auf großem Fuß. Man beobachtete Kominsky eine ganze Weile und stellte fest, dass er Marigold gelegentlich traf. Aber auch trotz dieser Beobachtung wäre niemand imstande gewesen, ihn zu überführen – wenn nicht Kominsky eines Tages das Pech gehabt hätte, in der Duncannon Street von einem Lieferwagen überfahren zu werden. Ja, da sehen Sie, wie das Schicksal spielt, Rae. Als sie ihn ins Krankenhaus schafften, war er bereits tot, und. so brachten sie ihn gleich in die Leichenhalle. Als man aber dort seine Habseligkeiten einer genaueren Prüfung unterzog, fand man ein kleines Buch in seiner Tasche.«
Peters Interesse wurde wach.
»Was stand in dem kleinen Buch?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Webb. »Aber ich kann mir’s denken. Kominsky war ein sehr tüchtiger Geschäftsmann, und ich nehme an, er führte über gewisse Transaktionen Buch. Vielleicht war Marigold darin erwähnt. Das. Kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, wohlgemerkt, das meiste an dieser Sache ist reine Vermutung. Aber Marigold quittierte am nächsten Tag seinen Dienst beim Yard, und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört.«
Peter Rae zog die Augenbrauen hoch.
»Und die allgemeine Ansicht ist, dass er entlassen wurde, weil er Schmiergelder angenommen hat? Wie ist Ihre persönliche Meinung dazu?«
»Meine Meinung?« Webb stieß ein raues Lachen aus. »Ich verschwende meine Zeit nicht damit, über eine Affäre nachzudenken, die schon anderthalb Jahr her ist und an der die Leute ohnehin nicht mehr interessiert sind.«
»Sie glauben nicht daran?«
Webb sah auf.
»Dass Marigold sich bestechen ließ? Möglich ist alles. Man wirft ja nicht Chefinspektoren so ohne weiteres hinaus. Aber sicherlich würde Scotland Yard nicht wünschen, dass dergleichen an die Öffentlichkeit dringt, denn es untergräbt das Vertrauen zur Polizei.«
»Da bin ich nicht ganz Ihrer Ansicht«, entgegnete der junge Mann. »Ich finde, es würde der Polizei weit mehr nützen, wenn sie den Fall in der Öffentlichkeit aufrollen und den Schuldigen vor Gericht stellen würde. Alle Leute könnten dann mit eigenen Augen sehen, dass sich die Beamten von Scotland Yard, genau wie andere gewöhnliche Sterbliche, an die Gesetze zu halten haben.«
Mr. Webb warf seine Zigarette in den offenen Kamin.
»Vielleicht. Über die Methode ließe sich streiten. Aber ich bat Sie nicht zu mir, um Ihre geschätzte Meinung darüber zu erfahren, sondern weil ich einen Auftrag für Sie habe. Lesen Sie das mal.«
Damit schob er ihm den eingegangenen Brief zu, den Peter Rae neugierig aufnahm.
An den Redakteur des Western Orator
Sehr geehrter Herr,
Sie erinnern sich wohl noch an Chefinspektor Marigold von Scotland Yard? Soviel ich weiß, erschien damals bei seiner Entlassung ein Artikel darüber in Ihrer Zeitung, dessen Inhalt ich nur begrüßen konnte, denn ich fand, dass Sie mit Ihrer Stellungnahme recht hatten. Ich habe mich selbst seinerzeit sehr für diesen Mann interessiert und möchte Sie darauf hinweisen, dass er sich seit einem Monat wieder in London aufhält. Ich sah ihn zweimal in Dargis Club, und meinen Informationen nach wird er auch heute Abend dort sein. Ein geschickter Redakteur könnte das gut auswerten.
Ein Wohlmeinender
Peter Rae las es zweimal.
»Kurz, aber interessant«, bemerkte er.
Mr. Webb war der gleichen Ansicht.
»Der geschickte Redakteur, von dem er spricht, das bin ich. Tatsache ist, dass ich schon lange darauf aus bin, etwas Brauchbares über Marigold zu erfahren, denn ich habe mich in Gedanken viel mit ihm Beschäftigt. Um ihn so kurzerhand fallenzulassen, war er ein viel zu hervorragender Polizeibeamter, und doch musste er gehen. Möglicherweise könnte ein neuer Bericht über einen Mann von seiner Bedeutung in gewissen Publikumskreisen Interesse erwecken.«
Auf Peter Raes Gesicht lag ein erwartungsvolles Lächeln.
»Sie wünschen also, dass ich Dargis Lokal aufsuche und ihn ausfindig mache?«
Webb nickte.
»Genau das.« Er bemerkte mit nicht allzu großer Begeisterung, dass sich der junge Mann vergnügt die Hände rieb. »Betrachten Sie das aber gefälligst nicht als Aufforderung, sich nun auf Kosten des Orators ein ausgedehntes Trinkgelage zu leisten, Rae. Hier handelt es sich um ernste Arbeit. Gehen Sie in den Nebelkreis und nehmen Sie sich einen günstigen Tisch, von dem aus Sie beobachten können. Sie sagten vorhin, Sie hätten Marigold schon einmal gesehen, also werden Sie ihn ohne Schwierigkeiten wiedererkennen. Halten Sie die Augen offen – und vor allen Dingen die Ohren. Falls Sie etwas mitbringen, können wir weiterreden. Verstanden?«
»Vollkommen«, sagte Peter Rae, zog seine Uhr und warf einen Blick darauf. »Halb neun. Vor elf hat es gar keinen Zweck, im Nebelkreis aufzukreuzen, denn vorher ist dort nichts los, und wenn man mich herumlungern sieht, erweckt es nur unnötigen Verdacht. Wie wär’s denn, wenn wir uns in der Zwischenzeit etwas über die Finanzen unterhalten würden?«
Dafür hatte Mr. Webb nur ein Basiliskenlächeln.
»Über dieses Thema sprechen wir später.«
Peter seufzte gequält.
»Nun höre sich das einer an! Glauben Sie, ich kann in einem so feinen Club wie dem Nebelkreis mit leeren Taschen auftreten wie ein Vagabund? Wie soll ich Informationen sammeln, wenn ich bei einem Glas Milch im Eckchen sitze? Mr. Webb, Sie sind ein schäbiger Geizhals! Selbstverständlich sind die Spesen für einen derartig wichtigen Auftrag entsprechend hoch, aber wenn Sie Material für Ihre Zeitung haben wollen, müssen Sie auch etwas in das Geschäft hineinstecken. Genau wie...«
Mr. Webb schnaufte, holte aber doch seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Er klimperte einen Moment unentschlossen damit und ging dann zu seinem Safe, aus dem er eine alte, zerbeulte Kassette hervorholte. Dieser entnahm er ein Bündel neuer Zehnschillingnoten, zählte vier davon ab und ließ sie mit vielsagender Miene durch die Finger gleiten, bevor er sie Rae aushändigte.
Peter schaute ihn etwas verdutzt an.
»Zwei Pfund? Was soll ich mit dem Trinkgeld?«
Mr. Webb reagierte kaum auf diese Frage. Ähnliche Situationen hatten sich in seinem Leben viel zu häufig abgespielt, sodass er bis zum Überdruss daran gewöhnt und deshalb mit Gleichmut gewappnet war. Er tippte nur mit seinem plumpen Zeigefinger auf den Brief.
»Also stellen Sie Marigold und versuchen Sie, wenn möglich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber sägen Sie ihm nicht, wer Sie sind, verstehen Sie? Auch mit Dargi könnten Sie ein Wörtchen Wechseln, denn er ist ein anständiger Mensch und stets hilfsbereit. Und vor allen Dingen: Betrinken Sie sich nicht.«
Peter steckte die Geldscheine ein.
»Etwa von dem, was Sie mir als Spesen zahlen? Über Leute wie Sie habe ich oft gelesen, Webb, aber »immer nur die Hälfte davon geglaubt. Sie sind mir ein ulkiger Mann. Geben Sie mir lieber eine Anweisung für den Kassierer, anstatt Ihren Geheimfonds anzugreifen.«
Aber Mr. Webb schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich stehe mit dem Kassierer nicht auf gutem Fuß, und außerdem möchte ich Sie nicht offiziell mit dieser Arbeit beauftragen, deshalb zahle ich Ihnen das Geld selbst. Die Sache soll gewissermaßen unter uns bleiben. Marigold, interessiert mich, und ich möchte gern mehr erfahren. Schwatzen Sie also nicht unnötig darüber. Wenn Sie sich mehr dabei verdienen wollen, dann gibt es für Sie nur einen Weg, Rae – nur einen einzigen.«
Peter Rae blickte auf.
»Marigold zu suchen?«
»Nein«, erwiderte Nathaniel Webb grimmig. »Den Briefschreiber zu ermitteln.« Und mit einem hoheitsvollen Kopfnicken verabschiedete er seinen Untergebenen.
Im Nebelkreis fand an diesem Abend eine Hochzeitsfeier statt, und über die sechs breiten Treppenstufen, die zur Straße hinabführten, war aus diesem Anlass ein kastanienbrauner Läufer ausgebreitet. Wegen des Regenwetters hatte man eine Markise über den Gehsteig vor dem Haus gespannt, und darunter stand ein großer, gewichtiger Portier zum Empfang bereit. Er kam auf das Taxi zugeeilt, in dem Peter Rae saß, und riss die Tür auf.
»Was gibt’s denn bei Ihnen heute Abend, Morley?«, fragte Peter.
Der Portier strich sich das Doppelkinn.
»Mr. Hollys Hochzeitsgesellschaft, Sir. Er hat heute geheiratet, und ein paar Freunde von ihm wollen hier feiern. Sie hoffen, dass er selbst mit seiner jungen Frau auch noch kommt, aber das bezweifle ich. Sie werden wohl schwerlich noch einen Tisch finden, Sir, ich könnte höchstens mit Moran reden, wenn Sie wünschen. Vielleicht bringt er Sie noch irgendwo unter.«
»Bitte, tun Sie das«, sagte Peter, und Morley verschwand hinter einer kleinen Tür in der Eingangshalle. Schon nach wenigen Augenblicken kehrte er mit breitem Grinsen zurück und winkte mit einladender Geste.
»Moran wird sich Ihrer sofort annehmen, er ist im Saal, Mr. Rae«, verkündete er.
Tatsächlich sah Peter, als er eintrat, dass Moran bereits nach ihm Ausschau hielt und ihm von weitem zunickte. Er legte seine Garderobe ab und ging über das Parkett.
»Hallo, Moran, das Geschäft zieht an, wie?«
Moran antwortete mit einem undurchdringlichen Lächeln.
»Es ist immer ziemlich lebhaft, Mr. Rae, wir können nicht klagen. Und heute Abend haben wir alle Hände voll zu tun. Von Mr. Hollys Party sind schon sechzig Personen da, aber wir erwarten noch mehr. Ich werde Sie an einen Tisch mit ein paar anderen Herrschaften setzen müssen, das macht Ihnen doch nichts aus?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Peter und folgte ihm zu einem Ecktisch an der Tanzfläche. Die Plätze waren im Augenblick nicht besetzt, aber er sah eine Damenhandtasche auf dem blendend weißen Tischtuch liegen und bemerkte außerdem eine Flasche Sekt mit zwei Gläsern sowie eine Anzahl bunter Papierschlangen.
Moran kratzte sich den Kopf.
»Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wer sie sind. Eine junge Dame und ein etwas dicklicher, älterer Herr. Aber man wird wahrscheinlich annehmen, dass Sie zur Gesellschaft gehören.«
Er zog sich wieder zurück, und Peter ließ sich nachdenklich nieder.
Das Orchester spielte gerade eine gedämpfte, einschmeichelnde Weise, und das Parkett war überfüllt. Er schaute eine Weile dem bunten, rhythmischen Gewimmel zu, dann war der Tanz beendet. Als er sich eben eine Zigarette anzündete, sah er einen untersetzten Herrn auf sich zusteuern und streckte ihm grüßend die Hand entgegen.
»Ah, Mr. Lisgard, Sie vermutete ich hier gar nicht.«
Chesney Lisgard hatte eine zartrosige Gesichtsfarbe, wasserhelle Augen und neigte zur Korpulenz. Er zog leicht verwundert die Brauen hoch, ehe er auf die Anrede reagierte.
»Natürlich – Mr. Rae, nicht wahr? Im ersten Augenblick konnte ich mich nicht auf Sie besinnen.« Er hielt Peter eine warme, weichliche Hand hin, die dieser schüttelte. Dabei betrachtete er den jungen Mann abschätzend. »Sind Sie auch eingeladen? Ich wusste überhaupt nicht, dass Sie Holly kennen.«
In seiner Stimme lag ein etwas erstaunt fragender Ton, den Peter mit einem liebenswürdigen Lächeln quittierte.
»Der gute, alte Holly! Wir sind doch fast unzertrennlich – er und ich.«
»Soso. Wie klein ist doch die Welt«, bemerkte Chesney Lisgard trocken.
»Allerdings«, bestätigte Peter. »Wer hätte gedacht, dass wir uns auf diese Weise wieder begegnen würden? Änzio liegt so weit entfernt – aber sicher sind Sie jetzt nicht von dort hergekommen. Was war doch Ihr Metier, Lisgard? Versicherungen, nicht wahr?«
Der andere nickte.
»Teils dies, teils das. Es ist der Nachteil unseres Berufes, dass die Leute glauben, einen Rechtsanwalt für alles bemühen zu müssen, das nach Schwierigkeit aussieht. Ich könnte Ihnen, jedenfalls ein Lied davon singen.« Er lächelte behäbig. »Wenn, ich nicht ein so umgänglicher Mensch wäre, hätte es Unannehmlichkeiten geben können. Aber so...« Er spreizte die Hände, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, wie vorbildlich angenehm mit ihm auszukommen sei. Peter zeigte Mitgefühl...
»Ich kann Ihnen alles nachempfinden, ich weiß, wie es ist. Aber nun sind Sie ja wieder in London, und das übrige ist abgetan und vergessen. Sagen Sie bitte, ist das Sekt dort in der Flasche oder...«
Lisgard schmunzelte.
»Ich schlage vor, wir gehen zu Whiskey über.« Er hob die Hand und winkte einem Kellner, der auf leisen Sohlen herbeieilte und mit der Serviette wedelte.
»Bitte, Sir?«
»Whiskey«, bestellte Lisgard. »Bringen Sie eine ganze Flasche.«
Als das Gewünschte erschien, füllte er zwei Gläser und schob eins davon über den Tisch. »Prosit, Rae, gut, dass ich Sie heute Abend traf. Sie sind doch bei irgendeiner Zeitung, nicht wahr?«
»Beim Orator«, antwortete Peter. »Aber nur im Augenblick. Die Honorare, die diese Leute zahlen, Mr. Lisgard, üben keine allzu große Anziehungskraft auf mich aus. Im arbeite wirklich für ein Almosen.« Er blickte missmutig in sein Glas. »Ihr Geschäft blüht, nehme ich an?« Der Ältere zuckte leicht die Schultern.
»Es geht uns nicht schlecht, und ich will mich nicht beklagen. Aber ich bin ja auch Teilhaber der Firma, das ist immerhin ein Unterschied.« Seine Finger zupften nervös am Tischtuch, und Peter hatte den Eindruck, als sei der dicke Mann etwas verlegen. Doch plötzlich gab es eine Unterbrechung, denn ein Mädchen war hinter ihm an den Tisch getreten. Ihre Gegenwart wurde ihm erst dadurch bewusst, dass Chesney Lisgard aufstand.
»Ah, meine liebe Jane... Kommen Sie hierher. Ich wunderte mich schon, wo Sie geblieben waren.« Er schüttelte gönnerhaft wohlwollend den Kopf. »Die Jugend! Die Jugend!«
Peter hatte sich inzwischen erhoben. Er schaute in zwei lustige graue Augen und auf einen sanft geschwungenen Mund, der wie Zum Lächeln geschaffen schien. Dann erst merkte er, dass Chesney Lisgard sprach.
»Dies ist Mr. Rae, Jane. Wir waren zusammen beim Militär. Mr. Rae – Miss Selby, meine Sekretärin und außerdem eine sehr gute Freundin von. mir.« Er sagte es mit einem Anflug von Besitzerstolz, und Peter merkte, wie das Mädchen etwas unwillig zusammenzuckte. Er staunte sie bewundernd an, und Jane Selby war zu sehr Frau, um dieses stumme Kompliment nicht wohlgefällig aufzunehmen. Sie lachte.
»Bitte setzen Sie sich doch wieder.«
Lisgard hatte ihr einen Stuhl zurechtgeschoben. »Kommen Sie, trinken Sie ein Gläschen«, bot er ihr an, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nein, vielen Dank, Mr. Lisgard, ich mag Champagner nicht besonders. Nicht einmal bei Hochzeiten.«
Während sie Platz nahm und mit Peter Rae ein Gespräch begann, hatte Chesney Lisgard einen kleinen dunkeläugigen Mann entdeckt, der an einem anderen Tisch saß. Er erhob sich wieder. »Sie entschuldigen mich wohl für kurze Zeit, Jane. Ich hätte gern ein Wort mit Ivyne geredet und sehe, dass er gerade allein ist.« Er entfernte sich, und Peter blickte ihm nach. Einen Moment lang sagten beide kein Wort, dann wandte sich das Mädchen lachend an ihn.
»Ich habe das Gefühl, Sie sind als Zaungast bei uns eingedrungen, Mr. Rae.« Sie zog belustigt die Nase kraus. »Ich studierte vorhin die Gästeliste und kann mich nicht erinnern, den Namen Rae darauf gelesen zu haben.«
»Nur ein Versehen«, meinte Peter leichthin.
Die Musik intonierte einen langsamen Walzer, und er sah sie auffordernd an. »Möchten Sie gern tanzen, Miss Selby? Ich beherrsche diese Kunst allerdings nicht gerade meisterhaft, aber wenn ich nicht aus dem Takt gerate, könnten wir es vielleicht schaffen.«
Sie lachte hell auf.
»Ich fände es entzückend.« Sie hatte sich schon erhoben, und Peter nahm ihren Arm.
Es stellte sich heraus, dass er ein weit besserer Tänzer war, als er sie hatte glauben machen wollen, und sie ließ eine anerkennende Bemerkung darüber fallen, als er sie zum Schluss wieder an ihren Tisch führte. Peter lächelte geschmeichelt.
Der Rechtsanwalt war währenddessen zurückgekehrt und stand auf, als sie sich näherten. Seine rosigen Wangen schienen noch mehr gerötet, und seine blassblauen Augen blickten unsicher auf das Mädchen.
»Jane, es wäre mir lieb, wenn Sie einmal zu Mr. Kyne hinübergingen. Er will nicht mehr lange hierbleiben und möchte vorher noch etwas Geschäftliches besprechen.« Er sah ihr schweigend nach, und Peter beobachtete ihn aufmerksam.
»Ein verdammt hübsches Mädchen, Lisgard.«
Der Anwalt fuhr aus seinen Gedanken.
»Wie? Oh, Jane? Ja – ein auffallend hübsches Mädchen.«
»Wie kommen Sie zu dieser Bekanntschaft?«
Die Augen des Rechtsanwalts blinzelten ihn plötzlich misstrauisch an. »Was wollen Sie damit sagen, Rae?«
»Ich meine, sie gehört nicht zu der Sorte Mädchen, die man sonst bei Ihnen gewohnt ist. Na, werden Sie nur nicht gleich böse.« Er warf einen Blick zu dem Tisch hinüber, an dem der kleine dunkelhaarige Mann saß. »Ich besitze für manche Dinge ein ziemlich untrügliches Gedächtnis.«
Eine Sekunde lang schien es, als wollte Lisgard aufbrausen, doch dann beherrschte er sich und lachte rau.
»Sie sind ein frecher Kerl, Rae. Jane ist meine Sekretärin und weiter nichts.«
»Das glaube ich gern«, brummte Peter. »Aber hüten Sie sich vor dummen Gedanken.« Er sah mit finsterer Miene zum anderen Tisch hinüber. »Wer ist denn dieser Bursche, dieser Kyne, mit dem Sie so freundschaftlich verkehren?«
»Hollys Sekretär«, erwiderte Lisgard besänftigt. »Er hat das Arrangement des Abends unter, sich und zahlt die Gelder aus.« Seine vollen Lippen zuckten. »Ja, Rae, Sie hatten schon immer eine gehörige Portion Frechheit. Beim Orator arbeiten Sie? Aber ein junger Mann mit Ihrem Unternehmungsgeist sollte doch heutzutage auf bessere Art sein Glück machen können.« Er überlegte. »Besuchen Sie mich einmal in den nächsten Tagen.« Er nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie ihm hin. »Morgens zwischen elf und eins treffen Sie mich meistens an nur nicht am Nachmittag.«
Peter schnappte auf die Karte und las:
Baxendale, Promt & Ellery
Rechtsanwälte
30, Keen Court
»Danke, Mr. Lisgard«, sagte er und steckte sie ein. »Ich werde demnächst kommen.«
»Gut«, meinte der Anwalt und erhob sich. »Sie entschuldigen mich wohl jetzt, ich muss leider gehen. Der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste, besonders für einen Mann in meinem Alter und bei meinem Beruf. Gute Nacht.«
Damit verließ er ihn und gesellte, sich zu Kyrie und Jane Selby. Peter Rae sah ihm verstohlen nach. Einige Augenblicke später kehrte das Mädchen an den Tisch zurück, nahm ihre Handtasche und lächelte ihn an.
»Gute Nacht, Mr. Rae.«
»Sie gehen auch schon?«, fragte er.
»Ja. Mr. Lisgard fährt mich nach Hause.«
»Aha«, meinte er. »Na, dann gute Nacht.«
Er beobachtete, wie sie mit Lisgard zusammen den Saal verließ. Dann erhob er sich und schlenderte durch die Menge. Plötzlich hörte er hinter sich ein leises Lachen, drehte sich um und erblickte ein ihm wohlbekanntes Gesicht.
Sergeant Gage von Scotland Yard war ein Mann in den besten Jahren, von heiterer, offener Gemütsart, aber nichtsdestoweniger ein scharfsinniger und wachsamer Polizeibeamter. Er gab ihm ein heimliches Zeichen, und Peter trat näher.
»Hallo, Gage. Sind Sie befördert worden, dass Sie hier, feiern?« Er betrachtete ihn interessiert. »Oder soll hier etwa eine Razzia stattfinden?«
Sergeant Gage lächelte belustigt über diese komische Frage!
»Ich bin zwar im Dienst, aber bei Dargi machen wir keine Razzien. Er hat eine saubere Weste und führt sein Lokal einwandfrei.«
Peter wusste, dass dies zutraf. Der Nebelkreis war nicht nur ein beliebtes Lokal, sondern genoss auch – was sonderbar klingen mochte – überall einen guten Ruf. Darauf hielt Dargi, wie Peter zur Genüge bekannt war. Dargis Leumund war unantastbar, und auf das Verhalten der Gäste wurde streng geachtet, was man von anderen Clubs nicht immer behaupten konnte.
Gage nickte dem jungen Mann zu.
»Trinken Sie ein Glas mit mir.«
»Ich habe sogar einen Tisch«, erklärte Peter und führte ihn zu seinem Platz, wo Gage sich mit einem Seufzer der Befriedigung in einen der Stahlrohrsessel sinken ließ. Peter goss ihm einen Whiskey ein, und Gage hob andächtig das gefüllte Glas.
»Eine feine Sache, so eine kleine Erfrischung – aber teuer! Viel zu kostspielig für einen normalen Bürger, der mühsam seinen Lebensunterhalt verdienen muss.«
Peters Augen wanderten unterdessen ständig im Saal umher, aber bisher war sein Suchen ohne Erfolg geblieben. Marigold schien heute Abend nicht hier zu sein. Der Schreiber des anonymen Briefes musste sich in seiner Voraussage geirrt haben. Aber als sein Blick jetzt wieder auf das gutmütige Gesicht von Sergeant Gage fiel, kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke.
»Sind Sie vielleicht heute Abend aus einem bestimmten Grund hier?«, fragte er. »Die Vermutung liegt nahe, denn Scotland Yard überträgt Ihnen für gewöhnlich nur besonders wichtige, spezielle Aufgaben.«
Um Sergeant Gages breiten Mund spielte ein pfiffiges Lächeln.
»Wenn Sie kein Reporter wären, würden Sie einen guten Kriminalbeamten abgeben, Mr. Rae. Ich wette, Sie sammeln auch tagtäglich eine ganze Menge Erfahrungen und Informationen, beinah so viel wie ich. Und wahrscheinlich treffen Sie ebenso viele merkwürdige Zeitgenossen. Ist Lisgard ein Freund von Ihnen?« In seiner Stimme lag ein kaum spürbarer Unterton, der aber Peter nicht entging.
»Wir waren im Krieg bei der gleichen Einheit.«
Ein Funke blitzte in Gages Augen auf.
»So, Lisgard war Soldat? Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«
»Kein schlechter Bursche«, sagte Peter. »Viel weiß ich allerdings nicht über ihn, aber er galt allgemein als guter Kamerad und fiel nicht aus dem Rahmen.« Sein Blick richtete sich neugierig auf Gage. »Sind Sie an Chesney Lisgard interessiert?«
Gage drehte sein Glas auf dem Tischtuch.
»Ja und nein. Aber dies ist streng unter uns, wohlgemerkt. Er ist ein eigenartiger Mann. Rechtsanwalt soll er sein, und eine Sekretärin hat er auch. Sie haben sie ja vorhin gesehen.« Er starrte finster vor sich hin. »Und um beim Thema zu bleiben, Mr. Rae, weshalb sind Sie denn heute Abend hier? Suchen Sie etwa jemanden? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?«
Peter sah schnell zu ihm auf, aber das Gesicht des Sergeanten war undurchdringlich.
»Ist das Ihr Ernst, Gage?«
Der Sergeant seufzte.
»Dafür werde ich bezahlt. Um den Mitmenschen zu helfen, wie es heißt. Na, was haben Sie also auf dem Herzen, Mr. Rae? Und wenn ich das Rätsel nicht lösen kann, so steht uns ja eine Abteilung beim Yard zur Verfügung, die sich mit besonders kniffligen Sachen befasst.«
Einen Moment schwieg Peter, dann gab er sich einen Ruck.
»Haben Sie jemals Inspektor Marigold kennengelernt?«, fragte er.
Gage horchte auf.
»Sie meinen Ex-Inspektor Marigold, Mr. Rae. Um ganz korrekt zu sein: Ex-Chefinspektor Marigold.«
»Ja, den meine ich«, bestätigte Peter. »Ich sehe, Sie haben schon von ihm gehört.«
»Das habe ich allerdings.« Gages Züge blieben unbewegt. »Marigold und ich, wir waren einmal ganz gut befreundet. Er war ein Mann, für den alle gern arbeiteten, der seinen Untergebenen stets den Rücken deckte und niemals Angst vor Vorgesetzten hatte. Ich wette, das könnte man von Chesney Lisgard nicht sagen.« Er blinzelte Rae an. »Wie kommen Sie überhaupt auf Marigold?«
»Ich dachte, ich würde ihm vielleicht begegnen«, antwortete Peter.
Gage gestattete sich ein kaum merkliches Lächeln.
»Und wie kamen Sie zu der Vermutung, er würde heute Abend hier sein?«
Peter holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr das Schreiben des Unbekannten. Er warf einen kurzen Blick darauf und reichte es dann über den Tisch.
Sergeant Gage suchte nach seiner Hornbrille, setzte sie auf und studierte den Brief. Eine Weile sagte er kein Wort, aber Peter sah die plötzliche Spannung in seinen Zügen.
»Dieser Wohlmeinende hier scheint eine ganze Menge zu wissen«, erwiderte er schließlich. »Muss ein schlauer Bursche sein. Es wäre interessant, Näheres über ihn zu erfahren, Mr. Rae. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir dieses Schriftstück einmal bis morgen ausleihe, hm?« Die Frage war leicht hingeworfen, und doch war seiner Stimme die innere Erregung deutlich anzumerken.
Peter zögerte eine Sekunde.
»Nein – ich glaube nicht. Wollen Sie es auf Fingerabdrücke untersuchen?«
»Vielleicht«, erwiderte Gage ausweichend und tippte nachdenklich auf den Zettel. »Wir kriegen fortwährend solche Briefe, und bisher haben wir noch immer den Absender ermitteln können. Es ist leichter, als Sie denken, wenn man sich die Mühe nimmt.« Er verwahrte das Blatt in seiner Brieftasche: »Na, wir wollen sehen, Mr. Rae. Marigold interessiert mich natürlich auch. Zum Beispiel die Sache mit Kominsky damals, den kennen Sie sicher ebenfalls. Aber haben Sie jemals von einem Mr. Mortimer Chark oder von dem Revolverhelden MacGrath gehört? Bestimmt nicht, und doch...«
Peter erhob erstaunt den Blick.
»Wer ist MacGrath?«
Gage fuhr sich mit einer gereizten Bewegung zum Ohr. »Einer der übelsten Kerle, die es gibt.«
»Amerikaner?«
»Nein, nein. Nicht alle Gangster kommen aus Amerika. MacGrath begründete seinen Ruf in Südafrika, obwohl er hier geboren wurde – in Liverpool.«
»Und wer ist Mortimer Chark?«
Gages blaue Augen wurden mit einem Mal hart und kalt, aus seinem Gesicht war alle Freundlichkeit gewichen, und in seinen Worten lag grimmige Entschlossenheit.
»Chark? Das ist der hinterhältigste und gefährlichste Verbrecher, den wir seit zehn Jahren in England erlebt haben, Rae. Mortimer Chark ist der Mann, der hinter der Eulenbande steht.«
»Die Eulenbande?«, fragte Peter verdutzt. »Und Sie kennen Chark? Aber da haben Sie ja einen unschätzbar wertvollen Trumpf in der Hand, Gage. Setzen Sie ihn fest und...«
Sergeant Gage warf sich in die Brust. »Das werde ich auch tun. Geben Sie mir nur einen Monat Zeit, und Mortimer Chark sitzt in – der Falle.« Ein selbstbewusstes Lächeln überflog sein Gesicht. »Na, es ist verdammt spät geworden, und bei meinem anstrengenden Dienst sollte ich längst im Bett liegen.« Er erhob sich schwerfällig. »Hören Sie auf meinen Rat, und gehen Sie auch nach Hause. Gute Nacht, Mr. Rae.« Dann wandte er sich noch einmal über die Schulter zurück und sagte: »Aber lassen Sie jetzt bitte nicht Ihrer Phantasie die Zügel schießen, und vor allen Dingen erwähnen Sie mich nicht in der Zeitung. Ich liebe Reklame nicht.« Damit nickte er Peter verabschiedend zu und entfernte sich.
Peter Rae folgte der breitschultrigen Gestalt mit den Augen. An der Tür drehte sich der Kriminalbeamte um und gab durch eine unauffällige Kopfbewegung ein Zeichen, worauf sich sofort zwei stiernackige Männer von einem Tisch erhoben und auf ihren Vorgesetzten zustrebten. Sie verließen miteinander den Club, und Peter blieb mit dem Bewusstsein zurück, dass hinter Sergeant Gages Stirn heute Abend mehr vorgegangen war, als er ihm hatte verraten wollen.
Plötzlich merkte er eine leichte Berührung an seiner Schulter, und als er aufschaute, beugte sich ein Kellner an sein Ohr.
»Mr. Dargi bittet Sie, in sein Büro zu kommen, Sir.«
Peter starrte ihn verblüfft an.
»Dargi? Gut, danke.« Er stand sogleich auf und folgte dem Mann, während er sich verwundert fragte, welche Gründe Dargi wohl veranlasst haben mochten, von seiner Anwesenheit besondere Notiz zu nehmen.
Der Kellner führte ihn eine enge Treppe zum Büro des Direktors hinauf, klopfte an die Tür und meldete: »Mr. Rae, Sir.«
Dargi, ein kräftig gebauter Mann von dunkler Haut- und Haarfarbe und strengem, beinah finsterem Aussehen, erhob sich von seinem Schreibtisch und kam ihm entgegen.
»Hallo, Rae. Freue mich, Sie zu sehen.« Er wies auf einen der breiten Ledersessel neben dem Kamin. »Nehmen Sie Platz und trinken Sie einen Schluck.«
Peter betrachtete ihn, während er die Gläser füllte. Er hatte Dargi bereits früher kennengelernt und außerdem viel über ihn gehört, trotzdem war dieser Mann ein Fremder für ihn, ja, in mancher Beziehung schien er ihm sogar ein Rätsel zu sein. Zum Beispiel wusste keiner recht zu sagen, woher er eigentlich kam oder wer die Geldgeber waren, die hinter ihm und dem Nebelkreis standen.
Gordon Dargi setzte sich ihm gegenüber und schaute ihn mit seinen scharfen grauen Augen an, die zu seinem dunklen Typ einen seltsamen Kontrast bildeten und in denen sekundenlang ein kleiner ironischer Funke aufblitzte.
»Auf Ihr Wohl, Rae.« Er hob das Glas an die Lippen. »Sie haben jemanden gesucht«, sagte er dann in gleichmütigem Ton. »Nein, leugnen Sie nicht. Einer meiner Leute hat Sie den ganzen Abend beobachtet.«
Peters Augen wurden schmal.
»Soll das etwa heißen, dass Sie hinter mir her spionieren?«, fragte er freundlich.
Dargi setzte das Glas ab.
»Ohne böse Absicht, Rae, Sie wissen doch, wie es ist. Bei dem ständigen Aus und Ein von Gästen aller Art muss ich versuchen, eine gewisse Kontrolle auszuüben. Sie kommen nicht oft hierher, und ich kenne Ihren guten Ruf, aber ich möchte nicht in die Zeitung kommen.« Er fixierte den jungen Mann. »Sie waren übrigens nicht der einzige Fremde heute Abend. Gage stattete uns ebenfalls einen Besuch ab, mit zweien seiner Leute, und ich weiß, dass Gage seine Zeit nicht an Nebensächlichkeiten verschwendet. Hinter wem war er her?«
Peter lachte spöttisch.
»Weshalb fragen Sie ihn nicht selbst?«
Dargi sah rasch zu. ihm auf.
»Ihre Frage ist berechtigt. Das könnte ich tun, aber er würde, mir keine Auskunft darüber geben. Deshalb frage ich Sie.« Sein Ton war verbindlich, verriet aber doch eine Spur von Gereiztheit. »Ich glaube, ein gewisses Recht dazu zu haben, denn falls Gage hier jemanden suchte, sollte man mich, zumindest davon verständigen. Ich möchte keinen Mann in meinem Club haben, für den sich Scotland Yard interessiert, und sollte es gar ein Verbrecher sein, so wäre es mir höchst unangenehm, wenn man ihn ausgerechnet bei mir fassen würde.« Er schob trübsinnig sein Glas von sich. »Wen suchte Gage hier? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie es mir sagen würden.«
Peter erwiderte ruhig seinen Blick.
»Das kann ich nicht – weil ich es nicht weiß. Ich habe, ihn nicht gefragt, und von selbst hat er sich nicht darüber geäußert.«
Er bemerkte die Enttäuschung, die sich einen Moment lang auf dem Gesicht des Mannes spiegelte. Dargi zuckte mit den Schultern.
»So werden Sie mir auch nicht verraten wollen, was Sie heute herführte?«
»Warum nicht?«, entgegnete Peter. »Ich bekam einen Tipp, dass ein bestimmter Mann, der mich interessiert, anwesend sein würde.«