Der Notarzt 474 - Karin Graf - E-Book

Der Notarzt 474 E-Book

Karin Graf

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Beschreibung

Dr. Leo Landmann und Dr. Ava Rowensky haben beide das Glück, an der renommierten Frankfurter Sauerbruch-Klinik ihre Ausbildung machen zu dürfen. Leo wird hier zum Facharzt für Unfallchirurgie ausgebildet, Ava zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Und nicht nur beruflich haben die beiden in den Glückstopf gegriffen, auch in Sachen Liebe scheinen sie das große Los gezogen zu haben: Seit knapp zwei Jahren sind sie ein Paar, und sobald sie ihre letzten Prüfungen hinter sich haben, wollen sie den Bund der Ehe eingehen.
Aber bei aller Liebe, die die beiden miteinander verbindet, fallen in letzter Zeit doch immer wieder dunkle Schatten auf ihre Beziehung, und als Leo schließlich von einem auf den anderen Tag aus dem gemeinsamen Haus auszieht, scheint das letzte Wort gesprochen zu sein.
Dann kommt es in der Sauerbruch-Klinik zu einem dramatischen Vorfall, der alles in ein neues Licht rückt ...

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Inhalt

Cover

Am Ende aller Worte

Vorschau

Impressum

Am Ende aller Worte

Im schönsten Frühling kommt Ava und Leo die Liebe abhanden

Karin Graf

Dr. Leo Landmann und Dr. Ava Rowensky haben beide das Glück, an der renommierten Frankfurter Sauerbruch-Klinik ihre Ausbildung machen zu dürfen. Leo wird hier zum Facharzt für Unfallchirurgie ausgebildet, Ava zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Und nicht nur beruflich haben die beiden in den Glückstopf gegriffen, auch in Sachen Liebe scheinen sie das große Los gezogen zu haben: Seit knapp zwei Jahren sind sie ein Paar, und sobald sie ihre letzten Prüfungen hinter sich haben, wollen sie den Bund der Ehe eingehen.

Aber bei aller Liebe, die die beiden miteinander verbindet, fallen in letzter Zeit doch immer wieder dunkle Schatten auf ihre Beziehung, und als Leo schließlich von einem auf den anderen Tag aus dem gemeinsamen Haus auszieht, scheint das letzte Wort gesprochen zu sein.

Dann kommt es in der Sauerbruch-Klinik zu einem dramatischen Vorfall, der alles in ein neues Licht rückt ...

Der dreiundvierzigjährige langzeitarbeitslose Hilfsarbeiter Patrick Töpfel konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Er hatte vor einer Woche im Lotto gewonnen. Fünf Millionen. Heute sollte er das Geld bekommen.

Was er noch nicht ahnte und auch nie im Leben für möglich gehalten hätte, war, dass nicht jeder sogenannte Glücksfall auch wirklich ein Glück sein musste, sondern mitunter sogar den Beginn des genauen Gegenteils bedeuten konnte.

Jetzt – es war bereits kurz vor Mittag – saß er gerade in Unterhemd und nicht mehr ganz sauberer Unterhose in der winzigen Küche der engen Zweizimmerwohnung, die er seit fast vierzehn Jahren zusammen mit seiner Frau Marie bewohnte, und mäkelte wie immer am Frühstück herum.

»Das Brot ist alt und hart! Wieso hast du keine frischen Brötchen vom Bäcker geholt? Und was soll das denn sein? Nudeln! Zum Frühstück? Willst du mich verkackeiern? Du solltest doch längst wissen, dass ich zum Frühstück am liebsten Schinken mit Ei oder Eier mit Speck mag! Und dazu frische, noch ofenwarme Brötchen und einen richtigen Kaffee, nicht so eine fade Plörre, verdammt noch mal!«

Die zweiunddreißigjährige Marie, die ihrem Mann gerade einen Teller voll Makkaroni – das einzige Nahrungsmittel, das noch im Haus war – auf den Tisch gestellt hatte, entfernte sich in weiser Voraussicht lieber ein paar Schritte weit, ehe sie antwortete. Sie wusste, dass Patrick nur allzu leicht die Hand ausrutschte, wenn man es wagte, ihn zu kritisieren.

»Du hast mir seit drei Monaten kein Haushaltsgeld mehr gegeben, Patrick«, merkte sie vorsichtig an. »Nudeln und altes Brot sind alles, was wir noch haben.«

»Das wird sich noch heute ändern! Ab morgen gibt es Kaviar und Champagner zum Frühstück.«

Patrick war viel zu euphorisch, um sich über die freche Bemerkung seiner Frau aufzuregen.

»Um eins muss ich mit dem Schein und einem amtlichen Lichtbildausweis bei dieser Auszahlungsstelle sein. Fünf Millionen! Kannst du dir das vorstellen? Das ist ein Haufen Geld. Heute Abend wird gefeiert, dass es kracht!«

»Wie schön! Wo feiern wir denn? Gehen wir in ein Restaurant?« Marie war seit mehr als dreizehn Jahren in keinem Restaurant mehr gewesen. Genau genommen seit sie Patrick geheiratet hatte. Nicht ganz freiwillig, denn so groß war die Liebe schon damals nicht gewesen. Aber es war ein Baby unterwegs gewesen, und mit damals gerade einmal achtzehn Jahren hatte sie nicht gewusst, wie sie das kleine Würmchen und sich selbst alleine durchbringen sollte.

»Was heißt hier wir?«, fuhr Patrick sie an. »Ich habe nicht gesagt, dass du eingeladen bist. Ich feiere mit meinen Kumpels in der Kneipe. Vielleicht auch in einer von diesen teuren Bars, in die sie mich bislang nie hineingelassen haben.« Er lachte gackernd. »Wenn mir der Türsteher blöde kommt, klatsche ich ihm ein Bündel Tausender um die Hamsterbacken.«

Er stellte sein Vorhaben pantomimisch dar und vertonte seine Darbietung mit einem lautstarken »Flapp, flapp, flapp«. Darüber musste er noch mehr lachen.

»Sollten wir mit dem Geld nicht vielleicht lieber eine etwas größere Wohnung oder sogar ein kleines Häuschen ...?«

»Was heißt hier kleines Häuschen?«, fiel er ihr verächtlich lachend ins Wort. »Fünf Millionen, du dumme Gans! Du weißt wohl nicht, wie viel das ist! Das ist eine Fünf mit ...«

Er überlegte, kam jedoch nicht drauf, wie viele Nullen hinter der Fünf stehen mussten.

»Mit ziemlich vielen Nullen hinten dran. Dafür kaufe ich eine Villa im nobelsten Nobelstadtteil Frankfurts! Und gleich auf dem Rückweg von diesen Lottofritzen kaufe ich mir einen Porsche und fahre damit so lange die Straße rauf und runter, bis alle vor Neid ganz gelb sind!«

»Ah, okay.« Marie seufzte leise. Es schien umgekehrt zu sein. Sie wusste genau, dass fünf Millionen ziemlich rasch weg sein konnten, wenn man größenwahnsinnig wurde. Ihr Mann schien jedoch zu glauben, dass er ein Füllhorn gewonnen hätte, das niemals leer wurde.

Im Gegensatz zu Patrick war Marie intelligent genug, um vorherzusehen oder zumindest zu befürchten, wie diese Geschichte enden würde.

Eine Villa in Westend oder Schwanheim, ein Porsche und eine Nacht mit seinen zahlreichen Kumpels in einer Bar, da würde von dem Geld bald nicht mehr viel übrig sein.

Und wenn er seinen Kumpels, die so wie er ständig abgebrannt waren, von dem Gewinn erzählte, würde es sehr bald wieder Makkaroni und trockenes Brot zum Frühstück und zu allen anderen Mahlzeiten geben.

Doch ihm einen guten Rat zu erteilen, ihn zur Vorsicht zu ermahnen oder ihm gar zu widersprechen, das wagte sie nicht. Sie hatte in den vergangenen dreizehn, fast vierzehn Jahren schon für weit geringere Vergehen Backpfeifen und Fußtritte bekommen.

Eigentlich war sie nur noch ihres Sohnes wegen mit ihrem Mann zusammen. Marvin vergötterte seinen Vater regelrecht. Und ... tja, leider musste sie sich selbst eingestehen, dass Marvin sich zu einer exakten Kopie von Patrick entwickelte. Äußerlich wie innerlich.

Sie liebte ihren Sohn, ohne jeden Zweifel. Die Frage war nur, wie lange noch, denn der Zehnjährige machte es ihr von Jahr zu Jahr schwerer, ihn zu lieben und stolz auf ihn zu sein.

Dabei war er ein so entzückendes Baby gewesen. Ein bisschen unruhig zwar, er hatte nur wenig geschlafen und viel geschrien, aber dennoch süß.

Anfangs hatte er noch auf sie gehört und sich von ihr leiten und beeinflussen lassen. Doch kaum war er auf seinen zwei Beinen sicher unterwegs gewesen, hatte er sich Patrick zum Vorbild genommen.

Bereits mit drei Jahren hatte er sie mit den gleichen deftigen Ausdrücken herumgescheucht, wie sein Vater das tat, und ihr auch schon mal einen Fußtritt verpasst, wenn sie nicht schnell genug war oder ihm etwas vorsetzte, was er nicht mochte.

Mit vier war er zum ersten Mal aus dem Kindergarten geflogen, weil er die anderen Kinder schlug, biss, kniff und unbelehrbar war. Nach drei weiteren Versuchen in anderen Kindergärten war er schließlich in einer Gruppe für verhaltensauffällige Kinder gelandet.

Heute, mit dreizehn Jahren, hatte er es gerade einmal bis zur ersten Klasse der Mittelschule gebracht. Er war zuerst ein Jahr zurückgestellt und erst mit siebeneinhalb eingeschult worden und hatte dann die zweite und die vierte Klasse der Grundschule je zweimal absolvieren müssen, weil er kaum lesen und schreiben konnte.

Patrick bestärkte seinen Sohn noch zusätzlich in seinem problematischen Verhalten. Er erklärte ihm, dass bloß Weicheier und Warmduscher Bücher lasen und langweiliges Zeug auswendig lernten, während richtige Männer in der Kneipe saßen, Bier tranken und allen, die dumm guckten, was aufs Maul gaben.

Vielleicht hätte sie sich früher scheiden lassen oder Patrick gar nicht erst heiraten sollen. Vielleicht war es jetzt schon zu spät für Marvin. Aber sie wollte nichts unversucht lassen, den Jungen doch noch in die richtigen Bahnen zu lenken.

Bei einer Scheidung, das war ihr völlig klar, würde Marvin darauf bestehen, bei seinem Vater bleiben zu dürfen. Dann hätte sie keine Möglichkeit mehr, doch noch ein bisschen auf den Jungen einzuwirken.

Vielleicht wendete sich durch das viele Geld ja nun alles zum Besseren. Doch beim Gedanken daran schalt Marie sich selbst ein naives Gänschen. Mit viel Glück würde alles so bleiben wie bisher. Doch sie befürchtete, dass der Lottogewinn alles nur noch viel schlimmer machen würde.

»Willst du auch was haben?«, fragte er sie völlig unvermittelt und ein bisschen sarkastisch. Vermutlich interpretierte er ihre Nachdenklichkeit falsch und glaubte, sie würde sich bereits überlegen, was sie sich alles für das Geld kaufen könnte. »Ein Kleid vielleicht? Oder Schuhe? Oder eine Halskette?«

»Eine Spülmaschine hätte ich wirklich gerne«, erwiderte sie und betrachtete ihre rissigen Hände.

Er lachte gackernd auf.

»Blödsinn! Wer braucht schon eine Spülmaschine? Das wäre die reinste Geldverschwendung. Du hast doch zwei gesunde Hände. Aber damit du nicht ganz leer ausgehst, kaufe ich dir morgen einen neuen Spülschwamm.

Er lachte noch lauter und gab dem Teller mit den Makkaroni einen Schubs, dass er quer über den Tisch sauste und sie ihn am anderen Ende gerade noch auffangen konnte, ehe er zu Boden fiel. Dann stand er auf.

»Damit ist dein einziger Wunsch nun leider verbraucht«, gackerte er, »und die gute Fee macht sich jetzt vom Acker.«

***

Es war weit nach Mittag, als Dr. Leo Landmann aufwachte. Er hatte am gestrigen Sonntag die halbe Nachtbereitschaft auf der Unfallstation der Frankfurter Sauerbruch-Klinik für einen jüngeren Kollegen übernommen und war erst gegen drei Uhr morgens nach Hause gekommen.

Sein Kollege blieb dafür heute länger, damit Leo ein paar Stunden schlafen und seinen normalen Dienst dann wie gehabt fortsetzen konnte.

Leo war Assistenzarzt im fünften Lehrjahr zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik. Er brauchte nur noch etwa ein halbes Jahr, um seine Ausbildung zu vollenden, und es stand jetzt schon fest, dass Prof. Lutz Weidner, der Chefarzt der Sauerbruch-Klinik, ihn auch als fertigen Facharzt in seinem Krankenhaus behalten würde.

Leo war sich dessen bewusst, dass er riesiges Glück hatte. Etliche seiner Kommilitonen hatten Frankfurt verlassen und in irgendwelche entlegenen Kleinstädte auswandern müssen, um nach dem Studium wenigstens in einem kleinen, unbedeutenden Krankenhaus unterzukommen.

Aber nicht nur beruflich hatte Leo ganz tief in den Glückstopf gegriffen. Auch in Sachen Liebe hatte er das ganz große Los gezogen.

Seit nun schon fast zwei Jahren war er mit Dr. Ava Rowensky, einer gleichaltrigen Kollegin, zusammen, die zurzeit in der Notaufnahme zugange war. Sie ließ sich zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderintensivmedizin ausbilden und sollte beide Facharztprüfungen bereits in wenigen Wochen ablegen.

Für sie beide stand längst fest, dass sie heiraten würden, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten. Und da es ohnehin schon fast so weit war, hatten sie vor ein paar Monaten ihr gesamtes Geld in einen Topf geworfen, zusätzlich noch einen gemeinsamen Kredit aufgenommen und sich ein kleines Häuschen am grünen Stadtrand gekauft.

Das Haus war hübsch, aber ziemlich baufällig gewesen. Sie hatten ihre gesamte Freizeit in die Renovierungsarbeiten gesteckt und fast alles mit tatkräftiger Unterstützung von Avas großer Familie selbst gemacht.

Sie hatten den völlig verwilderten Garten gerodet, die hölzernen Fensterrahmen abgeschliffen und lackiert, den schmiedeeisernen Gartenzaun vom Rost befreit und ihn ebenfalls lackiert, die Terrasse neu verfliest und noch hundert andere kleine oder auch größere Reparaturen vorgenommen.

Am Freitag vor drei Tagen waren sie in das neue Haus umgezogen. Noch bestand die Einrichtung aus kunterbunt zusammengewürfelten Billigmöbeln aus ihren Studentenbuden, aber das störte sie nicht. Sobald sie ihre Facharztdiplome in der Tasche hatten, würden sie beide mehr verdienen und konnten sich nach und nach gemütlich einrichten.

Leo gähnte und hob einen Fuß in das flirrende Sonnenlicht, das durch das noch gardinenlose große Fenster des Schlafzimmers fiel. Die Sonnenstrahlen schienen durch Haut und Knochen zu dringen, und sein ganzer Fuß leuchtete in einem strahlenden Rosarot.

Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl, im eigenen Haus aufzuwachen und draußen vor dem halb offenen Fenster statt Straßenlärm und Baumaschinengeknatter die Vögel zwitschern, Hummeln brummen, eine Nachbarin bei der Gartenarbeit singen und das nahe Bächlein plätschern zu hören.

Zum ersten Mal seit langer Zeit, nein, eigentlich zum ersten Mal in seinem ganzen Leben fühlte er sich richtig zu Hause. Und mit Ava bekam er zum ersten Mal in seinem Leben eine Familie.

Ava hatte sechs Geschwister, Mutter und Vater, noch alle vier Großeltern und fast unüberschaubar viele Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins und – da ihre Geschwister alle älter waren als sie – auch schon eine große Schar von Nichten und Neffen.

Leo selbst hatte niemanden. Er war als Einzelkind mit seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die weder Familie noch Freunde hatte. Heute hatte er kaum noch Kontakt zu ihr, denn sie war nie besonders nett zu ihm gewesen und machte sich auch heute nicht viel aus ihm.

Margit Landmann war seit Jahrzehnten Alkoholikerin. Sie war ebenso frustriert wie aggressiv, und genau das hatte während seiner gesamten Kindheit dazu geführt, dass sie alle paar Monate die Wohnung hatten wechseln müssen, weil entweder die Nachbarn sich über sie beschwerten oder der Vermieter sie vor die Tür setzte, weil Möbel, Wände, Fenster und Türen stark beschädigt waren.

Ein richtiges Zuhause und eine richtige Familie, beides war Leo bis vor Kurzem völlig unbekannt gewesen.

Wenn Avas Großfamilie zu irgendwelchen Festen oder auch einfach nur zu einem gemeinsamen Essen einlud, dann war das für Leo faszinierend, aber immer auch ein bisschen stressig und beängstigend. Er war nicht daran gewöhnt, dass sich an die dreißig – bei bedeutenderen Anlässen mitunter auch doppelt so viele – Familienmitglieder um die zwei endlos langen Tische im Esszimmer von Avas Elternhaus drängten.

Zwar genoss er diese Zusammenkünfte, doch er war auch stets erleichtert, wenn sie das große Haus in der Nähe von Bad Homburg nach einigen Stunden unaufhörlichen Geschnatters und Gelächters und tausend neugieriger Fragen, die alle an ihn als Familienneuling gerichtet wurden, wieder verlassen konnten.

Er musste sich erst langsam an die geballte Zuneigung, die elterliche Fürsorge, die auch ihm ungebremst zuteilwurde, die Geschwisterliebe und die Bereitschaft, alles, auch die intimsten Geheimnisse, die Ängste und Sorgen, die er bislang stets in sich hineingefressen hatte, miteinander zu teilen, gewöhnen.