Der schweigende Mund - Anne Alexander - E-Book

Der schweigende Mund E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Das Läuten des Telefons zerriss die Stille der Nacht. Frau Rennert, die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, fuhr aus dem Schlaf hoch. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit. Da läutete das Telefon zum zweiten Mal. Die Heimleiterin knipste die Nachttischlampe an und schwang ihre Beine über den Bettrand. Auf bloßen Füßen ging sie in den neben dem Schlafzimmer liegenden Wohnraum und hob den Hörer des Telefons ab. »Sophienlust«, meldete sie sich und unterdrückte ein Gähnen. »Bin ich mit dem Kinderheim Sophienlust verbunden?«, fragte eine aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ja!« Frau Rennert setzte sich in den bequemen Sessel, der neben dem Telefontischchen stand. »Wer ist denn am Apparat?«, fragte die Stimme hastig. »Frau Rennert, die Heimleiterin. Würden Sie mir bitte auch Ihren Namen sagen?« »Der ist überhaupt nicht wichtig. Es handelt sich um ein Kind. Um ein Mädchen.« »Sie möchten das Kind in unserem Heim unterbringen?«, fragte Frau Rennert. Sie war gewohnt, mit schwierigen Leuten zu verhandeln, und verlor nur selten die Geduld. »Ich muss das Kind in Ihr Heim bringen. Kann ich sofort zu Ihnen kommen?« »Möchten Sie mir nicht doch Ihren Namen nennen?«, fragte Frau Rennert. »Sehen Sie, wir können nicht so einfach ein Kind bei uns aufnehmen, ohne wenigstens die nötigsten persönlichen Angaben zu erhalten. Handelt es sich um Ihr Kind?« »Nein, Ellen ist nicht meine Tochter, aber ist dies denn tatsächlich so wichtig? Hören Sie, es handelt sich um einen Notfall. Das Kind ist mir anvertraut worden, aber ich glaube nicht, dass ich es länger beschützen kann. Jede Minute, die ich hier am Telefon vertrödele,

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Sophienlust –228–

Der schweigende Mund

Die kleine Ellen muss das Lachen erst wieder lernen

Anne Alexander

Das Läuten des Telefons zerriss die Stille der Nacht. Frau Rennert, die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, fuhr aus dem Schlaf hoch. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit. Da läutete das Telefon zum zweiten Mal.

Die Heimleiterin knipste die Nachttischlampe an und schwang ihre Beine über den Bettrand. Auf bloßen Füßen ging sie in den neben dem Schlafzimmer liegenden Wohnraum und hob den Hörer des Telefons ab. »Sophienlust«, meldete sie sich und unterdrückte ein Gähnen.

»Bin ich mit dem Kinderheim Sophienlust verbunden?«, fragte eine aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja!« Frau Rennert setzte sich in den bequemen Sessel, der neben dem Telefontischchen stand.

»Wer ist denn am Apparat?«, fragte die Stimme hastig.

»Frau Rennert, die Heimleiterin. Würden Sie mir bitte auch Ihren Namen sagen?«

»Der ist überhaupt nicht wichtig. Es handelt sich um ein Kind. Um ein Mädchen.«

»Sie möchten das Kind in unserem Heim unterbringen?«, fragte Frau Rennert. Sie war gewohnt, mit schwierigen Leuten zu verhandeln, und verlor nur selten die Geduld.

»Ich muss das Kind in Ihr Heim bringen. Kann ich sofort zu Ihnen kommen?«

»Möchten Sie mir nicht doch Ihren Namen nennen?«, fragte Frau Rennert. »Sehen Sie, wir können nicht so einfach ein Kind bei uns aufnehmen, ohne wenigstens die nötigsten persönlichen Angaben zu erhalten. Handelt es sich um Ihr Kind?«

»Nein, Ellen ist nicht meine Tochter, aber ist dies denn tatsächlich so wichtig? Hören Sie, es handelt sich um einen Notfall. Das Kind ist mir anvertraut worden, aber ich glaube nicht, dass ich es länger beschützen kann. Jede Minute, die ich hier am Telefon vertrödele, kann für das Kind gefährlich werden. Ich habe das kleine Mädchen aber sehr gern. Ich möchte nicht, dass ihm etwas passiert.«

»Gut, bringen Sie uns die Kleine. Wann werden Sie bei uns sein?«

»In etwa einer Stunde. Es kommt darauf an, wie schnell ich fahren kann. Ich werde mich beeilen. Und bitte, Frau Rennert, erzählen Sie keinem Menschen von diesem Anruf.«

»Das ist leider nicht möglich. Wir sind ein Kinderheim, wir haben Personal. Außerdem muss ich zumindest die Besitzerin unseres Heimes verständigen, Frau von Schoenecker.«

»Gut, ich muss dieses Risiko eingehen. Es bleibt mir keine andere Wahl.« Ohne Gruß wurde der Telefonhörer aufgelegt.

Minutenlang saß Frau Rennert fast bewegungslos in ihrem Sessel und ließ sich das Telefongespräch noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen. Dass es sich bei dem Anrufer um eine Frau gehandelt hatte, war deutlich aus der Stimme herauszuhören gewesen. Ob man sich einen Scherz mit ihr erlaubt hatte? Nein. Wer sollte so etwas tun? Außerdem hatte in der Stimme der Frau echte Besorgnis gelegen.

Frau Rennert nahm erneut den Telefonhörer auf und rief Denise von Schoenecker an.

»Es tut mir leid, dass ich Sie wecken musste, Herr von Schoenecker!«, entschuldigte sich die Heimleiterin, als sich Denises Mann meldete. Dann erzählte sie von dem geheimnisvollen Anruf.

»Sie haben mich nicht geweckt, Frau Rennert. Dies hat Henrik bereits getan«, erwiderte der Gutsbesitzer. »Er kam in unser Schlafzimmer und klagte über Kopfschmerzen. Meine Frau bringt ihn gerade zu Bett. Er hat etwas Fieber. Vermutlich hat er sich gestern beim Baden verkühlt.« Alexander von Schoenecker überlegte kurz, bevor er fortfuhr: »Ich bin der Meinung, dass wir kein Risiko eingehen dürfen. Wer weiß, um was für ein Kind es sich handelt.«

»Es kam mir vor, als sei der Anruferin der Name des Kindes unabsichtlich über die Lippen geschlüpft«, warf Frau Rennert ein.

»Ich werde meine Frau nach Sophienlust begleiten. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Rennert. In spätestens zwanzig Minuten sind wir bei Ihnen.«

»Danke, Herr von Schoenecker. Soll ich meinen Sohn wecken?«

»Nein, das wird nicht nötig sein, Frau Rennert. Ich glaube, dass ich als männlicher Schutz ausreiche.« Lachend legte Alexander von Schoenecker den Hörer auf die Gabel. Als Denise ins Zimmer trat, war er bereits angezogen.

»Henrik schläft wieder«, sagte Denise und öffnete ihren Morgenmantel. »Ich habe ihm die Brust eingerieben und etwas gegen die Kopfschmerzen gegeben.« Sie stutzte und sah auf. »Warum bist du angezogen, Alexander? Ist etwas passiert?«

In wenigen Worten berichtete Alexander seiner Frau, was er von Frau Rennert gerade gehört hatte. »Ich dachte, es sei besser, wenn ich dich nach Sophienlust begleite. Man kann nie wissen.«

»Das ist lieb von dir, Alexander.« Denise gab ihrem Mann einen zarten Kuss. »Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du hierbleiben würdest. Du musst morgen früh wieder zeitig an die Arbeit.«

»Nein, Isi, das kommt überhaupt nicht infrage. Außerdem könnte ich nicht schlafen, während du allen möglichen Gefahren ausgesetzt bist.«

Denise wusste, dass jeder Versuch, ihren Mann umzustimmen, zwecklos sein würde. Rasch zog sie sich an. Gemeinsam verließen die beiden wenig später das Gutshaus.

»Je länger ich über diese Geschichte nachdenke, umso seltsamer erscheint sie mir«, meinte Denise, als sie mit ihrem Mann auf dem Weg nach Sophienlust war.

»Vielleicht handelt es sich um eine Verrückte.« Alexander bog bereits in die Straße ein, die zum Kinderheim führte. Kurz darauf parkte er den Wagen am Straßenrand neben der Einfahrt zu dem Park, der das Heim umgab. Denise reichte ihm die Schlüssel für das Tor. Alexander stieg aus und schloss das Tor auf.

Auch Frau Rennert hatte sich inzwischen angezogen. Sie empfing Denise und Alexander von Schoenecker in der geräumigen Halle des Kinderheims. »Es tut mir leid, dass ich mitten in der Nacht anrufen musste«, entschuldigte sie sich nochmals.

»Aber warum denn, Frau Rennert?«, fragte Denise. »Sie sind doch auch mitten in der Nacht gestört worden.«

»Guten Abend, oder muss man schon guten Morgen sagen?«, fragte Schwester Regine. Sie kam gerade die Treppe herab. »Wie es aussieht, scheint es eine turbulente Nacht zu werden.« Die junge Schwester reichte zuerst Denise, dann Alexander die Hand. »Wie geht es Henrik? Frau Rennert sagte mir, er sei krank.«

»Er ist etwas erkältet«, erklärte Denise. »Wenn das Fieber nicht wäre, würde ich denken, er flunkert. Er hat mir nämlich gestanden, dass morgen in der Schule eine Rechenarbeit geschrieben wird.«

Schwester Regine lachte. »Kinder …«, begann sie, sprach aber nicht weiter, denn sie hört deutlich, dass langsam ein Wagen näher kam. »Jetzt werden wir wohl erfahren, was hinter diesem geheimnisvollen Anruf steckt«, flüsterte sie.

Alexander von Schoenecker durchquerte mit wenigen Schritten die Halle und öffnete das Portal. Im Schein der Außenbeleuchtung sah er einen blauen Wagen neben seinem Wagen stehen. Eine ältere Frau stieg aus. Sie trug einen dunklen Mantel und ein Kopftuch. Jetzt blickte sie zum Haus. Alexander bemerkte, dass sie zusammenzuckte. Vermutlich hatte sie nicht erwartet, einen Mann in der Tür stehen zu sehen.

Eilig lief der Gutsherr die Stufen hinab. Für einen Moment sah es aus, als wollte die Fremde wieder in den Wagen einsteigen, doch dann schien sie sich zu besinnen und blieb stehen.

»Guten Abend«, sagte Alexander.

»Ich wollte zu Frau Rennert«, antwortete die Fremde mit unsicherer Stimme, ohne seinen Gruß zu erwidern. »Ich habe mit ihr telefoniert.«

»Frau Rennert erwartet Sie in der Halle. Ich bin Alexander von Schoenecker. Meine Frau verwaltet das Kinderheim.«

»Würden Sie bitte Frau Rennert holen?«

»Wovor haben Sie Angst?«, fragte Alexander sanft. Er wollte nicht allein ins Haus gehen. Er fürchtete, dass die Frau dann einfach davonfahren würde. Rasch versuchte er, einen Blick durch das Wagenfenster auf den Rücksitz zu tun, aber das gelang ihm nicht.

»Ich spreche nur mit Frau Rennert.«

»Ich bin Frau Rennert.«

Verwundert schaute sich Alexander um. Auf der obersten Stufe der Freitreppe standen seine Frau, Schwester Regine und Frau Rennert.

Die Heimleiterin kam den beiden entgegen und sagte: »Sie haben vor knapp einer Stunde mit mir telefoniert.«

»Ja!« Die Fremde schien erleichtert zu sein. Sie wandte sich an Alexander. »Bitte, entschuldigen Sie mein Misstrauen, aber ich kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Haben Sie das Kind mitgebracht?«, fragte Frau Rennert.

Die Fremde gab keine Antwort, sondern öffnete den Wagenschlag auf der Fahrerseite. Sie klappte den Sitz nach vorn und beugte sich über den Rücksitz. »Ellen, Liebling, wir sind da«, sagte sie.

Es erfolgte keine Antwort, aber als sie beiseitetrat, kletterte ein Kind aus dem Wagen. Es mochte etwa vier Jahre alt sein. Verschlafen rieb es sich die Augen, dann streckte es die Arme nach seiner Betreuerin aus, die es hochhob.

»Gut, dann gehen wir ins Haus«, sagte Denise.

»Ja, es wird Zeit, dass Ellen ins Bett kommt«, meinte die Frau. »Es war heute ein langer Tag für das Kind.« Zärtlich wiegte sie die Kleine wie ein Baby in ihren Armen. Ohne ein weiteres Wort stieg sie hinter Denise, Alexander und Frau Rennert die Freitreppe empor. Schwester Regine folgte allen.

»Wir haben für Ellen bereits ein Bett vorbereitet«, sagte Frau Rennert. Sie wandte sich direkt an das Kind. »Ich bin Tante Ma. Alle Kinder in Sophienlust nennen mich so. Du wirst sehen, es wird dir bei uns gefallen.«

Ellen gab keine Antwort. Sie zappelte in den Armen ihrer Betreuerin, die sie schließlich auf den Boden stellte. Mit großen dunklen Augen sah sie sich um. Sie trug verschlissene Jeans, eine braune Cordjacke und eine lange Wollmütze, die ihre Haare verdeckte. Man hätte sie für einen Buben halten können.

Plötzlich ließ sie die Hand ihrer Betreuerin los und lief zu dem offenen Kamin, der die Halle so gemütlich erscheinen ließ.

»Ist dies wirklich ein Kinderheim?«, fragte die Fremde. »Es sieht hier nicht nach Kinderheim aus.«

»Ursprünglich war Sophienlust ein Herrenhaus. Seine letzte Besitzerin, Sophie von Wellentin, die Urgroßmutter meines Sohnes Dominik, setzte in ihrem Testament meinen Sohn zum Erben ein und bestimmte, dass aus Sophienlust ein Kinderheim gemacht werden soll«, erklärte Denise von Schoenecker. Sie schaute zu dem kleinen Mädchen hin, das sich ohne Scheu im Schneidersitz auf dem Bärenfell vor dem Kamin niedergelassen hatte. Offenbar gefiel es Ellen in Sophienlust.

»Ich werde Ellen jetzt zu Bett bringen«, sagte Schwester Regine und sah die Fremde an. Diese warf noch einmal einen ängstlich prüfenden Blick in die Gesichter der anderen, bevor sie nickte.

Schwester Regine ging zu Ellen und hockte sich neben sie. »Deine Äuglein sind schon ganz klein. Sicher wird der Sandmann gleich zu dir kommen, und dann möchtest du doch bestimmt in einem richtigen Bett liegen.«

Stumm sah das kleine Mädchen die Kinderschwester an. Es öffnete den Mund, sagte aber nichts, sondern stand auf. Dabei glitt die Mütze von seinem Kopf. Eine Fülle blonder Haare ergoss sich über den kleinen Rücken. Vertrauensvoll streckte das Kind Schwester Regine seine Hand entgegen.

»Ellen mag Sie«, meinte die Fremde. Sie beugte sich über Ellen und küsste sie. »Sei schön brav, mein Liebling. Der Opa wird bald kommen und dich wieder nach Hause holen.« Das kleine Mädchen schlang seine Arme um ihre Knie. »Nun geh, mein Kleines.« Die Frau strich dem Kind noch einmal über die Haare, dann wandte sie sich ab.

Schwester Regine nahm Ellen auf ihre Arme und trug sie die Treppe empor.

Das Kind schaute zurück, aber kein Laut kam über seine Lippen.

»Gehen wir in mein Arbeitszimmer«, schlug Frau Rennert vor.

»Eigentlich wollte ich gleich wieder zurückfahren.« Ellens Betreuerin öffnete ihre Handtasche. »Ich muss noch Ellens Koffer hereinbringen.«

»Einige Angaben müssen Sie schon noch machen«, erklärte Denise. »Zuerst sollten wir uns gegenseitig einmal vorstellen. Ich bin Denise von Schoenecker.« Sie zeigte auf ihren Mann: »Mein Mann Alexander. Frau Rennert kennen Sie bereits, und die Schwester, die Ellen gerade zu Bett bringt, heißt Regine Nielsen.« Aufmunternd nickte sie danach der Fremden zu.

»Ich heiße Traudel Nowak«, kam es widerwillig über die Lippen der Besucherin. Sie schloss ihre Tasche wieder.

»Ich werde eine Tasse Kaffee für uns aufbrühen«, meinte Frau Rennert. »Ich nehme an, wir können jetzt alle einen Kaffee gebrauchen.«

»Eine gute Idee«, lobte Denise. Sie wandte sich an Traudel Nowak. »Wir werden inzwischen ins Arbeitszimmer gehen.«

»Na gut«, kam es von Frau Nowak.

Zuvorkommend öffnete Alexander von Schoenecker die Tür des Arbeitszimmers und ließ die beiden Frauen eintreten. Er war nach einem sehr langen Arbeitstag todmüde, aber er dachte nicht daran, sich in das Zimmer seiner Frau zurückzuziehen, um dort etwas zu ruhen.

Nachdem Denise der Besucherin Platz angeboten hatte, ließ sich Traudel Nowak auf der äußersten Kante eines Sessels nieder. Noch immer trug sie das Kopftuch. Sie schüttelte nur den Kopf, als Denise sie bat, es abzulegen.

Denise ging hinaus und kam kurz darauf mit Frau Rennert zurück. Die beiden Frauen trugen Tabletts mit Geschirr und der Kaffeekanne. Zögernd nahm Traudel Nowak eine Tasse entgegen.

»Sie sprachen davon, dass sich Ellen in Gefahr befindet«, eröffnete Alexander von Schoenecker das Gespräch. »Sie müssen uns darüber schon mehr mitteilen, denn wie sollen wir die Kleine schützen, wenn wir nicht Bescheid wissen?«

»Das ist wahr«, sagte Traudel Nowak. Sie nahm einen Schluck Kaffee und setzte die Tasse auf das Beistelltischchen, das Frau Rennert neben sie geschoben hatte. »Ich bin Haushälterin bei einem sehr reichen Fabrikanten. Ellen ist sein einziges Enkelkind. Sie ist unehelich, wird aber von ihrem Großvater sehr geliebt. Man hat ihm gedroht, Ellen zu entführen, wenn er nicht eine Million auf ein Schweizer Bankkonto überweist. Sehen Sie, ich komme aus Kleinberg, einem Dorf im Allgäu. In aller Heimlichkeit habe ich vor einer Woche Ellen nach Kleinberg gebracht, aber dort ist sie nicht mehr sicher. Ich glaube, dass die Entführer wissen, wo sich Ellen bis gestern früh aufhielt. Ich fühlte mich beobachtet. Als ich vorgestern mit meinem Arbeitgeber telefonierte – er hat mich jeden Tag beim Pfarrer angerufen –, riet er mir, Ellen zu Ihnen zu bringen.«

»Aber warum hat sich Ihr Chef nicht direkt an uns gewandt?«, fragte Alexander von Schoenecker misstrauisch. Er war nicht sicher, ob er Traudel Nowak trauen konnte.

»Weil Herr …« Die Besucherin unterbrach sich, fuhr aber dann gleich fort: »Weil er Angst hat, die Entführer könnten dann herausbekommen, wo Ellen ist. Deshalb habe ich Sie auch erst nach Mitternacht aus Maibach angerufen. Ich habe Kleinberg gestern Vormittag verlassen. Wir sind den ganzen Tag herumgefahren. Wissen Sie, ich wollte nicht, dass man weiß, wohin wir fahren. Ich habe alles getan, um keine Spur zu hinterlassen.«

»Ja, das glaube ich Ihnen«, sagte Denise. Obwohl sie fand, dass die Geschichte sehr unwahrscheinlich klang, nahm sie nicht an, dass Frau Nowak log. Sie hatte im Laufe der Jahre schon unwahrscheinlichere Geschichten gehört, die sich dann doch als wahr herausgestellt hatten. »Bitte, wie ist Ellens Nachname und wie heißt Ihr Chef?«

Traudel Nowak zögerte. »Es wäre mir lieber, wenn ich den Namen nicht zu nennen brauchte. Wenn jemand erfährt, dass das Kind hier ist …«

»Wir werden alles tun, um Ellen zu schützen«, versicherte Frau Rennert, »aber wir müssen Ellens Nachnamen wissen.«

»Lohmann. Ellens Großvater ist Eugen Lohmann.«

»Lohmann-Plastik, Stuttgart«, sagte Alexander von Schoenecker.

»Ja, ja!« Traudel Nowak seufzte auf. »Und da ist noch etwas. Ellens Mutter liegt schwerkrank im Krankenhaus.«

Die Tür öffnete sich, und Schwester Regine trat ein. »Ellen schläft«, verkündete sie. »Sie ist ein liebes, braves Kind, nur …« Sie sah Frau Nowak an und fuhr fort: »Ellen hat noch kein Wort gesprochen.«

»Ellen kann nicht sprechen«, sagte Traudel Nowak. »Ellen ist seit einem Autounfall vor einem Jahr stumm.«

Betroffen sahen alle die Haushälterin an. »Stumm«, wiederholte Denise erschüttert.

»Ja, stumm! Mein Arbeitgeber ist mit Ellen von einem Arzt zum anderen gelaufen. Es ist alles versucht worden, aber ergebnislos. Dabei fehlt ihr organisch überhaupt nichts, doch sie hat einen Schock bekommen.« Traudel Nowaks Augen wanderten unruhig von einem zum anderen. »Ich hoffe, Ellen kann trotzdem bei Ihnen bleiben.«

»Selbstverständlich«, sagte Frau Rennert. »Wie können Sie nur denken, dass wir ein Kind wegen eines Gebrechens ablehnen?«

»Die Menschen sind manchmal komisch.« Traudel Nowak stand auf. »Ich werde jetzt nach Kleinberg zurückfahren.« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm ein Bündel Geldscheine heraus. »Für Ellens Unterhalt.« Sie legte das Geld vor Frau Rennert auf den Schreibtisch.

»Ich gebe Ihnen eine Quittung.« Frau Rennert griff nach ihrem Kugelschreiber und dem Quittungsblock.

»Ich hole inzwischen Ellens Koffer herein.«

Alexander erbot sich, der Haushälterin zu helfen, aber Traudel Nowak schüttelte nur den Kopf. »Das kann ich allein.«

»Möchten Sie nicht heute Nacht in Sophienlust bleiben, Frau Nowak?«, fragte Denise, nachdem die Haushälterin mit einem hellen Schweinslederkoffer zurückgekommen war.

»Nein, nein!« Traudel Nowak steckte die Quittung ungelesen in ihre Handtasche. »Ich fahre wieder nach Kleinberg. Morgen werde ich dann über München nach Stuttgart zurückfahren.« Sie ging zur Tür. »Danke für alles. Passen Sie gut auf Ellen auf!«

»Ja, das werden wir«, versprach Frau Rennert.

»Ich werde Sie zum Wagen bringen, Frau Nowak«, bot Denise an.

»Danke, Frau von Schoenecker!« Zum ersten Mal lächelte Traudel Nowak. Sie öffnete die Tür. Rasch durchquerte sie die Halle. Ihre halbhohen Absätze klapperten auf den Stufen der Freitreppe. Bevor sie in ihren Wagen einstieg, reichte sie Denise die Hand.

»Sie brauchen sich wegen Ellen keine Sorgen zu machen, Frau Nowak«, sagte Denise. »Sie können sich darauf verlassen, dass wir die Kleine niemals ohne Aufsicht lassen werden.«

»Ich gehöre zu den Leuten, die sich ständig Sorgen machen«, meinte die Haushälterin düster und kletterte in ihren Wagen. Sie wendete ihn und fuhr davon. Denise sah ihr nach, bis die Rücklichter des Wagens von der Dunkelheit verschluckt wurden.

*

»Ich möchte aber zur Schule gehen, Mutti!« Der neunjährige Henrik von Schoenecker versuchte sich dem Griff seiner Mutter zu entwinden.

»Henrik, du hast etwas Fieber, Husten und Schnupfen. Draußen regnet es. Jetzt ist deine Erkältung noch nicht sehr schlimm, aber sie kann schlimmer werden, wenn du nicht vernünftig bist.« Denise verstand die Welt nicht mehr. Sonst versuchte Henrik gewöhnlich, an Klassenarbeitstagen mit allen möglichen Ausflüchten die Schule zu schwänzen. Und ausgerechnet jetzt, da er wirklich krank war, wollte er zur Schule gehen.

»Das bisschen Schnupfen, Mutti.« Henrik machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich …« Ein heftiges Niesen unterbrach ihn.