Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Den Sommer verbringen die Einwohner der nahe gelegenen Handelsstadt in dem kleinen Badeort an der Ostsee. Dort logiert im Pensionat Falke auch die Familie des Justizrats Niebert. Die Freude seiner erwachsenen Tochter Gerda ist groß, als plötzliche auch Staatsanwalt von Bolkow auftaucht, ein Bekannter von Gerda. Die Aufmerksamkeit aller ist aber auf das Dreigestirn der Familie von Türck gerichtet. Angeführt wird sie von Frau von Türck, dann folgen ihr behinderter Stiefsohn – "ein Jüngling schon, und sieht aus wie ein Knabe von acht Jahren" – und seine Pflegerin. "Nicht eine alte und runzelige, nein, eine junge und schöne, nicht ganz jung mehr, so am Ende der Zwanziger, aber umso schöner, wie all behaupten, die sie gesehen." Die Pflegerin Annemarie ist dem Jüngling von Herzen zugetan, was man von seiner Stiefmutter nicht behaupten kann. Dann ereignen sich in den Pensionen am Meer verschiedene Einbrüche und schließlich ein Mord!-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 116
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Artur Brausewetter
Roman
Saga
Artur Brausewetter: Der Staatsanwalt. © 1924 Artur Brausewetter. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.
ISBN: 9788711448250
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
Seewald —
Es liegt an der Ostsee, deren Wogen hier milde und selten erregt seinen leuchtenden Strand, seine schönen Küsten bespülen. Bewaldete Höhenzüge umsäumen es, liebliche Täler grünen dazwischen.
Es ist das Paradies für die Bewohner der grossen Handelsstadt Kronburg. Sie bringen hier fast den ganzen Sommer zu. Die Männer leben nach wie vor ihrem Berufe. Die Eisenbahn, die stündlich und noch öfter Seewald mit der nahen Stadt verbindet, ist ihre zweite Heimat geworden; die Frauen, bei den engen Räumlichkeiten nur auf ein Mädchen angewiesen, das auch die Sommerfrische geniessen will, plagen sich mit Küche und Kindern von morgens früh bis zum späten Abend, weit mehr als in der Stadt.
Freilich, es gibt auch einige Bevorzugte, die es machen können wie der gesuchte Justizrat Niebert. Der schickt Frau und Tochter in ein vornehmes Familienpensionat, lässt sich indessen in der Stadt nichts abgehen, hat seine gute Bedienung, speist im ersten Gasthause, und nur wenn er Zeit und Lust hat, fährt er auf Stunden und Tage nach Seewald, wo im Pensionat Falke stets ein Zimmer für ihn bereitsteht, um das Bedauern seiner kleinen Frau, wieviel Entbehrungen er sich auferlege, nur damit sie sich hier erholen, mit schmunzelnder Duldermiene abzuwehren.
„Man muss nicht immer an sich denken,“ pflegt er dann zu sagen; „wenn du dich nur wohl fühlst und Gerda sich erholt!“
Schön ist Seewald. Man muss es nur nicht kennen lernen in der Hochflut des Besuchs, wenn Stege und Wege erdrückt werden vom Strom geputzter Menschen, man muss es kennen lernen, wie Gerda es jetzt zum ersten Male sah, im Frühling, wenn die Kastanien blühen und der Flieder duftet, wenn der leuchtenden Saaten erstes Grün wunderbar sich abhebt von dem gesättigten Tiefblau der stillen See, und über beiden der helle Himmel lacht. En Zauber des Unberührten liegt dann über dieser Natur; langsam, spröde nur enthüllt sie ihre ersten Reize, und eifersüchtig ängstlich breiten schon die Buchen und Birken von den Hügeln und Bergen herab ihr junges Laub über die erwachenden Reize, in ihren keuschen Schleier sie bergend.
„Haben Sie schon Ihren neuen Hausgenossen begrüsst?“ fragte der Amtsrichter Gersthoff, als er die Damen zu einem gemeinsamen Spaziergang aus der Pension Falke abholte.
Es verging kein Tag, dass er das nicht tat. Der Justizrat hatte Frau und Tochter seinem Schutze empfohlen, da war es eben seine Pflicht, dies Vertrauen zu rechtfertigen. Alles an ihm war Mittelmass, wie seine Figur; er sprach viel und am liebsten von sich, er rühmte sich gerne, wie oft mittelmässige Menschen, der wenigen Tugenden, die er nicht besass, und dachte geringschätzig über die vielen, die ihm zu eigen waren.
„Eine Freifrau mit ihrem Sohne. Ein armes Kind, ein Jüngling schon, und sieht aus wie ein Knabe von acht Jahren.“
„Die arme Mutter!“
„Nun, so schlimm ist es nicht; sie ist nur Stiefmutter von ihm, noch viel zu jung für ihn. Sie ist die zweite Frau gewesen, man munkelt alles Mögliche; aber du meine Güte, was munkelt man nicht alles in Seewald, und besonders jetzt, wo die Fremden noch selten kommen?!“
„Also Sie kennen die ganze Geschichte? Wie lange sollen wir noch warten?!“
„Was heisst die ganze Geschichte, mein gnädigstes Fräulein?! Was man so am Stammtisch hört. Der alte Freiherr, Türck soll er heissen, hatte von seiner ersten Frau, einer nahen Verwandten, nur dieses eine Kind; die Ehe war überhaupt in jeder Beziehung unglücklich. Als man eben die Scheidung einleiten wollte, starb die Frau. Der Freiherr war bereits gebunden — eine Schauspielerin aus Berlin. Das Weitere erlassen Sie mir. Kurz, er heiratet sie, stirbt und hinterlässt ihr ein riesiges Vermögen und diesen Sohn.“
„Freilich für sie keine gute Zugabe.“
„Angenehm wird sie ihr nicht sein. Aber im übrigen ist auch weder diese Frau, noch ihr armer Sohn das Interessante an der ganzen Sache — sondern jemand anders.“ Sein Ton war gewichtiger, seine Miene geheimnisvoller geworden. „Dieser Freiherr hat nämlich, wie das bei seinem Zustande nötig ist, eine Wärterin — nicht eine alte und runzelige, nein, eine junge und schöne, nicht ganz jung mehr, so am Ende der Zwanziger vielleicht, aber um so schöner, wie alle behaupten, die sie gesehen. Dabei kein ungebildetes Mädchen — so Mittelschlag, wissen Sie?“
„Und was ist daran so wunderbar?“
„Es ist die elendeste Stellung, die Sie sich denken können. Die Gnädige tyrannisiert sie mit ihren Befehlen, der Junge mit seiner Liebe. Tag und Nacht muss sie um ihn sein, alle Verantwortung muss sie tragen, die unangenehmsten Verrichtungen tun. Denken Sie, zehn Jahre eines jungen Lebens in diesem furchtbaren Dienst, diesem täglichen Umgang!“
„Wie kommt sie denn zu dieser Stellung?“
„Nun, da munkelt man wieder die abenteuerlichsten Geschichten. Sie habe Diakonissin werden wollen, sei aber ihrer Jugend wegen nicht angenommen worden; da sei sie erst auf ein Jahr in eine Irrenanstalt gegangen, als Wärterin oder dergleichen, und von dort zu dem kranken Kinde gekommen, das sie nun nicht wieder verlassen will.“
„So muss sie es sehr lieb haben.“
„Es kann wohl nicht anders sein. Vielleicht ist auch ein bisschen Schwärmerei dabei, wie man sie bei solchen älteren Mädchen öfter findet —“
Er kam nicht weiter. Ein Ausruf seiner Nachbarin, halb unterdrückt, schwankend in Erstaunen und Freude, machte ihn stutzen. Und schon war Gerda von ihm und der Mutter fort, einer hohen Männergestalt entgegengeeilt, die eben aus dem Laubdach hervortrat, das an dieser Stelle fast bis an den Strand die Küste säumte.
„Rudolf! — O verzeihen Sie — Herr von Bolkow — ist es möglich?“
„Ja, Gerda — ich hier, Sie schon den ganzen Nachmittag auf allen Wegen suchend, bis ich Sie endlich gefunden!“
„Endlich!“ sagte Gerda halb scherzend, aber ein wehmütiger Klang lag in der leisen Stimme.
Der Amtsrichter, der indessen nähergetreten, hatte sein Befremden über dieses Wiedersehen des alten Bekannten, den er für alle Zeit in Berlin geborgen wähnte, in einem Schwall erstaunter Fragen zu verbergen gesucht.
Ein überlegenes Lächeln spielte während seiner Worte über die Lippen des Staatsanwaltes; durch die grauen, für seine Jugend sehr ernsten Augen blitzte es in unverhohlenem Hohn.
„Ja, alter Freund — ich hier in Seewald, und nicht für heute nur, für wenige Tage — nein, so lange ihr mich haben wollt!“
„Wie sollen wir das verstehen?“ fragte Frau Niebert.
„Sehr einfach, meine gnädige Frau, man hat mich hierher versetzt, an die Staatsanwaltschaft in Kronburg.“
Jetzt konnte Gersthoff trotz aller Mühe, die er sich gab, seinen Unwillen nicht mehr verbergen; in den Augen des jungen Mädchens aber leuchtete es auf, so beseligt, so Zeugnis ablegend von einem unsagbaren Glück, dass es dem Amtsrichter von diesem Augenblicke an zur unerschütterlichen Gewissheit wurde, dass sein Spiel verloren war, unhaltbar verloren trotz des energischen Mitspielers, dessen er in Gerdas Vater sicher war.
Und während er, fast betäubt noch von dem ungeahnten Schlage, an der Seite der Justizrätin blieb, die nur langsam gehen konnte, wanderte Gerda mit dem Staatsanwalt in schnellerem Schritte voran, hart am Strande des Meeres, das, in den leichten Rosenschleier der Abendröte gehüllt, zu ihren Füssen dämmerte wie ein grosses, unerforschtes Rätsel, jedesmal die Farben wechselnd, wenn ein leiser Schauer über seine Fläche glitt.
Und dieser Anblick brach das Schweigen, das eine lange Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte. Er erinnerte sie an den unvergesslichen Abend vor zwei Jahren, wo sie auch so an einem Strande miteinander heimgeschritten waren, den anderen voraus, wo zum ersten Male ihre Herzen Worte fanden; liebe Erinnerungen wurden wach, längst Vergangenes lebte auf.
„Und ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, dass wir noch einmal so miteinander wandern, dass Sie aus Berlin zu uns zurückkehren würden!“
„Ich wollte auch nicht wiederkommen,“ sagte er in dem ruhigen Ernst, der seiner Sprechweise eigen war, „ich sah unsere Sache, nachdem Ihr Herr Vater diese unversöhnliche Stellung gegen mich eingenommen, so aussichtslos an, dass ich mir — seien Sie mir nicht böse, aber ich muss jetzt unbedingt offen sein — allen Ernstes vorgenommen hatte, zu vergessen; nein, das ist das richtige Wort nicht, aber zu verschmerzen, was zu ändern nicht in meiner Macht stand. Ich habe es versucht, ein ganzes Jahr lang versucht mit aller Energie, die mir zu Gebote stand — und habe es doch nicht gekonnt.“
Er suchte Gerdas Antlitz, aber die hatte die Augen tief zu Boden gesenkt; er sah nur einen leisen Umriss des schönen Profils und das kleine rotglühende Ohr.
„So bemühte ich mich nun in aller Stille um eine Versetzung nach Kronburg, wo gerade die Stelle des jüngsten Staatsanwalts frei geworden. Ich hatte Glück und packte meine Sachen, sowie ich der Ernennung sicher war, um die wenigen Wochen, die ich noch bis zum Antritt frei hatte, hier in Seewald zu verleben.
Aber wozu das alles? werden Sie fragen, weshalb bin ich gekommen, wo ich so wenig zu hoffen habe?! Nicht etwa, als ob ich erwartete, das Herz Ihres Herrn Vaters nach meiner Beförderung zum Staatsanwalt im Fluge umzustimmen. Dazu müsste ich mich besser verstellen können, als ich es in Wahrheit vermag, müsste lernen, mich in ihn zu fügen, und das kann ich nicht. Nein, so gerne ich es auch möchte, Ihrethalben, ich kann mich in diese Willkür nicht finden, die nur den Menschen schätzt, den sie abhängig sieht von der eigenen Gnade und Güte, ich kann meinen Lebenslauf nicht modeln nach seiner Laune. Dennoch gebe ich nichts verloren, wenn nur — wenn wir nur, Gerda, dieselben bleiben, unverändert und treu in unserem Wollen, mag um uns vorgehen, was da wolle!“
„Ich bin dieselbe geblieben vom ersten Tage an bis heute und werde dieselbe bleiben für alle Zeit.“
„Ich danke Ihnen!“ rief er aus, und ein Jubeln und Jauchzen klang durch diese ernste Stimme, wie es noch nie ein Mensch aus ihr gehört. „Und nun Ihre Hand, endlich einmal wieder Ihre liebe kleine Hand — nein, den Handschuh müssen Sie ausziehen, ich will sie wieder in der meinen halten, wie so manches schöne Mal. So ist es recht! Und nun im Angesicht desselben Meeres, das unsere ersten Liebesworte gehört, schliessen wir das Schutz- und Trutzbündnis unserer Liebe für alle Ewigkeit.“
Ihre Hände hielten sich fest geschlossen, ihre Augen leuchteten ineinander, lange Zeit. Die Dämmerung hatte zugenommen, nur das Meer glühte noch im Abendgolde. Weit aber über die dämmernden Küsten hinweg sah man in der Ferne den schlanken Rathausturm der grossen Stadt und unmittelbar hinter ihm, noch gewaltiger in seiner trutzigen Kraft, den viereckigen Turm der alten Pfarrkirche, der, obwohl er ohne Spitze war, über seine Umgebung riesengleich hervorragte, wie hingestellt zum Schutze des Meeres und seiner schönen Küste.
Sie hatten den beschwerlichen Strandweg verlassen und waren über die geebnete Promenade, die oberhalb desselben dem Kurhause zuführt, auf den Seesteg hinausgetreten.
Mit einem Male blieben sie stehen, trotz des eifrigen Gespräches, in das sie vertieft waren.
Unter ihnen, so dass sie genau sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden, bewegte sich eine Gestalt, so mager, dass sie sich wie ein Schattenriss vom weissen Sande abhob; der kränkliche Körper auf Beinen ruhend, die selbst für dies geringe Gewicht zu schwach gebaut schienen, der Hals auffallend lang und dürr, fast hinanreichend bis an die wenig ausgebildeten Ohren, die weit abstanden und leicht verkrüppelt schienen.
War es eines Kindes Gestalt?
Dazu war sie in den einzelnen Formen zu entwickelt, besonders in dem Ausdrucke des eckigen Kopfes. Eines Erwachsenen? Dazu wollte ihr Gebaren nicht passen, gerade jetzt nicht, wo sie sich damit begnügte, kleine Hölzer ins Wasser zu werfen, und der ganze schwächliche Leib schwankte und zappelte und zitterte vor Freude, sowie eines derselben, von den Wogen zurückgeworfen, dem Strande wieder näherkam.
Mit einem Male wandte sie schwerfällig das Antlitz, ein Antlitz mit schüchternen, blöden Zügen, in deren Faltenschrift eine ganze Geschichte von Krankheit und Leid zu lesen stand.
Und dennoch — aus diesem Antlitz, so hässlich es war, sprach eine so rührende Hilflosigkeit, aus den grauen traurigen Augen eine so bewegende Treuherzigkeit, dass diese Erscheinung, weit enfernt, abzuschrecken, das ganze Herz voller Teilnahme und Mitleid gewann.
Und solch ein Herz voller Teilnahme und Mitleid lag in den Augen einer weiblichen Gestalt, die, lässig in den Sand gelegt, keinen Blick von ihr verwandte.
Der schlanke Körper, dessen reife Formen in der liegenden Stellung scharf zum Ausdruck kamen, umhüllt von einem etwas fadenscheinigen, aber sauberen schwarzen Kleide, die bläulich schimmernden Haare glatt auf dem Kopfe gescheitelt. Das Gesicht blass, die Züge nicht regelmässig gebildet, aber fein geschnitten und belebt von dem Ausdruck einer Reinheit, der unwiderstehlich anzog.
Sie hatte sich erhoben und war an den Knaben herangetreten. Sie schien ihm zuzureden, mit ihr nach Hause zu gehen. Aber er musste noch keine Lust dazu verspüren, er nahm ihre weiche, volle Hand zwischen seine dürren Finger, er bat sie so inständig, sein treuherziges Auge schaute so flehend zu ihr empor, sie konnte nicht widerstehen, sie lächelte und gab nach. Sie suchte einige abgeglättete Steine vom Strande auf und warf sie mit geübtem Kunstgriff auf das Wasser, dass sie einige Male über die stille Fläche dahintanzten. Der Kleine zappelte und jauchzte vor Vergnügen. Auch sie lachte. Ein Wohllaut lag in diesem Lachen, das in seltsamem Gegensatz zu dem meckernden, stossenden Lachen des Knaben stand.
Eine frische Brise zog über das Wasser, die Abendkühle machte sich bemerkbar. Sie griff nach dem kleinen Mantel, der am Strande lag, und zog ihn mit ängstlicher Behutsamkeit über die schmalen Schultern.
„So, mein Kleinerchen, damit wir uns nicht erkälten. Und nun nach Hause zur Mama!“
„Will nicht zu Mama, will nicht — will bei dir bleiben — nur bei dir!“ stiess der Knabe hart hervor.