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Darauf ist Schuldirektor Wöhrmann an diesem Tag nun wirklich nicht vorbereitet. Er bekommt Besuch des Kunstreiters Korelli vom Zirkus Brotti-Wellhoff, der vor den Toren der Kleinstadt gastiert. Sein Anliegen ist: Seine Tochter, die erfolgreichste unter den Kunstreiterinnen, Miss Ellida, solle bitte Privatunterricht erhalten. Als Direktor Wöhrmann sein Kollegium überfliegt, wird ihm klar, dass nur einer diesen Unterricht erteilen kann: Dr. Mollinar, wegen seiner Strenge und Autorität bei vielen Schülern unbeliebt. Widerwillig beginnt Mollinar nachmittags mit den Unterrichtsstunden unter den Augen seiner noch strengeren Mutter, der Pastorswitwe Mollinar. Schnell muss Mollinar feststellen, dass diese Schülerin so ganz anders ist als seine sonstigen Schüler, aber ihre unbefangene Art beginnt ihn auch zu fesseln. Noch bewegter wird sein Leben, als die Patentochter seines Vater, Gabriele, zum Studium im Haushalt Mollinar Einzug hält.-
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Seitenzahl: 145
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Artur Brausewetter
Saga
Artur Brausewetter: Dr. Mollinar und seine Schülerin. © 1924 Artur Brausewetter. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711448281
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
„Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! Die traurigen Geschäfte — und man beneidet uns noch!“
Direktor Wöhrmann tat einen Seufzer, als er diese Worte seines Lieblingsdichters vor sich hinmurmelte, schob einen Berg von Akten und Schriften mit der runden Hand von sich und stand einen Augenblick vom Schreibtisch auf.
„Da sitz’ ich nun über Büchern und Papieren tagaus, tagein und lese Klagen tiefverletzter Mütter, empörter Väter, dass ihre hochbegabte Tochter sitzengeblieben, lediglich durch die Bosheit des Klassenlehrers; da schmiede ich Stundenpläne, die mir den sicheren Zorn aller meiner Lehrer und Lehrerinnen eintragen, da soll ich mir den Vertreter für den Professor, der Heilung von seiner Ischias im Bade sucht, aus der Erde stampfen.“
Das Eintreten des Schuldieners unterbrach seine Betrachtungen. Er überreichte einen Brief, den der Direktor sofort öffnete.
„Da haben wir’s! Richtig wieder Herr Doktor Mollinar! Seine unerbittliche Strenge — das arme Kind! Es träumt sogar des Nachts von ihm. Es ist wunderbar, dass gerade die tüchtigsten Lehrer sich der geringsten Gunst bei den Eltern erfreuen. Das wäre heute nun schon die zweite Klage über Herrn Mollinar! Und dabei schwärmt die ganze erste Klasse für ihn — trotz seiner Strenge. — Es ist gut, Heinke, Sie können gehen und die Sachen da gleich mitnehmen.“
Der Direktor war an seinen Schreibtisch zurückgekehrt.
Da raschelte und zischelte es vom Flure her unten durch die Ritze der Tür hindurch. Auf dem Fussboden wurde das Stück eines grösseren, rosafarbigen Papiers sichtbar, irgendeine Anpreisung, gewiss, wie sie ihm vielfach in sein Arbeitszimmer geschmuggelt wurden. Mit lässiger Hand hob er das rosa Papier auf und las:
„Zirkus Brotti-Wellhoff. In dem neuerbauten prächtigen Zirkus vor dem Berliner Tor. Grosse brillante Eröffnungsvorstellung. Aus dem reichen Programm sind besonders hervorzuheben: zwölf schwarze Araberhengste in Freiheit vorgeführt vom Direktor Wellhoff. Miss Amanda, Schulreiterin. Francis, Clown und Schlangenmensch. Und nun inmitten eines mächtigen, vielverschnörkelten Rahmens, auf den gedruckte Fingerzeige, wie auf etwas ganz Hervorragendes, hinwiesen: Auftreten von Miss Ellida Korelli auf ihrer Schimmelstute Diana, die grösste Parforcereiterin des Kontinents.“
Der Direktor hatte das Haupt in die Hand gestützt. Wo waren die Zeiten geblieben, wo solch ein Zettel mit seinen prahlerischen Ankündigungen ihn wie die Verheissung eines Paradieses anmutete, wo er Abend für Abend um das rohe Leinwandzelt, das vor den Toren seiner kleinen Vaterstadt für einige Tage aufgeschlagen war, mit sehnsuchtsheissem Herzen herumgeschlichen, und dem Odysseus kein Sirenengesang so süss klingen konnte, wie ihm die schallende Blechmusik, die aus dem matt erleuchteten Innern drang, der knatternde Peitschenknall, der sie begleitete? Ja, wo waren die Zeiten geblieben? Er mochte sie heute kindlich nennen, kindisch vielleicht — schön waren sie doch gewesen!
„Zirkus Brotti-Wellhoff“ las er noch einmal. Es war kein kleiner Zirkus, wie der einst in seiner Vaterstadt, Schmolinsky hiess er — er kannte den Namen noch ganz genau. Es war ein bedeutender Zirkus, dem ein Ruf voranging; in manchem seiner Bekanntenkreise freute man sich auf seinen Besuch. Er begriff diese Leute bereits nicht. Was hätte er jetzt wohl noch in einem Zirkus gesollt?! Er hatte Stundenpläne zu machen und Unterricht zu erteilen!
Der Traum der Kindheit war längst verflogen, eifriger als zuvor arbeitete Direktor Wöhrmann an seinem Schreibtische.
Da klopfte es an die Tür. Unwillig fuhr er von seinen Büchern auf.
„Die Sprechstunde ist längst vorüber, jetzt wenigstens sollte man mir Ruhe gönnen!“
Aber noch einmal klopfte es, schneller und härter als das erstemal.
„Nun, so pocht wenigstens keine Mutter!“ Und er rief ein kurzes Herein! — —
Ein Herr stand vor ihm — so plötzlich, dass der Direktor nicht begriff, wie er so schnell und leise die beträchtliche Entfernung vom Eingang bis zum Schreibtisch durchmessen hatte.
Es war ein kleiner Mann mit einer auffallend breiten Krawatte, in der eine Schlipsnadel mit einem mächtigen Stein funkelte, der echt zu sein schien, und mit sehr weiten, grau und schwarz karierten Beinkleidern, aus denen ein kleiner Fuss in lackierten Schnürstiefeln sich hervorwagte.
Er erhob sich; er selbst war von gedrungener Figur, aber gegen den Fremden erschien er gross.
Dieser verneigte sich mit Grandezza, aber doch mit einer Leichtigkeit, die etwas Herablassendes hatte.
„Korelli,“ sagte er, weiter nichts.
Der Direktor sah ihn fragend an.
„Korelli,“ sagte er noch einmal.
„Korelli?“ Hatte er den Namen nicht schon einmal gehört? Er besann sich. Dann lächelte er. Ah so! Das war’s! Eben auf dem roten Zirkuszettel hatte er ihn gelesen, und in der Tat, der kleine Mann, der vor ihm stand, sah aus wie der geborene Kunstreiter.
„Ach — Herr Korelli, vom Zirkus — Zirkus ...“
„Brotti-Wellhoff“ fiel der andere ins Wort, und über den breiten, hässlichen Mund, den einige spärliche Schnurrbartshaare deckten, lief ein geschmeicheltes Lächeln. „Dachte ich es mir doch, dass Sie den Namen kennen würden. Alte, weltberühmte Reiterfamilie, die Korellis, mein Vater und Grossvater arbeiteten bereits als Jockei, und ich mache schon zwanzig Jahre in der Sache.“
„Schon zwanzig Jahre?“ Direktor Wöhrmann sah verwundert auf den elastischen Körper, das frische, von der Schminke wenig zerfressene Antlitz, dessen Jugendlichkeit nur einige tiefe Falten quer über der eingedrückten Nasenwurzel Abbruch taten.
„Ja, zwanzig Jahre ... die Arbeit, Herr Direktor hält geschmeidig. Das ist etwas anderes, als den ganzen Tag über den Büchern sitzen! Wäre nichts für mich, danke bestens! De gustibus — hab’ ich’s doch vergessen! Ja, ja, die alten Sprachen, nichts für unsereinen. Aber die neuen, Herr Direktor, das ist etwas ganz anders! Zehn Sprachen spreche ich, alle geläufig wie meine Muttersprache, die deutsche.“
„Die deutsche? Ich glaubte, Sie wären Engländer oder Italiener.“
„Ach, wegen des Mister und meines Namens? Nichts da, Herr Direktor, ich danke für die Ehre. Wir sind alles ehrliche Deutsche! Und dass ich mich Korelli nenne — nun sehr einfach: Weil Korelli doch ein bisschen völliger klingt, als Korz ... Wilhelm Korz, wie ich getauft bin.“
Der Direktor konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die Grandezza dieses Mannes, der sich längst ohne jede Aufforderung auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch gesetzt, und dann — dieser Name für einen so grossen Künstler, der hier vor ihm stand!
„Und nun, Herr Korelli, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
Ueber den breiten Mund huschte der Hauch einer gewissen Verlegenheit, die harte, aber nicht ungepflegte Hand, an deren kleinem Finger ein Ring prahlte mit einem Stein, ähnlich dem an der Brust, strich über den spärlichen Schnurrbart und brachte seine wenigen Haare dadurch in solche Erregung, dass sie jetzt wie kleine Borsten auf den schmalen Lippen standen.
„— — Ich habe eine Tochter, Herr Direktor — Miss Ellida —“
Als er den Namen aussprach, leuchteten seine Augen viel heller als der Brillant auf der rotgemusterten Krawatte, und das stumpfe Gesicht erhielt einen Schimmer von Verklärung und Stolz, dass es fast interessant aussah.
„Sie sollten sie sehen, Herr Direktor — nur einmal im Zirkus. Es gibt keine zweite Parforcereiterin wie sie. Sie ist der Liebling des Zirkus Brotti-Wellhoff. Der Direktor hat eben erst unseren Vertrag verlängert, unter den günstigsten Bedingungen. Und das nicht etwa meinetwegen, obwohl ich Jockei nicht schlecht mache, und nicht meiner Frau wegen: Miss Jeannette, Herr Direktor, sie arbeitet auf dem Panneau — nein, der Elli wegen, so heisst sie: Elli Korz. Und er weiss wohl, was er tut. Sie macht ihm den Zirkus jeden Abend voll bis unter das Dach. Wenn sie nicht arbeitet, dann ist es leer.“
„Und ist sie auch eine ebenso gute Tochter, die Miss Ellida?“
Die grünen Augen strahlten dem Direktor ins Antlitz.
„Ja, auch das, eine gute Tochter, eine sehr gute Tochter! Sie wird einst für uns arbeiten, dass wir Ruhe haben im Alter,“ und Herr Korelli strich die aufsässigen Haare mit einer schnellen Handbewegung herunter.
„Aber nun, Herr Korelli, wenn ich noch einmal fragen darf: Was verschafft gerade mir die Ehre?“
„Herr Direktor“ — und Herr Korelli raffte sich mit einer energischen Bewegung zu der früheren, stolzen Haltung empor. „Der Elli wegen komme ich zu Ihnen. Sie ist unser einziges Kind. Allerdings ein kleines haben wir noch, aber das arbeitet nicht, ich zähle es deswegen nicht mit. An der Elli aber haben wir nichts gespart. Sie ist anders erzogen als die Mädchen vom Zirkus. Sie hat einen guten Unterricht genossen —“
„Wie war das aber möglich ... bei Ihrem stets wechselnden Aufenthalt?“
„Das war so schlimm nicht, Herr Direktor. Wir arbeiten immer nur bei grossen Gesellschaften. Die Korellis haben sich nie mit kleinen abgegeben. Bei Brotti-Wellhoff sind wir schon fünf Jahre, bei Schumann waren wir sogar zehn. Da hat sie ein Musiker aus der Zirkuskapelle in den Anfangsgründen unterrichtet, zusammen mit der Tochter des Direktors — er war früher Lehrer an einer Volksschule und wurde wegen irgendwelcher Dummheiten entlassen. Und nun, Herr Direktor, nun meint meine Frau, die Elli müsse noch etwas mehr Bildung erhalten.“
„Ihre Frau stammt auch aus einer Kunstreiterfamilie?“
„Ach nein, Herr Direktor — das ist ja eben die ganze Sache! Meine Frau stammt aus einem sehr guten Hause. Sie mag nicht, dass man darüber spricht, aber ihr Vater war Offizier.“
„So, so, nun verstehe ich: Nun wünscht Ihre liebe Frau —“
„Dass die Elli hier, wo wir voraussichtlich bis Weihnachten bleiben, noch einige Stunden bekommt — so in allgemeiner Bildung, wie meine Frau sagt. Und da wollte ich mir nun die Frage erlauben, ob Sie vielleicht, Herr Direktor, diese Stunden geben könnten?“
Der Direktor lachte.
„Ich?! Wo denken Sie hin, mein guter Herr Korelli, ich habe genug zu tun und kann mich nicht auf Privatstunden einlassen, selbst bei Ihrer Tochter nicht.“
„Sie sollten sie nur kennen lernen,“ und die kleine Gestalt des Kunstreiters hob sich in selbstbewusstem Stolze in die Höhe — „aber freilich, das sagte auch schon meine Frau, Sie würden wohl keine Zeit dazu haben. Aber vielleicht, meinte sie, ein Lehrer aus Ihrer Schule —“
Dem Direktor schoss ein schneller Gedanke durch den Kopf. „Das wäre vielleicht nicht unmöglich. Aber auf eins muss ich Sie von vornherein aufmerksam machen, Herr Korelli: solche Privatstunden sind natürlich nicht billig.“
Herr Korelli zuckte geringschätzig die Achseln.
„Wir haben achtzehnhundert Franks Monatssalär, Herr Direktor, und für die Elli ist uns nichts zu teuer.“
„Nun gut, ich werde mir die Sache überlegen. Morgen um diese Zeit können Sie sich Bescheid holen.“
„Meine Frau wird kommen. Sie wollte eigentlich heute schon mitgehen. Servus, Herr Direktor — ich danke Ihnen — Servus!“
Dieselbe Grandezza in der Verbeugung, ein Händedruck, der künstlerische Herablassung zeigte, und ebenso eilig, wie er gekommen, hatte Herr Korelli das Zimmer verlassen.
Direktor Wöhrmann liess seine gesamte Lehrerschaft an seinem geistigen Auge vorüberziehen. Aber wie den rechten Mann finden für eine immerhin heikle Aufgabe? — —
Mit einem Male warf er den Kopf mit einer raschen Bewegung zurück.
„Ich hab’s! Er ist gefunden. Doktor Mollinar! Du bist der Mann dazu! Ja, du, Kollege Mollinar, der du die Kinder aus dem Schlafe aufschrickst, wenn du mit deinem strengen Antlitz ihnen im Traume der Feriennächte erscheinst, du, der du mich in meiner ersten Klasse spielend aus dem Sattel hobst — du und kein anderer!“
Er schrieb einige Zeilen und klingelte dem Pedell.
„Diesen Brief an Herrn Doktor Mollinar! Aber sogleich, er hat Eile!“
Am nächsten Tage trat Doktor Mollinar in das Zimmer seines Direktors. Eine gedrungene, vierschrötige Gestalt mit herabhängenden Schultern. Auf dem kurzen Halse ein eckiger Kopf mit platter Nase. Die Lippen bartlos, die Mundwinkel tief gestellt und scharf ausgeprägt, wie man sie bei Predigern oder Schauspielern findet, das Kinn hervorstehend und mit einem dünnen Flaum schwarzer Haare bedeckt.
Aber dann die ganze Erscheinung beherrschend: zwei dunkelgraue Augen unter mächtigen Brillengläsern. Sie gaben den unregelmässigen Zügen die eigentümliche Strenge und die anziehende Männlichkeit.
„Sie haben meinen Brief erhalten, Herr Kollege —“
„Ich komme deswegen.“
„Und Ihre Entscheidung?“
Doktor Mollinar zuckte die Achseln.
„Lächerlich,“ sagte er.
„Was ist lächerlich?“
„Die ganze Geschichte — eine Kunstreiterin und höhere Bildung? Sie sollte zufrieden sein, wenn sie ihre Sprünge machen kann. Ich habe Wichtigeres zu tun.“
„Verzeihung, Herr Direktor, aber die Tür war offen.“
Eine Dame sagte es, deren Eintritt die beiden in ihrem eifrigen Gespräche nicht bemerkt hatten.
Es war auch kein Wunder, denn die Fremde hatte einen schwebenden Gang. Sie schien die letzten Worte des Gesprächs, die Doktor Mollinar gegen seine Gewohnheit mit lauter Stimme gesprochen, wohl gehört zu haben; ihr Antlitz deckte ein dichter Schleier bis an die feingeschwungenen Lippen, aber in dem leisen Tone, mit dem sie sprach, lag etwas Scheues, Eingeschüchtertes.
„Mein Mann hat mir gesagt, ich sollte mir heute bei Ihnen Bescheid holen — wegen meiner Tochter.“
„Ah, Frau Korelli, ich bitte sehr,“ und Direktor Wöhrmann wies auf das Sofa, auf das er nicht alle Mütter Platz nehmen liess, „nein, Kollege Mollinar, Sie stören nicht, ich bitte Sie, zu bleiben; die Angelegenheit geht Sie ja auch an — ja, Ihr Gatte war gestern bei mir und ich habe ihm versprochen, dass ich mich der Sache annehmen will —“
„Ich bin Ihnen dankbar. Das arme Kind hat sonst ja auch niemand —“
„Es hat seine Eltern.“
„Ja, Herr Direktor — aber wenn Vater und Mutter jeden Vormittag zur Probe gehen und Abend für Abend selber arbeiten müssen —“
„Doch Ihr Gatte sagte mir —“
„Ach, er ist so stolz auf seine Tochter. Aber eine Mutter sieht so etwas doch anders an.“
„So macht Ihnen Ihre Kunst keine Freude?“
„Freude, Herr Direktor — Freude?“ Sie sah ihn mit Erstaunen an, „unsere Arbeit ist sehr nüchtern, sie ist uns Broterwerb wie dem Handwerker sein Tagewerk, und wenn man wie ich seit zwanzig Jahren jeden Abend arbeiten und immer und immer dasselbe Lächeln zeigen — und dann — sich mit einer erwachsenen Tochter in einer Garderobe umkleiden und schmücken und bemalen und so vieles hören und sehen muss, wovor jede Mutter ihr Kind gern bewahrt, sei es auch nur eine Kunstreiterin — eine Freude, Herr Direktor, ist das nicht.“
„Und dazu hat Ihr Beruf viele Gefahren.“
„Gegen die stumpft man ab. Wer sein Kind diese halsbrecherischen Künste hat lernen sehen von Anfang bis zu Ende, unter Peitschenhieben oft, der wird hart gegen die Furcht. Zwar für die Elli zittere ich manches Mal, sie reitet ein so scheues Pferd. — Aber für mich? — Was sollte ich auch fürchten?“
Eine leise Schwermut sprach aus ihren Worten; die schmale, nervöse Hand nestelte an dem einfachen Kleide herum.
„Und Ihre Tochter ist ganz furchtlos?“
„Sie lacht über jede Furcht. Freilich, sie ist unter den Reitern geboren und gross geworden. Das ist etwas anderes als bei mir; das geht ins Blut und bleibt im Blute.“
Eine kurze Pause entstand in dem Gespräch.
„Als ich dies Kind gebar,“ fuhr dann Frau Korelli fort, „musste mein Mann mir versprechen, dass es erzogen werden sollte wie ein anderes Menschenkind. Zwar macht die Elli es mir nicht leicht mit ihrer Erziehung. Sie will nichts gelten lassen als den Zirkus und ihre Arbeit. Und dann, Sie wissen nicht, wie man das Kind umschmeichelt und verwöhnt! Wenn man ihr jetzt noch einigen Unterricht gäbe, wenn man einen Lehrer für sie gewänne, der —“
„Ich verspreche Ihnen, dass ich tun werde, was in meinen Kräften steht.“
Die Kunstreiterin war gegangen, die beiden Männer waren allein.
„Was sagen Sie nun, Herr Kollege?“
„Dass die Kunstreiterinnen auch Komödiantinnen sind. ‚Die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auf den Zirkus sich erstreckt,’ möchte man Goethe verändern. Und ob die gute Dame recht hat, dass solche angelernte Bildung den Menschen besser macht, möchte ich für mein Teil in Zweifel zu ziehen mir erlauben.“
„Wieder Ihre alten Ketzereien!“ rief der Direktor. Aber ich sage Ihnen etwas anderes, Herr Kollege Mollinar, nämlich dies: Wenn Sie den Unterricht für dieses Mädchen auch jetzt noch ablehnen, nachdem Sie gesehen haben, wie ernst es der Mutter um ihn ist, dann übernehme ich ihn selber, trotz der geringen Zeit, die ich gerade jetzt übrig habe.“
Doktor Mollinar zuckte die Achseln. Die Strenge auf dem bleichen Antlitz nahm in diesem Augenblick einen fast finsteren Ausdruck an, aber die linke Hand, die auffallend klein war für den starken Körper, kraulte einige Male mit merklicher Unruhe in dem dünnen Bartflaum des Kinnes.
„Wenn die Komödie denn einmal gespielt sein soll,“ sagte er zögernd, „so will ich sie in Szene setzen. Ihre Zeit ist mir zu schade dazu. Aber um eins muss ich Sie vorher bitten.“
„Und das wäre?“
„Dass Sie gütigst mit niemand über diese Sache sprechen — ich mache mich nicht gern lächerlich.“
„Guten Tag, Mutter!“
„Guten Tag, Fritz!“
Mutter und Sohn pflegten sich nie weitläufiger zu begrüssen. Es schien dies zwischen beiden wie ein schweigendes Abkommen, das jedes überflüssige Wort verpönte.
Auch jetzt wurde Fritz nicht gefragt, wo er gewesen, was er getan und gelassen hatte. Die alte Frau, die im altmodischen Lehnstuhle an ihrem gewohnten Fensterplatz sass, wandte schwerfällig das Haupt und nickte dem Eintretenden zu. Dann vertiefte sie sich aufs neue in die Abendzeitung, die eben angekommen war. Fritz aber trank seinen Kaffee und las dazu in einem Buche, das er sich mitgebracht.