Nur ein Bauer - Artur Brausewetter - E-Book

Nur ein Bauer E-Book

Artur Brausewetter

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Beschreibung

Das kleine Dorf Wulfskrona ist in Aufregung. Auf dem Hof von Peter Quast findet eine Zwangsversteigerung statt. Quast ist nicht der erste Bauer, der unter die Räder einer erbarmungslosen modernen Zeit zu geraten droht. Eine in Jahrhunderten gewachsene Welt der Landwirtschaft, des ländlichen Zuhauseseins, des in harter Arbeit aus dem Ertrag der eigenen Scholle gewachsenen Wohlstands ist in Gefahr. Peter Quast will und kann sich mit dem Verlust von alledem nicht abfinden. "Du Blutsauger! Du Schuft, der du mich heute von meinem Hofe jagst, mich an den Bettelstab bringst! Heb' dich hinweg, du Hund! Scher' dich zum Teufel, dem du gehörst! Und wo und wann ich dich treffe, dann Gnade deiner dreckigen Seele!" Doch mit der Unruhe hält schließlich auch etwas ganz Unerhörtes in Wulfskrona Einzug: das Verbrechen. Aber auch die Liebe entfaltet ihre große Macht und ringt mit den dunklen Schatten um den Sieg, während Pfarrer Thomas Altdorf um göttlichen Beistand für das Dorf und seine Bewohner fleht ... Brausewetters 1932 erschienener großer Bauernroman steht in der Tradition der berühmten ländlichen Romane Knut Hamsuns und ist auch heute noch nicht minder lesenswert als die Meisterwerke des großen norwegischen Nobelpreisträgers.-

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Artur Brausewetter

Nur ein Bauer

Roman

Saga

Ebook-Kolophon

Artur Brausewetter: Nur ein Bauer. © 1932 Artur Brausewetter. Originaltitel:. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711487785

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Durch den grautrüben Septembertag ritt Tekla von Rotholz. Dunkles Gewölk jagte in ängstlicher Flucht über den Himmel. Mit schläfrigen Augen blinzelte eine müde Sonne durch den träge kriechenden Nebel, und am dunstig verschleierten Horizont türmte sich eine stetig wachsende Mauer schwarz geschuppter, scharf gezackter Wolken, die bald fest und undurchdringlich lag.

Die Stute musste einen anstrengenden Ritt hinter sich haben. Auf den Trensenzügeln lagen weisse Flocken, und der schöne schlanke Hals war blank und hart von eingetrocknetem Schweiss.

Jetzt liess die Reiterin sie in gemächlichem Schritt gehen. Denn Wulfskrona, das alte Familiengut der Rotholz, war nicht mehr weit, und Detlef, ihr sonst so ruhiger Bruder, konnte in Wallung geraten, wenn ein Pferd nass und abgetrieben in den Stall kam.

Mit einem Male aber besann sie sich eines anderen, liess die gepflasterte Pappelallee, die sie in schnurgerader, sanft ansteigender Richtung in wenigen Minuten nach Hause geführt hätte, liegen und bog, einen kurzen Trab anschlagend, in den von verkrümmten Weiden eingefassten Triftenweg ein, um bei der jetzt noch guten Beschaffenheit des lehmigen Bodens, der im Frühjahr und Herbst meist undurchdringlich war, einen Umweg über Borkwalde, das weitgestreckte Bauerndorf, zu machen.

Aber was war denn hier geschehen?

Die sonst so ruhig und meist wie ausgestorben daliegende Gegend belebt, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Ganze Gruppen von Leuten, die aus dem Dorfe kamen oder zu ihm hinwanderten, in merkbarer Erregung aufeinander einsprachen, rasche, leidenschaftlich bewegte Worte tauschten, wenn sie einander begegneten.

Richtig! Heute war die Zwangsversteigerung auf Peter Quasts Hof! Aber Zwangsversteigerungen waren jetzt an der Tagesordnung. Eine löste die andere ab. Man sprach kaum von etwas anderem, sprach nur noch von der schweren Not, die das arme, gedrückte Land bis auf den letzten Blutstropfen aussog.

Peter Quast! Wie hoch hatte er den dicken, trutzigen Bauernschädel getragen! Als nähme er es mit der ganzen Welt auf und sähe von der sicheren Höhe seines tief eingeimpften Bauerntums auf sie und ihre kleinen Nebensächlichkeiten herab. Denn eins nur gab es, das Wert und Bestand hatte, das Erzeugerin und Nährmutter allen Daseins war, die Achse, um die die Erde sich drehte, ohne das sie eines Tages rettungslos stillstehen musste: ein gesundes, schollenverwandtes, seiner Macht und Kraft sich bewusstes Bauerntum!

Er hatte es bei einem Besuche auf dem Schloss ihrem Bruder auseinandergesetzt, dem er, wie allen Grossgrundbesitzern, mit einem gewissen Misstrauen begegnete. Sie war dabei gewesen, und der gar nicht grosse, aber wie mit Keulen zusammengeschlagene Mann hatte auf sie Eindruck gemacht, obwohl sie vom Standpunkt ihres Adelsbewusstseins seine Worte anmassend fand. Denn sie verharrte noch in der Ansicht veralteter Zeiten, für die der Bauer einen Stand zweiter Gattung bedeutete, berufen und verpflichtet, dem Herrn Lehnsdienste zu tun.

Und nun auch er! Das Letzte genommen! Vertrieben aus dem alten, von den Vätern ererbten Hofe, der seine Besitzer einmal reich gemacht, recht- und besitzlos geworden! Nichts mehr in den Händen als den Pilgrimstab, mit dem er ohne Land und Heimat in eine weite, unbekannte Welt wanderte. Heute traf es ihn — und morgen?

Sie war an seinem Hofe angelangt. Die Versteigerung schien bereits beendet. Sie machten es schnell mit solchen Dingen. Der Hammer fiel. Das Urteil war gesprochen, das Los entschieden!

Dichter scharte sich die Menge zusammen. Draussen auf dem Triftenweg waren es noch einzelne Gruppen gewesen, die sich fanden und lösten. Hier unmittelbar vor dem stattlichen Gehöft war es bereits ein ganzer grauschwarzer Knäuel, der mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorgängen auf dem Gehöfte folgte.

Und nun erkannte sie auch den Grund dieser Zusammenrottung.

Am weitgeöffneten Torflügel stand Peter Quast.

Obwohl es draussen durchaus nicht warm war, sondern eine kühle Feuchtigkeit vom frühen Morgen an in der herbstlich dunstigen Luft gelegen, stand er, ohne Jacke und Mantel, in dem erhitzten Gesicht mit den derben bäuerischen Zügen die deutlichen Spuren einer wilden Erregung, die blutunterlaufenen Augen unentwegt und mit drohendem Ausdruck auf die immer näher andrängenden Leute gerichtet.

„Wer es wagen sollte, an ein einziges Stück auf meinem Hofe Hand anzulegen, den schlage ich nieder. Lasst es euch gesagt sein!“

Prall und wuchtig wie Kieselsteine fielen seine Worte von den mit einem borstigen schwarzen Schnurrbart bedeckten Lippen.

Auch sie vernahm sie, klar und deutlich, sah zugleich, wie die Leute, durch diesen Ausbruch eines masslosen Zorns erschreckt, zurückwichen. Sie kannten den Quast, sie wussten, dass er nicht mit sich spassen liess.

Der Vollziehungsbeamte trat an ihn heran: „So nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Quast“, suchte er ihn fast väterlich zu beruhigen. „Ich tue schliesslich nur, was meines Amtes ist, und die Leute — du lieber Himmel! — sind ja gar nicht so bösartig. Sie haltens doch alle mit Ihnen!“

Als hätte er gar nicht gesprochen, wiederholte Peter Quast mit derselben Wucht seine Worte, spuckte dann weithin aus, wollte sich seinem Hofe zuwenden ...

In demselben Augenblick kehrte er noch einmal um. Kreidebleich war sein Gesicht; die weitgeöffneten Augen starrten auf einen Menschen oder Gegenstand, den sie in der Entfernung und in der dichten Masse nicht wahrnehmen konnte.

Und nun sah sie den weissen Hemdärmel hoch empor über den dunklen Knäuel sich recken, und das Gemurmel und Stimmengewirr rings umher durchschneidend, prasselte es zum zweiten Male von den stammelnden Lippen wie Gertenhiebe, die durch die Luft sausen.

„Du Blutsauger! Du Schuft, der du mich heute von meinem Hofe jagst, mich an den Bettelstab bringst! Heb’ dich hinweg, du Hund! Scher’ dich zum Teufel, dem du gehörst! Und wo und wann ich dich treffe, dann Gnade deiner dreckigen Seele!“

So furchtbar und durchdringend war die Verwünschung, dass sie unter ihr zusammenschauerte, als gelte sie ihr.

Und nun wurde sie auch gewahr, gegen wen sie ausgestossen war.

Durch die dichtgescharte Menge bewegte sich eine schmächtige untersetzte Gestalt in graukariertem Mantel mit Pelzkragen und Pelzaufschlägen um die Ärmel, schob, wand sich aalgleich durch die umdrängenden, nur langsam und widerwillig weichenden Massen, die hier und da Anstalt machten, ihr den Weg zu sperren und sie mit Ausrufen mehr oder minder erdrückten Ingrimms begleiteten. Deutlich liessen diese spüren, dass der alte Vollziehungsbeamte recht gehabt, die Sympathie der Leute ungeteilt auf der Seite des vertriebenen Bauern war und ihr nur mühsam gezügelter Unmut sich gegen den wandte, der ihn, vermöge eines ihm zugesprochenen Rechts heute von seinem Hofe trieb. Sie kannte den Mann. Es war Robert Zacharias, der auch ihrem Bruder hart zusetzte und manchen anderen mit seinem skrupellosen Vorgehen auf dem Gewissen hatte. Aber das war robust, trotz aller Tünche und Biederkeit, in die er sich zu kleiden liebte. Sie wusste es und liess sich nicht täuschen, wie mancher andere in seinem arglos vertrauenden Gemüt. Vielleicht war unter diesen Leuten auch einer, dem er einen Aufschub gewährt, ein paar Zinsen erlassen oder eine Hilfe in Aussicht gestellt hatte, wie er es gern tat, seinen Schein zu wahren und sich einiger Anhänger zu brüsten. Wer weiss, ob sie ihn sonst so unversehrt hier durchgelassen hätten.

Jetzt kam er hart an ihr vorbei, um seinen drüben vor dem Dorfkrug wartenden Wagen zu besteigen. Aber bevor er es tat, trat er an ihr Pferd heran, lüftete den steifen Hut, dass die blendende Glatze sichtbar wurde, in deren Mitte noch etliche Haare vorhanden waren, die fein säuberlich mit Pomade zur Andeutung eines Scheitels geglättet lagen.

Er zeichnete sie immer mit einer gewissen Ehrfurcht aus. Aber seine Freude, sie heute zu sehen, schien merkbar getrübt. Denn es war ihm nicht angenehm, dass gerade sie Zeugin dieser abscheulichen Szene sein musste.

Nur mit einer leichten Neigung ihrer Reitgerte erwiderte sie seine unterwürfige Begrüssung.

Als er dann seinen Wagen bestieg, flog ein Stein hart über das Verdeck hinweg.

Höher kletterte die schwarze Wolkenwand. Härter, zackiger wurden ihre Kanten und Spitzen am vielbeschäftigten, unruhig bewegten Horizont. Etwas Aufgeregtes, Gefahrdrohendes zog durch die Luft, teilte sich ihr mit, schnürte ihr das Herz zu.

Sie setzte die Stute in einen kurzen Trab. Da machte diese einen Sprung seitwärts, so schnell und unvermutet, dass sie, in ihre Gedanken versunken und die Zügel nur lose führend, Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu bewahren.

Ein Haufe junger Burschen hatte ihr den Weg versperrt. Aus den unfreundlich eingestellten Mienen und den ihr entgegengeworfenen Worten, die sie nicht verstand, vernahm sie nichts Gutes. Wollte man es ihr zur Last legen, dass der verhasste Mensch sie begrüsst hatte?

Sie wusste es, sie liebten sie nicht. Weshalb nicht? Da sie doch mit ihnen und ihrer Not wie eine in gleicher Verdammnis befindliche litt. Aber sie waren arbeitslos geworden, und es mochte sie verdriessen, dass sie auf ihrer edlen Stute durch diese Welt des Elends und der Auflösung wie eine vornehme Nichtstuerin dahinritt.

Zu der Rotte junger Burschen hatten sich mehrere ältere Bauern und Kleinbauern, auch einige Frauen gesellt. Man versuchte, die schon an sich empfindsame und nervöse Stute durch gellende Pfiffe und Händeklatschen scheu zu machen, und zeigte seine helle Freude, wenn es gelang.

Die Reiterin aber verleugnete auch diesmal den Schneid ihres Wesens nicht. Furcht hatte sie nie gekannt; die war ein fremder Tropfen in ihrem Blute.

„Geben Sie mir den Weg frei!“ rief sie mit ihrer ein wenig herrischen Stimme, die die Worte so lässig hinwarf und in der doch eine so kraftvolle Entschiedenheit war. „Und lassen Sie das arme Tier zufrieden, das Ihnen nichts getan hat!“

Straff zog sie die Zügel an, hob die Gerte, als richtete sie sie mehr gegen die umdrängende Rotte als gegen ihr Pferd, suchte sich Bahn zu brechen.

Aber nun hatte sich ihre Lage verschlimmert.

Die Leute, deren Verhalten bis dahin vielleicht mehr von Übermut als Feindschaft eingegeben erschien, waren durch ihre herben Worte gereizt. Ein Gejohle antwortete ihr, höhnische Rufe wurden laut, und die Versuche, die bereits am ganzen Leibe zitternde Stute vollends kopfscheu zu machen, nahmen eine bedrohliche Gestalt an.

Jetzt war es doch um ihre Fassung geschehen, so unbeirrt sie diese auch bis dahin gewahrt hatte. Ihre Haltung zwar blieb sicher und aufrecht, nur um das eine bemüht, der aufgeregten Stute, aus deren roten Nüstern der Atem in keuchenden Stössen drang, die nötigen Hilfen zu geben. Aber die erschreckten Augen sandten einen ratlos suchenden Blick über die johlende Menge hinweg zu den umliegenden Hofgebäuden, als erwarteten sie von dort irgendeine Hilfe und Rettung.

„Ruhe — nur Ruhe, Fräulein von Rotholz! Das ist heute die einzige Waffe.“

Ein Mann in schwarzem, eng an die hagere Gestalt sich schliessenden Rock hatte sich durch die Menge Bahn gebrochen, die schweissbedeckte, von einem Fuss auf den anderen tretende Stute mit sicherer Hand am Zügel genommen, die Reiterin mit kurzem Wort begrüsst.

„Was ist denn geschehen?“ wandte er sich jetzt an die langsam weichenden Leute. „Haben wir’s denn noch nicht schwer genug?“

Die bestimmte, aber zugleich beschwichtigende Art, in der er sprach, blieb nicht ohne Eindruck. Die Männer zogen sich mit unverständlichem Gemurmel zurück. Nur einige Frauen wetterten noch wider das vornehme Fräulein, das nichts Besseres zu tun habe, als an solch einem Tage spazieren zu reiten und sich mit einem Manne, der sie brotlos gemacht, vor ihren Augen zu begrüssen.

„Es war vielleicht nicht gerade vorsichtig, den Weg durch dies Dorf zu machen“, sagte er, als es ihm gelungen war, auch die Frauen zu beschwichtigen, und sie beide allein waren.

Er hatte den Zügel nicht losgelassen, führte an ihm die allmählich ruhiger werdende Stute auf den Triftenweg zurück, von dem sie abgewichen war.

„Die Leute sind nun einmal erbittert, vielleicht nicht mit Unrecht. Sie unterscheiden in ihrem Grimme nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen, und Ihr Versuch, die Bahn sich zu erzwingen, brachte sie vollends in Erregung“.

Es war ihr nicht angenehm, von ihm in dieser Weise, die bei aller Höflichkeit fast streng klang, gemassregelt zu werden. Dennoch war sie froh, dass er gekommen war, denn sie wusste, dass sie ohne sein Dazwischentreten keinen einfachen Stand mit den Leuten gehabt hätte.

„Sie haben alles mitangesehen?“ fragte sie nebenhin, indes er das Pferd weiterführte.

„Nicht alles. Ich hatte in dem Insthause drüben einen Krankenbesuch gemacht. Als ich ins Freie trat, sah ich, wie Sie von den Leuten umzingelt wurden, sah auch Ihre vergeblichen Versuche, sich freie Bahn zu schaffen.“

„Und wurden mein Retter! Ich danke Ihnen.“

Sie sagte es nicht ohne einen leicht ironischen Beiklang, reichte ihm vom Pferde herab die Hand.

Er klopfte den schweisstriefenden Hals und Rücken der Stute, liess den Zügel los und verabschiedete sich. „Ich will jetzt noch einmal zum Quast, komme aber auf dem Rückwege noch zu Ihrem Herrn Bruder heran.“

Nun ritt sie durch das weit sich streckende Dorf. Bis sie, die eintönige Niederungsstrasse entlang, auf die Pappelallee gelangt war.

Schwarz und starr standen die Bäume, reckten sich, von dem zunehmenden Winde kaum berührt, in zäher unbeweglicher Kraft in den wolkenzerrissenen Himmel. Dann und wann nur knarrte ein morscher Zweig. Eine Schar von Krähen flog unmittelbar vor ihr auf, kreiste mit erregendem Gekrächze um sie herum, und über den leeren, eintönig grauen Acker zog ein Schäfer mit seiner Herde, die sich, wenn der keifende Hund sie umdrängte, eng und ängstlich aneinanderschloss.

Was sie eben erlebt, ging ihr durch den Sinn. Aber nicht an die Gefahr dachte sie, die ihr selber gedroht. Nur an Peter Quast musste sie denken, den man aus seinem Erbe vertrieben hatte. Die ganze himmelschreiende Not der Bauern, wie sie sie täglich sah und durchlitt, schien sich in seiner gebrochenen und doch so trutzig auflehnenden Gestalt zu verkörpern. Wie ein Symbol dieser Not stand er vor ihr. Durch den grauen Dunst der von kalter Feuchtigkeit getränkten Luft sah sie den weissen Arm hoch und wuchtig sich recken, und das monotone Ra-Rah der Krähen in den dürren Pappeln laut übertönend, vernahm sie die heiser hervorgestossenen Worte der Verwünschung und Rache.

Kein Mensch war ihr so wenig angenehm wie Robert Zacharias. Sie gönnte ihm nichts Gutes. Denn sie wusste, dass er auch ihrem Bruder das Messer bereits an die Kehle gesetzt hatte. Aber heute — nein, in seiner Haut mochte sie nicht stecken!

Ihr gegenüber lag ein grösseres Gehöft, das mit seinen gediegen gebauten Scheunen und Ställen an Peter Quasts Besitz grenzte. Nur eine breitere, zu beiden Seiten von niedrigen Wällen eingeschlossene Furt, die im Sommer träge floss, jetzt aber im Herbst ziemlich viel Wasser hatte, trennte es von dem Nachbargrundstück.

Es gehörte Fritz Laubinger, der einem alteingesessenen Bauerngeschlecht entstammte. Sie war ihm nie begegnet. Er hielt sich von allen zurück. Detlef hatte einmal von ihm gesagt, dass er seinen Kopf ganz für sich habe und seinen eigenen Weg gehe. Aber er schätzte ihn hoch ein und hatte hinzugefügt, dass ein unbedingter Verlass auf ihn wäre und dass man stolz sein könnte, ihn zum Freunde zu haben. Aber Detlef artete in diesen Dingen nach dem Vater. Stolz auf die Freundschaft eines Bauern!

Warum ihr gerade heute dies alles einfiel?

Weil ihr etwas zu Gehör gekommen war, das sie nicht glauben, das sie nicht einmal ernst nehmen konnte: dass er ihrer jüngeren Schwester Ruth, die, der Not der Zeit gehorchend, in dem grossen Geschäfte seines Oheims eine Anstellung gefunden —. Sie wies den Gedanken von sich. Der Abkömmling eines Bauerngeschlechtes, der selber nichts anderes als ein echter, rechter Bauer war — und eine Rotholz, einem altadligen Geschlechte entstammend — nein, das traute sie der kleinen Ruth denn doch nicht zu, mochte sie auch vom Geist der neuen Zeit und dem alles gleichmachenden Atem der Grossstadt, die ihrem nur auf das Land eingestellten Sinne verhasst war, bereits angesteckt sein.

Was würde die Mutter dazu sagen, die, aus einem der ersten Adelshäuser stammend, ihr Leben lang auf Reinhaltung der Rasse gehalten?

Oder stand sie auch vielleicht hier allein? Was konnte sie für ihre Veranlagung? Was für ihr Blut, das von den ältesten Vorfahren her in ihr sich regte und auch nur bei dem Gedanken — — —

Die Pappelallee hatte ihr Ende erreicht. Eine langgestreckte, nur von Äckern und Feldern eingegrenzte Chaussee öffnete sich.

Träge und müde lag weit umher die Natur, als rüstete sie sich bereits zum Winterschlaf. Grosse, dunkle Wolkenzüge wälzten sich planlos hin und her, stoben ebenso planlos wieder auseinander, als gehorchten sie einem Willen, der stärker war als der ihre.

Als sie durch den hohen Torweg in den Gutshof einbog, stand Detlef bereits auf der Rampe, hart am Eingang des Schlosses, sie zu erwarten und ihr nach seiner ritterlichen Art beim Abstieg behilflich zu sein. Beim Anblick der immer noch feuchten Stute schüttelte er wohl ein wenig den Kopf, sagte jedoch kein Wort, denn er glaubte, auf ihrem Gesicht die Spuren einer vergeblich verborgenen Erregung zu bemerken.

Die kühle Dämmerung einer tiefen Diele mit einem aus wertvollen Geweihen hergestellten Kronleuchter empfing sie.

Sie legte ab und folgte dem Bruder in das Empfangszimmer.

Die stark vergoldeten Rokokostühle und Sessel mit ihren antiken, hier und da bereits schadhaft gewordenen Verschnörkelungen und den von der Sonne ausgeblichenen seidenen Bezügen, die ebenfalls mit schwerer, arg verschlissener Seide bezogenen Wände, die lebensgrossen Ahnenbilder, die unfreundlich und mürrisch aus den fast protzenden Goldrahmen blickten, als hätte man sie aus wohlverdientem Schlafe gestört — das alles zeugte von einer einmal vorhandenen, jetzt längst geschwundenen Pracht.

Bei der Lebhaftigkeit, ja Glut ihres Temperaments besass Tekla die streng geschulte Gabe der Selbstbeherrschung. Sich niemals gehen zu lassen, sondern stets der Pflichten eingedenk zu bleiben, die Geburt und Erziehung dem Menschen vorschreiben, galt ihr als erstes Gebot der Aristokratin. Das verlieh ihr zu dem Äusseren den inneren Adel, verlieh ihr freilich zugleich mit ihm eine gewisse Herbheit, die nicht leicht aus sich herausging, selten in ihr Innerstes hineinblicken liess und selbst den nächststehenden Menschen nicht alles offenbarte, was sie in sich bewegte.

So hatte sie sich vorgenommen, Detlef von den Erlebnissen dieses Tages, die sie stärker beschäftigten, als sie es vor sich selber wahr haben wollte, nur das Notwendigste zu erzählen. Vor allem wollte sie ihm nichts von dem aufregenden Vorfall auf Peter Quasts Hofe sagen und den zornerfüllten Verwünschungen, die dieser gegen seinen Todfeind ausgestossen hatte. Sie wusste, dass er jetzt genug des Schweren durchzumachen hatte, und eine zarte Rücksicht gebot ihr, alles Unangenehme und Beschwerende von ihm fernzuhalten.

Sie hatte sich nicht gesetzt. Mit langsamen Schritten wanderte sie in halbhohen Reitstiefeln über die weichen Teppiche, die früher einmal den ganzen Boden bedeckten, jetzt aber manche Lücken in ihm liessen, weil die kostbarsten unter ihnen verkauft oder der Pfändung zum Opfer gefallen waren.

Nur nebenhin hatte sie ihm von dem unfreundlichen Verhalten der Leute gegen sie und von Altdorfs Eintreten für sie erzählt.

„Er wollte, wenn er mit seinen Besuchen in Borkwalde fertig ist, noch zu dir herankommen“, schloss sie.

„Ja, wir haben einiges zu besprechen, was uns beiden wichtig ist.“

„So will ich auf mein Zimmer gehen.“

„Du störst uns nicht. Ich lege im Gegenteil Wert darauf, dass du bleibst, und er gewiss auch.“

„Jedenfalls muss ich mich erst umkleiden. Denn wenn er mich in Reithosen und Stiefeln erblickt! Er ist in dieser Beziehung noch recht altmodisch.“

„Ich finde, dass er sehr vernünftige Ansichten hat. Altmodisch möchte ich ihn nun wirklich nicht nennen. Er geht mit der Zeit mit.“

„In anderen Dingen vielleicht zu sehr —“

„Wie meinst du das?“

„Du weisst es. Mir gefällt die Art nicht, die er den kleinen Leuten gegenüber an den Tag legt.“

„Das muss er. Gerade als Pfarrer in einer Gemeinde wie dieser.“

„Gewiss. Sie soll ihm wert sein. Er soll sie besuchen, ihr helfen. Aber er hofiert sie. Und das hätte er nicht nötig.“

„Das tut er ganz und gar nicht. Er weiss genau, was er will, und beugt sich weder vor den Hohen noch vor den Niedrigen. Er geht den Weg, den er gehen muss, und mehr kann kein Mensch tun.“

„Du lässt nichts auf ihn kommen.“

„Warum sollte ich es? Er hat sich in der kurzen Zeit seines Hierseins einen heilsamen Einfluss unter den Leuten verschafft. Er versteht ihre Sorgen und teilt ihre Not. Und das ist in diesen aufgewühlten Verhältnissen für uns alle von Wichtigkeit. Du hast es ja heute am eigenen Leibe gespürt.“

„Es wäre auch ohne ihn gegangen, und ich kann wohl sagen, dass mir sein Dazwischentreten nicht angenehm war.“

„Aber mir wäre es wenig lieb gewesen, wenn meine Schwester einen ernstlichen Zusammenstoss mit den Leuten gehabt hätte. Jedenfalls freue ich mich, dass ich damals unter den Bewerbern für die Beerenhofer Pfarrstelle gerade ihn wählte. Du warst mehr für den Rodenhöfer.“

„Vielleicht, weil ich auf dem Standpunkt stehe, ein Pfarrer sei da, über himmlische Dinge zu predigen, aber nicht, sich um alles mögliche Weltliche zu kümmern.“

„Ich las vor kurzem ein Wort, das mir zu denken gab: Jede Zeit könne nur die Menschen hervorbringen, die sie braucht und die sich ihr anzupassen wissen. Die anderen lasse sie wesenlos untergehen.“

Ein jugendlicher Schritt bewegte sich die Rampe empor. Tekla verliess das Zimmer. Pfarrer Althoff trat ein.

„Sie kommen vom Quast?“

„Ich wollte ihm in schwerer Stunde zur Seite stehen. Und es war gut, dass ich da war. Der Mann, der sonst den Kopf so hoch trug, war wie ein gebrochener Baum.“

„Und wo wird er jetzt bleiben?“

„Er nimmt den Wanderstab und zieht von dannen. Wie die anderen auch. Wohin? Das weiss keiner. Aber ich will bei der Behörde vorstellig werden, dass man ihn den Winter hindurch, wenigstens bis zum ersten Januar, noch auf seinem Hofe wohnen lässt. Denn wo soll der Mann mit Frau und Kind sonst bleiben? Und dabei wollte ich Sie bitten, mir behilflich zu sein.“

„Sehr gern. Ich bin morgen auf dem Amte, da werde ich mit dem Landrat sprechen. Es ist ja unser aller Sache. Heute dir, morgen mir. In seinem Schicksal sehe ich zugleich auch meins, so heisst es in einer altgriechischen Tragödie.“

Das Mädchen überbrachte eine Karte. „Robert Zacharias“ stand darauf.

Eine Weile zauderte Detlef.

„Ich möchte ihn nicht gern empfangen.“

„Er ist immer der Überbringer von Hiobsposten und neuen Forderungen, die ich nicht mehr zu erfüllen vermag. Aber es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Nein, Sie dürfen nicht gehen. Auch meine Schwester will ich hinunterbitten. Man sollte mit Menschen wie diesem nicht anders als vor Zeugen verhandeln.“

„Was treibt er eigentlich? Eine rechte Klarheit ist mir darüber noch nicht geworden.“

„Er war früher ein geschickter Vermittler für den Grossgrundbesitz und für Hypotheken. Er ging, wie man so sagt, über Leichen und ist der skrupellose Totengräber manchen schönen Gutes und seines Besitzers geworden. Bis das Geschäft so glänzend einschlug, dass er nicht mehr für fremde, sondern für eigene Rechnung kaufte —“

„Ist er Jude?“

„Ganz und gar nicht. Sein Vater war Besitzer im Mecklenburgischen.“

„Und er selber?“

Da stand Robert Zacharias vor ihnen. Nicht die leiseste Erregung oder irgendeine Spur von dem, was er eben durchgemacht, war ihm anzumerken. Aus dem blassen, noch jugendlichen Gesicht blickten zwinkernde Augen klar und unschuldig in die Welt, die robusten Züge zeigten unbeirrte Offenherzigkeit, und um die dünnen Lippen schwebte harmlos verbindliches Lächeln.

Kaum hatte er dem Gutsherrn die Hand gereicht, den Geistlichen mit halb wohlwollender, halb ehrerbietiger Verneigung begrüsst, als Tekla eintrat.

Sie hatte den Reitanzug mit einem langen Hauskleid vertauscht, das den schlanken Körper noch grösser erscheinen liess. In ihrer Haltung wie in ihren kühl eingestellten Mienen prägte sich das herb Herrische, das sie Robert Zacharias gegenüber mit Beflissenheit hervorzukehren pflegte.

Der empfand es sehr wohl, aber, weit entfernt, ihn zu stören, machte es sichtbaren Eindruck auf ihn.

„Ich möchte mir zuerst die Frage erlauben“, begann er nach einem allgemeinen Schweigen, „ob ich, was ich mit Herrn Rotholz zu verhandeln habe, vor Zeugen erörtern darf? Oder ob es angesichts der immerhin etwas heiklen Angelegenheit nicht besser wäre, es unter vier Augen zu bereden?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an, Herr Zacharias“, erwiderte Detlef mit ablehnender Ironie, „und sagen Sie uns, was Sie an Neuigkeiten auf dem Herzen haben. Vor Herrn Pfarrer Altdorf gibt es ja leider nichts mehr zu verschleiern.“

„So würde ich gern hören, was Herr von Rotholz zu tun gedenkt, um seinen stetig wachsenden Verpflichtungen gegen mich gerecht zu werden. Von den Hypotheken, die ich in unerschütterlichem Vertrauen auf Wulfskrona gegeben habe, erhalte ich keine Zinsen —“

„Nachdem Sie jahrelang Wucherzinsen genommen und erhalten haben.“

Robert Zacharias überhörte diese Worte, wie er es grundsätzlich tat, wenn man ihm etwas Unangenehmes sagte. „Wechsel werden ausgestellt aber nicht eingelöst, wenn sie präsentiert werden. Ich bezweifle, dass je ein zweiter Gläubiger gefunden werden wird, der mit einer solchen Schonung und Nachsicht zu Werke geht. Jetzt aber sind beide erschöpft, und ich frage, was werden soll.“

Er sprach mit kurzem Atem, der jedesmal merkbar wurde, wenn er in Erregung kam oder eine solche zu unterdrücken suchte.

„Ich fürchte, es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als diese bewundernswerte Geduld wie meine Wechsel noch ein wenig zu prolongieren.“

„Auf wie lange, wenn ich fragen darf?“

„Euch ist kein Mass noch Ziel gesetzt!“ entgegnete Detlef, den sein Beruf nie abgehalten hatte, sich mit der schönen Kunst, insbesondere mit den Klassikern, zu beschäftigen und der es liebte, in der Unterhaltung Zitate von ihnen in ernster oder witziger Weise anzuführen.

Robert Zacharias ärgerte die ironische Art, mit der man ihn in einer so wichtigen Sache abzufertigen suchte. Bedächtig wiegte er den eckigen Kopf, dass die runde Glatze hell und rosig durch die Dämmerung schimmerte, die inzwischen im Zimmer eingetreten war.

„Dann bliebe nur noch das Letzte, zu dem ich mit schwerem Herzen, aber der Not der heutigen Lage gehorchend, schreiten müsste.“

„Die Zwangsversteigerung!“ unterbrach ihn Detlef, zum ersten Male während der ganzen Unterredung einen lebhafteren Ton anschlagend.

„Aber dazu werden Sie es nicht kommen lassen, nein, das werden Sie nicht tun!“

Starr und unbeweglich sass Tekla in ihrem Sessel, die schmalen, schlanken Hände fest auf seine Lehne gestützt, die hellbraunen, leicht verscheierten Augen in die Weite gerichtet. Etwas Abwesendes war in ihnen. Zugleich etwas, das wie aufbegehrende Empörung durch ihre jetzt seltsam dunkelnde Tiefe zuckte.

Thomas Altdorf sah sie an ... sah sie wieder an.

„Alles an ihr ist Rasse“, dachte er bei sich. „Echte, unverfälschte Rasse! Noch hat sie sich in der Gewalt, weiss ihr heisses Blut wundervoll zu beherrschen! Aber wehe, wenn es einmal seine Schranken bricht. Dann Gnade ihrem Feinde!“

Inzwischen hatte sich Detlef gefasst. Es verdross ihn, dass er auch nur einen Hauch von Erregung an den anderen verschwendet hatte.

„Da Sie sich bis jetzt ziemlich schadlos zu halten gewusst, so können Sie es weiter tun“, warf er in derselben Ablehnung hin.

Robert Zacharias spreizte die langen Finger, blickte wohlgefällig auf die sorgsam gepflegten Nägel und überlegte, wie er die eben vernommenen Worte zu seinem Vorteil nutzen würde.

„Vielleicht könnten wir noch zu einer Art von Abfindung kommen, wenn sie auch in keinem Verhältnis zu dem Gegenstande steht. Ich sah vor einigen Wochen auf Ihrer Weide ein paar schöne Milchkühe. Und da ich für diese gerade Verwendung hätte ... Auch zwei kräftige Gespannpferde, wie ich sie ebenfalls im Vorübergehen bemerkte, könnte ich für Altpaleschken brauchen. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir vor dem Dunkelwerden noch einmal durch die Ställe ...“

Langsam, und weil er den zähen Willen des anderen kannte, der ihm keine Wahl mehr liess, erhob sich Detlef.

Da zuckte es in Teklas hellbraunen Augen auf, züngelte wie kurzer Blitz zu den beiden hinüber.