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Pat stieg ein und fuhr davon. Silks Blick hing gespannt an ihrem Gesicht, und als sie fragend in der Richtung zu Spains Haus deutete, nickte er zustimmend. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie sich dem kleinen Anwesen auf dem schlecht instand gehaltenen, holprigen Zufahrtsweg näherten, dessen Abflussrinnen von welkem, faulem Laub und abgebrochenen Ästen verstopft waren. Sie hielt vor dem Eingang, und Silk öffnete die Wagentür, um auszusteigen, als von der anderen Seite her eine Stimme erschallte...
Der Roman Der Tod steht vor der Tür des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959 (unter dem Titel Kennen Sie diese Frau?).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
JOHN CASSELLS
Der Tod steht vor der Tür
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TOD STEHT VOR DER TÜR
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Pat stieg ein und fuhr davon. Silks Blick hing gespannt an ihrem Gesicht, und als sie fragend in der Richtung zu Spains Haus deutete, nickte er zustimmend. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie sich dem kleinen Anwesen auf dem schlecht instand gehaltenen, holprigen Zufahrtsweg näherten, dessen Abflussrinnen von welkem, faulem Laub und abgebrochenen Ästen verstopft waren. Sie hielt vor dem Eingang, und Silk öffnete die Wagentür, um auszusteigen, als von der anderen Seite her eine Stimme erschallte...
Der Roman Der Tod steht vor der Tür des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959 (unter dem Titel Kennen Sie diese Frau?).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Die Streitfrage, ob man einen Gewohnheitsverbrecher wieder auf den rechten Weg zurückbringen könne oder nicht, erhitzte die Gemüter von Scotland Yard stets aufs Neue, sobald dieses Thema zur Sprache kam. Prompt bildeten sich dann jedes Mal zwei scharfgetrennte Parteien, deren weitaus größere unverrückbar an der althergebrachten Meinung festhielt, bei derartig eingefleischten Sündern sei Hopfen und Malz verloren. Mit anderen Worten: Die Katze lässt das Mausen nicht. Ihr eifrigster Vertreter war Inspektor Grimm, ein nüchterner, aber redegewandter Mann, der auf Grund zahlreicher Quellen einer langjährigen Erfahrung mit schlagkräftigen Argumenten beliebig aufwarten konnte.
»Das ist noch nie gelungen«, pflegte er zu sagen. »Erzählen Sie mir nichts, ich weiß es besser. Ich könnte Ihnen am laufenden Band Beispiele dafür nennen, die ich selbst erlebt habe. Von Verbrechern, denen man eine gutbezahlte Stellung verschaffte mit der Aussicht auf eine gesicherte Zukunft - und die trotzdem stets über kurz oder lang wieder rückfällig wurden.«
Gegen dieses strenge Urteil kämpfte jedoch die kleine Minderheit idealistisch gesinnter, weitherziger Kollegen, deren Sprecher, Chefinspektor MacNeill, ein gebürtiger Schotte von riesenhafter Statur und sanfter Stimme, sich, ungeachtet der fünfundzwanzig Jahre seiner Polizeilaufbahn, den kindlichen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt hatte. Und jedes Mal, wenn dieser umstrittene Punkt in der Diskussion auftauchte, lenkte Chefinspektor MacNeill mit bedeutungsvoll erhobenem Zeigefinger die Aufmerksamkeit auf das Beispiel Tommy Gavillan.
Denn Tommy war in der Tat der lebende und wandelnde Beweis für die Mangelhaftigkeit von Inspektor Grimms Theorie. Tommy war seinerzeit ein Mitglied der Sheldon-Bande gewesen, deren Tätigkeit in den zwanziger und dreißiger Jahren durch ihre verheerenden Folgen von sich reden machte, jener Sheldon-Bande, die die Manhattan Central Bank plünderte und annähernd drei Millionen aus den Stahlkammern raubte. Und niemand anderes als Drew Sheldon war damals kaltschnäuzig zu Zoraneiff hineinspaziert, wo er den beiden Polizeibeamten, die eigens gegen hohes Entgelt zur Bewachung der berühmten Khandar-Diamanten eingesetzt worden waren, die kostbaren Steine vor der Nase wegstahl. Von New York hatte sich Sheldon nach Rom gewandt, später nach Berlin und London, aber wohin er auch immer ging, Tommy Gavillan folgte ihm auf Schritt und Tritt - Tommy war seine rechte Hand und sein Schatten.
Doch eines schönen Morgens im Juni ereilte Tommy das Verhängnis in Gestalt von Chefinspektor MacNeill. Er saß gerade in seiner komfortablen Wohnung am Eton Square und grübelte angesichts der Startliste für das Derby über die Unergründlichkeit des Schicksals nach - es war übrigens das Jahr, in dem dieses klassische Rennen von Mitternachtssonne gewonnen wurde -, als sich die Tür auftat und der Polizeibeamte unverhofft eintrat. Ein Blick in das Gesicht des Schotten hatte ihm genügt.
»Ich komme ohne Widerstand mit«, sagte er.
MacNeill nickte nur.
»Das erwarte ich nicht anders, Tommy.«
Gavillan seufzte.
»Ist es wegen der Cheal’s-Bank-Affäre, Inspektor?«
Und MacNeill, der damals noch Inspektor war, bestätigte es.
»Stimmt auffallend. Wir suchen Sheldon. Wo steckt Drew?«
Gavillan grinste hintergründig.
»Nie von ihm gehört, Mac.«
Diese Antwort nahm MacNeill mit stoischer Ruhe auf, denn er hatte nicht mehr erhofft.
»Sehr schade. Sie werden sieben Jahre kriegen, Tommy.«
Gavillan nickte resigniert.
»Schon möglich - und ausgerechnet jetzt, wo ich den Derbysieger sozusagen in der Tasche habe. Ein hundertprozentig sicherer Tip von einem Mann, der sich nie irrt. Ich wollte einen anständigen Haufen Geld draufsetzen und mich dann vom Geschäft zurückziehen.« MacNeills Interesse erwachte sofort.
»Wie hieß denn diese vielversprechende Geldanlage?«
Tommy Gavillan war kein engherziger Mensch.
»Ich verrate Ihnen den Tip, Mac. Mitternachtssonne. Verwetten Sie getrost Ihr ganzes Gehalt auf das Pferd, und Sie können in den Ruhestand gehen und fortan ein sorgenloses Leben führen.«
Auf MacNeills breiten Zügen erschien ein Ausdruck, gemischt aus Zorn, Belustigung und stillem Mitleid.
»Sie sind nicht nur der zweitgrößte Spitzbube Englands, sondern obendrein auch noch verrückt, Gavillan. Ich weiß den Derbysieger bereits seit einem Monat, nämlich von Inspektor McLean, dessen Neffe beim Trainer Freemantle arbeitet.« Er beugte sich vor und flüsterte den Namen des Favoriten.
Tommy schüttelte geringschätzig den Kopf.
»Sie sind ein guter Polizeibeamter, aber ein schlechter Prophet«, bemerkte er. »Also schön, ich bin bereit, Mac. Ich hätte nur gern unterwegs einen Brief aufgegeben. Sie haben doch nichts dagegen?«
MacNeill blickte ihn misstrauisch an.
»An wen?«
»An meine Tochter«, erwiderte Gavillan, worauf der große Mann ein ziemlich verdutztes Gesicht machte.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine haben?«
»Das wissen wenige«, war Gavillans gleichmütige Antwort.
Später stellte sich die Richtigkeit seiner Vorhersage heraus, denn Mitternachtssonne gewann tatsächlich das Derby, und Richter Seebright von Kings Bench verurteilte Thomas O’Shea Gavillan zu fünf Jahren Gefängnis, wodurch Inspektor MacNeills Prophezeiungen in beiden Punkten widerlegt wurden.
Als die Verhandlung vorbei war und der Scotland-Yard-Beamte noch im Korridor mit einem Kollegen über eine bestimmte Frage der Beweisführung diskutierte, näherte sich ihnen ein Gerichtsdiener.
»Der Gefangene wünscht Sie zu sprechen, Sir.«
MacNeill war etwas überrascht.
»Gavillan?«
»Jawohl, Sfr, Es scheint ihm dringend daran gelegen zu sein.«
MacNeill stieg zu den Zellen unter dem ehrwürdigen Saal vom Old Baley hinab, in denen die Häftlinge auf ihren Abtransport zu warten pflegten, und traf dort Gavillan, der sich mit bewundernswerter Haltung in das unabänderliche Schicksal ergeben hatte.
»Fünf Jahre sind auch nicht die Welt, Inspektor«, meinte der Ire. »Ich kann nicht meckern, denn ich habe mich lange genug darum gedrückt. Von Rechts wegen hätte es mich schon vor einer ganzen Weile erwischen müssen.«
»Ja«, sagte MacNeill nur und wartete ab.
»Aber das war’s nicht, weshalb ich Sie sprechen wollte, Mac«, fuhr Gavillan nachdenklich fort und strich sich mit den gespreizten Fingern durch das ergrauende Haar. »Offen gestanden, ich mache mir Sorgen. Nein - nicht meinetwegen. Die fünf Jahre sitze ich auf der linken Backe ab. Es handelt sich vielmehr um das Mädchen.«
»Sie meinen Ihre Tochter? War das denn Ihr Ernst, Tommy? Ich hielt es für einen Scherz.«
»Bei ihr hört der Scherz für mich auf«, entgegnete Gavillan und sah eine Weile schweigend zu dem großen, ernsten Mann auf. »Mac - ich selbst habe keine gute Erziehung genossen und bin viel in der Welt herumgestoßen worden. Das Mädchen weiß nicht sehr viel über mich, und eines Tages werde ich ihr die Augen öffnen müssen, aber der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen, jetzt geht sie noch zur Schule - auf eins von diesen haarsträubend teuren Internaten, für die man blechen muss, bis man schwarz wird denn ich möchte, dass sie eine richtige Dame wird.«
»Und ihre Mutter?«
Gavillans Augen wurden schmal.
»Sie ist tot. Pat hat niemanden außer mir. Sie ist ein bildhübsches Kind und höllisch temperamentvoll: Vorläufig wird sie dieses Pensionat ja noch nicht verlassen, aber mir sind jetzt eine Zeitlang die Hände gebunden, und der Gedanke, dass irgendetwas passieren könnte, ist mir fürchterlich.« Er rieb sich die stark vorspringende Nase. »Sie wissen, was ich meine. Ich fürchte nicht für ihre Moral - nichts dieser Art sondern ich könnte mir vorstellen, dass sich der eine oder andere von den schweren Jungs an sie heranmacht, um von ihrem Aussehen ihrer Bildung und ihrem klugen Köpfchen zu profitieren. Deshalb hätte ich gern, wenn Sie sie im Auge behielten - wenn Sie sich hin und wieder mal um sie kümmern würden.«
Inspektor MacNeill wehrte beinah entsetzt ab.
»Aber Tommy, ich verstehe überhaupt nichts von Frauen - geschweige denn von so jungen Mädchen.«
»Das ist ja der Grund, weshalb ich Sie darum bitte«, erwiderte Gavillan verschmitzt. »Nicht, dass ich Ihnen damit eine Last aufbürden will, aber ich kenne die Menschen, und Sie sind der einzige, dem ich trauen würde.« Seine Stimme bekam plötzlich einen fast flehenden Ton. »Inspektor, ich will Ihnen auch etwas verraten, was ich vor Gericht nicht erwähnte, weil man mich sowieso nur ausgelacht hätte. Sie hatten großes Glück, als Sie mich verhafteten, denn das sollte mein letzter Coup sein. Ich bin Ihnen gegenüber ganz offen. Ich habe genug Geld verdient, dass ich bis an mein Lebensende damit auskomme - und obendrein ehrliches Geld.«
Inspektor MacNeill hütete sich zu lachen.
»Wie ging denn das zu?«
Der Ire zuckte mit den Schultern.
»Ich hatte Glück. Clive Rendell halste mir vor fünfundzwanzig Jahren einen Packen Ölaktien auf, die ich wohlweislich behielt und die sich jetzt für mich von ungeheurem Wert erwiesen, denn knapp vierzehn Tage, ehe Sie mich fassten, hat die Standard Oil sie mir abgekauft. Ich stehe glänzend da.« Er zog eine komische Grimasse. »Ja, so krumme Wege geht das Glück manchmal. Aber das ist, kurz gesagt, die ganze Geschichte. Wie denken Sie nun über Pat?«
In seinen blauen Augen lag eine so inständige Bitte, dass MacNeills Herz schmolz.
»Na gut, ich will tun, was mir möglich ist, Gavillan, aber viel kann ich nicht versprechen. Es ist eine zu ungewohnte Aufgabe für mich.«
»Das genügt mir vollauf«, antwortete Gavillan und streckte die Hand aus. »Sie haben doch nichts dagegen, Mac? Hier sieht uns ja keiner.«
»Verdammter alter Esel«, brummte MacNeill und packte die dargebotene Hand mit einem knochenquetschenden Griff.
Danach nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Tommy Gavillan wanderte nach Dartmoor, wo er sich als vorbildlicher Insasse führte, und MacNeill kehrte nach Scotland Yard zurück, wurde innerhalb der nächsten fünf Jahre zweimal befördert und war so stark in seinen täglichen Dienst eingespannt, dass ihm die Erfüllung seines Versprechens einigermaßen schwer fiel. Trotzdem nahm er sich ab und zu die Mühe und die Zeit, nach Hampshire zu Miss Dugdales Pensionat für junge Damen hinauszufahren, wo er höchst langweilige und anstrengende Stunden in Gesellschaft der Institutsleiterin und ihres Zöglings zubrachte, denn er war wirklich alles andere als ein Charmeur und Frauenheld.
Zweimal im Jahr besuchte er Gavillan in Dartmoor und berichtete ihm über die Fortschritte seines Schützlings, und als Pat achtzehn geworden war, brachte er bei ihrem Vater das Thema der Berufswahl zur Sprache, womit er bei diesem auf kluges Verständnis stieß.
»Ich bin sehr für ehrliche Arbeit. Das schützt sie vor Torheiten. Welche Art von Beruf würden Sie vorschlagen?«
MacNeill hatte sich darüber im Einzelnen noch keine Vorstellungen gemacht.
»Wie wär’s denn mit Lehrerin?«
»Lieber würde ich sie in Dartmoor landen sehen«, war Gavillans entsetzte Antwort. »Lehrtätigkeit ist ’ne bessere Art von Selbstmord, das kenne ich zu gut aus eigener Anschauung.«
»Und Krankenpflegerin?«
Gavillan erwog diese Möglichkeit.
»Das ließe sich eher überlegen - wenn auch die Arbeit ebenso hart und undankbar ist, vielleicht noch härter. Was meint denn Pat dazu?«
»Wir werden sehen«, sagte MacNeill, und drei Wochen später wurde Patricia Gavillan als Probeanwärterin dem Pflegepersonal des Wellwood-Krankenhauses eingereiht. Dort arbeitete sie auch noch, als Tommy Gavillan schließlich aus dem Gefängnis entlassen worden war und sie zum ersten Mal wiedersah. Zu seinem nicht geringen Erstaunen fand er das langbeinige, flachshaarige Schulmädel von ehedem in eine schlanke, wohlproportionierte junge Dame verwandelt, mit grauen kahlen Augen, einem sanft geschwungenen Mund und so ruhigem, selbstsicherem Auftreten, dass es ihm schier den Atem verschlug.
Kurz darauf, erwarb er ein Haus in dem Hampshiredorf Marks Malden, und Pat kam zu ihm, um zwischen ihren verschiedenen Pflegeaufgaben, zu denen sie abberufen wurde, bei ihm zu leben. Denn ihr Beruf bedeutete ihr nicht nur Pflicht, sondern darüber hinaus Erfüllung und Lebensinhalt, wie sie Tommy unumwunden erklärte, als er ihr nahelegte, sich mit Anstand zurückzuziehen und ein sorgloses, wenn nicht sogar luxuriöses Dasein zu genießen. Zuerst war er leicht schockiert über ihre seltsame Einstellung, aber später, als er sie besser kennenlernte, schlug diese anfängliche Skepsis in Stolz und Bewunderung um.
»Sie ist ein feiner Kerl«, brüstete er sich bei jeder Gelegenheit. »Wenn man bedenkt, dass sie ein Vermögen im Rücken hat und trotzdem auf die Dörfer zieht, um Babys und Bauersfrauen zu warten und was weiß ich noch alles - da kann man’s wieder mal sehen.« Was man dabei sehen konnte, erläuterte er nicht näher, aber es war ganz offensichtlich, dass Pat Gavillans Haltung auch auf ihren Vater abfärbte, denn kaum ein Jahr später zählte Tommy bereits zu den Mitgliedern des Kreisrates und schwang ungestraft Reden über Politik und Gemeinwohl.
In der Folgezeit kam er dann auch gelegentlich nach London, denn seine Finanzen waren jetzt gesichert und seine Absichten daher über jeden Verdacht erhaben. Wenn er ein Brillantkollier bei Marentette kaufte, legte er dafür einen Scheck auf den Tisch, der sofort und ohne irgendwelche Bedenken angenommen wurde. Hin und wieder traf er dabei mit Chefinspektor MacNeill eine Verabredung in seinem Lieblingsrestaurant Maldano, wo sie gemütlich miteinander speisten, ein andermal fuhr der große Schotte auf einen Abend nach Hampshire hinaus und blieb sogar, wenn die Arbeit nicht drängte, über das Wochenende draußen auf. dem Lande. Bei diesen Besuchen übte der Gastgeber seine ganze Anziehungskraft aus, und dies umso mehr, als er auch zugleich über gewisse Kenntnisse verfügte, die die gesetzwidrigen Machenschaften des ,Kleinen Korporals« betrafen, jenes berüchtigten Verbrechers, der zum selben Zeitpunkt nicht nur die Köpfe von Scotland Yard, sondern auch die Polizeibehörden von Berlin und Rom sowie die Herren von der Pariser Sûreté beschäftigte.
Chefinspektor MacNeill vertrat darin zwar seine eigene Theorie, was ihn aber nicht hinderte, sich außerordentlich für Gavillan zu interessieren, denn Tommy stand mit den meisten der großen internationalen Gangster auf freundschaftlichem Fuß - obwohl denen seine neuerliche Wandlung nicht ganz geheuer erscheinen mochte. Sie verdächtigten ihn trotzdem niemals unlauterer Motive, wie auch er ihnen im umgekehrten Fall rückhaltlos vertraute und weiterhin frei und ungeniert mit ihnen verkehrte, selbst unter den Augen der Polizei, die ihn deswegen ebenso wenig mit scheelen Augen ansah oder sich darüber Gedanken machte, ob sich da möglicherweise etwas zusammenbraute.
Dagegen wurmte dies alles verständlicherweise Inspektor Grimm, den die Erfahrungen übertrieben pessimistisch gemacht hatten, in hohem Maße.
»Denken Sie an meine Worte«, warnte er Chefinspektor MacNeill wiederholt mit finsterer Miene. »Das wird nicht lange dauern. Eines Tages erleben Sie mit Gavillan eine Riesenenttäuschung.«
Und fast schien es, als sollte er mit seiner Prophezeiung recht behalten. Denn eines Morgens, Anfang Dezember, als der Regen mit trübem Geplätscher an den Fensterscheiben von Scotland Yard herabrieselte und Chefinspektor MacNeill rauchend vor dem freundlich flackernden Feuer einen Rapport studierte, klopfte es an die Tür, und Inspektor Grimm trat mit triumphierendem Blick ein, in der Hand eine zusammengefaltete Zeitung.
MacNeill sah ihm ohne große Begeisterung entgegen.
»Na, Grimm, um diese Stunde bekommen wir Sie sonst selten zu Gesicht.«
Grimm verzog den Mund zu einem breiten Lächeln.
»Zeitung heute schon gelesen?«
»Noch nicht«, gab MacNeill zu. »Irgendetwas von Interesse?« Inspektor Grimms Grinsen wurde noch breiter.
»Das will ich meinen, Mr. MacNeill.« Er legte das Blatt auf den Schreibtisch und deutete mit spitzem Zeigefinger auf eine Spalte. »Gucken Sie sich das mal an.« Seine Stimme war voller Genugtuung. »Ich habe ja immer gesagt...«
MacNeill gähnte.
»Es wäre außergewöhnlich, wenn Sie mal nichts sagten«, gab er zurück. Er nahm die Zeitung auf, überflog sie mit interessiertem Blick und stutzte plötzlich, denn eine fettgedruckte schwarze Überschrift sprang ihm förmlich in die Augen.
Gavillan unter dem Verdacht der Falschmünzerei verhaftet Schneller Zugriff der örtlichen Polizeibehörde
MacNeill hob den Kopf.
»Verflucht!«, stieß er hervor.
Grimms fletschendes Lächeln war nicht zu übersehen.
»Ich habe Sie gewarnt, MacNeill, wohl hundertmal. Hätten Sie nur auf mich gehört. Die Katze lässt eben das Mausen nicht.«
MacNeills Augen waren in die weite Ferne gerichtet, aber in ihnen tanzte ein verteufelter Funke. Plötzlich schlug er krachend mit der Hand auf die Tischplatte.
»Irgendwo hat die Sache einen Haken«, stellte er verbissen fest.
»Ein sehr merkwürdiger Schachzug, und er bedeutet etwas. Ich bin gespannt, was Tommy dazu zu sagen hat.«
Um Grimms Lippen zuckte es gereizt. Rätsel waren ihm ein Greuel. »Eine üble Geschichte, MacNeill. Aber ich habe von Anfang an gewusst, dass das ein unrühmliches Ende nehmen würde. Die Katze...« In den Augen des Chefinspektors blitzte es auf.
»Sie haben völlig recht, Grimm, und ich hörte es bereits vorhin von Ihnen. Die Katze lässt das Mausen nicht. Eine Binsenwahrheit. Aber Falschmünzerei war noch niemals Tommy Gavillans Gebiet und das bedeutet, dass irgendetwas dabei nicht stimmt, wie ich gleich vermutete. Es sollte mich doch wundern. Tommy hat zwar nicht viele Feinde, dafür aber einen ganz besonders heftigen.«
Inspektor Grimm begann die Neugier zu plagen.
»Wer ist das?«
MacNeill faltete die Zeitung wieder zusammen und gab sie ihm zurück.
»Wer ist gegenwärtig der berüchtigtste Verbrecher?«, fragte er sanft. Grimm überlegte.
»Silas Lyne?«, meinte er zögernd.
MacNeill schüttelte den Kopf.
»Nein. Lyne ist ein schwerer Junge, das gebe ich zu, aber der Mann, den ich im Sinn habe, übertrifft sogar noch Silas Lyne. Ich meine den Kleinen Korporal!«
Zweites Kapitel
»Den Kleinen Korporal!«
Inspektor Grimm musste diese Eröffnung erst einige Sekunden in sich verarbeiten, aber auch dann konnte er MacNeill beim besten Willen nicht widersprechen, denn das polizeiliche Leumundszeugnis dieses Verbrechers war in der Tat schreckenerregend.
»Vielleicht haben Sie recht. Aber was hat das alles mit Gavillan zu tun?«
Chefinspektor MacNeill gab darauf keine Antwort, sondern erhob sich ziemlich unvermittelt.
»Ich danke Ihnen, dass Sie mir diese Neuigkeit mitteilten, Grimm, und werde mich um die Sache kümmern. Wie ich hieraus ersehe, ist die Festnahme durch die zuständige Polizei in Hampshire erfolgt. Nun, darüber will ich mich gleich mal näher informieren.« Sofort, nachdem Grimm gegangen war, ließ er sich mit Winchester verbinden und hatte Glück, denn er bekam zufällig den Beamten zu sprechen, der den Fall bearbeitete.
Inspektor Bryde gab ihm kurz und sachlich Auskunft.
»Ja, wir verhafteten ihn gestern Abend«, sagte er. »Wider Erwarten setzte er sich gar nicht zur Wehr, sondern kam ruhig mit.«
»Das tut Tommy immer. War er sehr überrascht?«
Bryde lachte.
»Er fiel aus allen Wolken.«
»So? Was sagte er denn?«
Der Inspektor zögerte mit der Antwort.
»Er sagte, er sei nicht darauf gefasst gewesen«, ließ er sich schließlich vernehmen, »aber das sind diese Burschen ja nie. Einesteils tat er mir ein bisschen leid, denn er besitzt hier im Distrikt einen einwandfreien Ruf. Die Leute mögen ihn gern - und ich ihn eigentlich auch.«
»Haben Sie Beweise?«
»Ja. Wir stellten die Platten für die belgischen Francnoten sicher - sie waren in seinem Safe. Ich wundere mich dass er sie bei sich aufbewahrte, das Zeug ist doch zu gefährlich. Wir fanden sie genau da, wo wir sie suchten.«
»Bekamen Sie von irgendjemandem einen Wink?«, fragte MacNeill. Bryde gab es offen zu.
»Wir wären sonst nie auf den Gedanken verfallen, einen Mann wie Gavillan zu verdächtigen, da Falschmünzerei bisher nie seine Sache war. Allerdings wussten wir, dass die Bande, die diese Scheine herstellte, hier in der Gegend sitzen musste, in Hants oder Sussex, und die belgische Polizei besaß die gleiche Information. Es war uns seit über einem Jahr bekannt, dass sie von hier aus operierten.«
»Erhielten Sie den Tip telefonisch?«
Der Inspektor senkte vertraulich die Stimme.
»Unter uns gesagt: ja. Das Merkwürdige daran war, dass diese Frau bei mir in der Wohnung anrief und nicht auf dem Revier, was nicht häufig vorkommt.«
»Eine Frau?« MacNeill horchte interessiert auf.
»Ja. Ich wusste auch zuerst nicht, was ich davon halten sollte. Sie sagte mir, falls ich den Mann fassen wollte, der die belgischen Francnoten herstellte, müsste ich sofort nach Marks Malden gehen. Die Platten befänden sich irgendwo im Haus, und Gavillan bewahrte sie dort schon eine ganze Weile auf, wäre aber im Begriff, sie schnellstens abzustoßen.«
»Den Safe erwähnte sie nicht?«
»Nein. Sie drückte sich überhaupt nicht genau aus, nur, das Zeug sei im Haus. Dann hängte sie gleich wieder auf, und ich hatte keine Zelt mehr, sie zu fragen.«
»Haben Sie dem Anruf nachgeforscht?«
»Der kam von einer öffentlichen Telefonzelle am Bahnhof, die tagtäglich von Hunderten benutzt wird. Völlig hoffnungslos.«
»Darauf gingen Sie also nach Marks Malden?«
Bryde hustete.
»Nicht sofort, Sir. Ich unterrichtete zunächst meinen Vorgesetzten davon, und er entschied, dass wir den Oberwachtmeister zuziehen müssten, denn solche geheimnisvollen Anrufe erweisen sich zu oft als unzuverlässig, und wir wollten hier unnötige Scherereien vermeiden. Wenn Gavillan nicht vorbestraft wäre, hätten wir der Anzeige wahrscheinlich überhaupt keine Beachtung geschenkt. Unter diesen Umständen allerdings...« Er ließ den Satz in der Luft hängen und fuhr nach einer kleinen Pause fort: »So nahm ich mir schließlich zwei Leute mit und zog los. Wir fanden die Platten tatsächlich - sehr schön versteckt im Safe unter allem möglichen anderen Zeug. Außerdem entdeckten wir noch einen ganzen Stapel neuer Geldscheine in einer Art Vase. Gavillan blieb nicht die geringste Chance, sich herauszureden.«
»Ich verstehe«, erwiderte MacNeill. Er dankte dem Mann und legte den Hörer auf. Lange Zeit saß er vor seinem Schreibtisch, in Grübeleien versunken. Hier gab es zweifellos eine schwierige Aufgabe zu lösen. Tommy Gavillan war kein Fälscher, und auch Inspektor Bryde schien nicht allzu glücklich über diesen Erfolg zu sein. Fest stand jedenfalls, dass Tommy auf eine sehr wirkungsvolle Art und Weise schachmatt gesetzt worden war, denn mit seiner Vorstrafenliste und derartig eindeutigen Beweisen gegen ihn würde er schnurstracks nach Dartmoor zurückwandern. Während MacNeill noch darüber nachdachte, klingelte das Telefon, und Pat Gavillans kühle, beherrschte Stimme drang so nah und deutlich an sein Ohr, als ob sie selbst vor ihm stünde.
»Onkel Mac, haben Sie es schon gehört?«
»Diese Minute«, antwortete er.
»Daddy weiß überhaupt nichts davon«, erklärte sie ziemlich aufgebracht. »Er rief mich heute Morgen an und erzählte es mir.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Hat er Sie schon verständigt?«
»Noch nicht«, erwiderte MacNeill vorsichtig.
»Werden Sie zu uns kommen?«, fragte sie.
Er überlegte.
»Ich habe im Moment nicht viel zu tun, vielleicht kann ich es einrichten. Dann treffe ich mit dem Nachmittagszug ein. Sagen Sie Tommy, er soll mich in Winchester erwarten.«
Es war aber nicht Tommy, sondern Pat Gavillan selbst, die ihn in Winchester mit dem kleinen zweisitzigen Sportwagen abholte, der für kurze Besorgungsfahrten in die Stadt benutzt wurde. Sie empfing ihn mit ernster, besorgter Miene.
»Wie beruhigend, Sie zu sehen«, sagte sie und nahm ihn beim Arm, um ihn zum Bahnhofsausgang zu führen. »Ich habe den Wagen draußen. Eigentlich wollte Daddy kommen, aber Mr. Drake, unser Londoner Rechtsanwalt, ist gerade zu einer Besprechung bei ihm.«
»Drake«, wiederholte MacNeill sinnend. »Doch nicht Enoch Drake von Hillwood, Drake und Braburn?«
Pat bestätigte, dass es sich um eben diesen Drake handelte.
»Ein großer Mann mit einer Glatze und sehr scharfen blauen Augen.«
»Ihre Beschreibung könnte nicht treffender sein«, bemerkte der Chefinspektor, und sein trockener Ton veranlasste sie, sich zu ihm umzuwenden.
»Sie können ihn nicht leiden?«
MacNeill hielt ihr die Wagentür auf.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Wäre auch überflüssig gewesen. Ich merkte es sofort.«
Er lachte väterlich anerkennend.
»Sie sind ein kluges Mädchen, Pat, aber trotzdem haben Sie unrecht. Ich kenne Drake zwar ganz gut, aber weder mag ich ihn besonders gern, noch ist er mir unsympathisch. Er hat mir schon einige Male schwer zu schaffen gemacht.« Er lächelte in Erinnerung daran. »Aber das spielt ja im Augenblick keine Rolle, jetzt ist er gerade bei Tommy, sagten Sie?«
»Er war da, als ich fortging«, erwiderte das Mädchen. Sie schilderte während der Fahrt nach Marks Malden dem belustigt lauschenden MacNeill das unerhörte Benehmen der Polizei von Hants und bemühte sich, sein Mitgefühl zu erwecken.
»Das Ganze war eine üble Finte, dessen bin ich sicher, Onkel Mac. Ich wollte, Sie hätten den Mann gesehen, der Daddy verhaftete. Bryde war sein Name. Ein grässlicher Mensch mit einem abscheulichen schwarzen Schnurrbart obendrein. Meiner Meinung nach legten sie alles, was sie fanden, selbst erst in den Safe hinein. Ich mache mir darüber so meine eigenen Gedanken.« Sie entwickelte ihm im Einzelnen ihre Auffassung, die für die redlichen Absichten Inspektor Brydes und seiner Kollegen alles andere als schmeichelhaft waren.
MacNeill amüsierte sich im Stillen.
»Ich glaube, Sie sollten so etwas nicht behaupten, Pat. Ich habe selbst mit Bryde telefoniert, und er zeigte sich sehr entgegenkommend.«
»So?«
»Er sagte einiges, was mich nachdenklich stimmte«, bemerkte MacNeill kurz und sprach nicht mehr, bis sie das Dorf Marks Malden erreichten. Es lag in einer Talsenke, auf beiden Seiten von Kiefernwäldern eingerahmt, die sich die Berghänge hinauf erstreckten. Am Anfang der Ortschaft ragten zur Linken die grauen Türme des alten Herrensitzes Malden Court hervor und verschwanden allmählich zwischen den Bäumen.
Das Mädchen blickte zu ihm auf.
»Billys Haus«, sagte sie.
Er stutzte nur eine Sekunde.
»Oh - Sie meinen Mr. Mandell.«
»Ja. Er war heute Morgen gleich bei uns, weil er über Daddy in der Zeitung gelesen hatte, und wäre am liebsten sofort mit einer Reitpeitsche nach London gerannt, um sich den Redakteur des Monitor Dispatch vorzuknöpfen. Billy ist immer gleich so heftig.«
MacNeill war Bill Mandell bereits ein- oder zweimal begegnet und erinnerte sich an ihn als an einen stämmigen blonden jungen Mann, der gern hinter der Meute ritt und zu Jagdtreffen in einem riesigen, chromblitzenden Rolls Royce erschien. Ein lustiger Bursche von sympathischer Hässlichkeit. Dass er mit den Gavillans nachbarlich verkehrte, wusste er sehr gut - aber dass sein Hauptinteresse dabei nicht dem gastfreundlichen Tommy, sondern vielmehr der höchst attraktiven Pat galt, war für ihn mehr als nur eine heimliche Vermutung. Das Mädchen lenkte den Wagen behutsam durch eine Kurve.
»Billy ist ein lieber Kerl. Ich wünschte nur, er wäre etwas geschickter. Er sagt und tut die unbedachtesten Dinge.«
Der Polizeibeamte schmunzelte.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie so viel Wert auf Bedachtsamkeit legen.«
»Das nicht, aber Sie hob die Hand, und MacNeill, der ihrer Bewegung mit dem Blick folgte, sah rechts auf der obersten Sprosse eines Gatters einen Mann sitzen, der eine schäbige Tweedjoppe und einen alten, abgetragenen Jägerhut trug und grüßend zurückwinkte, als sie an ihm vorüberbrausten.
Pat nahm die nächste Biegung.
»Das ist Peter Spain. Er wohnt im Heidehaus und kommt dauernd zu uns, um Daddy zu besuchen. Möchte wissen, ob er die Neuigkeit schon gehört hat.«
Ihr Ton amüsierte MacNeill. Er zwinkerte ihr zu.
»Sie mögen ihn wohl nicht?«
Sie lachte laut auf.
»Da haben Sie allerdings recht.«
»Was haben Sie gegen ihn?«
Sie schien nach einer Antwort zu suchen.
»Er katzbuckelt mir zu viel. Ich glaube, das ist es. Jedenfalls hat er irgendetwas Undurchsichtiges, ein Wort, das ich gar nicht schätze, aber es passt haargenau auf ihn. Daddy ist nicht derselben Meinung, er mag ihn gut leiden. Aber mir persönlich ist er einfach unsympathisch, ich kann mir nicht helfen. Vielleicht nur Einbildung, ich weiß es nicht.« Sie gelangten an einen kleinen Fluss, dessen Wasser durch die Regenfälle der letzten Monate stark angeschwollen waren, und überquerten die Brücke. Links davon zweigte ein Weg ab, der in eine Allee mündete. Pat schwieg eine Weile, aber es war ihr leicht anzusehen, dass Peter Spain weiterhin ihre Gedanken beschäftigte.
»Er hat irgendetwas Merkwürdiges ah sich, finde ich immer. Und außerdem mag er Billy nicht.«
MacNeill zeigte höfliches Interesse.
»Woher, um alles in der Welt, wollen Sie das wissen?«
»Billy erzählte es mir.«
Der große Mann lachte herzhaft.
»Jetzt behaupten Sie nur noch, dass die beiden sich Ihretwegen streiten, Pat.«
Sie wehrte leicht gekränkt ab.
»I wo! Sie gerieten wegen eines Fuchses aneinander, den Spain schoss. Er drohte sogar, es wieder zu tun, worauf Billy ihn beschimpfte und sagte, er würde ihn in die Ede werfen. Daddy lachte nur darüber und ergriff Spains Partei.«
Noch während sie sprach, kam Chyme Close in Sicht, ein mittelgroßes Landhaus mit freundlichen roten Klinkermauern. Dem Stil nach war es zur Zeit der Queen Anne erbaut, später jedoch durch die jeweiligen Besitzer nach und nach ergänzt und erweitert worden. Efeu und wilder Wein bedeckten die Mauervorsprünge und Nischen, im Sommer rankte Klematis über die ganze Vorderfront und kletterte bis über das Dach der mit Stuck eingefassten kleinen Eingangspforte. Sogar jetzt, in der trübseligen, feuchtkalten Dezemberwitterung wirkte es einladend und anheimelnd. Lichter blinzelten in den vielgeteilten Fensterscheiben, und ihr rosiger Schein, der weit über den Rasen tanzte, ließ im Inneren der Halle ein mächtiges, wärmendes Kaminfeuer vermuten.
Pat hielt vor dem Eingang.
»Ich lasse den Wagen hier, Onkel Mac, denn wir werden ihn später wieder brauchen. Ob Mr. Drake schon fort ist?«
»Sein Wagen steht noch da«, bemerkte MacNeill.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, er ist mit dem Zug gekommen, und Flett holte ihn ab. Aber wir wollen hineingehen und uns selbst überzeugen. Ich glaube nicht...« Sie brach plötzlich ab, und MacNeill schaute sie fragend an.
»Was haben Sie?«
Sie starrte an ihm vorbei auf die dunkle Baumreihe, und er folgte mit dem Blick der Richtung ihres ausgestreckten Fingers. Auch ihm war es, als bewegte sich ein Schatten zwischen den Stämmen, der aber gleich darauf wieder im dichten Gehölz verschwand.
»Peter Spain!«, rief sie verblüfft aus.
Chefinspektor MacNeill rieb sich zweifelnd das Kinn. Es war mittlerweile völlig dunkel geworden, und im ungewissen Licht hatte er nur flüchtig etwas erkennen können, doch überkam ihn das unbehagliche Gefühl, dass sie sich mit ihrer Wahrnehmung nicht geirrt hatte, und dass der interessierte Beobachter kein anderer gewesen war als der Mann, der sie soeben von seinem erhöhten Platz auf dem Gatter aus hatte ankommen sehen.
Drittes Kapitel
»Spain!«
Nur einen Moment lang stand MacNeill und sah sie verblüfft an, dann schwang er sich auf dem Absatz herum und überquerte mit energischen Schritten den nässen Rasen. Er hatte schon den Saum des Wäldchens erreicht, als er dicht neben sich wieder ihre Stimme vernahm.
»Wo ist er hin?«
MacNeill antwortete nicht. Eilig kletterte er die kleine Böschung hinauf und bog die Zweige auseinander. Ein Schauer von Regentropfen prasselte auf ihn herab. Zu sehen war kaum etwas, denn unmittelbar hinter den ersten Bäumen begann das dunkle, unübersichtliche Gewirr des Unterholzes. Vor sich erkannte er die hellere Linie eines Pfades, aber kein Laut verriet die verdächtige Gegenwart eines Menschen. Er kehrte unverrichteter Dinge wieder zu Pat zurück.
»Dort ist niemand.«
Sie blickte ihn skeptisch an.
»Aber Sie sahen ihn doch auch. Es war Spain.«
Er runzelte die Stirn.
»Wirklich? Ich möchte es nicht beschwören.« Er überlegte einen Augenblick. »Die Stelle an jenem Gatter war doch ein ordentliches Stück von hier entfernt. Wie sollte er uns so rasch eingeholt haben?«
»Es gibt einen Fußgängersteg über die Ede«, antwortete sie, »und von da einen schmalen Pfad, der hierherführt. Auf dieser Abkürzung könnte er uns leicht zuvorgekommen sein. Ich benutze sie selbst oft.« Ihre kühlen grauen Augen blickten zornig. »Das ist es eben, was ich mit undurchsichtig bezeichnete. Ich habe ihn nicht das erstemal hier herumschleichen sehen, und es scheint mir höchst seltsam. Was meinen Sie, was wir tun sollten?«
MacNeill lachte grimmig.
»Am besten gar nichts. Was bleibt uns anderes übrig? Ich habe ihn nicht gesehen, und Sie können auch nicht die Hand dafür ins Feuer legen. Auf jeden Fall könnten wir keinen Anstoß daran nehmen, wenn er uns tatsächlich vom Wald aus beobachtet haben sollte.« Damit schlug er die Richtung zum Haus ein.
Pat passte sich seinem Schritt an.
»Ich finde es sonderbar. Wenn ich nur eine Erklärung dafür hätte. Er ist übrigens erst seit einigen Monaten hier - fünf oder sechs Monate, glaube ich.«
MacNeill stieß die schwere Haustür auf, ließ Pat an sich Vorbeigehen, und sie betraten miteinander die freundliche, geräumige Halle, in deren Kamin ein Feuer aus dicken Buchenscheiten loderte, die einen angenehmen, aromatischen Duft verbreiteten. Das Mädchen ging auf die gegenüberliegende Tür der Bibliothek zu und öffnete sie.
»Daddy, hier ist Onkel Mac.«
Tommy Gavillan war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann von kräftiger, untersetzter Figur und unverwüstlichem Optimismus, der, wie sein fröhliches Lachen zeigte, ihn selbst in diesem kritischen Augenblick nicht verlassen hatte. Mit ausgestreckter Hand kam er auf seinen Gast zu.
»Kommen Sie rein, Mac, Sie machen mich glücklich mit Ihrem Besuch. Legen Sie Ihren Mantel ab und trinken Sie einen Schluck. Mr. Drake ist Ihnen wohl bekannt?«
Enoch Drake, der in einem der tiefen Ledersessel verborgen saß, reckte sich bei diesen Worten wie eine magere Krähe daraus empor.
»Chefinspektor MacNeill, natürlich. Wir kennen uns, wir kennen uns. Aber dies ist das erstemal, dass wir uns als Kollegen treffen.« Er hatte die störende Angewohnheit, unwichtige Redensarten zu wiederholen. Jetzt bedachte er MacNeill mit einem kargen Lächeln. »Für gewöhnlich sind unsere Unterhaltungen etwas - äh - zugespitzt. Ich habe oft versucht, Mr. MacNeills Beweisführung zu erschüttern, doch kaum jemals mit Erfolg - kaum jemals mit Erfolg.«
»Das stimmt«, pflichtete der Scotland-Yard-Beamte bei und schälte sich aus seinem Mantel. Pat hatte sich unbemerkt wieder entfernt.
Tommy Gavillan drückte auf einen Klingelknopf und griff nach der Wasserkaraffe.
»Machen Sie sich’s gemütlich. Drake ist gerade im Begriff, sich zu verabschieden, denn er muss den Abendzug erreichen, und Flett fährt ihn zum Bahnhof.«
MacNeill setzte sich und streckte die Beine aus.
»Gießen Sie bloß kein Wasser zu, Gavillan, das verträgt mein Magen nicht. Ich halte überhaupt nichts von inneren Brausebädern. Auf Ihre Gesundheit!«
Gavillan schenkte sich selbst ein Glas Whisky ein.
»Über meine Gesundheit kann ich nicht klagen.« Er fing den fragenden Blick MacNeills auf und fügte erklärend hinzu: »Mr. Drake rührt keinen Tropfen an.«
Der Chefinspektor war sichtlich betroffen.
»Sie als Rechtsanwalt, das wundert mich, Mr. Drake. Hat es Ihnen der Arzt verboten?«
Der Ältere schüttelte den Kopf.
»Ich habe sehr mäßige Gewohnheiten, Mr. MacNeill, und starke Getränke sagen mir nicht zu. Zu off muss ich die verheerenden Folgen des Alkohols mit ansehen - Elend, Verbrechen, Armut und Schande. Trunksucht ist ein verhängnisvolles Übel.« Er ging zu seiner Schweinsledermappe, die auf dem Schreibtisch lag, klappte sie auf und schob ein Bündel Papiere hinein. Gavillan folgte diesen Aufbruchsvorbereitungen mit aufmerksamen Augen.
»Ich höre also von Ihnen, Drake?«
»Morgen«, antwortete der Rechtsanwalt. »Ich will erst noch ein Wort mit Braburn reden, der ist in diesen Dingen sehr beschlagen. Eine hässliche Geschichte, sehr hässlich, darüber möchte ich Sie nicht hinwegtäuschen, Gavillan, denn das wäre eine schlechte Taktik - äh - schlechte Taktik. Es gäbe ein böses Erwachen.«
Gavillan zog eine säuerliche Grimasse.
»Sie haben eine aufmunternde Art«, sagte er mit Galgenhumor. »Also gut, Drake, dann bis auf weiteres. Ich weiß, Sie werden Ihr Bestes tun.« Während er noch sprach, hatte sich die Tür geöffnet, und ein kleiner, rundlicher Mann erschien auf der Schwelle. Es war der Chauffeur Sam Flett.
»Alles bereit, Sir, der Wagen wartet.«
Gavillan wandte sich um.
»Da ist ja Flett schon«, bemerkte er überflüssigerweise. »Auf Wiedersehen, Drake. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung.«
»Tun Sie das«, erwiderte Drake grimmig und verabschiedete sich mit einem leichten Nicken, das sowohl Gavillan als auch MacNeill galt.
Tommy schaute ihm nach.
»Das ist ein gewitzter Bursche, Mac. Mit allen Hunden gehetzt. Zwar Humor wie ein Leichenbitter, aber ein ausgezeichneter Anwalt. Seine Erfolge beweisen es.«
MacNeill nickte.
»Ja, ein guter Verteidiger«, bestätigte er in trockenem Ton. »Sogar einer der besten, und in jedem Fall ist es angenehmer, ihn für sich als gegen sich zu haben. Wie sind Sie an ihn geraten?«
»Spain empfahl ihn mir«, sagte er mit gefurchter Stirn. »Übrigens ein äußerst fähiger junger Mann. Kommt oft hierher. Aber ich hatte schon vorher von ihm gehört.« Er schenkte seinem Gast ein und ließ sich in den Sessel fallen, in dem der Rechtsanwalt gesessen hatte. Eine Weite sprach keiner von beiden ein Wort.
»Sie fragen mich gar nichts, Mac«, begann Gavillan schließlich. MacNeill musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick.
»Nein, das tue ich nicht.«
»Wie erfuhren Sie davon?«
»Von einem unserer Inspektoren.«
Gavillans Gesicht blieb unbeweglich.
»Man hat mich reingelegt«, sagte er ruhig.
Der Polizeibeamte nickte.
»Ich dachte es mir beinah. Wer war es?«
Der Ire hob den Kopf und sah ihm offen in die Augen.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen diese Frage mit einiger Gewissheit beantworten.«
MacNeill trank sein Glas aus.
»Sie denken natürlich an den Kleinen Korporal«, meinte er nachsichtig freundlich. »Und eines Tages werde ich Ihnen auch diese Geschichte aus der Nase ziehen, Gavillan.«