Die Bestie von Juist - Dieter Ebels - E-Book

Die Bestie von Juist E-Book

Dieter Ebels

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Beschreibung

Eigentlich möchte Hauptkommissar Günter Wagner nur seinen wohlverdienten Urlaub auf Juist verbringen. Dann wird auf der Insel eine bestialisch ermordete Frau gefunden. Nach dem Fund eines weiteren Mordopfers greift Wagner in die Ermittlungen ein. Als der Mörder, ein hochintelligenter Psychopath, davon erfährt, treibt er ein grausames Spiel mit dem Kommissar.

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Die Bestie von Juist

„Mama, ich muss ganz dringend Pipi.“

„Warum musstest du auch so viel trinken? Oben auf der Deichpromenade sind Toiletten. Da kommen wir gleich vorbei.“

„Ich muss aber jetzt.“

Die sechsjährige Stine und ihre Mutter hatten die Wilhelmshöhe hinter sich gelassen und befanden sich nun auf dem Weg zum Dorf Juist. Der schmale, gepflasterte Pfad durch den sandigen, von sanften Hügeln geprägten Inselteil führte sie vorbei an einem Meer aus Heckenrosen und dicht gewachsenen Holunderbüschen.

„Warum bist du nicht in der Gaststätte noch mal auf die Toilette gegangen?“

Stine blickte kurz zu ihrer Mutter auf und warf dabei ihren langen, blondgelockten Haare in den Nacken.

„Da musste ich noch nicht.“

„Dann lass´ uns etwas schneller gehen. Der geplante Abstecher zu den Goldfischteichen fällt dann eben aus.“

Die junge Frau und das Mädchen beschleunigten ihre Schritte.

„Mama, ich halt `s nicht mehr aus. Ich mach mir gleich in die Hose.“

Stines Mutter deutete nach vorne. Dort lichtete sich das dichte Buschwerk und gab eine Grasfläche frei. „Da vorne führt ein Pfad vom Hauptweg ab. Da kannst du Pipi machen.“

„Aber Mama, da kann mich doch jeder sehen.“

„Hier ist aber niemand, der dich sehen kann.“

„Und wenn jemand kommt?“

„Dann gehst du eben etwas weiter in den Pfad hinein. Der Weg führt zu den Sträuchern dort.“ Stines Mutter deutete auf die dicht gewachsenen Sanddornbüsche, zwischen denen der schmale Pfad verschwand. „Hinter den Büschen sieht dich kein Mensch.“

Die beiden erreichten den sandigen Pfad, der sich durch das kniehohe Gras auf die Sanddornbüsche zuschlängelte.

„Dann mach mal zu, Stine. Ich warte hier auf dich.“

Stine zögerte und starrte zu der engen Schneise, die nach einigen Metern einen Knick nach rechts vollzog und dort im uneinsehbaren Dickicht verschwand. Das Mädchen zappelte nervös herum, stampfte von einem Bein auf das andere.

„Was ist denn jetzt schon wieder los, Stine? Warum geht du nicht?“

„Vielleicht sitzen da Spinnen an den Büschen, Mama. Ich hab doch Angst vor Spinnen.“

„Da gibt es keine Spinnen. Jetzt beeil dich, sonst machst du dir doch noch in die Hose.“

Mit vorsichtigen Schritten betrat Stine den schmalen Pfad.

Dann folgte sie dem Rechtsknick, der in das dichte Gestrüpp hineinführte.

Ihre Mutter verlor sie aus den Augen. Sie lächelte und dachte daran, dass ihre Tochter sich eigentlich niemals schämte. Nur wenn sie auf die Toilette musste, dann durfte sie niemand sehen, dann schickte Stine seit einiger Zeit selbst ihre eigene Mama aus dem Bad.

Die junge Frau blickte sich um. Dass nirgendwo auch nur ein Mensch zu sehen war, kam ihr recht, denn irgendwie hätte es doch blöd ausgesehen, wenn sie als junge Frau alleine in dieser Wildnis stand.

Ihr Blick ging zum wolkenverhangenen Himmel. Bereits seit den Morgenstunden sah es so aus, als würden die bedrohlich dunklen Wolken jeden Moment ihre schwere Last abwerfen. Bisher war aber noch kein einziger Regentropfen gefallen.

Um sie herum herrschte eine beruhigende Stille. Selbst der sonst so frische Seewind, der kontinuierlich über die Insel rauschte, blies heute sanft und leise über die seichte Dünenlandschaft. In der Ferne, irgendwo in den Büschen versteckt, saß ein Buchfink und trällerte beharrlich seine wunderschöne Melodie.

Sie schloss für einen Moment die Augen und zog die würzige Seeluft tief in ihre Nase.

Es war genau die richtige Entscheidung, hier auf Juist den Urlaub zu verbringen, ging es ihr durch den Kopf. Alles ist so friedlich und still.

Plötzlich durchbrach ein greller Schrei die Stille. Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen.

Es war Stines Stimme.

Ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern hastete die Frau in den Pfad hinein.

Erneut drang ein alles durchdringender Schrei in ihre Ohren. Der Schrei ihrer Tochter wurde zu einem schrillen Gekreische, welches laut über die Insel hallte, ein angsterfülltes Kreischen, welches Ihr durch Mark und Bein ging.

„Stine!“, brüllte sie. „Stine, ich komme!“ In ihrer Stimme schwang Angst und Panik.

Bereits nach wenigen Schritten kam ihr Stine mit halb heruntergezogener Hose entgegen gestolpert. Das Gesicht des Mädchens wirkte verzerrt.

„Was ist passiert, Stine?“

Ihre Tochter antwortete nicht. Als sie die Mutter erreichte, klammerte sie sich an ihr fest. Stine weinte bitterlich. Das sechsjährige Mädchen zitterte am ganzen Körper.

„Stine, was um alles in der Welt ist passiert?“

Es dauerte noch einen Moment, bis ihre schluchzende Tochter mit zitternder Hand in die Richtung deutete, aus der sie gerade gekommen war.

„Was ist denn da, Stine?“ Sie versuchte, etwas zu erkennen, doch egal, was ihre Tochter in eine solche Panik versetzt hatte, sie konnte es nicht wahrnehmen.

„Wir gehen jetzt erst einmal zurück auf den Weg.“ Ihre Stimme klang betont ruhig. „Dann erzählst du mir, was dich so erschreckt hat.“

Sie nahm ihre Tochter an die Hand und führte sie zurück.

„Also, Stine“, forderte sie ihre Tochter auf, als die beiden wieder auf dem befestigten Weg standen, „jetzt erzähl mir mal, was dich so erschreckt hat. Was hast du gesehen?“

Sie ging vor Stine in die Hocke und fasste sie an die Schultern. Deutlich spürte sie, dass der Körper ihrer Tochter vor Aufregung regelrecht bebte. Während sie mit der Hand eine blonde Haarsträhne von Stines feuchte Wange nach hinten strich, blickte sie ihre Tochter mit sorgenvollen Blicken fragend an.

Stine brachte immer noch kein Wort heraus. Irgendetwas hatte ihr die Sprache verschlagen.

„Ich werd dir jetzt erst mal die Hose wieder richtig hoch ziehen, mein Schatz.“

In dem Moment, in dem sie nach der Hose griff, fühlte sie, wie ihre Hand warm und feucht wurde. Offensichtlich war Stine noch nicht dazu gekommen, ihre Notdurft zu verrichten und nun konnte sie endgültig nicht mehr einhalten.

„Mein Gott, Schatz, was ist denn bloß los? Was ist passiert?“

Sie blickte in Stines angstverzerrtes Gesicht. Erneut liefen dicke Tränen über die geröteten Wangen. In den feuchten Augen spiegelte sich die nackte Angst.

„Da.“ Stine fand nun schluchzend ihre Stimme wieder. Das Reden fiel ihr schwer. „Da liegt eine Frau. Alles ist voll Blut.“

Ihre Mutter schluckte, blickte entsetzt in die Richtung, aus der Stine gerade gekommen war.

„Warte hier, mein Schatz. Ich werde nachsehen.“

Sie betrat zögerlich den zugewucherten Pfad. Das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich bei jedem Schritt. Sie spürte, wie die Aufregung das Blut in ihren Schläfen hämmern ließ.

Als sie erkannte, warum ihre Tochter so geschrien hatte, schluckte sie noch einmal.

Vor ihren Füßen lag der Körper einer jungen Frau. Die weit aufgerissenen Augen der Frau waren leer, blickten stumpf in die Ferne. Ihr Kopf lag in einer dunkelroten Lache aus Blut. Die Frau war tot.

Stines Mutter spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg.

„Oh, mein Gott“, kam es mit bebender Stimme aus ihrem Mund. „Oh, mein Gott.“

* * *

Hauptkommissar Günter Wagner stand im Flur seiner Ferienwohnung und starrte unentschlossen auf die Regenjacke an seinem Garderobenhaken.

Draußen scheint die Sonne, ging es ihm durch den Kopf. Der Vermieter hatte ihm gestern Abend mitgeteilt, dass der Wetterdienst Regen angesagt hat. Jacke oder keine Jacke, das ist jetzt die Frage.

„Seit drei Tagen sagt der Wetterdienst schon Regen an“, murmelte der Einundvierzigjährige vor sich hin. „Hier auf Juist ist noch nicht ein Tropfen gefallen.“

Er entschloss sich dazu, die Regenjacke, die er schon zwei Tage lang unnötig mit sich herumgeschleppt hatte, dieses Mal in der Wohnung zu lassen.

Wagners Ferienwohnung lag im Dachgeschoss. Sie war nicht sehr groß, aber für seine Zwecke völlig ausreichend.

Am besten gefiel ihm der kleine Balkon. Dieser war in der Dachschräge eingelassen und von außen nicht einsehbar. Gestern, als die Wolken die Sonne für einige Zeit freigegeben hatten, hatte er sich nackt auf den Balkon gesetzt und die Wärme genossen.

Heute wollte er sowieso nur einen Bummel durch das Dorf machen. Er würde sich im Kurpark von Juist auf eine Bank setzten, einfach dasitzen, den Urlaub genießen und anschließend in ein Restaurant einkehren um zu Speisen. Ja, genau das würde er tun und vor allen Dingen nicht einen Gedanken an die Dinge in seinem Leben verschwenden, die ihn in der letzten Zeit immer wieder mental nach unten zogen, die seiner Psyche hart zusetzten. Es waren genau zwei Dinge, die ihm schwer auf der Seele lagen. Zum einen war es die Trennung von seiner Frau Gabi und zum anderen ein schockierendes Erlebnis, welches ihn um ein Haar aus der Bahn katapultiert hätte. Bei einem Einsatz hatte sein Kollege eine Pistolenkugel abbekommen, Bauchschuss, und Wagner musste danebenstehen und hilflos mit ansehen, wie sein Partner innerlich verblutete. Nach diesem Einsatz konnte Wagner lange Zeit nicht mehr arbeiten. Er war in psychiatrischer Behandlung, weil er die grausamen Szenen dieses tragischen Einsatzes nicht mehr aus dem Kopf bekam. Immer wieder spulte sich das gleiche Bild vor seinem geistigen Auge ab, das viele Blut, der Anblick seines sterbenden Kollegen, das war einfach alles zu viel für ihn.

Wagner wollte hier auf Juist alle privaten Probleme und alles, was mit seiner Arbeit zu tun hatte, vergessen. Das hatte er sich fest vor genommen, denn Urlaub ist Urlaub.

Bevor er die Ferienwohnung verließ, warf er noch einen Blick in den Spiegel, drehte sich hin und her.

Das weiße Hemd passt gut zur Jeans, stellte er fest. Sieht sportlich aus. Hab gestern in der Sonne tatsächlich schon was Farbe im Gesicht bekommen. Das weiße Hemd hebt die Bräune hervor. Junge, du siehst gut aus.

Trotzdem war er sich aber durchaus bewusst, dass etwas Gesichtsbräune und ein weißes Hemd noch keinen Adonis aus ihm machten.

Wagner strich mit der Hand über seine kurz geschorenen Haare. Von der einst dunkelbraunen Haarpracht war nicht mehr allzu viel zu sehen. Der vordere Kopfbereich war, was die Haare anging, nur noch sehr spärlich ausgestattet. Er selbst versuchte sich immer einzureden, dass er halt eine hohe Denkerstirn sein Eigen nannte.

Günter Wagner trat etwas näher an den Spiegel heran und lächelte.

Du siehst gut aus. Er drehte den Kopf noch einmal hin und her. Siehst wirklich gut aus.

Ein kurzes, sarkastisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Natürlich war ihm klar, dass die Gedanken über sein gutes Aussehen doch sehr subjektiv waren. Sicher, jeder Mensch besaß einen Funken Eitelkeit, doch was sein Äußeres betraf, wusste er genau, wo er stand, nämlich weit unten. Mit seiner Größe von 1,80 Meter war er für einen Mann nicht einmal zu klein geraten und seine sportliche Figur konnte sich ebenfalls sehen lassen. Was ihm nicht gefiel, war sein Gesicht. Es war schmal und lang und die hohe Denkerstirn ließ es noch länger wirken. Die kleinen Augen standen viel zu dicht zusammen und die Nase wirkte wie ein Strich, denn sie war ebenfalls dünn und lang. Er selbst hatte sein Gesicht schon mit einer Karikatur verglichen, Punkt, Punkt, Komma, Strich...

Sein Aussehen störte ihn schon lange nicht mehr, denn er war sich seiner Stärken bewusst, seiner Intelligenz und seiner körperlichen Fitness. Auch aus beruflichen Gründen, immerhin war er Hauptkommissar im Hamburger Kommissariat für Tötungsdelikte, beherrschte er mehrere Kampfsportarten nahezu perfekt.

Das kam ihm im letzten Jahr, als er mit seinen Kollegen hier auf der Insel Juist eine Verbrecherbande dingfest gemacht hatte, sehr zugute, denn er hatte mit bloßen Händen einen, mit einer Pistole bewaffneten Mann überwältigt. Dieser Einsatz hatte auch dazu geführt, dass er seinen diesjährigen Urlaub hier verbrachte. Juist gefiel ihm von dem Moment an, als er diese Insel zum ersten Mal betreten hatte. Der Inselurlaub war seit diesem Einsatz vorprogrammiert.

Erneut lächelte Wagner sein Spiegelbild an. Du siehst heute wirklich gut aus.

In der Hoffnung, dass dieses gute Aussehen vielleicht auch von einigen weiblichen Feriengästen erkannt wird, verließ er die Wohnung.

Der Gedanke an die holde Weiblichkeit ließ ihn geistig in die Vergangenheit stolpern. Immerhin war er sechs Jahre verheiratet, bevor ihm dann die Frau weggelaufen ist. Von heute auf morgen war Gabi verschwunden, einfach so, weil er angeblich wegen seiner vielen Überstunden keine Zeit für sie aufgebracht hatte. Einen anderen Mann gab es angeblich nicht, dass hatte Gabi wenigsten behauptet. Eigentlich hatte sich das Scheitern seiner Ehe schon angekündigt, denn in den letzten beiden Ehejahren wirkte Gabi sehr introvertiert. Er war einfach nicht mehr an sie herangekommen. Drei Jahre lag das nun schon zurück und trotzdem war es ihm noch nicht gelungen, diese gescheiterte Ehe abzuhaken.

Er schüttelte diese Gedanken von sich. Ich hab Urlaub, Entspannung, Erholung, nur nichts Negatives.

Wagner erreichte das Zentrum von Juist.

Auf dem ersten Blick wirkte es voll und unruhig, so, als wären alle Juisturlauber gleichzeitig unterwegs. Erst der zweite Blick gewahr ihm, dass es keine Unruhe gab. All die Menschen schlenderten geruhsam vor sich hin, sie standen vor den Geschäften, um sich neugierig die Auslagen anzuschauen, sie saßen in den Cafés und Restaurants und genossen es, das Geschehen um sich herum zu beobachten. Nein, es gab keine Unruhe, denn sie alle hatten etwas gemeinsam, Urlaub. Alles wirkte geruhsam und selbst die Pferdefuhrwerke, die auf der autofreien Insel den Transportverkehr übernahmen, holperten, von mächtigen Kaltblütern gezogen, gemächlich durch die Straßen und unterstrichen das friedliche Bild.

Wagner steuerte auf den Kurpark zu, der wie eine grüne, blühende Oase vor ihm lag. Er fixierte sofort eine freie Bank neben dem Brunnen. Genau dort würde er sich gleich niederlassen, einfach hinsetzen und in aller Seelenruhe den Alltag und den Berufsstress vergessen.

Sein Blick ging kurz nach oben. Blauer Himmel, kein Wölkchen zu sehen, herrlich.

Wenig später saß er da, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Wahl des sonnigen Platzes war genau das Richtige. Er spürte die wärmende Sonne in seinem Gesicht und genoss jeden einzelnen Strahl.

Hier bleib ich, ging es ihm durch den Kopf. Und nachher, nach dem Essen, geh ich noch mal zum Strand hinunter, werd mein Hemd ausziehen und am Ufer entlang schlendern.

Ihm ging durch den Kopf, dass er bereits gestern bei seinem Strandspaziergang einige Frauen gesehen hatte, die offensichtlich ganz alleine ihren Urlaub hier verbrachten. Warum nicht? Ein nettes Lächeln, ein freundliches „Hallo“, ein kurzer Flirt, wer weiß? Wagner atmete tief durch.

„Was für eine Überraschung“, holte ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. „Der Herr Hauptkommissar Wagner.“

Als er die Augen öffnete, blendete ihn für einen Moment die Sonne. Dann aber erkannte er den Mann in der blauen Uniform, der da vor ihm stand.

Es war der Inselpolizist. Mit ihm hatte Wagner im letzten Jahr bei seinem Einsatz hier auf Juist kooperiert.

„Ich wusste gar nicht“, meinte der Polizist, „dass man Sie auch hierher beordert hat.“

Wagner blickte den Mann verständnislos an.

„Hierher beordert? Ich hab mich selbst hierher beordert. Ich habe Urlaub.“

Der Polizist nickte.

„Ach so. Das ist also der Grund, warum Ihre Kollegen von der Mordkommission ohne Sie im Einsatz waren. Außerdem hätte es mich doch sehr gewundert, wenn man für die Ermittlungen extra einen Kollegen aus dem fernen Hamburg herangezogen hätte.“

Günter Wagner runzelte die Stirn.

„Wie soll ich das verstehen? Was für Ermittlungen?“

„Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie nichts von dem Mord gehört haben, Herr Kollege.“

„Was für einen Mord?“

„Auf unserer Insel wurde eine junge Frau umgebracht. Eine Urlauberin, die mit ihrer sechsjährige Tochter unterwegs war, hatte die Leiche in der Nähe der Goldfischteiche entdeckt. Das kleine Mädchen wollte in den Büschen eine Notdurft verrichten und plötzlich lag das Mordopfer direkt vor ihr. Sie können sich bestimmt vorstellen, was für ein Schock es für das Mädchen war, kein schöner Anblick, das viele Blut.“

„Wie wurde das Opfer umgebracht?“

„Nach den ersten Aussagen des Gerichtsmediziners wurde die Frau durch mehrere Schläge auf den Hinterkopf, vermutlich mit einem spitzen Gegenstand, getötet.“

„Wann wurde die Tote gefunden?“

„Gestern Vormittag.“

„Wurde der Todeszeitpunkt schon ermittelt?“

Der Polizist blickte Wagner an. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen.

„Sagten Sie nicht gerade noch, dass Sie sich im Urlaub befinden, Herr Wagner? Sie sollten sich mit diesem Fall nicht belasten. Die Kollegen von der zuständigen Mordkommission sind vor einer Stunde abgereist. Für sie gibt es auf der Insel momentan nichts mehr zu tun.“

Wagner zuckte kurz mit den Schultern.

„Sie haben Recht. Wenn die zuständigen Kollegen bereits wieder abgereist sind, dann ist die Ermittlungsarbeit auf der Insel offensichtlich erledigt. Außerdem würde ich mich hüten, anderen Kollegen ins Handwerk zu pfuschen. Ich werde den Inselaufenthalt weiterhin genießen.“ Wagner hob den Zeigefinger. „Und keinen weiteren Gedanken an die Polizeiarbeit verschwenden.“

„Genau das sollten Sie tun, Herr Wagner. Seit wann sind Sie eigentlich hier?“

„Seit drei Tagen.“

„Dann haben Sie ja Glück gehabt, mit dem Wetter mein ich, denn genau seit drei Tagen scheint die Sonne. Vorher war es noch ziemlich ungemütlich, so richtig dickes Wetter.“

Der Polizist kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Wenn Sie schon drei Tage auf Juist sind, Herr Wagner, dann möchte ich doch noch mal dienstlich werden.“

Günter Wagner blickte ihn fragend an.

„Es ist so“, meinte sein Kollege in Uniform, „das Mordopfer ist noch nicht identifiziert. Die Frau trug keine Papiere bei sich. Wir befragten jeden, der Ferienwohnungen oder Zimmer vermietet und erkundigten uns in allen Hotels, doch es wird nirgendwo jemand vermisst. Seit gestern Nachmittag bin ich bereits mit einem Foto der Verstorbenen unterwegs und befrage die Leute. Ein Kellner hatte die Frau auf dem Foto sofort erkannt. Sie hatte vorgestern in seinem Lokal gesessen, einen Kaffee getrunken und immer wieder unruhig auf die Uhr geschaut. Einen Koffer hatte sie auch dabei. Der Kellner sagte aus, dass die Frau sehr nachdenklich wirkte. Irgendwann stand sie auf, nahm ihren Koffer und wollte überhastet das Lokal verlassen, allerdings ohne vorher ihren Kaffee zu bezahlen. Der Kellner hatte sie an der Tür abgefangen. Die Frau entschuldigte sich bei ihm und hatte gemeint, sie sei in Gedanken gewesen, bezahlte und gab ihm ein sehr gutes Trinkgeld. Dann gibt es noch zwei weitere Personen, welche die Frau gesehen haben. Ein Ehepaar aus Düsseldorf identifizierte die Frau auf dem Foto. Sie sind sich ganz sicher, dass es die Frau war, die vorgestern an ihrem Tisch in der Fähre gesessen hatte. Das Ehepaar sagte aus, dass die Frau sehr verschlossen wirkte, so, als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders.“

Der Polizist griff in seine Brusttasche.

„Das einzige, was wir über diese Frau wissen“, meinte er, „ist der Zeitpunkt ihrer Ankunft. Die Fähre legte vorgestern um 16.30 Uhr im Juister Hafen an.“

Er reichte Wagner wortlos ein Foto.

Der Hauptkommissar starrte das Foto an, das hübsche Gesicht einen jungen, blonden Frau. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, so, als würde er sich auf das Äußerste konzentrieren.

„Haben Sie die Frau etwa erkannt, Herr Wagner?“

Wagner schüttelte leicht den Kopf.

„Dieses Gesicht, ich hab es irgendwo hier auf Juist schon mal gesehen. Wenn ich nur wüsste, wo?“

Wagner strich sich mit der Hand über die Haare und kratzte sich am Hinterkopf.

„Verdammt, mir will es einfach nicht einfallen.“

„Wissen Sie denn noch, wann es war?“

„Nein, denn wenn ich das wüsste, dann wüsste ich auch wo es war.“

„Und Sie sind sich ganz sicher, dass es diese Frau war?“

Günter Wagner antwortete nicht. Er warf seinem Gegenüber nur einen strafenden Blick zu.

Dem Inselpolizisten wurde sofort bewusst, dass es eine dumme Frage war. Der Mann vor ihm hatte natürlich eine sehr gute Beobachtungsgabe, denn sonst wäre er nicht bei der Kripo und schon gar nicht bei der Mordkommission.

Wagner schloss für einen Moment die Augen. Er wirkte jetzt höchst konzentriert.

„Dieses Gesicht“, murmelte er. „Ich habe genau in dieses Gesicht geblickt. Doch, wann war das und wo war das?“

Er sah sich noch einmal das Foto an. Dann schüttelte er den Kopf und reichte es an Polizisten zurück.

„Ich bin mir sicher, dass es mir wieder einfallen wird. Wenn ich weiß, wo ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe, dann gebe ich Ihnen Bescheid.“

Der Inselpolizist schob das Foto zurück in seine Brusttasche.

„Ich werde dann mal weitermachen“, sagte er. „Zunächst hole ich die Steckbriefe ab, die ich in Auftrag gegeben habe, einen Aushang mit dem Foto der Toten. Diesen Aushang werde ich an die Restaurants und Geschäfte verteilen. Die sollen ihn an ihre Schaufensterscheiben oder sonst wohin hängen. Ich geh´ davon aus, dass sich dann noch weitere Leute, die diese Frau gesehen haben, bei mir melden.“

Mit den Worten: „Noch einen schönen Urlaub, Herr Wagner“, wandte er sich um und wollte davon schreiten.

„Bitte, Herr Kollege“, sagte Wagner. „Sie haben mir meine letzte Frage noch nicht beantwortet.“

Der Polizist drehte sich wieder um und blickte ihn verwundert an. Dabei schob er seine Augenbrauen nach oben.

„Was für eine Frage?“

„Die Frage nach dem vermutlichen Todeszeitpunkt.“

„Wenn ich die Kollegen von der Mordkommission richtig verstanden habe, soll die Frau vorgestern in den späten Abendstunden umgebracht worden sein.“

Wagner rieb sich mit dem Finger über seine schmale Nase.

„Vorgestern Abend“, sagte er. „Also am Tag ihrer Ankunft.“ Der Inselpolizist nickte.

„Und wann wurde sie von diesem Kellner im Lokal gesehen?“, fragte Wagner.

„So gegen 17.30 Uhr.“

„Die Fähre legte um 16.30 Uhr im Hafen an“, stellte Wagner fest. „Um 17.30 Uhr wurde sie im Lokal gesehen und am gleichen Abend war sie tot. Vermutlich traf sie unmittelbar nach dem Lokalbesuch auf ihren Mörder. Hat man alle Utensilien der Frau überprüft? Vielleicht könnte ihr Handy einen Hinweis auf ihre Identität geben. “

„Es wurde kein Handy bei der Toten gefunden, kein Handy, keine Papiere, nicht ein persönlicher Gegenstand.“ „Der Mörder gab sich offensichtlich alle Mühe, die Identität der Toten zu verwischen.“

„Der Meinung sind die Kripokollegen auch. Sie vermuten, dass die Frau den Abend gemeinsam mit ihrem Mörder verbracht hatte. Außerdem sagten sie, dass der Mörder erfolgreich alle Spuren verwischt hat, die auf seine Identität hinweisen können.“

„Das hört sich nach einer sehr gut vorbereiteten Tat an“, bestätigte Wagner. „Doch wo war die Frau hingegangen, nachdem sie das Lokal verlassen hatte? Der Zeitraum, in dem ich dieses Gesicht gesehen haben muss, steht also fest. Ich frage mich immer noch, wo das gewesen sein kann?“

„Wenn die Fähre angelegt hat“, meinte der Polizist, „dann dauert es noch eine ganze Weile, bis alle von Bord sind, denn das Gedränge beim Aussteigen ist immer sehr groß. Dann begeben sich alle Passagiere zu den Containern, um ihre Koffer zu holen. Das nimmt auch noch Zeit in Anspruch.“

Wagner dachte kurz nach.

„Und wenn die Frau sich bereits vor dem Anlegen direkt vor die Ausgangstür der Fähre postiert und als aller erste ihr Gepäck abgeholt hat?“

„Sie denken aber auch an alles.“

„Nur so kann man sich in meinem Job behaupten. Man darf keine Möglichkeit außer Acht lassen.“ Erneut rieb sich Wagner mit dem Finger über seine Nase. „Ich versuche mich gerade an das zu erinnern, was ich in der besagten Zeit unternommen habe. Als ich vorgestern Nachmittag meine Ferienwohnung verließ, schaute ich nicht auf die Uhr, denn für mich ist die Zeit im Urlaub unrelevant. Ich war zunächst zum Rathaus marschiert, um mir in der Touristeninformation den neuen Strandlooper zu besorgen, wissen Sie, das ist dieses Heftchen, in dem man alles über die aktuellen Veranstaltungen auf Juist nachlesen kann.“

„Ich kenn dieses Heftchen. Das liegt auch bei mir in der Wache.“

„Danach machte ich mich auf den Weg zum Strand. Allerdings hatte ich noch einen kurzen Stop eingelegt, um mir ein Fischbrötchen für unterwegs zu kaufen. Jedes Mal, wenn ich sehe, wie die Leute draußen vor dem Fischlokal sitzen und sich dort die herzhaften Fischgerichte einverleiben, bekomme ich auch Appetit. Dann, am Strand, war ich am Ufer entlang gebummelt, in Richtung Billriff. Da waren einige Leute unterwegs, doch eigentlich bin ich mir sicher, dass ich das Mordopfer nicht am Strand gesehen habe. Als ich mich nach einer Weile dazu entschlossen hatte, den Strand durch den nächsten Dünendurchgang wieder zu verlassen, kam ich nahe der Aussichtsdüne, direkt hinter dem Hammersee, aus. Der Rückweg führte mich über den schmalen Pfad, der von dort aus rechts vom Hammersee verläuft, zurück. Es ist ein wunderschöner Weg. Er führt durch ein unglaublich dichtes Gestrüpp von morschem Büschen und knorrigen, moosbewachsenen Bäumen, die teilweise so windschief gewachsen sind, dass sie beinahe unecht wirken, so, wie aus einem Märchen. Unterwegs war mir, bis ich schließlich das Örtchen Loog erreichte, nicht ein einziger Mensch begegnet.“

„Das liegt wohl daran“, meinte der Inselpolizist, „dass dieser Weg nur den wenigsten bekannt ist.“

„Als ich Loog hinter mich gebracht hatte, überquerte ich rechts den Damm und spazierte parallel dazu an den ausgedehnten Wiesen entlang. Ich kann mich noch daran erinnern, dass dort einige Pferde grasten. Ganz besonders war mir ein mächtiger Kaltblüter aufgefallen, der sich genussvoll auf den Rücken legte und seinen gewaltigen Körper ausgelassen durch den Staub rollte. Auch hier kamen mir einige Leute entgegen, Leute, die mit ihren Hunden unterwegs waren. Schließlich erreichte ich wieder das Dorf und hatte mich direkt in meine Ferienwohnung begeben. Es war gegen Acht, denn als ich auf den Balkon ging, hörte ich, dass irgendwo ein Fernseher lief und dort die 20 Uhr Nachrichten begannen.“

Der Dorfpolizist blickte ihn nachdenklich an.

„Wenn Sie sich sicher sind, Herr Wagner, dass Sie das Mordopfer nicht am Strand gesehen haben und die Leute, denen Sie auf Ihrem Rückweg begegnet sind, ebenfalls nicht in Frage kommen, dann muss Ihre Begegnung mit der Frau im Dorf gewesen sein.“

„Ich bewundere Ihre Logik.“

Diese Aussage des Hauptkommissars verunsicherte den Polizisten für einen Augenblick. Er war sich nicht sicher, ob es eine ehrliche Anerkennung oder doch eine eher hämische Anmerkung war.

„Darf ich Sie fragen, Herr Hauptkommissar, wo genau Ihre Ferienwohnung liegt?“

„An der Dünenstraße.“

„Dann mussten Sie, um dort hin zu kommen, den kompletten Dorfkern durchwandern“, stellte der Inselpolizist fest. „Mit anderen Worten, Sie können die Frau überall gesehen haben.“

„Stimmt. Ich glaub´ aber nicht, dass ich ihr während meines Rückweges begegnet bin. Ich hatte den Weg, der parallel zum Damm an den Salzwiesen vorbeiführt, ganz am Ende, also fast in der Höhe des Hafens verlassen. Von dort aus sind es bis zu meiner Ferienwohnung an der Dünenstraße noch etwa zehn Minuten Fußweg. Es war also etwa zehn vor Acht, als ich den Weg neben dem Damm verließ. Das spätere Mordopfer verließ gegen 17.30 Uhr das Lokal, um traf vermutlich bald danach auf ihren mutmaßlichen Mörder.“

„Und wenn die Frau gemeinsam mit ihrem Mörder vor oder in einem Restaurant gesessen hatte? Dort könnten Sie einen zufälligen Blick auf ihr Gesicht geworfen haben. Wenn Ihnen wieder einfällt, wo das gewesen ist, dann könnten Sie sich vielleicht auch noch daran erinnern, mit wem diese Frau dort gesessen hat.“

Wagner überlegte. Er wusste, dass sein Kollege von der Insel Recht hatte. Doch so sehr er seine grauen Zellen auch bemühte, ihm fiel nichts dazu ein.

„Tut mir leid“, meinte er schließlich. „Ich bin mir aber sicher, dass es mir wieder einfallen wird. Sie werden der erste sein, der es erfährt. Das verspreche ich Ihnen.“

Der Inselpolizist verabschiedete sich und ließ einen nachdenklichen Hauptkommissar zurück.

Wagner lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen, um erneut die warmen Sonnenstrahlen in seinem Gesicht zu genießen.

Doch nun war es nicht mehr so wie vorher. An Entspannung war einfach nicht mehr zu denken.

Wo zum Teufel hab´ ich sie gesehen? Ich hatte ihr genau ins Gesicht geblickt. Junge, seit wann leidest du an Gedächtnisschwund?

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Dieses Mal war es eine weibliche Stimme, die ihn aus seinen Gedanken riss.

Vor ihm stand eine junge Frau.

Wagner brauchte nur wenige Sekunden, um sich das komplette Erscheinungsbild der Frau einzuprägen, schmales, etwas blasses Gesicht, lange, blonde Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, etwa 1,70 Meter groß und sehr schlank, fast schon dürr, schwarze Umhängetasche, offene Sandalen, rot lackierte Zehnägel, weiße Hose, weißes, eng anliegendes T-Shirt, keinen BH darunter, denn die Knospen ihrer flachen Brüste malten sich deutlich unter dem Stoff ab.

Sie lächelte ihn fragend an.

„Bitte“, sagte er und wies mit der Hand auf den freien Sitzplatz neben sich. „Die Bank gehört Ihnen.“

„Danke. Ich wollte Sie nicht beim Sonnenbad stören, aber die anderen Bänke hier im Kurpark sind alle besetzt.“

Sie nahm Platz, kramte in ihrer Umhängetasche herum und zog ein Buch heraus.

„Ich möchte etwas lesen, werde also mucksmäuschenstill sein.“

Wagner blickte auf das Buch in ihrer Hand.

„Was lesen Sie denn, wenn ich fragen darf?“

„Das ist ein Inselkrimi. Hab´ ich gerade in der Buchhandlung gekauft. Der Roman spielt hier auf Juist und ist bestimmt interessant.“

„Verbringen Sie auch Ihren Urlaub hier?“

Sie nickte.

„Ja, ich wohne in einem Fremdenzimmer in Loog, wissen Sie, Übernachtung mit Frühstück. Und Sie?“ Ihre Augen blickten ihn neugierig an. „Auch im Urlaub?“

Wagner nickte.

„Ja.“

„Auch in einem Fremdenzimmer?“

„Nein.“

„Hotel?“

„Nein. Ferienwohnung.“

„Ach so. Ich werde mir im nächsten Urlaub auch eine Ferienwohnung anmieten; muss ja nicht groß sein, so für mich alleine. So ein einzelnes Zimmer ist ja doch sehr beengend. Es gibt nicht mal einen Balkon. Hat Ihre Ferienwohnung einen Balkon?“

„Ja. Er ist allerdings sehr klein. Es passen gerade mal ein kleiner Tisch und zwei Stühle drauf.“

„Gibt es wenigstens einen Meerblick?“

„Nein. Vom Balkon aus blickt man in den Garten.“

„Ist bestimmt auch schön, besser, als gar keinen Balkon. Bleiben Sie noch lange auf der Insel?“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Wagners Lippen.

Das ist ja schon fast ein Verhör, dachte er amüsiert.

„Noch knapp zwei Wochen“, antwortete er trotzdem.

„Sind Sie auch alleine hier?“

„Ja.“

In dem Moment, in dem er geantwortet hatte, kam er sich irgendwie überrumpelt vor.

Sie ist alleine und will wissen, ob ich auch alleine bin, ging es ihm durch den Kopf. Wer weiß, vielleicht sucht sie Anschluss.

„Wenn Sie auch allein sind“, meinte sie, „dann wissen Sie ja selbst, wie es ist, wenn niemand da ist, mit dem man mal reden kann. Man sieht fern oder liest ein Buch, um sich von der Einsamkeit abzulenken, doch irgendwann holt dich das Alleinsein wieder ein. Das ist manchmal ganz schön deprimierend. Mal ganz ehrlich, es gibt doch nichts Schöneres, als einen Menschen bei sich zu haben, mit dem man sich unterhalten kann, dem man seinen Kummer und seine Sorgen anvertrauen kann, einen Menschen, der einfach für dich da ist.“ Sie sprach immer schneller und ihre Stimme überschlug sich fast. „Meine langjährige Beziehung zu einem Mann zerbröselte vor etwa einem Jahr endgültig; ist einfach in die Brüche gegangen. Irgendwie wurde die Gewissheit, dass wir nicht zusammen passen, immer stärker.“

Jetzt war der Moment gekommen, in dem Wagner es bereute, ihr den Platz neben sich angeboten zu haben. Der Redeschwall der blonden Frau zerstörte jegliche Illusion eines ruhigen Urlaubs.

Hatte sie nicht gesagt, sie wollte mucksmäuschenstill sein und lesen? Kein Wunder, dass der die Kerle weglaufen.

Er blickte auf seine Uhr.

„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche, junge Frau, aber ich sehe gerade, dass ich jetzt dringend weg muss. Ich hab noch etwas Wichtiges zu erledigen.“

Er stand auf.

„Da kann man nichts machen.“ Sie lächelte. „Sie sind ja noch ein paar Tage hier. Da sehen wir uns bestimmt wieder und wer weiß, vielleicht können wir zwei ja mal ein Tässchen Kaffee zusammen trinken. Vielleicht könnten Sie mich ja auch mal mit in Ihre Ferienwohnung nehmen. Mich interessiert nämlich, wie so eine Wohnung aussieht. Wir könnten es uns auf Ihrem kleinen Balkon gemütlich machen, bei einem Gläschen Wein oder so.“ Sie zwinkerte ihm kurz zu. „Es war nett, mit Ihnen zu reden. Also, einen schönen Tag noch und ich hoffe, dass wir zwei uns bald wiedersehen.“

Mit den Worten: „Ihnen auch einen schönen Tag“, ging er davon.

Junge, dachte er, wenn man die den ganzen Tag ertragen muss, die redet ja ohne Unterlass..., sie möchte mit mir ein Gläschen Wein in meiner Ferienwohnung trinken, zwinkerte mir zu. Mensch Junge, wenn du willst dann kannst du sie noch heute Abend in deinem Bett haben. Ist zwar sehr mager und hat kleine Titten, aber das hat nichts zu sagen. Wer weiß, vielleicht ist sie ja im Bett eine Furie.

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nicht wusste, wohin er eigentlich gehen wollte. Er war aufgestanden, um sich vor diesem Redeschwallmonster zu verdrücken.

Es ist fast Mittag. Könnte ja eigentlich schon essen gehen.

Das Restaurant, in das er heute einkehren wollte, hatte er sich bereits gestern ausgesucht. Die Speisekarte im Aushang las sich sehr vielversprechend und so stand der Entschluss, heute dort essen zu gehen, fest.

Bevor er in die Straße einbog, in der das erwählte Lokal lag, drehte er sich noch einmal um und blickte in Richtung Kurpark. Seine Augen suchten die Bank, auf der er gerade gesessen hatte. Die junge Frau saß mit dem Buch in der Hand noch da. Sie blickte zu ihm hinüber und winkte ihm lächelnd zu.

Wagner hob seine Hand und deutete ebenfalls ein kurzes Winken an. Dann ging er weiter.

Sie hat mich mit ihren Blicken bis hierher verfolgt. Junge, sie will dich.

Kurze Zeit später saß er im Restaurant vor einem Glas Bier und durchforstete die Speisekarte.

Als schließlich der Ober an seinen Tisch kam, und die Bestellung aufnahm, wurde ihm erst so richtig bewusst, was für einen Riesenhunger er doch hatte. Er blickte dem Ober hinterher. Dieser verschwand in der Küche. Für einen Moment zog ihm ein herrlicher Duft in die Nase. Egal, was der Koch dort gerade zubereitete, es roch überwältigend gut. Jetzt wurde das Hungergefühl noch größer.

Die Zeit, in der er auf das Essen wartete, kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Dann aber stand es vor ihm, das Filetsteak, Medium zubereitet, mit braun angedünsteten Zwiebeln. Ein Stückchen Kräuterbutter, welches auf dem dunkel angebratenen Fleisch lag, schmolz dahin, es zerlief, um mit seinem Aroma den Geschmack des herrlich duftenden Steaks noch zu verfeinern. Dazu hatte er sich Pommes bestellt.

Als Wagner mit dem Messer das erste Stück des Steaks abschnitt und auf das zart rosa gebratene Fleisch blickte, lief ihm endgültig das Wasser im Mund zusammen. Kaum hatte er den ersten Bissen im Mund, verdrehte er genüsslich die Augen.

Göttlich, einfach göttlich.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal so ein perfekt zubereitetes Steak gegessen hatte.

Bald schon führten ihn seine Gedanken wieder zu der jungen Frau auf der Bank. Er war sich ganz sicher, dass sie eine Einladung in seine Ferienwohnung bestimmt nicht ablehnen würde. Eigentlich wollte er heute Nachmittag einen ausgedehnten Strandspaziergang unternehmen, um Ausschau nach weiblichen Feriengästen halten, die ebenfalls allein am Strand herumliefen. Erneut dachte er an die Frau auf der Bank. Junge, sie will dich. Was soll ich am Strand? Werd die Kleine noch mal ansprechen. In Gedanken sah er sie vor sich. Ihr Gesicht wirkte eigentlich sehr anschaulich, auch wenn sie keine Schönheit darstellte. Er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er mit seinem Aussehen sowieso keine wirklich gut aussehende Frau ins Bett bekommen würde. Ich sollte nach dem Essen noch mal zum Kurpark gehen. Sie wird dort bestimmt auf mich warten. Werde ihr das Angebot unterbreiten, ihr gleich meine Ferienwohnung zu zeigen.

Je mehr er aber über die Frau nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass es vielleicht ein großer Fehler sein würde, ihr seine Wohnung zu zeigen.

Wenn die weiß, wo deine Wohnung ist, dann wirst du sie vielleicht nicht mehr los, Junge, dann ist der Rest des Urlaubs gelaufen. Sie wird dich zu labern.

Er beschloss, dieser Frau erst einmal aus dem Weg zu gehen.

Während er sich genussvoll sein Steak einverleibte, erschien das Gesicht einer anderen Frau vor seinem geistigen Auge, das Gesicht der toten Frau auf dem Foto.

Irgendwann wird mir schon einfallen, wo ich sie gesehen habe.

Auch diesen Gedanken schob er wieder beiseite.

Er dachte an morgen, denn morgen würde er seinen Urlaub auf Juist für drei Tage unterbrechen. Es stand ein Abstecher nach Helgoland bevor. Dort war er als Trauzeuge zu einer Hochzeit eingeladen. Ein Arbeitskollege, der gleichzeitig einer seiner besten Freunde war, wollte auf der Hochseeinsel heiraten. Die Idee, auf Helgoland zu ehelichen, stammt aber von den zukünftigen Schwiegereltern. Diese bezahlten auch die Kosten, einschließlich der Reisekosten für die Trauzeugen. Sie hatten Wagners Reise gut vorbereitet. Morgen würde er mit der Fähre nach Norddeich übersetzten. Dort wird er eine Nacht in ein bereits für ihn gebuchtes Hotelzimmer bleiben. Übermorgen, ganz früh, um sieben Uhr, geht es dann mit einem Zubringerbus nach Wilhelmshaven. Vor dort aus legt das Schiff nach Helgoland ab, ein Katamaran, der die eigentlich lange Überfahrt durch seine hohe Geschwindigkeit verkürzt. Wagner hatte sich erkundigt, der Katamaran schafft 42 Knoten, das sind fast 80 Km/h, verdammt schnell für ein Schiff. Die Überfahrt nach Helgoland soll, je nach Wellengang, etwa siebzig Minuten dauern, dann fünf Stunden Inselaufenthalt und dann wieder zurück nach Wilhelmshaven, wo der Zubringerbus, der ihn wieder nach Norddeich bringen soll, bereits wartet. Weil die erste Fähre nach Juist erst am folgenden Tag geht, übernachtet er dann zwangsweise noch einmal in Norddeich.

Günter Wagner hatte eigentlich keine große Lust darauf, drei Tage seines Urlaubs mit einer Helgolandreise zu verschenken, doch was tat man nicht alles für einen guten Freund? Die fünf Stunden des Inselaufenthalts auf Helgoland waren minutiös verplant, Begrüßung mit Sektempfang, ein kleines Vormittagsmahl zur Stärkung und dann geht es zur eigentlichen Trauung, die in einer echten Helgoländer Hummerbuden stattfinden soll. Nach der Trauung wird sich die komplette Hochzeitsgesellschaft in eine Gaststätte begeben, in der die Feierlichkeiten stattfinden, beginnend mit einem Menü aus fünf Gängen.

Heiraten in einer Hummerbude, was für eine Schnapsidee! Wenn Wagner an die Überfahrt mit dem Katamaran dachte, bekam er ein mulmiges Gefühl. Es war gar nicht so lange her, da war genau so ein Katamaran auf der Fahrt nach Helgoland bei schwerer See verunglückt. Das Schiff konnte dem hohen Wellengang nicht standhalten. Es hatte viele Verletzte gegeben.

Ich werd `s schon überleben.

Angesichts des leeren Bierglases, welches vor ihm auf dem Tisch stand, winkte er dem Ober zu.

„Würden Sie mir bitte noch ein Bier bringen?“

Der Ober bestätigte die Bestellung mit einem freundlichen Nicken.

Eine halbe Stunde später verließ Wagner das Restaurant, zufrieden und satt.

Den eigentlich geplanten Strandspaziergang hatte er aus seiner heutigen Planung gestrichen, denn nach dem ausgiebigen Mahl verspürte er eine plötzliche Müdigkeit. Deshalb fasste er den Entschluss, in seine Ferienwohnung zu gehen. Er wollte sich auf das Bett legen und für ein Stündchen die Augen zu machen. Den Gedanken daran, dass er auch zum Strand hätte gehen können, um sich dort zu einem Nickerchen an den Rand der Dünen hinzulegen, hatte er schnell wieder verworfen. Ihm war bewusst, dass dort einige Urlaubsgäste an ihm vorbei spazieren und ihn schlafend sehen würden. Eigentlich ist es nichts Schlimmes, aber er wusste, dass er oft mit sehr weit offenem Mund schlief, und das sah einfach scheiße aus. Er wollte sich nicht zum Gespött der Menschheit machen. Also marschierte er zu seiner angemieteten Wohnung.

Wagner wollte gerade die Haustür öffnen, als diese sich von alleine auftat. Ein älterer Mann trat ihm entgegen. Sein Gesicht war faltenübersät, zerfurcht wie die Schale einer Walnuss. Kleine, rote Äderchen durchzogen nicht nur die rosigen Wagen, sondern auch die glänzende, knollige Nase. Der grauhaarige Mann ging leicht gebückt.

„Moin, Herr Wagner“, grüßte der Mann. Die Stimme klang heiser.

„Moin, Herr Peterson.“

Peterson war der Eigentümer des Hauses, in dem Wagner wohnte.

„Goot, dat ik se treff, Herr Wagner. Se sägt´n doch, dat se mörg´n to disser Hochtied nach Helgoland forn. Mien Froo wull wet´n, ob se hör Frostückbrötchi für een oder twee Dag ofbestellen.“

Wagner blickte Peterson fragend an. Er hatte nur die Hälfte von dem, was ihm sein Vermieter da im ostfriesischen Platt versnackte, verstanden. „Entschuldigung, Herr Peterson, könnten Sie mir das noch mal auf hochdeutsch zutragen?“ Er lächelte. „Hab´ leider nur die Hälfte verstanden.“

„Ich muss mich entschuldigen, Herr Wagner. Ich vergess doch immer wieder, dass meine Gäste nicht des Ostfriesischen mächtig sind. Also noch mal auf Deutsch. Sie sagten doch, dass Sie morgen zu dieser Hochzeit nach Helgoland fahren. Meine Frau wollte wissen, ob Sie Ihre Frühstücksbrötchen für zwei oder drei Tage abbestellen.“

„Für zwei Tage. Morgen frühstücke ich noch, denn bis die Fähre nach Norddeich losfährt, hab´ ich noch was Zeit.“

„Ich werde es meiner Frau sagen“, Petersons Blick ging zum Himmel. „Sie haben ja ein verdammtes Glück mit Ihrem Urlaubswetter. Letzte Woche war es nicht so schön.“

„Das habe ich schon gehört.“

„Das Wetter ist momentan allerdings zweitrangig. Es interessiert niemanden. Alle reden nur von diesem schrecklichen Mord.“

Wagner nickte.

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ist ja auch `ne schlimme Sache.“ Er sprach nun etwas lauter, denn ein Pferdefuhrwerk mit zwei voll beladenen Anhängern rollte geräuschvoll an ihnen vorbei. Auf der Ladefläche des hinteren Wagens standen Getränkekästen mit leeren Flaschen, die in Folge des holprigen Straßenabschnitts munter in ihren Kisten herum hüpften und deren lautes Klimpern so gar nicht in die Ruhe der Insel passte. Selbst der Kutscher vorn auf dem Bock verzog für einen Moment das Gesicht. Einzig den beiden mächtigen Kaltblütern, die ihre schwere Last geduldig zogen, schien der Lärm nichts auszumachen, denn sie trotteten unbeeindruckt vor sich hin.

Wagner blickte hinter dem Fuhrwerk her. „Die armen Pferde können einem leidtun, so wie die rackern müssen.“