Mord am Magic Mountain - Dieter Ebels - E-Book

Mord am Magic Mountain E-Book

Dieter Ebels

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Beschreibung

Auf der berühmten Duisburger Landmarke Tiger & Turtle wird ein Mordopfer gefunden. Die Kommissarin Silvia Muisfeld und ihre beiden Mitstreiter, Sven Söhlbach und Tibo Nowack, tappen zunächst im Dunklen, während der Täter bereits weitere Morde plant. Sie können nicht ahnen, dass das Täter, ein eiskalter Killer, ein bis ins kleinste Detail geplantes, Katz- und Mausspiel mit der Polizei treibt.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog von Uwe Daniel

Montag, 8.20 Uhr

Montag, 11.45 Uhr

Mittwoch, 8.10 Uhr

Mittwoch, 10.15 Uhr

Mittwoch, 11.15 Uhr

Mittwoch, 12.10 Uhr

Mittwoch, 13.15 Uhr

Donnerstag, 8.30 Uhr

Prolog von Uwe Daniel

Vor gut zwei Jahren nahm ich über einen gemeinsamen Freund Kontakt zu Dieter auf und bat um seinen geschätzten Rat bezüglich meiner bevorstehen Buchveröffentlichung. Ehrlich gesagt machte ich mir kaum Hoffnung, dass ein bereits erfolgreicher Autor sich Zeit nimmt, einem unbekannten Schreiberling unter die Arme zu greifen. Dieter war aber von meiner Arbeit begeistert und nahm sich Zeit für ein persönliches Gespräch. Über diesen Erstkontakt entwickelte sich eine lockere Freundschaft mit gelegentlichem regen Austausch. Dieter ist in seiner Schaffensphase inzwischen beim Genre „Krimi“ angekommen und im Zuge der Duisburger Krimiserie durfte ich ihm mit meinem Rat zur Seite stehen. Uns beide verbindet nicht nur die Leidenschaft zum Schreiben, sondern auch die Liebe zur Natur. Lange Streifzüge durch Feld und Wald sorgen für Inspiration und so für den Stoff neuer Geschichten. Dort wo Zivilisation auf menschengemachte Landmarken stößt, entsteht spannender Begegnungsraum. So auch die Landmarke Tiger & Turtle, eine spektakuläre, begehbare Achterbahn in Duisburg. Bei klarem Wetter genießt man hier einen herrlichen Weitblick, und in der Nacht wird die Landmarke zum beleuchteten Kunstwerk. In Dieters neustem Werk wird diese Landmarke zur schaurigen, gruseligen Kulisse mörderischer Handlungen.

Uwe Daniel

Montag, 8.20 Uhr

Kriminalkommissarin Silvia Muisfeld und ihr Kollege Sven Söhlbach bestiegen die Heinrich-Hildebrand-Höhe. Darüber, dass der Namensgeber dieses Berges der Duisburger Heimatforscher Heinrich Hildebrand war, machten sie sich keine Gedanken.

Eigentlich war es auch kein richtiger Berg, sondern eine Halde, bestehend, unter anderem, aus der Schlacke einer ehemaligen Zinkhütte, welche 2005 stillgelegt wurde.

Im Volksmund war dieser Ort allerdings als Magic Mountain bekannt, weil oben auf der Anhöhe das berühmte Monument Tiger & Turtle thronte.

„Der Tag fängt ja gut an“, kam es stöhnend aus dem Mund der Kommissarin. „Am frühen Morgen muss man schon einen Berg ersteigen.“

„Berg?“, wunderte sich ihr Kollege. „So etwas nennst du Berg? Du solltest mich mal in den Urlaub begleiten, wenn ich in den Alpen in den Bergen unterwegs bin. Dann weißt du, was richtige Berge sind.“

„Du hast mit deinen langen Beinen ja auch gut lachen“, entgegnete Muisfeld. „Wenn du einen Schritt machst, muss ich schon zwei machen.“

Sie deutete auf Svens Beine, die ihn in der Tat mit großen Schritten voran bewegten. Das lang daran, dass der schlaksige Söhlbach sie mit seiner Größe von 1,87 cm um gut zwanzig Zentimeter überragte.

Silvia wies mit der Hand nach oben.

„Ralf und seine Leute sind schon fleißig“, sagte sie.

Auf der Anhöhe waren bereits die weiß gekleideten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Spusi zu sehen. Ralf Meier, der Leiter der Spurensicherung, trug als einziger keine Kopfbedeckung. Seine hellblonden Haare leuchteten schon aus der Ferne.

„Unser blonder Schönling“, murmelte sie. „Ich glaub´, er hat seine Haare schon wieder nachgefärbt.“

„Da mache ich es mir einfacher“, sagte Sven und fuhr mit der Hand über seinen kahl geschorenen Kopf.

Nachdem Söhlbachs Haare vor ein paar Jahren immer weniger geworden waren, hatte er sich einfach eine Glatze rasiert, weil er der Meinung war, dass es besser aussähe, als Geheimratsecken, die bis zur Kopfmitte reichen. Dass die Kollegen meinten, er sähe nun deutlich älter aus als 38 und ihn mit dem Schauspieler Bruce Willis verglichen, war ihm egal.

Als Söhlbach und Muisfeld oben angekommen waren, ragte direkt über ihnen die riesige Skulptur Tiger & Turtle, die die Form einer Achterbahn mit Looping hatte, auf. Ein weiterer Mann der Spurensicherung stand oben in der Konstruktion. Er fotografierte einen leblosen Körper, der vor ihm auf den stählernen Stufen lag.

Ein Passant hatte den toten Mann heute Morgen entdeckt und die Polizei verständigt.

„Guten Morgen, ihr beiden“, begrüßte Ralf Meier Sven und Silvia.

„`n Morgen, Ralf“, grüßte Söhlbach zurück, während Muisfelds Begrüßung nur aus einem kurzen Nicken bestand. „Hast du dir den Toten schon angeguckt? Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?“

„Ja, es sieht auf dem ersten Blick nach einer tödlichen Stichverletzung im Herzbereich aus.“

„Das ist aber schon sehr merkwürdig“ sagte Silvia. „Wer macht sich denn die Arbeit, und schleppt einen Toten dort hinauf?“

„Niemand, meine Liebe“, gab Ralf ihr zu verstehen. „Wie es aussieht, wurde der Mann dort oben vor Ort erstochen.“

„Dann ist er also gemeinsam mit seinem Mörder dort hinauf gestiegen“, stellte Muisfeld fest.

„Oder er wollte sich vor seinem Mörder dort in Sicherheit bringen“, vermutete Söhlbach. „Vielleicht wurde er von seinem Mörder verfolgt und hat gesehen, dass zwei Aufgänge auf die Achterbahn führen. Er könnte vermutet haben, dass er seinen Verfolger abhängen kann, wenn er das Monument auf der einen Seite betritt und auf der anderen wieder verlässt.“

Ralf Meier lachte.

„Dann war er aber ganz schön blöd“, stellte er fest. „Es weiß doch jeder, dass der Looping nicht begehbar ist.“

„Oder er kam von Außerhalb und kannte diese Konstruktion noch nicht“, vermutete Sven. Er deutete hinauf zu dem Toten. „Der Mann liegt fast ganz oben, kurz vor dem Gitter, welches den Zugang zum Looping versperrt.

Vielleicht hatte er zu spät bemerkt, dass es dort nicht mehr weiterging.“

„Ja“, bestätigte Silvia die Vermutung ihres Kollegen. „So gesehen, wäre es durchaus möglich.“

„Komm, Silvia“, forderte Sven sie auf, „lass uns den Toten mal aus der Nähe betrachten.“

Die Kommissarin blickte nach oben und verzog das Gesicht.

„Hast du was dagegen, wenn ich hier unten bleibe, Sven?“

Söhlbach wusste, dass Silvia nicht gerne auf solche Konstruktionen stieg, besonders, wenn, wie bei diesem Monument, die aus Metallgittern bestehenden Stufen einen freien Blick in die Tiefe freigaben.

Mit den Worten: „Alles muss man mal wieder alleine machen“, begab sich Sven zum Aufgang und stieg die stählernen Stufen empor.

Er bewegte sich zügig voran und hatte bald den obersten begehbaren Teil der Anlage erreicht. Für die grandiose Rundumsicht, die man von hier oben über das Stadtgebiet geboten bekam, hatte er kein Auge.

Als er den Toten fast erreicht hatte, kam ihm der weißgekleidete Mann mit dem Fotoapparat entgegen, der im Vorbeigehen kurz grüßte.

Dann stand Söhlbach vor dem Toten. Die Kleidung des ermordeten Mannes war im Brustbereich blutdurchtränkt. Eigentlich konnte man nicht genau erkennen, ob das Mordopfer erstochen wurde. Es stand auf jeden Fall fest, dass der Tod offensichtlich durch Gewalteinwirkung im Brustkorb eingetreten war.

Das Gesicht des Toten wirkte verzerrt und Sven hatte den Eindruck, als könne er das Entsetzen, was der Mann durchlebt hatte, noch ablesen. Dem Kommissar fiel sofort der sehr gepflegte Haarschnitt des Ermordeten auf. Das weiße Hemd, die dunkle Hose und der ebenfalls dunkle Blazer ergänzten das ordentliche Erscheinungsbild des etwa fünfzigjährigen Mannes.

Söhlbach nahm ein Paar Gummihandschuhe aus seiner Tasche und zog sie über. Dann durchsuchte er vorsichtig die Taschen des Toten. Er hoffte, irgendwelche Hinweise auf die Identität des Mordopfers zu finden. Zu Svens Enttäuschung waren die Taschen aber leer.

Nachdem er mit seinem Handy noch ein Foto des Mannes gemacht hatte, stieg er die stählernen Stufen wieder hinab.

Unten angekommen, kam ihm Silvia entgegen.

„Und?“, fragte sie. „Was ist dein Eindruck?“

„Ralf wird wohl mit seiner Vermutung, dass der Tote einer Stichverletzung erlegen ist, Recht haben. Ganz genau konnte ich es aber wegen des vielen Blutes nicht erkennen. Ich habe die Kleidung durchsucht, aber die Taschen sind alle leer und es gibt keinen Hinweis auf seine Identität.“

„Mist!“, kam es laut aus Silvias Mund. „Ich sehe mich jetzt schon wieder vor dem Rechner sitzen, wie ich die Vermisstenmeldungen durchsuche. Meine absolute Lieblingsbeschäftigung.“

„Und ausgerechnet heute besucht Tibo dieses Seminar.“, sagte Söhlbach. „Den hätten wir für diese Arbeit gut gebrauchen können.“

„Da hast du Recht, Sven. Dieses Seminar ist sowieso lächerlich. Der Chef schickt Tibo zu einem Lehrgang, den er gar nicht nötig hat. Dabei geht es um auffälliges Verhalten bestimmter Tätergruppen. Wie ich unseren Tibo kenne, wird er über das Thema mehr wissen, als der Referent.“

Muisfeld lachte.

„Das denke ich auch.“

Der Kollege, von dem die beiden redeten, hieß Tibo Nowack. Er war erst vor kurzem von Hamburg nach Duisburg gekommen. Nowack verfügte über ein außergewöhnlich großes Allgemeinwissen und das hatte sich bereits bei zurückliegenden Ermittlungsarbeiten als sehr nützlich erwiesen.

„Tibo ist ja nur für einen Tag weg“, sagte Söhlbach.

„Morgen sind wir wieder zu dritt.“

Nun trat Ralf Meier an die beiden heran.

„Und, Sven?“, fragte er. „Hast du da oben etwas entdeckt, was ich übersehen habe?“

Die Antwort war ein Schulterzucken.

Der Leiter der Spurensicherung grinste.

„Dafür haben meine Leute aber etwas entdeckt, was euch viel Arbeit ersparen wird.“

Meier hielt eine Plastiktasche mit einem Portemonnaie hoch.

„Die Geldbörse lag da hinten auf dem Boden, direkt unterhalb des Toten. Das Teil muss ihm wohl aus der Tasche gefallen sein.“

Söhlbach, der immer noch seine Handschuhe anhatte, nahm die Tasche entgegen und zog das Portemonnaie heraus. Er öffnete es vorsichtig. In einem Fach befand sich, neben einigen Banknoten, auch ein Personalausweis.

Auf dem Passfoto erkannte Sven sofort den Mann, der über ihnen tot auf den Metallstufen lag.

„Der Tote heißt Horst Wilde“, stellte er fest. „Er wohnt auf der Trompeterstraße.“

„Trompeterstraße?“, kam es fragend aus Muisfelds Mund.

„Wo liegt die denn?“

Die Antwort gab Ralf Meier: „In Rheinhausen. Das weiß ich, weil dort ein Freund von mir wohnt. Das ist ganz in der Nähe des Toeppersees.“

„Am Toepper?“, sagte Sven leise und wirkte nachdenklich.

„Ja“, bestätigte Meier. „Warum fragst du so verwundert?“

„Ich bin nicht verwundert. Mit dem Toepper verbinde ich viele Jugenderinnerungen. Wir waren dort immer schwimmen. War ´ne tolle Zeit.“

Ralf Meier grinste und meinte: „Dann hast du ja jetzt einen Grund, deine Jugenderinnerungen wieder aufzufrischen.“

Söhlbach blickte ihn fragend an.

„Wie meinst du das, Ralf?“

„Nun, ich gehe davon aus, dass ihr jetzt rüber nach Rheinhausen fahrt, um euch die Wohnung des Toten anzusehen. Dabei könnt ihr ja einen Abstecher zum Toeppersee machen.“

Sven schüttelte den Kopf.

„Leider ist es am Toepper nicht mehr so, wie es früher war“, sagte er. „Ich war im letzten Sommer mal kurz da und musste feststellen, dass es nicht mehr der Toepper ist, den ich von früher her kannte.“

„Und warum nicht?“, wollte Meier wissen.

Söhlbach ging auf diese Frage nicht ein. Er verzog nur das Gesicht und winkte ab.

„Wenn es noch etwas Besonderes gibt, dann ruf uns bitte an, Ralf.“ Dann wandte er sich an seine Kollegin: „Komm, Silvia, wir fahren nach Rheinhausen.“

Wenig später saßen die beiden in ihrem Dienstwagen und fuhren los.

Silvia saß am Steuer und Sven nutzte sein Handy als Navigationsgerät und gab als Ziel die Trompeterstaße ein.

Obwohl um diese Uhrzeit wegen des Berufsverkehrs noch viele Autos unterwegs waren, kamen sie einigermaßen zügig voran.

Der Stadtteil Rheinhausen lag auf der anderen Rheinseite.

Bald schon fuhren sie über die Brücke der Solidarität und überquerten den großen Strom, die von vielen Schiffen befahrene Wasserstraße, die von Süden nach Norden durch die Stadt floss.

Silvia schaute ihren Kollegen neugierig an.

„Sag mal, Sven, warum hast du denn vorhin so komisch reagiert, als Ralf dich nach dem Toeppersee gefragt hat?“

Söhlbach zuckte mit den Schultern.

„Weißt du, Silvia, ich verbinde den Toepper mit wunderschönen Jugenderinnerungen. Da hatte ich damals auf einer Decke zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Es war eine aufregende Zeit. Voriges Jahr war ich nach langer Zeit mal wieder da und es sah alles so befremdlich aus.

Ich hatte alles ganz anders in Erinnerung. Das liegt wohl daran, dass man in der Jugend nur das Schöne sieht und nur das in Erinnerung behält, woran man gerne zurück denkt. Vielleicht hätte ich letztes Jahr nicht an einem sonnigen Wochenende dorthin fahren sollen, denn es war alles total überlaufen. Solche Menschenmengen gab es zu meiner Jugend dort nicht. Früher gab es einsame Stellen am Ufer. Dort hatten wir es uns auf Decken gemütlich gemacht. Wer in der heutigen Zeit am Wochenende dort Einsamkeit sucht, ist definitiv fehl am Platz.“

„Die Zeiten ändern sich eben“, sagte Silvia. „Mir geht gerade etwas ganz anderes durch den Kopf. Wir wissen absolut nichts über den toten Horst Wilde. Wenn er verheiratet war, müssen wir seiner Frau die Todesnachricht überbringen. Davor graut es mir.“

Söhlbach verzog das Gesicht, sagte aber nichts.

Es dauerte noch eine Weile, bis Söhlbachs Handy meldete: Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

Muisfeld stoppte den Wagen und die beiden stiegen aus.

Sie standen vor einem älteren Gebäude aus dunkelroten Ziegelsteinen. Die Anzahl der Türklingeln ließ erkennen, dass vier Familien in dem Haus wohnten.

Der Name Wilde stand allerdings auf keiner der Klingeln.

Ein kontrollierender Blick auf die Hausnummer zeigte den beiden aber, dass sie hier richtig waren.

„Vielleicht wohnte Wilde hier nicht mehr und hatte nur vergessen, sich umzumelden“, sagte Silvia.

Ihr Kollege nickte.

„Das kann sein. Dann sollten sich aber die anderen Mieter noch an ihn erinnern können.“

Söhlbach drückte, ohne zu zögern, auf den untersten Klingelknopf. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür summend aufsprang.

Die zwei betraten den Flur.

Aus der Tür der linken Wohnung trat eine Frau heraus und sah die beiden Fremden neugierig an.

Sven hielt seinen Dienstausweis hoch und sagte: „Wir sind von der Polizei. Hier soll ein Horst Wilde wohnen. Kennen Sie ihn?“

„Klar kenne ich den Horst“, antwortete die Frau. „Hat er etwas ausgefressen?“

Noch während sie das sagte, begab sie sich zur gegenüberliegenden Wohnung.

Sie klopfte laut gegen die Tür und rief: „Ilse! Mach mal auf. Die Polizei sucht deinen Bruder!“

Die Tür öffnete sich.

Eine etwa fünfzig Jahre alte Frau, deren grauen Haare aussahen, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen, schaute die Besucher verwundert an.

„Wat is denn los?“, fragte sie. „Ham Se den Hotte wieder beim Zocken erwischt oder wat?“

Söhlbach zeigte auch dieser Frau seinen Dienstausweis.

„Mein Name ist Söhlbach und das ist meine Kollegin Kommissarin Muisfeld. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin Ilse Kampinski. Wat hat mein Bruder wieder angestellt?“

„Frau Kampinski“, sagte Sven. „Dürfen wir mal zu Ihnen reinkommen?“

Die Angesprochene zögerte kurz.

Dann sagte sie: „Komm´ Se rein.“

Während die Frau vorging, um die beiden ins Wohnzimmer zu führen, fielen Silvia sofort ihre abgelatschten Filzpantoffeln auf. Die losen Sohlen der Hausschuhe machten den Eindruck, als würden sie jeden Moment abfallen. Die schwarze, alte Jogginghose der Frau war im Gesäßbereich so zerschlissen, dass einige Löcher darin zu erkennen waren.

Sven, dem das natürlich ebenfalls nicht entgangen war, tauschte mit seiner Kollegin schweigend einen kurzen Blick aus.

„So“, meinte Frau Kampinski, nachdem sie im Wohnraum standen, „dann erzählen Se mal. Is´ der Hotte wieder rückfällig geworden? Hat er wieder Spielschulden gemacht?“

„Frau Kampinski“, sagte Sven, „wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Bruder verstorben ist.“

„Wat?“, kam es ungläubig aus dem Mund der Frau. „Hotte is` tot?“

Sie ließ sich langsam auf einen Sessel nieder.

Muisfels trat an sie heran.

„Frau Kampinski“, sagte sie, „wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“

Die Angesprochene schien die Worte der Kommissarin nicht verstanden zu haben, denn sie starrte wortlos ins Leere.

„Der Hotte is´ tot?“, fragte sie flüsternd. „Wat is´ passiert?“

Ihre Gesichtsfarbe verwandelte sich mit einem Schlag in das gleiche, fahle Grau ihrer Haare.

„Was genau passiert ist“, sagte Silvia, „das wissen wir noch nicht, aber wie es aussieht, wurde Ihr Bruder ermordet.“

„Ermordet?“

Die Schwester des Toten schüttelte den Kopf.

„Wer sollte Hotte denn ermorden? Er hat doch mit diesen ganzen Verbrechern seit Jahren nix mehr zu tun.“

„Von welchen Verbrechern reden Sie?“, wollte Muisfeld von der Frau wissen.

„Von den Verbrechern, mit denen Hotte früher immer Karten gespielt hat. Mein Bruder hat aber schon vor Jahren mit dem Spielen aufgehört. Er ist ganz solide geworden und hat ´ne feste Arbeit.“

„Frau Kampinski, wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?“

Die Frau im Sessel schien zu überlegen.

„Tja, wann hab´ ich Hotte das letzte Mal gesehen? Dat ist schon lange her, bestimmt drei oder vier Monate.“

„Ihr Bruder wohnte nicht mehr hier?“

„Nee, er lebt doch in einer Dienstwohnung.“

„In einer Dienstwohnung?“ fragte Söhlbach neugierig.

„Was hat er denn beruflich gemacht?“

Er bekam keine Antwort.

Stattdessen sagte Frau Kampinski: „Ich kann nicht glauben, datt der Hotte tot is´. Er hätte nächste Woche Geburtstag gehabt und wäre 48 geworden. Ich hab doch schon extra ´ne Pulle von seinen Lieblingsschnaps gekauft. Hotte wollte an seinem Geburtstag bei mir vorbeikommen. Dat hat er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt.“

„Haben Sie oft mit Ihrem Bruder telefoniert?“

„Nein. Er hat mich nur ganz selten angerufen, vielleicht einmal im Monat.“

„Das mit Ihrem Bruder tut uns wirklich aufrichtig leid“, ergriff nun Silvia wieder das Wort. „Frau Kampinski, bitte verraten Sie uns doch, was Ihr Bruder so gemacht hat. Gab es jemanden, mit dem er Streit hatte?“

„Nein, die Zeit, in der er wegen seiner Spielschulden oft mit diesen Verbrechern Streit hatte, ist schon lange vorbei. Seitdem mein Bruder den Job bei den von Sudenbachs hat, ist er solide geworden und hat nicht einmal mehr gezockt.“

„Was für einen Job hatte er denn?“, fragte die Kommissarin.

„Er war Chauffeur.“

„Chauffeur?“

„Ja. Er war bei den von Sudenbachs als Chauffeur mit eigener Dienstwohnung angestellt. Diese Arbeit hatte dem Hotte immer viel Spaß gemacht, auch wenn er oft darüber geschimpft hatte, datt er Tag und Nacht einsatzbereit sein musste.“

„Was sind diese von Sudenbachs denn für Leute?“ wollte Silvia wissen.

„Denen gehören ganz große Firmen. Ich weiß auch nicht genau, wat die alles so machen, aber ich weiß, datt der Hotte den Herrn von Sudenbach schon mal mitten in der Nacht nach Berlin fahren musste. Meistens musste er seinen Chef aber zum Flughafen fahren, weil der oft auf der ganzen Welt unterwegs ist. Hotte war aber auch gleichzeitig der Chauffeur von Frau von Sudenbach. Wat mein Bruder sonst noch alles machen musste, weiß ich nicht. Er hatte nie viel über seine Arbeit geredet.“

„Wo war denn die Dienstwohnung Ihres Bruders?“

„Die war im Haus von den von Sudenbachs. Ich weiß aber weder, wie die Wohnung aussah, noch wie groß sie war, weil ich Hotte dort nie besuchen durfte.“

„Können Sie uns denn die Adresse dieser Wohnung geben?“

„Ja“.

Die Schwester des Toten stand auf und ging zu einem Schrank. Sie ergriff einen Zettel, der neben einer Reihe von Büchern auf einem Regal lag und übergab diesen der Kommissarin.

„Da steht die Adresse drauf“, sagte sie. „Den Zettel können Se behalten. Den brauch´ ich ja jetzt nicht mehr.“

Silvia blickte kurz auf den Zettel und nickte.

„Danke, Frau Kampinski.“

Nun ergriff Söhlbach das Wort: „Sagen Sie, hatte Ihr Bruder noch andere Angehörige? War er vielleicht verheiratet oder hatte er Kinder?“

„Nee, Hotte lebte alleine.“ Jetzt rollten dicke Tränen über ihre Wangen. „Sagen Sie, darf ich meinen Bruder noch mal sehen? Ich möchte mich doch von Hotte verabschieden.“

„Frau Kampinski“, sagte Silvia. „Sie werden Ihren Bruder auf jeden Fall noch einmal sehen. Wir konnten den Toten zwar an Hand seines Personalausweises identifizieren, aber es ist üblich, dass Angehörige das auch noch einmal machen.“

Die Frau nickte.

„Bitte, Frau Kampinski“, wandte sich Söhlbach noch einmal an sie. „Überlegen Sie einmal ganz genau. Hatte Ihr Bruder vielleicht mal erwähnt, dass er doch wieder Kontakt mit den Leuten hatte, mit denen er früher immer gespielt hat?“

Die Antwort war ein schnelles „Nein.“

„Kennen Sie denn die Leute, mit denen er früher immer gespielt hatte? Können Sie uns Namen nennen?“

„Nein, die kenn ich nicht.“

„Wissen Sie denn, wo Ihr Bruder immer gespielt hat?“

„Dat weiß ich auch nich´. Dat wollte ich auch nie wissen. Hat mich nie interessiert, wo Hotte sich immer mit diesen Verbrechern getroffen hat.“

„Halten Sie es denn für möglich, dass Ihr Bruder in der letzten Zeit vielleicht doch noch mal mit diesen Männern gespielt hat?“

„Nein, dat hat er ganz bestimmt nicht. Wissen Se, et war nämlich so. Hotte schuldete diesen Verbrechern noch ein paar Tausend Euro, als er den Posten als Chauffeur bekommen hat. Er is´ damals sofort in die Dienstwohnung gezogen und diese Wohnung kannte niemand. Ich war die einzige, die wusste, wo Hotte wohnte und hätte es niemandem verraten. Genau genommen is´ Hotte in einem anderen Stadtteil untergetaucht. Diese Verbrecher haben damals oft hier angerufen und ich habe ihnen immer erzählt, dass mein Bruder nach Brasilien ausgewandert is´. Die Kerle hatten draußen auf der Straße im Auto gesessen und das Haus beobachtet, weil sie wohl dachten, dass Hotte hier auftauchen könnte. Einmal hatten sie sogar hier an der Tür geschellt und waren einfach in die Wohnung gekommen. Sie hatten mich sogar bedroht, aber ich hab´ meinen Bruder nicht verraten. Sie können mir ruhig glauben, dat Hotte mit diesen Verbrechern nix mehr zu tun hatte, ganz bestimmt nich´“

„Was waren das denn für Männer?“

„Dat waren zwei ganz üble Kerle, so richtige Verbrechervisagen.“

„Würden Sie diese Männer wiedererkennen?“

„Ganz bestimmt. Haben Sie die etwa schon gefasst?“

„Nein, Frau Kampinski, aber es könnte sein, dass diese Männer bei den Ermittlungen ins Spiel kommen. Wenn sie bei der Polizei schon aktenkundig sind, haben wir ihre Fotos in der Kartei. Wir würden Sie dann eventuell einladen, damit Sie sich die Kartei mal anschauen. Wenn Sie die Männer identifizieren, könnte uns das weiterhelfen.“

„Ja“, sagte die Frau. „Wenn dat die Mörder von Hotte sind, helfe ich Ihnen gerne beim identifizieren.“

Sven übereichte der Frau seine Karte und notierte sich die Telefonnummer von der Schwester des Toten.

„Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Sie bekommen auf jeden Fall von uns Bescheid, wenn Sie zu Ihrem Bruder dürfen.“

Die Frau nickte nur kurz.

Etwas später saßen Muisfeld und Söhlbach wieder im Auto.

„Denkst du das gleiche, wie ich?“, fragte Silvia ihren Kollegen. „Die Männer, bei denen Horst Wilde noch Spielschulden hatte, haben ihn gefunden und sich an ihn gerächt.“

Sven nickte.

„Diese Vermutung liegt nah. Wir wissen nur leider nicht, wer diese Männer sind.“

„Vielleicht haben die Mörder ja eindeutige Spuren hinterlassen, Fingerabdrücke, die bereits in unserem Rechner sind und nur darauf warten, durch einen Abgleich erkannt zu werden.“

„Warten wir den Bericht der KTU ab“, sagte Sven.

Seine Kollegin warf einen kurzen Blick auf den Zettel mit der Adresse der Dienstwohnung, in der Wilde gelebt hatte.

„Dann lass uns mal wieder die Rheinseite wechseln und in den Norden fahren“, meinte sie.

„Weißt du etwa schon, wo wir genau hin müssen oder soll ich die Adresse ins Navi eingeben?“

„Ich weiß, wo wir hin müssen. Die Straße kenne ich. Sie liegt im Stadtteil Röttgersbach.“

„Röttgersbach?“, widerholte Sven. „Das ist ja nicht allzu weit von deinem Zuhause entfernt.“

„Ja“, bestätigte Silvia. „Mit dem Auto nur fünf Minuten.“

Silvia Muisfeld wohnte in einer ruhigen Einfamilienhaussiedlung im Stadtteil Neumühl. In diesem Haus war sie aufgewachsen. Ihre verwitwete Mutter bewohnte die untere Etage und Silvia lebte im oberen Bereich.

Söhlbach schaute auf seine Uhr.

„Schade“, sagte er. „Es ist erst zehn Uhr.“

„Warum schade?“, fragte Silvia.

Ihr Kollege ging nicht auf die Frage ein.

Stattdessen sagte er: „Was meinst du, wie lange fahren wir von hier aus bis nach Röttgersbach?“

„Vielleicht ´ne halbe Stunde oder etwas mehr. Warum willst du das so genau wissen?“

„Weil ich etwas ausrechnen will. Sagen wir mal, wir sind gegen halb Elf vor Ort. Ich weiß zwar nicht, was uns dort erwartet, aber wir werden uns unter anderen mit dem Arbeitgeber unseres Mordopfers unterhalten müssen. Das wird auf jeden Fall Zeit in Anspruch nehmen. Wenn wir dort fertig sind, dürfte es Mittagszeit sein. Du hast doch gerade selbst gesagt, dass es von dort nur fünf Minuten bis nach Neumühl sind.“

Muisfeld grinste.

„Jetzt weiß ich, was du vor hast, Sven. Du willst deine Mittagspause im Greco-Grill verbringen.“

Söhlbach grinste.

„So ist es. Ich sehe meinen Gyrosteller schon vor mir. Weißt du, wie lange ich den schon nicht mehr gegessen habe? Ich hab´ schon Entzug.“

Sven behauptete immer, dass es im Greco-Grill den leckersten Gyros von ganz Duisburg geben würde. Wie oft er gemeinsam mit seiner Kollegin schon dort eingekehrt war, wusste er nicht mehr, aber es war schon sehr, sehr oft.

„Mein lieber Sven“, sagte Silvia, „da muss ich dich fürchterlich enttäuschen. So sehr auch ich heute Appetit auf Griechisch hätte, heute ist Montag und da hat Greco Ruhetag.“

„So ein Mist!“, fluchte Söhlbach. „Da sind wir schon mal in der Nähe, und dann ist zu.“

„Was hältst du davon, wenn wir im Laufe der Woche mal nach Feierabend dorthin gehen?“

„Davon halte ich sehr viel. Sollen wir gleich Morgen festhalten?“

„Warten wir erst einmal ab, Sven. Ich möchte mich noch nicht festlegen.“

„Warum? Triffst du dich morgen vielleicht mit deinem Daniel?“

Muisfeld schüttelte den Kopf.

„Nein, leider nicht. Ich werde ihn wohl die ganze Woche nicht sehen können.“

„Weißt du was?“, sagte Sven. „Du bist meine Lieblingskollegin und hast es nicht verdient, immer an die falschen Männer zu geraten. Ich hatte dir gleich von diesem Mann abgeraten, aber du hörst ja nicht auf mich.

Wie konntest du dich nur mit einem verheirateten Mann einlassen?“

„Ich liebe ihn, Sven, und das weißt du. Ich hab´s dir schon tausendmal erklärt. Liebe ist etwas, was einfach passiert. Da hat man keinen Einfluss drauf. Ich liebe diesen Mann vom ganzen Herzen und er liebt mich auch.“

„Und er liebt auch seine Frau, Silvia. Ich weiß. In meinen Augen ist das keine glückliche Liebe und ich habe Angst, dass du daran kaputt gehst.“

Muisfeld atmete tief durch.

„Ach, Sven, die Momente, die ich mit ihm zusammen bin, sind so unbeschreiblich schön, dass sie mich für alles andere entschädigen.“

Söhlbach ging nicht weiter darauf ein. Er wusste, dass es sinnlos war, Silvia von dieser, in seinen Augen unglückliche Beziehung, abzuraten. Er hatte es oft genug versucht und mittlerweile aufgegeben.

Die Beziehung zwischen Silvia und diesem verheirateten Mann lief schon seit einigen Monaten. Sven wusste nur, dass Muisfelds Geliebter Daniel hieß. Mehr hatte sie ihm nicht verraten, weil sie es ihrem Geliebten versprochen hatte. Sven kannte allerdings auch die tragische Geschichte von Daniel.

„Also gut“, wurde er von seiner Kollegin aus den Gedanken gerissen. „Halten wir morgen fest. Dann ist nach Feierabend Greco angesagt.“

„Na also. Warum nicht gleich so.“

Während Muisfeld aufmerksam hinter dem Lenkrad des alten VW-Passats saß, blickte ihr Kollege sie nachdenklich von der Seite an.

Er dachte daran, wie hübsch sie eigentlich war. Sie hatte ein anmutiges Gesicht und in ihren schulterlangen, rotbraunen Haaren lag immer ein gewisser, fast schon metallischer, Glanz.

Als er und Silvia vor vielen Jahren bei der Polizei ein Team wurden, waren sie beide noch fest liiert. Sven war damals noch verheiratet, doch seine Ehe war in die Brüche gegangen, weil seine Frau es mit der Treue nicht so genau genommen hatte. Silvia war zwar noch nie verheiratet, lebte aber zu dieser Zeit mit ihrem damaligen Lebensgefährten Dirk zusammen. Sie hatte ihn geliebt und war so richtig glücklich. Dann, vor etwas mehr als fünf Jahren, genau auf ihrem dreißigsten Geburtstag, hatte er ihr gesagt, dass es mit ihrer Beziehung vorbei sei und dass er sich in eine andere verliebt hätte. Es hatte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie hatte die gemeinsame Wohnung verlassen und war wieder in ihr Elternhaus nach Neumühl gezogen.

Danach waren sich Sven und Silvia nach einem feuchtfröhlichen Abend näher gekommen, doch außer einem innigen Kuss, war nichts weiter zwischen ihnen passiert.

Silvia war für Sven mittlerweile mehr als eine Kollegin. Zwischen den beiden hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt und manchmal hatte Sven das Gefühl, als müsse er Silvia beschützen, so, wie ein Bruder seine Schwester beschützt.

Dass sie immer an die falschen Männer geriet, passte ihm überhaupt nicht, doch leider hatte er keinen Einfluss darauf. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie sich in einen Kollegen verliebt, der ihre Liebe zu ihm schamlos ausgenutzt und für seine Zwecke missbraucht hatte. Und jetzt war sie schon wieder verliebt und dieses Mal sogar in einen verheirateten Mann.

„Warum schaust du mich die ganze Zeit an?“, wollte Silvia, die seine Blicke bemerkt hatte, wissen.

„Weil ich mir halt Gedanken über dich mache.“

„Und warum?“

„Weil du dich immer in die falschen Männer verliebst.“

„Jetzt geht das schon wieder los. Ich bin alt genug, Sven und weiß, was ich tue.“

„Das hattest du letztes Mal, als du so unsterblich verliebt warst, auch gesagt, und dann kam der große Knall.“

„Dieses Mal ist es aber anders. Dieses Mal weiß ich von Anfang an, woran ich bin. Daniel ist immer offen und ehrlich zu mir.“ Sie hob ihren Zeigefinger hoch. „So, und jetzt möchte ich davon nichts mehr hören!“

Sven wusste ganz genau, dass es für ihn jetzt besser war, zu diesem Thema zu schweigen.

Er war sich sicher, dass Silvia, würde er jetzt auch nur einmal das Wort Daniel in den Mund nehmen, explodieren würde.

Eigentlich war sie ein sehr ruhiger und ausgewogener Mensch, doch wenn man bei ihr eine gewisse Grenze überschritt, konnte sie auch anders. Auch wenn so etwas nur sehr selten vorkam, Sven hatte solche Situationen schon erlebt, und darauf hatte er in diesem Moment keine Lust.

Er zog es vor, jetzt erst einmal still zu sein.

* * *

Der Mann lief gemächlich über die Friedrich-Ebert-Brücke. Dieses etwa 600 Meter lange Bauwerk überquert den Rhein von Ruhrort in den westlichen Stadtteil Homberg.

Als er etwa die Mitte der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen und trat an das Geländer heran.

Er machte einen sehr schmuddeligen Eindruck. Seine Haare, die bis über die Ohren wuchsen, wirkten fettig. Ein buschiger Schnäuzer und ebensolche Augenbrauen unterstrichen das ungepflegte Erscheinungsbild.

Sein Name war Udo Rühl. Rühl war ein Mann, der in seinem Leben bereits über Leichen gegangen war und es trotzdem immer geschafft hatte, dabei im Hintergrund zu bleiben. Trotz aller Straftaten, die er schon verübt hatte, war es ihm bisher immer gelungen, gegenüber der Polizei unauffällig zu bleiben.

Sein Blick fiel flussabwärts auf den großen Strom, dessen Wassermassen, die unter ihm gemächlich dahin strömten, letztendlich in die Nordsee fließen würden. Er schätzte die Breite des Flusses, hier unter der Brücke, auf etwa 300 Meter.

Rechts im Gewässer erkannte er eines der großen Flusskreuzfahrtschiffe, welches gerade die Hafenmündung in Richtung Niederlande verließ. Diese luxuriösen Schiffe gehörten, besonders in den warmen Jahreszeiten, mittlerweile zum gewohnten Anblick. Manchmal machten viele dieser Schiffe, auf denen Touristen aus aller Welt unterwegs waren, gleichzeitig im Ruhrorter Hafenkanal fest. Mit Bussen wurden die Besucher dann zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gefahren. Dazu gehörten Ausflüge zum Landschaftspark Duisburg-Nord oder ein Zoobesuch, um die berühmten Koalas und die Delfinschau zu bewundern. Manche machten aber auch nur einen Bummel durch die Innenstadt, oder stiegen auf ein kleineres Schiff, um sich bei einer Rundfahrt den größten Binnenhafen der Welt anzusehen.

Udo Rühl stand auf der Brücke dachte daran, dass er, wenn alles so lief, wie er es geplant hatte, auch bald auf so ein Luxusschiff steigen würde. Er wusste auch schon, welche Route er machen würde. Zunächst sollte es rheinaufwärts gehen und dann über die Donau bis zum Schwarzen Meer.

Direkt unter ihm stampfte ein mit Containern beladener Schubverband flussaufwärts.

Für Außenstehende sah es so aus, als beobachtete der Mann den regen Schiffsverkehr, doch er hatte etwas ganz anderes im Sinn.

Er wartete, bis der mit Containern beladene Schubverband unter der Brücke verschwunden war. Dann griff er in die Innentasche seiner Jacke.

Jetzt ist es so weit, dachte er. Jetzt werde ich die Beweismittel verschwinden lassen.

Er schaute sich noch einmal um.

Zu seiner Zufriedenheit waren nirgendwo Fußgänger zu sehen und die Leute, die in ihren Autos die Brücke überquerten, interessierten sich nicht für den Mann, der die Schiffe zu beobachten schien.

Rühl zog ein Messer aus seiner Jacke und ließ es in den Rhein fallen. Die Blicke des Mannes verfolgten das Mordwerkzeug, bis es tief unter ihm, im Wasser versank.

Das war Beweisstück Nummer eins.

Ein Lächeln huschte über seinen Mund.

Dann griff er erneut in seine Jackentasche und zog ein Handy heraus. Das Display des Mobiltelefons war, wie die Außenhülle auch, total zerschlagen.

Wieder lächelte der Mann.

Da habe ich mit dem Hammer ganze Arbeit geleistet, dachte er, als er das zerstörte Handy betrachtete.

Er ließ es, wie schon zuvor das Messer, in den Fluss fallen.

Dann ging seine Hand in die Seitentasche der Jacke.

Dort tastete er suchend mit den Fingern herum.

Wo ist es denn?....Ach, da hab´ ich ´s ja.

Nun zog er die Speicherkarte, die er vorher dem Handy entnommen hatte, aus der Tasche und warf diese ebenfalls in den Rhein.

„Gute Reise“, sagte er leise.

In seinen Gedanken ging er noch einmal in die Nachstunden zurück, als er mit Horst Wilde oben auf dem Monument Tiger und Turtle gestanden hatte. Er hatte Horst mit der Geschichte dorthin gelockt, dass er ihm unbedingt das zeigen wollte, was er sich mit dem vielen Geld, welches er bald besitzen würde, kaufen wollte. Er hatte Horst gesagt, dass man es am besten von dort oben sehen könnte. Natürlich war Horst neugierig gewesen und hatte ihn gefragt, was es denn sei, aber er hatte gesagt, dass er sich überraschen lassen soll. So war Horst Wilde ahnungslos mit ihm auf die begehbare Achterbahn gestiegen.

Eigentlich war es nicht ganz so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Horst war zwar, wie geplant, vor ihm die Stufen hinauf gestiegen, doch in dem Moment, als er sein Messer gezückt hatte, um Horst einen tödlichen Stich von hinten in den Rücken zu verpassen, hatte dieser sich umgedreht und entsetzt auf das Messer in seiner Hand gestarrt. Dann war alles sehr schnell gegangen. Er hatte von vorne zugestochen, genau ins Herz. Erst einmal und dann ein zweites Mal. Horst war sofort nach hinten gefallen und als sein Kopf auf die Metallstufen aufgeschlagen war, hatte es laut gescheppert.

Er war sich zwar der Sache sicher, dass um diese nächtliche Uhrzeit niemand hier oben auf dem Berg war, aber er hatte sich trotzdem sofort schnell vom Tatort entfernt.

Jetzt stand Rühl oben auf der Rheinbrücke und dachte darüber nach, dass sich sein Anteil erhöht hatte.

Bald bin ich reich, ging es ihm durch den Kopf. Und durch Horsts Anteil werde ich noch reicher.

Noch einmal blickte er auf den breiten Strom unter sich. Dann spazierte er langsam zurück in Richtung Ruhrort. Auch wenn sein Blick auf die alten Brückentürme, die von ihrer Optik her auch zur Wehranlage einer Burg gehören könnten, gerichtet war, gingen seine Gedanken in eine andere Richtung.

Und wenn ich den nächsten erledigt habe, dachte er, wird sich mein Anteil noch mehr erhöhen. Dann werde ich stinkreich sein.

Er lächelte und wirkte sehr zufrieden.

Ich habe alles richtig gemacht.

* * *

Da auf der Brücke der Solidarität ein Lkw mit einer Panne liegengeblieben war und sich deshalb ein langer Stau gebildet hatte, hatten Silvia und Sven für die Rheinüberquerung zehn Minuten gebraucht.

Nach insgesamt dreiviertel Stunde hatten sie den Stadtteil Röttgersbach erreicht.

Söhlbach hatte zwar gewusst, dass es hier Wohnviertel mit wunderschönen Villen gab, doch als sie vor dem Haus vor fuhren, in dem die Dienstwohnung des Mordopfers lag, fiel ihm vor Staunen fast die Kinnlade herab.

„Was für ein Schuppen“, kam es voller Bewunderung aus seinem Mund.

Zur Tür der schneeweißen Villa führten in Rundungen verlaufende Treppen hinauf. Zwei ebenfalls weiße Säulen links und rechts der Tür stützten das ausladende Vordach.

Sofort, nachdem Muisfeld und Söhlbach aus ihrem Dienstwagen gestiegen waren, kam ein lautes „Boaah!“ aus Svens Mund.

Er deutete auf das offene Tor der breiten Doppelgarage, die auf der linken Seite im Gebäude integriert war.

„Ich kann´s nicht glauben“, sagte er.

„Was kannst du nicht glauben?“, wollte seine Kollegin von ihm wissen.

Sven ging auf ihre Frage nicht ein und marschierte auf das Auto zu, welches halb aus der Garage herausschaute. Als er mit neugierigen Blicken den Innenraum des Fahrzeugs durch die Scheiben betrachtete, kam erneut ein „Boaah“ über seine Lippen.

Silvia trat verwundert neben ihn.

„Was gibt es denn an diesem Auto so zu bestaunen?“, wollte sie von ihm wissen.

„Das ist ein Mercedes Maybach.“

„Ja, und?“

Ein Maybach gehört zu den teuersten Autos der Welt. Das ist alleroberste Luxusklasse. Normalerweise bekommt man solche Autos überhaupt nicht zu Gesicht. Erst letzte Woche lief ein TV-Bericht über den Maybach. Die billigste Ausführung diese Autos kostet 140.000 Euro. Dann gibt es noch den Maybach S650 Brabus Rocket und der kostet 520.000 Euro. Und jetzt halte dich fest, Silvia. Von dem Maybach wurde ein super exquisites Einzelmodel gebaut, welches für 8 Millionen Dollar verkauft wurde.“

Silvia schüttelte den Kopf.

„Typisch Mann“, murmelte sie, „schwärmt von Autos, die er sich sowieso niemals leisten könnte. Und jetzt reiß´ dich von diesem Anblick mal los. Wir müssen arbeiten.“

„Aber das Auto hat doch etwas mit unserem Mordopfer zu tun“, erklärte Söhlbach. „Wilde war Chauffeur und ich gehe davon aus, dass er dieses Auto gefahren hat.“

In diesem Moment öffnete sich in der Garage eine Seitentür. Ein hünenhafter Mann trat aus der Tür und bewegte sich zielstrebig auf die beiden zu.

Der breitschultrige Mann überragte selbst den langen Söhlbach um fast einen halben Kopf. Der eng anliegende, graue Anzug des Mannes war offensichtlich eine Maßanfertigung.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte er mit einer unglaublich selbstsicheren Stimme, die jedem sofort Respekt abverlangte.

„Wir würden gerne mit jemanden der Familie von Sudenbach sprechen“, sagte Silvia unbeeindruckt.

„Wer sind Sie, und was genau möchten Sie?“

Söhlbach zeigte dem Mann seinen Dienstausweis.

„Wir sind von der Kriminalpolizei und hätten ein paar Fragen.“

„Darf ich mal sehen?“, sagte der Mann und griff nach Söhlbachs Ausweis.

Nachdem er den Dienstausweis ganz in Ruhe überprüft hatte, gab er ihn zurück.

„Wenn ich Sie bei Frau von Sudenbach anmelde“, meinte er, „müsste ich schon wissen, worum es geht.“

„Es geht um Horst Wilde“, gab Sven dem Mann zu verstehen.

„Horst Wilde? Sie meinen den Chauffeur?“

„Ja.“

„Und worum geht es da genau?“

„Das möchten wir zunächst mit Frau von Sudenbach abklären“, ergriff nun Silvia das Wort.

Der breitschultrige Hüne nickte.