Die Toten vom Wambachsee - Dieter Ebels - E-Book

Die Toten vom Wambachsee E-Book

Dieter Ebels

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Leiche einer nackten, jungen Frau treibt in einem Ruderboot auf dem Wambachsee. Schnell stellt sich heraus, dass sie einem Mord zu Opfer gefallen war. Auch dieses Mal ist es ein verzwickter Fall für den Kommissar Sven Söhlbach und seiner Kollegin Silvia Muisfeld. Die Spur führt ins Rotlichtmilieu. Die beiden können noch nicht ahnen, dass weitere Morde folgen werden. Spannende Polizeiarbeit mit Liebe, tiefgründige Gefühle und viel Lokalkolorit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 319

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog von Norbert Schmidt

Montag, 8.20 Uhr

Montag, 11.00 Uhr

Montag, 18.00 Uhr

Dienstag, 8.10 Uhr

Böse Gedanken

Dienstag, 11.00 Uhr

Dienstag, 14.00 Uhr

Dienstag, 19.20 Uhr

Mittwoch, 8.30 Uhr

Mittwoch, 10.45 Uhr

Mittwoch, 11.45 Uhr

Mittwoch, 12.15 Uhr

Mittwoch, 14.00 Uhr

Prolog von Norbert Schmidt

Schon aus beruflichen Gründen war mein Metier eigentlich immer die Welt des Theaters, doch der Autor Dieter Ebels hat es geschafft, mein Herz auch für die Literatur zu öffnen. Kennengelernt haben wir uns bei einer gemeinsamen Arbeit an einem biografischen Werk und mittlerweile verbindet uns eine echte Freundschaft. Mit Dieter Ebels lernte ich einen Menschen kennen, bei dem die Tugenden Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft noch großgeschrieben werden, und es ist schön, so einen Freund zu haben. Die Literaturwelt Deutschland ernannte Dieter Ebels zum Autor des Jahres 2019 und mir wurde die Ehre zuteil, ihm in einer extra dafür vorgesehenen Feierstunde die Ernennungsurkunde zu überreichen. Diese von Fernsehen und Presse begleitete Feierlichkeit hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck und auch die großartige Laudatio, in der Bezirksbürgermeister Marcus Jungbauer über das erfolgreiche Wirken des Autors berichtete, bleibt mir unvergessen. Es ist schön, wenn einem Freund die Ehre erteilt wird, die er verdient hat. Ich wünsche Dieter Ebels auch weiterhin viel Erfolg und mir persönlich noch viele spannende Werke aus seiner Feder.

Norbert Schmidt

Montag, 8.20 Uhr

Eigentlich hatten die Kommissarin Silvia Muisfeld und ihr Kollege Sven Söhlbach den Montagmorgen dazu nutzen wollen, um liegengebliebene Berichte zu schreiben.

Der Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte im Präsidium Duisburg mit dem kuriosen Namen Metzger-Ibbenburg hatte die beiden schon mehrmals angemahnt, ihm endlich die noch fehlenden Berichte von zurückliegenden Fällen zu liefern. Doch auf die Berichte würde der Kommissariatsleiter auch heute noch warten müssen.

Kaum hatten Söhlbach und Muisfeld in ihrem Büro Platz genommen, klingelte das Telefon. Jemand hatte auf dem Wambachsee eine leblose Frau in einem Ruderboot entdeckt, welches vom dortigen Bootsverleih entwendet worden war.

Nun saß die fünfunddreißigjährige Kommissarin auf dem Beifahrersitz des Dienstwagens, einem silbernen VW-Passat älteren Baujahrs. Ihr um drei Jahre älterer Kollege, saß hinter dem Lenkrad und steuerte das Fahrzeug in Richtung Sechs-Seen-Platte.

„Das wird für die beiden vom Bootsverleih eine große Aufregung sein“, sagte Söhlbach.

„Die beiden vom Bootsverleih?“, wunderte Silvia sich und sah ihren Kollegen mit großen Augen an. „Wer sind die beiden vom Bootsverleih?“

„Ich meine die beiden, die die Boote dort verleihen, die Silke und den Bernd.“

„Kennst du sie?“

„Ja, ich kenne sie. Ich habe Silke und Bernd mal zufällig auf einer Feier kennen gelernt. Es war irgendeine Geburtstagsfeier. Wir hatten damals viel Spaß miteinander. Obwohl ich die beiden noch niemals vorher gesehen hatte, waren sie mir von Anfang an sehr sympathisch. Etwa einen Monat nach dieser Feier war ich mit Mama an der Sechs-Seen-Platte spazieren.“

„Lass mich raten“, unterbrach Silvia ihn. „Deine gute alte Mama wollte plötzlich mit dem Boot fahren.“

Sven grinste. „Genauso war es. Mama hatte gesehen, wie ein paar Leute mit Tretbooten über den Wambachsee schipperten. Da wollte sie es unbedingt auch einmal mit dem Boot fahren. Wir sind dann zum Bootsverleih gegangen und als ich sah, wer diesen Bootsverleih betrieb, war ich überrascht. Es waren Silke und Bernd, die beiden, die ich auf der Feier kennengelernt hatte. Ich hatte mich echt gefreut, sie wiederzusehen. Ich war mittlerweile schon einige Mal mit Mama dort, um mit ihr zusammen Tretboot zu fahren, denn Mama hatte viel Spaß dabei.“

Silvia wusste, dass ihr Kollege sich liebevoll um seine alleinstehende Mutter kümmerte, obwohl er es nicht immer leicht mit ihr hatte. Wie oft hatte seine Mama ihn schon im Büro angerufen, um ihm zu sagen, dass sie soeben die letzte Flasche Wasser geöffnet hatte und er heute noch unbedingt bei ihr vorbei kommen müsste, um neue Getränke für sie zu holen. Das passierte meistens, wenn Sven eigentlich etwas anderes vorhatte.

„Erst letzten Monat war ich mit Mama wieder dort“, erzählte Sven. „Und nach der Bootsfahrt saßen wir noch lange mit Silke und Bernd im Bootsverleih zusammen.

Wenn man da vor den Stegen sitzt, hat man einen wunderschönen Seeblick. Es ist richtig idyllisch.“

„Ich weiß zwar, dass es diesen Bootsverleih dort gibt“, sagte Silvia, „aber ich muss zugeben, dass ich dort noch nie mit einem Boot gefahren bin, obwohl ich es eigentlich auch mal gerne machen würde.“

„Das sollten wir beide mal gemeinsam machen. Es ist wirklich schön.“

Als Sven beim Abbiegen zur Seite schaute, entdeckte seine Kollegin einen Kratzer an seinem Hinterkopf.

„Hast du dich zu intensiv am Kopf gekratzt?“, fragte sie und lachte.

„Nee. Das war der Rasierapparat. Hab´ nicht aufgepasst.“

„Eigentlich könntest du deine Haare ja auch mal wachsen lassen, anstatt dir `ne Glatze zu rasieren.“

„Du weißt doch ganz genau, dass die wenigen Haare, die noch da sind, lächerlich aussehen. Eine gepflegte Glatze geht immer.“

„Apropos Haare“, sagte Silvia und griff an ihre rotbraunen, schulterlangen Haare. „Ich müsste mir auch mal wieder ein paar Zentimeter abschneiden lassen.“

Söhlbach ging auf ihre Bemerkung nicht ein. Er bog mit dem Passat, nachdem sie einige Zeit über die Neidenburger Straße gefahren waren, in den Kalkweg ein.

„Gleich sind wir da“, sagte er.

Die Straße endete auf dem großen Parkplatz, der sich zwischen zwei Seen erstreckte, dem Masurensee und dem Wambachsee.

Dort, wo sich auf der rechten Seite der Bootsverleih befand, standen bereits viele Streifenwagen. Dieser Bereich war von der Polizei großräumig abgesperrt worden. Söhlbach und Muisfeld erkannten auch die Autos der Spurensicherung.

„Meier ist natürlich wieder als erster da“, sagte Sven und parkte das Auto.

Ralf Meier war der Leiter der Spurensicherung. Er prahlte immer damit, dass er als erster am Tatort sei, was ihm auch meistens gelang.

Die beiden gingen durch ein offenes Metalltor und stiegen die breite Treppe hinab zum Bootsverleih. Sie waren ein sehr ungleiches Paar. Das stach besonders ins Auge, wenn die 1,66 Meter große, zierlich anmutende Kommissarin neben ihren schlaksig wirkenden Kollegen her schritt, der sie mit seiner Größe von 1,87 Meter um mehr als 20 Zentimeter überragte.

Auf dem Steg unten am Bootsverleih war reger Betrieb. Dort standen uniformierte Polizisten und die weiß gekleideten Beamten der Spurensicherung.

Drei Leute der Spurensicherung stiegen gerade in ein Boot. Einer von ihnen war Ralf Meier.

Fast gleichzeitig erkannten Söhlbach und Muisfeld ein Ruderboot, welches etwa hundert Meter vom Ufer entfernt im Wasser trieb.

Deutlich erkannten sie den nackten Frauenkörper, der im Bug des Bootes lag. Die Ruder des Bootes hingen seitlich im Wasser.

„Aus der Ferne sieht es fast so aus“, sagte Söhlbach, „als sei die Frau unmittelbar vor dem Tod noch gerudert.“

Seine Kollegin nickte. „Ja, es sieht tatsächlich so aus.“

Sie betraten den Steg, an dem die vielen Boote, die man hier mieten konnte, befestigt waren.

Ralf Meier, der Leiter der Spurensicherung, legte gerade zusammen mit zwei weiteren, weiß gekleideten Männern mit einem Boot ab. Als er Muisfeld und Söhlbach erkannte, grinste er.

„Wie immer“, sagte er zu ihnen. „Ihr zwei seid wie immer die Letzten, die am Tatort eintrudeln.“

Söhlbach ging auf diese Bemerkung nicht ein. Stattdessen fragte er: „Gibt es schon erste Erkenntnisse, Ralf?“

Meier grinste. Dann wies er mit der Hand auf den See hinaus. „Tote dort“, sagte er und deutete danach mit beiden Händen auf seine Füße. „Ich hier.“ Dann zog er die Schultern nach oben. „Woher soll ich also erste Erkenntnisse haben?“

„Es hätte ja sein können“, murmelte Söhlbach.

Während sich das Boot mit den Männern der Spurensicherung auf den See hinaus bewegte, wandte sich Silvia Muisfeld an die anderen Polizisten, die auf dem Steg standen.

„Wer hat das Boot mit der Toten entdeckt?“, wollte sie wissen. „Gibt es Zeugen?“

„Der Betreiber des Bootsverleihs hat uns verständigt“, sagte der Polizist und deutete zu den Sitzgruppen vor dem kleinen Gebäude des Bootsverleihs. „Er sitzt dahinten zusammen mit seiner Partnerin. Die zwei sind fertig mit der Welt.“

Wenig später standen Söhlbach und Muisfeld vor den beiden.

„Hallo Silke, hallo Bernd“, begrüßte Söhlbach sie.

„Sven?“, kam es verwundert aus dem Mund der blonden Frau. „Ich hab´ dich im Moment gar nicht erkannt. Was machst du denn hier?“

„Ich arbeite bei der Kripo“, antwortete Sven.

„Bei der Kripo?“

„Ja, da haben wir aber noch nie drüber geredet. Habt ihr die Tote entdeckt?“

„Bernd hat sie entdeckt, genauer gesagt, Bernd und die Taucher.“

„Taucher?“ wunderte sich Söhlbach.

„Ja.“ Silke deutete nach rechts. „Siehst du dort im Wasser die gelben Bojen? Dort wird regelmäßig getaucht. Die Taucher sind schon immer sehr früh hier im See. Wenn ich Bernd richtig verstanden habe, haben er und die Taucher die Frau gleichzeitig entdeckt.“

Nun wandte sich Söhlbach an Silkes Partner, der sichtlich niedergeschlagen auf einem Stuhl saß.

„Wie war es, als du heute Morgen hier angekommen bist, Bernd?“, wollte er von ihm wissen. „Erzähl mal.“

„Eigentlich haben wir montags immer Ruhetag. Ich war heute schon so früh hier, weil ich gestern mal wieder vergessen hatte, die Mülltonnen rauszustellen. Die Tonnen werden dienstags immer geleert. Als ich hier ankam, sah ich sofort das Boot auf dem See treiben und ich sah diese reglose, nackte Frau, die im Boot lag. Es waren auch zwei Taucher im Wasser. Sie waren beide bei den Bojen. Einer von ihnen winkte mir zu und deutete aufgeregt auf die Frau im Boot. `Da stimmt was nicht´, hatte er mir zugerufen. Ich bin dann sofort in ein Boot gestiegen und rüber gerudert. Wenig später hatte ich das andere Boot erreicht, und ich hatte sofort das Gefühl, dass die Frau darin tot war. Ich hatte sie trotzdem ein paar Mal angesprochen. Hätte ja sein können, dass ich mich geirrt habe. Ihre Arme und der Kopf hingen vorne über die Reling, und ihre langen Haare bedeckten das Gesicht. Ich hab´ ihre Haare vorsichtig zur Seite geschoben. Da sah ich ihr Gesicht und ihre halb offenen, toten Augen. Ich wusste in diesem Moment nicht, wie ich mich verhalten sollte; hab´ nur im Boot gesessen und verzweifelt auf die Tote geschaut. Dann überlegte ich, ob ich das Boot in den Schlepp nehmen sollte, um es zum Ufer zu bringen. In diesem Moment waren auch die beiden Taucher neben mir im Wasser und erkundigten sich nach der Frau. Als ich ihnen sagte, dass sie offensichtlich tot sei, meinte einer von ihnen, dass wir nichts anfassen sollen, weil die Frau ja auch ein Mordopfer sein könnte. Das haben wir dann auch gemacht. Ich habe noch vom Boot aus die Polizei angerufen.“

Bernd stand auf und schüttelte den Kopf.

„Ich kann das einfach nicht glauben“, sagte er. „Da klaut eine Frau eines unserer Boote, rudert nackt auf den See hinaus und stirbt.“

„Als du heute Morgen hier angekommen bist, Bernd“, sagte Söhlbach, „ist dir da noch irgendetwas anderes aufgefallen? Ich meine, standen da vielleicht schon irgendwelche Autos auf dem Parkplatz, an die du dich erinnern kannst?“

„Da habe ich nicht drauf geachtet, aber ich glaube, die einzigen Autos waren die von den Tauchern.“

Nun wandte sich auch Svens Kollegin an den Mann: „Sie sagten doch, dass Sie heute eigentlich Ruhetag haben. Kann sich denn jemand einfach so ein Boot nehmen, wenn Sie nicht da sind?“

„Nein. Der Zugang zum Bootsverleih ist dann verschlossen.“ Er deutete auf das große Metalltor im Eingangsbereich. „Als ich heute Morgen hier ankam, war das Tor fest verriegelt.“

Die Kommissarin wirkte verwundert. „Scheinbar muss es aber eine Möglichkeit geben, zu den Booten zu kommen.“

„Die gibt es auch.“ Der Betreiber des Bootsverleihs machte eine weit ausladende Geste. „Der See ist groß und an vielen Stellen gibt es Möglichkeiten, ins Wasser zu steigen, um hierher zu schwimmen. Allerdings sind alle Boote gut festgemacht und abgesichert.“ Er deutete zu der langen Reihe aus Tretbooten. „Die Boote sind alle diebstahlsicher befestigt. Es ist mir ein Rätsel, wie das Boot mit der Toten auf den See kommen konnte.“

„Dann können Sie sich also nicht vorstellen, wie das Boot auf den See gebracht wurde?“

Bernd schaute sie erstaunt an.

„Ich denke, diese Frau ist damit mit gerudert?“

Muisfeld verzog das Gesicht. „Sie glauben also, dass die Frau irgendwo in den See gestiegen ist, um hierher zu schwimmen und ein Boot zu klauen. So könnte es zwar gewesen sein, aber wer schwimmt denn freiwillig durch den kalten See?“

Der Mann vom Bootsverleih sah sie abschätzend an.

„Sie sind wohl nicht aus Duisburg“, sagte er, „denn sonst wüssten Sie, dass gerade jetzt in den Sommermonaten sehr viele Leute im See schwimmen gehen. Das Wasser hat heute 22 Grad.“ Er deutete zum linken Seeufer. „Direkt hinter den Bäumen liegt der Wolfsee und dort gibt es sogar ein beliebtes Freibad.“

„Ich kenne das Freibad Wolfsee“, sagte die Kommissarin und zuckte kurz mit den Schultern. „Hab´ im Moment nur nicht daran gedacht.“

Nun mischte sich Sven in das Gespräch: „Du darfst es der jungen Kommissarin nicht übel nehmen, Bernd. Sie ist zwar Duisburgerin, kommt aber aus dem Norden, genauer gesagt aus Neumühl. Da kennt sie sich hier im Süden nicht so gut aus. Und was das Schwimmen angeht, beschränkt es sich bei ihr auf das Hallenbad mit warmen Wasser.“

Silvia stieß ihrem Kollegen mit dem Ellbogen in die Seite. „Blödmann“, kam es mit einem kurzen Lächeln über ihre Lippen.

Dann blickte sie auf den See hinaus. Dort hatten die drei Männer der Spurensicherung gerade das Boot mit der Toten erreicht. Während sie das Ruderboot langsam umrundeten, um es von verschiedenen Perspektiven aus zu fotografieren, begutachtete Ralf Meier es von allen Seiten. Schließlich fuhren sie längsseits an das Boot heran.

Aus der Ferne erkannte Silvia, wie Meier seinen Leuten einige Anweisungen gab. Schließlich wurde das Boot an die Leine genommen und in ganz langsamer Fahrt in Richtung Ufer gezogen.

Muisfeld wandte sich wieder dem Mann vom Bootsverleih zu.

„Wo sind denn eigentlich die Taucher, die heute Morgen hier im Wasser waren?“, wollte sie von ihm wissen. „Vielleicht haben sie ja etwas gesehen.“

Der Angesprochene deutete zu den Leuten, die vorne auf dem Steg standen.

„Sie stehen dort bei den Polizisten. Denen ist das Tauchen für heute vergangen.“

Erst jetzt nahm Silvia die beiden Männer in den schwarzen Taucheranzügen wahr, die zwischen den uniformierten Beamten standen.

Mit den Worten „Dann werde ich die zwei einmal danach fragen, ob ihnen heute Morgen etwas aufgefallen war“, verließ sie Söhlbach und die beiden vom Bootsverleih.

Sven blieb bei seinen Bekannten, die immer noch sichtlich bedrückt da saßen. Er zog einen Stuhl der Sitzgruppe zu sich und nahm nun ebenfalls Platz.

„Meinst du, Sven“, sagte Bernd, „dass die Frau im Boot etwas mit der Toten zu tun hat, die vor vielen Jahren hier entdeckt worden war?“

„Was für eine Tote?“, wunderte sich Sven.

„Was damals genau vorgefallen war, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass man auf dem See schon mal eine nackte Frau tot in einem Boot gefunden hat. Das muss aber schon `ne Ewigkeit her sein, lange noch, bevor ich den Bootsverleih hatte.“

„Und woher weißt du das?“

„Einige meiner älteren Kunden, die sich regelmäßig Boote bei uns ausleihen, hatten mir diese Geschichte erzählt. Die Tote soll eine Prostituierte gewesen sein, die nackt hinaus gerudert war, um Selbstmord zu begehen. Man hatte neben ihr im Boot drei leere Röhrchen von Schlaftabletten gefunden.“

„Und woher wissen deine Kunden das so genau?“

„Nun“, meinte Bernd, „einer dieser Kunden ist ein Polizist im Ruhestand. Er hat mir erzählt, dass er diesen Fall persönlich untersucht hatte. Dieser ehemalige Polizist hatte auch gesagt, dass er damals fest davon überzeugt war, dass diese Frau ermordet wurde und man diesen Mord als Selbstmord getarnt hatte, doch das hatte er nicht beweisen können.“

„Das hört sich interessant an“, sagte Söhlbach. „Kennst du den Namen von diesem ehemaligen Polizisten?“

„Nein, ich habe ihn auch schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“

Söhlbach dachte daran, dass die Tote von heute wahrscheinlich nichts mit der Toten von damals zu tun hatte.

„Da habt ihr heute aber einen sehr unruhigen Tag“, meinte er zu dem Paar. „Den Morgen hattet ihr euch bestimmt anders vorgestellt.“

„Das kannst du laut sagen, Sven“, sagte Bernd. „Da will man nur die Mülltonne raus stellen und stellt fest, dass eines unserer Boote mit ´ner Toten auf dem See treibt.“

Silke schob sich mit den Händen die blonden Haare hinter die Ohren. Dann sagte sie: „Und das alles an unserem freien Tag.“

Sven Söhlbach lehnte sich zurück und schaute auf den See hinaus. Heute konnte er diesem sonst so idyllisch wirkenden Gewässer nichts abgewinnen. Als er vor etwa einem Monat zusammen mit seiner Mutter genau hier gesessen hatte, um mit Silke und Bernd zu plaudern, war alles noch anders. Sie hatten zusammen Spaß gehabt und waren ausgelassen gewesen. Die beiden, die nun niedergeschlagen vor ihm saßen, hatten ihm bei ihrer letzten Zusammenkunft vieles über die Seen hier berichtet. Bernd hatte ihm von der Sechs-Seen-Platte etwas vorgeschwärmt. Sven hatte sogar noch einiges Wissen im Kopf, welches Bernd und Silke ihm vermittelt hatten. So hatte er erfahren, dass die Sechs-Seen-Platte 158 Hektar groß war. Der Wam-bachsee alleine hatte 27 Hektar, war einen halbem Kilometer breit und im Schnitt 11 Meter tief. Sven wusste nicht, warum er ausgerechnet jetzt, in so einer Situation an so etwas denken musste. Vielleicht war es die heimliche Sehnsucht danach, genauso friedlich und ausgelassen mit seinen beiden Bekannten hier am See zu sitzen, wie beim letzten Mal. Doch die Realität sah anders aus.

Bald schon kam Silvia wieder zurück. Sie setzte sich zu ihnen.

„Dann warten wir mal ab“, sagte sie und deutete auf den See hinaus, „bis Meier es endlich bis zum Steg geschafft hat. So langsam, wie die fahren, dauert es noch eine Ewigkeit.“

Söhlbach ging auf ihre Äußerung nicht ein. Stattdessen fragte er: „Was haben die Taucher gesagt? Haben sie etwas gesehen?“

„Nein, ihnen war nichts aufgefallen. Als sie ins Wasser gestiegen waren, hatten sie sich so auf ihren Tauchgang konzentriert, dass sie nicht einmal das Ruderboot mit der toten Frau wahrgenommen hatten.“

„Das stimmt“, sagte Bernd. „Als ich heute Morgen auf den Steg ging und das Boot entdeckte, machten die beiden mich ebenfalls darauf aufmerksam. Sie hatten es im gleichen Moment entdeckt.“

Söhlbach schaute zum Steg. Die beiden Taucher schienen den Polizisten wohl irgendetwas zu erklären, denn einer von ihnen deutete mit der Hand zum linken Seeufer. Als Sven ebenfalls in diese Richtung blickte, erkannte er im dicht bewachsenen Uferbereich eine Gestalt, die in diesem Moment hinter den Büschen verschwand. Er glaubte, einen Mann, bekleidet mit einem hellblauen Oberteil, erkannt zu haben, der sich blitzschnell in Deckung gebracht hatte. Es sah so aus, als wollte dieser Mann von den Polizisten, die nun alle in seine Richtung schauten, nicht gesehen werden. Sven war sich allerdings nicht sicher, ob seine Beobachtung richtig war, denn die Stelle, an der diese Gestallt verschwunden war, lag mehr als 200 Meter von seiner Position entfernt.

Silvia hatte bemerkt, dass ihr Kollege das linke Seeufer beobachtete und dabei höchst konzentriert wirkte.

„Ist da etwas?“, fragte sie ihn.

„Ich weiß nicht“, antwortete Sven, „aber es sah für einen Moment so aus, als hätte sich dort jemand in den Büschen versteckt.“

„Ich sehe niemanden“, sagte die Kommissarin, nachdem sie den besagten Uferbereich mit ihren Augen abgesucht hatte.

„Du kannst ihn auch nicht sehen, weil er sich versteckt hat.“

Nun mischte sich Bernd in das Gespräch: „Vielleicht war es ja ein Angler. Sie sitzen oft dort. Manche von ihnen suchen sich einen Platz zwischen den Büschen am Ufer aus, weil sie glauben, dass die Fische dort am besten beißen.“

Sven atmete tief durch.

„Angeln kann sehr entspannt sein“, sagte er und wirkte mit einem Mal nachdenklich. „Ich habe in meiner Jugend auch oft geangelt und es war immer wunderschön. Dabei kann man richtig runter kommen.“ Es war, als klang für einen Moment Melancholie in seiner Stimme. „Vielleicht sollte ich ja auch mal wieder angeln gehen. Einfach da sitzen, auf den See blicken und diese herrliche Ruhe genießen.“

In diesem Augenblick schien er die Tote auf dem See vergessen zu haben. Er wandte sich seinem Bekannten zu. „Sag mal, Bernd, was für Fische kann man denn hier im See fangen?“

„Aus meinen Gesprächen mit den Anglern weiß ich, dass die meisten auf Karpfen und Hecht gehen. Es gibt aber auch Barsche und Aale. Mit viel Glück kann man aber auch einen Zander heraus holen.“

„Zander?“, meinte Sven und lächelte hintergründig. „Ich war früher mal mit ein paar Freunden in Holland an einem See angeln. Da hatten wir auch ein paar Zander gefangen. Wir hatten dort gezeltet und abends wurden die Zander gegrillt. Das war der leckerste Fisch, den ich je gegessen habe.“

Bernd nickte. „Ja. Zander ist schon etwas ganz Besonderes. Aber hier in diesem See soll es noch einen anderen, ganz besonderen Fisch geben, hinter dem die Angler her sind. Diesen Fisch hat allerdings noch niemand erwischt.“

Söhlbach machte große Augen.

„Und was für ein Fisch ist das?“, wollte er wissen.

„Hier im See soll ein riesiger Wels leben, mindestens anderthalb Meter lang. Ich kenne Leute, die wollen ihn schon mit eigenen Augen gesehen haben. Niemand weiß aber mit Sicherheit, ob es diesen riesigen Wels wirklich gibt. Die Geschichten um diesen monströsen Fisch könnten genauso gut Anglerlatein sein. Es ist wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness, einige Leute wollen es gesehen haben und alle suchen danach, wobei die Möglichkeit, dass hier ein großer Wels lebt, wesentlich größer ist, als dass es Nessie gibt.“

„Themenwechsel“, sagte Silvia und deutete zum Steg. „Meier und seine Leute haben es fast geschafft. Sie werden gleich anlegen. Lass uns zum Steg gehen, Sven.“

Etwas später standen sie bei den anderen Polizisten. Die beiden Taucher, die bis dahin auch noch auf dem Steg gestanden hatten, waren von den Beamten weg geschickt worden.

Das Ruderboot mit der nackten Frau wurde vorsichtig an den Steg gezogen. Der Körper lag seitlich im Bugbereich. Genau wie es Bernd schon beschrieben hatte, hingen die Arme und der Kopf über die Reling. Die langen, schwarzen Haare reichten fast bis zum Wasser. Auch, wenn das Gesicht der Toten nicht zu sehen war, konnte man den Körper einer eher jungen Frau zuordnen.

Während die Leute der Spurensicherung erneut Fotos machten, betrachtete Ralf Meier den Innenraum des hellgrünen Bootes. Seine Augen suchten jeden Winkel des Bootes ab. Dann stieg er vorsichtig ein und begutachtete den toten Körper.

Während sich der Leiter der Spurensicherung mit der Toten beschäftigte, schaute Söhlbach noch einmal zum linken Seeufer. Auch wenn es mehr als 200 Meter von ihm entfernt war, erkannte er ganz deutlich eine Gestalt, einen Mann, der dort halb verdeckt in den Büschen stand und das Geschehen am Bootsverleih beobachtete. Aus der Ferne sah es so aus, als trüge der Mann ein blau-weißes MSV-Trikot. Sven dachte daran, dass diese schaulustigen Gaffer eigentlich etwas ganz Normales waren, wenn irgendwo ein Polizeiaufgebot zu sehen war. Doch was diese Gestalt dort am Ufer anging, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Eigentlich sah alles danach aus, dass die Tote ohne Einwirkung durch andere gestorben war. Vielleicht war sie einfach tot zusammen gebrochen, weil sie sich beim Rudern überanstrengt hatte. Doch was war, wenn es sich um ein Mordopfer handelte, welches vom Täter in das Boot gesetzt worden war? Und wer weiß, vielleicht würde der Täter nun dort drüben am Seeufer stehen, und sein Werk betrachten?

„Liebe Kollegen“, sagte er zu den anderen Polizeibeamten. „Tut mir mal einen Gefallen und schaut mal zum linken Seeufer.“

Kaum waren die Blicke der Polizisten auf das besagte Ufer gerichtet, verschwand der Mann blitzschnell in den Büschen.

„Hast du das gesehen?“, fragte er Silvia.

„Ja, Sven. Du hattest Recht. Da möchte jemand ganz offensichtlich nicht gesehen werden. Ich frag´ mich allerdings, warum?“

„Gerade hab´ ich mich gefragt, ob unsere Tote ein Mordopfer sein könnte und der Mörder von einer sicheren Entfernung aus sein Werk betrachtet.“

Muisfeld schmunzelte. „Du sehnst dich wohl unbedingt nach einem neuen Fall. Brauchst wohl eine Ausrede für den Chef, damit du keine Berichte schreiben muss.“

Ihre Unterhaltung wurde von Ralf Meier unterbrochen.

„Fest steht“, sagte er, „dass diese Frau zwei schwere Schläge mittels eines stumpfen Gegenstands auf den Hinterkopf bekommen hat. Diese Verletzungen hat sie sich definitiv nicht in diesem Boot zugezogen. Ob diese Verletzungen für den Tod verantwortlich sind, kann ich nicht genau sagen. Das muss die Gerichtsmedizin feststellen. Sie hat auch Einstiche in der linken Armbeuge.“

Silvia blickte Sven kurz an. Dann sagte sie: „Da hast du deinen Mordfall.“

Söhlbach nickte.

„Ich hab´s geahnt. Jetzt haben wir einen Grund, uns diesen Gaffer am anderen Ufer mal näher anzusehen.“

Nachdem sie den Beamten der Spurensicherung gesagt hatten, dass sie noch etwas Dringendes erledigen müssen, verließen sie den Bootsverleih. Dabei ließen sie keine Eile aufkommen, denn der Mann, der sie vom linken Ufer aus beobachtete, sollte keinen Verdacht schöpfen.

Sven nahm sich sogar noch die Zeit, sich von Silke und Bernd kurz zu verabschieden.

Als sie den Weg, der parallel zum See am großen Parkplatz entlang führte, erreicht hatten, begannen sie, zügig zu laufen. Jeder hätte die beiden jetzt für Jogger gehalten, die ihre Trainingsanzüge vergessen hatten. Schnell hatten sie das Ende des Parkplatzes erreicht. Halbrechts vor ihnen lag der Eingang zum Freibad Wolfsee. Die Tische und Stühle vor dem dortigen Kiosk waren gut besucht. Es waren überwiegend Familien mit Kindern, die dort saßen, um etwas zu essen und zu trinken.

Die zwei bogen rechts in den Weg ein, der am Seeufer entlang führte. Als durch Lücken im dicht bewachsenen Uferbereich der Bootsverleih zu erkennen war, spazierten sie im normalen Tempo weiter. Hier sollte bald irgendwo die Stelle auftauchen, an der sie den verdächtigen Mann gesehen hatten.

Immer, wenn sich zwischen dem dichten Buschwerk eine Möglichkeit auftat, hinunter bis zum Seeufer zu gehen, überprüften sie diese Stelle, doch hier war niemand zu sehen.

Schließlich wurde ihre Suche erfolgreich. Zunächst entdeckte sie ein kleines, olivgrünes Zelt, welches gut getarnt in einem freien Bereich unweit des Ufers zwischen den Sträuchern stand. Von dort aus führte ein Pfad zu einer freien, mit Kies bedeckten Stelle am Seeufer.

Der Mann mit dem MSV-Trikot bemerkte die beiden nicht, als diese sich leise an ihn heran schlichen. Er stand da und beobachtete interessiert den Bootsverleih.

Muisfeld und Söhlbach hatten ihn fast erreicht, als er sich zufällig umschaute. Der Mann erschrak, als er die zwei sah.

„Man“, sagte er. „Wat schleicht ihr euch denn an? Ich krieg noch mal ´n Herzschlag.“

„Was machen Sie denn hier?“, fragte Söhlbach ihn.

„Na wat wohl“, antwortete er im perfekten Ruhrpottplatt und deutete auf zwei Angelruten, die etwa zwei Meter neben ihm ausgelegt waren. „Ich spiele Schach. Dat sieht man doch.“

Silvia musste grinsen.

Auf den Mund gefallen war der etwa 30 Jahre alte Mann vor ihnen nicht. Er zeigte in die Richtung des Bootsverleihs.

„Da drüben is heute echt wat los“, sagte er. „Da is `n riesiges Polizeiaufgebot. Weiß der Geier, wat die da machen.“

„Seit wann angeln Sie denn schon hier?“, wollte die Kommissarin von ihm wissen.

„Seit wann? Ich komm schon seit Jahren hierhin. Dat is meine Stelle und wenn hier jemand anderes angeln will, jag´ ich den zum Teufel.“

„Keine Angst“, sagte Muisfeld. „Wir wollen nicht angeln. Wir möchten nur wissen, seit wann Sie heute hier geangelt haben. Um welche Uhrzeit waren Sie hier.“

Silvia hatte die Hoffnung, dass der Mann etwas beobachtet haben könnte, was ihnen weiter half.

Sie bemerkte, dass sich die Mine des Anglers verfinsterte.

„Warum wollen Sie dat von mir wissen?“, fragte er und wirkte dabei ungehalten. „Wer sind Sie überhaupt, dat Sie mich hier so ausfragen?“

Söhlbach hielt es jetzt für angebracht, sich als Polizist erkennen zu geben. Er zeigte dem Mann seinen Dienstausweis und sagte: „Wir sind von der Polizei.“

Der Angler konnte seine plötzliche Unsicherheit nicht verbergen. Er wirkte sichtlich nervös, schien sich aber schnell wieder zu fangen.

„Wenn Sie von der Polizei sind“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Gebüsch, welches wenige Meter neben ihnen über das Wasser des Sees hinaus ragte, „dann sollten Sie sich dat da unbedingt mal genauer angucken.“

Da weder Muisfeld noch Söhlbach auf dem ersten Blick etwas an der angezeigten Stelle entdecken konnten, traten sie etwas näher an das Ufer heran. Von hier aus konnten sie die weit überhängenden Büsche besser sehen.

Dann ging alles sehr schnell. Während die beiden mit ihren Augen den Uferbereich absuchten, schlich sich der Angler unbemerkt davon. Als Söhlbach sich umdrehte, hatte der Mann im MSV-Trikot bereits den Hauptweg erreicht. Der Kommissar reagierte sofort. Er spurtete dem Angler hinterher. Als Sven den Hauptweg erreichte, sah er den Mann davon rennen. Sein Vorsprung auf Söhlbach betrug schon gute 50 Meter.

„Na warte“, kam es über Svens Lippen. „Dich krieg ich.“

Der flüchtende Angler konnte nicht ahnen, dass Sven Söhlbach ein durchtrainierter Sportler war, der regelmäßig bei Wettbewerben Siege feierte. Seine Paradedisziplin war der 800 Meter-Lauf. So kam es, dass er den Mann bereits nach kürzester Zeit fast schon erreicht hatte. Als der Angler sah, wie schnell sein Verfolger heran spurtete, gab er auf und blieb stehen. Er stand schnaufend da, in nach vorne gebeugter Haltung und stützte die Hände auf die Knie ab.

Söhlbach blieb etwa zwei Meter vor ihm stehen. Er sah, dass der Angler kaum noch Luft bekam. Dennoch war Sven vorsichtig. Er war darauf eingestellt, auf jede Überraschung gefasst zu sein, denn er traute diesem Mann alles zu, auch einen plötzlichen Angriff.

„Können Sie sich ausweisen?“, fragte er.

Der Mann griff in seine Hosentasche und nahm ein Portemonnaie heraus. Nachdem er nervös darin herumgefingert hatte, hielt er seinen Personalausweis in der Hand und übergab ihn dem Polizisten.

Söhlbach nahm den Ausweis mit großer Vorsicht entgegen, denn er war immer noch auf eine unvorhersehbare Reaktion des Mannes gefasst.

„Jens Richter“, las er seinen Namen vor.

„Warum sind Sie weggelaufen, Herr Richter?“, fragte er.

„Weil ich keine Lust habe, ein paar Hundert Euro Strafe zu bezahlen. Einen Freund von mir haben sie auch erwischt und der hat jetzt sogar Angelverbot.“

Söhlbach stutzte. Wollte der Mann vor ihm ihn wieder ablenken?

„Was meinen Sie damit?“, fragte er. „Was für eine Strafe?“

„Na“, kam es immer noch schnaufend aus dem Mund des Mannes, „wegen dem Angeln.“

Langsam wurde dem Kommissar bewusst, worum es dem Mann ging. Es ging um unerlaubtes Angeln.

„Sie haben also keinen Angelschein“, stellte Söhlbach fest.

„Doch, ich hab´ einen Angelschein.“

„Und warum sind Sie dann weg gerannt?“

„Ich hab´ keine Angelkarte. Wenn man hier angelt, muss man sich vorher `ne Angelkarte kaufen. Dat kann sich ein normaler Angler aber kaum leisten.“

„Wie teuer ist denn so eine Angelkarte?“

„Für ´ne Tageskarte wollen die 12,50 Euro und für ´ne Wochenkarte sogar 26,50 Euro. Ich geh´ fast jeden Tag angeln. Wie soll ich dat denn von meinem Hartz4 bezahlen?“

Sven blieb trotz der Erklärung des Mannes skeptisch. Er wollte sich von diesem Typen nicht noch einmal verarschen lassen. Deshalb fragte er den Mann, was für Fische man im Wambachsee fangen kann. Wenn er wirklich jeden Tag zum Angeln hierher kam, sollte er das genau wissen.

Tatsächlich zählte er genau die Fischarten auf, von denen auch Bernd vom Bootsverleih berichtet hatte.

„Und dann gibbet noch dat Gerücht von `nem Riesenwels, der hier im See leben soll. Aber datt et den gibt, dat glaub´ ich nich. Nich, datt et hier keine Waller gibt, aber so´n großes Teil hätte schon längst jemand hier rausgeholt.“

Mittlerweile hatte auch Silvia die beiden erreicht.

„Hast du deine Handschellen vergessen, Sven?“, sagte sie. „Oder gibt es einen anderen Grund, warum er noch frei herum läuft?“

Söhlbach nahm sein Handy aus der Tasche und meinte: „Ich muss mal kurz etwas überprüfen.“

Er tippte auf seinem Mobiltelefon herum und meinte schließlich zu seiner Kollegin: „Er ist tatsächlich nur ein harmloser Angler, der Angst hatte, dass wir ihn beim Angeln ohne Angelerlaubnis erwischen.“

„Und das hat dein Handy dir jetzt gesagt?“, fragte sie verwundert.

„Nein. Er hat mir erzählt, wie teuer die Angelkarten hier sind und das habe ich überprüft.“. Sven hielt seiner Kollegin das Handy vor die Nase. „Hier steht´s, Tageskarte 12,50 Euro, Wochenkarte 26,50 Euro. Das gleiche hat er mir auch erzählt.“

In diesem Moment kam ein Mann auf sie zu. Ganz offensichtlich war es ebenfalls ein Angler, denn er hatte nicht nur einen Hut auf, an dem künstliche Fliegen und andere kleine Angelköder gesteckt waren, sondern auch eine längliche Tasche dabei, in der offensichtlich seine Ruten verstaut waren.

Als er die drei erreicht hatte, blieb er stehen.

„Na?“, sprach er den Mann im MSV-Trikot an. „Wie isset Jens? Heute schon wat gefangen?“

Der Angesprochene wirkte unsicher.

„Geh schon mal vor Jupp“, sagte er schließlich. „Ich komm gleich. Dann erzähl ich dir dat.“

Der Mann mit der Tasche zuckte kurz mit den Schultern und ging weiter.

Söhlbach grinste. Dann gab er seinem Gegenüber den Ausweis zurück. „Nichts für ungut, Herr Richter, aber Sie haben immer noch nicht unsere Frage beantwortet. Seit wann haben Sie heute hier geangelt?“

„Ich war heute erst gegen sieben Uhr hier, weil ich verpennt hatte. Sonst komm ich schon immer kurz nachdem et hell geworden is, denn dann beißen se am besten.“

„Herr Richter, dann haben Sie doch bestimmt auch das Ruderboot mit der Frau gesehen, welches heute Morgen auf dem See trieb, oder?“

„Sie meinen dat Boot, wat die Polizei zum Ufer gezogen hat? Dat hab´ ich gesehen, aber nicht, datt da ´ne Frau drin war. Ich dachte, dat Boot war leer. War ja auch weit weg. Da konnte man dat ja auch nich so gut sehen.“

„Ist Ihnen denn sonst noch etwas aufgefallen, Herr Richter? Waren heute früh vielleicht schon ein paar Schwimmer unterwegs?“

„Nee. Da hab´ ich aber auch nicht drauf geachtet.“ Er wirkte mit einem Mal unruhig. „Darf ich Se ma wat fragen?“

„Sie dürfen.“

„Wat war denn da heute los? Wat für `ne Frau soll den da in dem Boot gewesen sein?“

Söhlbach lächelte.

„Das kann ich Ihnen leider nicht verraten, weil es laufende Ermittlungsarbeiten sind.“

„Ermittlungsarbeiten? Sind Se etwa von der Kripo?“

„Genauso ist es.“

„Dann war die Frau wohl tot, oder?“

„Herr Richter, ich sagte Ihnen doch schon, dass ich darüber nichts sagen kann. Sie können jetzt wieder zu Ihren Angel zurück gehen.“

Der Mann sah den Kommissar mit großen Augen an.

„Obwohl ich keine Angelkarte hab´?“

„Das regeln Sie am besten selbst. Für solche schwerwiegenden Straftaten sind wir von der Kripo nicht zuständig.“ Söhlbach machte eine schnelle Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Und jetzt verschwinden Sie.“

Jens Richter wirkte sichtlich erleichtert. Den Stein, der ihm in diesem Moment vom Herzen gefallen war, konnte man fast laut plumpsen hören.

„Danke“, sagte er. „Sie sind der netteste Polizist, den ich je erlebt hab´. Fast wie der Schimanski, der hat auch immer zu den einfachen Leuten gestanden. Glauben Se nich, datt ich jetzt schleimen will oder so, aber so wie Sie sollten alle Polizisten sein. Sie sind total gerecht und können so schnell rennen, datt Ihnen kein Verbrecher entkommen kann. Dat find´ ich so richtig gut.“

Dann schritt der Mann davon.

Silvia und Sven blickten ihm hinterher.

Die Kommissarin schüttelte den Kopf.

„Was für ein Typ. Da fehlen mir die Worte.“

„Einfach, aber nett“, sagte Söhlbach. „Ein Mensch, der immer offen und ehrlich sagt, was er denkt. Ich denke, dagegen ist nichts einzuwenden.“

Die Kommissarin nickte.

„Im Gegenteil, Sven. Ich finde, der Typ hat das Herz am rechten Fleck.“

Ihr Partner lachte kurz. „Dann sind wir vorhin ganz umsonst so schnell gerannt. Lass uns zurück gehen. Mal sehen, ob es bei Meier etwas Neues gibt. Übrigens habe ich vorhin von Bernd erfahren, dass man vor Jahren schon einmal eine tote Frau in einem Boot auf dem See entdeckt hatte.“

„Was? Wann soll das denn gewesen sein? Ich kann mich nicht an einen solchen Fall erinnern.“

„Es muss schon lange her sein. Ich denke, es war lange vor unserer Zeit.“

„War die tote Frau von damals auch ein Mordopfer?“

„Keine Ahnung, Silvia. Es soll angeblich ein Selbstmord gewesen sein. Trotzdem sollten wir uns die Akten zu diesem alten Fall einmal ansehen.“

„Glaubst du, dass es zwischen diesem alten Fall und der Toten von heute einen Zusammenhang geben könnte?“

„Eigentlich nicht“, sagte Söhlbach, „aber überprüfen sollten wir das auf jeden Fall.“

Da die beiden den Rückweg langsam angehen ließen, dauerte es einige Zeit, bis sie den Bootsverleih wieder erreicht hatten.

Bei ihrer Ankunft wurde gerade der Sarg mit der Toten zum Auto getragen.

Mittlerweile hatten sich um die Absperrbänder, mit denen ein großer Abschnitt des Parkplatzes eingezäunt war, eine Menge Schaulustige versammelt.

Auch der Leiter der Spurensicherung verließ, begleitet von seinen Mitarbeitern, gerade das Gelände des Bootsverleihs.

„Seid ihr etwa schon fertig?“ wollte Söhlbach von Meier wissen.

Der Angesprochene lachte kurz.

„Fertig? Noch lange nicht. Wenn du meinst, meinen Bericht in einer Stunde auf deinem Schreibtisch liegen zu haben, hast du dich getäuscht. Es gibt hier noch viel zu tun.“

„Kannst du denn schon etwas über die Tote sagen, Ralf?“

„Nur das, was man jetzt schon definitiv sagen kann. Alles andere werdet ihr aus dem Bericht der Rechtsmedizin erfahren.“

„Und was kann man definitiv jetzt schon sagen?“, wollte Muisfeld von ihm wissen.

„Wie ich schon sagte, war die Frau schon tot, als sie in das Boot gelegt wurde. Eigentlich wurde sie auch nicht hinein gelegt, sondern hinein geworfen und zwar in einem hohen Bogen. Die Spuren an ihrem Körper deuten auf einen heftigen Aufschlag hin. Ganz genau so, wie sie im Boot lag, ist sie auch aufgeschlagen.“

„Unglaublich“, kam es leise aus Silvias Mund. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, lag die Tote doch mit dem Hals genau auf der Reling des Bootes, oder?“

„Ja. Ihre Kehle schlug genau auf die Kante auf. Durch den Schwung wurde der Kopf nach unten geschleudert und ist mit dem Gesicht voran gegen die Außenseite des Bootes geknallt.“

Silvia Muisfeld schüttelte leicht den Kopf. „Der oder die Täter müssen absolut gefühlskalt gewesen sein.“

„Ich vermute aber“, sagte Meier, „dass es sich um einen Einzeltäter handelt.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Söhlbach.

„Hätten zwei Täter die Tote auf das Boot geworfen, dann hätten sie die Frau an Händen und Füßen fassen müssen, um genug Schwung zu bekommen. Dabei hätten sie sehr fest zupacken müssen. Ich konnte aber weder an den Hand- noch an den Fußgelenken entsprechende Druckspuren finden. Die Rechtsmedizin wird das aber genauer sagen können. Ein Einzeltäter hätte die Tote über seine Schulter getragen und mit Schwung auf das Boot befördert. Doch wie gesagt, dass ist nur eine Vermutung.“

„Hast du außer den Kopfverletzungen und den Einstichen in der Armbeuge noch andere Verletzungen entdeckt?“

„Nein.“

„Kannst du uns denn schon den ungefähren Todeszeitpunkt nennen?“