Ruhrmord - Dieter Ebels - E-Book

Ruhrmord E-Book

Dieter Ebels

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Beschreibung

Als am Ufer der Ruhr ein ermordeter Mann gefunden wird, ahnen die Kommissare Silvia Muisfeld und Sven Söhlbach noch nicht, dass der Täter bald schon ein zweites und ein drittes Mal zuschlägt. Da der Täter glaubt, dass Silvia Muisfeld ihn erkannt hat, entführt er die Kommissarin mit dem Ziel, auch sie auf grausame Weise zu töten. Es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod. Ein kriminalistischer Thriller mit Hochspannung bis zur letzten Seite.

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Dieter Ebels

Ruhrmord

Duisburg-Krimi

Erstausgabe 2014

Folgeauflage 2020

Überarbeitete Neuauflage 2023

Inhaltsverzeichnis

Sonntag, 26.August, 21.40 Uhr

Montag, 27. August, 8.05 Uhr

10.45 Uhr

12.15 Uhr

16.15 Uhr

18.30 Uhr

Dienstag, 28. August, 00.30 Uhr

00.45 Uhr

3.00 Uhr

9.30 Uhr

12.00 Uhr

15.00 Uhr

16.00 Uhr

17.30 Uhr

Mittwoch, 29. August, 9.30 Uhr

10.15 Uhr

14.30 Uhr

Donnerstag, 30. August, 7.00 Uhr

9.10 Uhr

10.15 Uhr

14.30 Uhr

Freitag, 31. August, 8.30 Uhr

09.45 Uhr

10.30 Uhr

13.00 Uhr

15.30 Uhr

Montag, 03. September, 11.30 Uhr

13.30 Uhr

Sonntag, 26.August, 21.40 Uhr

„Wie weit ist es denn noch? Mir tun schon die Füße weh.“

Der übergewichtige Mann atmete schwer.

„Noch ein paar Meter“, sagte sein Begleiter. „Dann sind wir da.“

Die beiden Männer bewegten sich durch die schon weit fortgeschrittene Dämmerung. Ihr Weg führte sie direkt am Ufer der Ruhr entlang.

Die Ruhrmündung in den Rhein lag von hier aus nur noch wenige Kilometer entfernt.

Das eigentlich saftige Grün der ausgedehnten Wiesen, die das Bild längs des Flusses prägten, wirkte in der Dunkelheit wie ein blasses Grau. Die Lichter der Laternen am gegenüber liegenden Ufer spiegelten sich im Wasser der sanft dahinfließenden Ruhr und verliehen der Szenerie einen Hauch von Romantik. Es hätte wirklich ein romantischer Ort sein können, doch der dröhnende Geräuschpegel der vorbeidonnernden Autos auf A59, die nur wenige hundert Meter entfernt über den Fluss führte, ließ jeden Anflug von Romantik zerplatzen wie eine Seifenblase.

„So“, sagte der Begleiter des fettleibigen Mannes. „Jetzt ist es soweit. Wie ich schon sagte, muss ich dir jetzt die Augen verbinden, damit du sie nicht erkennen kannst. Diese Frau ist sehr misstrauisch. Aber du wirst sehen, dass es sich lohnt.“ Er zog ein Tuch aus seiner Jacke, legte es seinem übergewichtigen Begleiter um den Kopf und verknotete es.

„Und sie macht wirklich alles?“, wollte der korpulente Mann wissen, während er die Binde vor seinen Augen etwas zurechtrückte.

„Ja. Sie macht alles und sie bläst, wie der Teufel.“ Der Mann fasste den Arm seines Begleiters und führte ihn weiter. Nach einigen Metern blieb er stehen. „Warte hier. Gleich ist es soweit.“

Der Mann mit der Augenbinde hörte, dass sich eine weitere Person näherte. Seine Aufregung wuchs, denn sein Begleiter hatte ihm versprochen, dass die Frau, auf die er nun treffen würde, eine geile Nymphomanin sei, die ihm den aufregendsten Sex aller Zeiten bescheren würde.

Er konnte nicht sehen, dass es ein Mann war, der sich da aus dem Dunkel der weit fortgeschrittenen Dämmerung schälte, und er sah auch nicht, dass dieser Mann seinem Begleiter zwei Hunderteuroscheine in die Hand drückte; sah nicht, dass sich sein Begleiter in der Dunkelheit davonschlich.

Es dauerte einige Sekunden, als eine weibliche Stimme erklang: „Zieh dich aus.“

Der korpulente Mann verspürte Unsicherheit, denn die Stimme wirkte merkwürdig verzerrt. Ihn überfielen Zweifel. War es richtig, hierhergekommen zu sein? Er dachte für einen Moment daran, die Binde von seinen Augen zu nehmen, als er wieder die Stimme vernahm. „Du hörst gerade ein Band, das ich besprochen habe, weil ich nicht möchte, dass du meine wahre Stimme erkennst. Bitte, sage nichts und ziehe dich endlich aus. Ich kann es kaum erwarten.“

Er verlor alle Zweifel und entledigte sich seiner Kleidung. Dann stand er da; nackt und erwartungsvoll.

Die Schritte der herannahenden Person wurden vom weichen, grasbewachsenen Untergrund vollends geschluckt. Dennoch bemerkte er, dass jemand ganz nah an ihn herangetreten war, ihn umkreiste und hinter ihm verharrte. Seine Aufregung wuchs. Dann spürte er, wie sich etwas auf seinen Bauch legte. Es war undefinierbar. Eine Perlenkette? Ein Seil? Dieses längliche Gebilde schob sich langsam über seine Haut in die Höhe. Nun spürte er es auch seitlich auf beiden Armen. Es glitt beharrlich nach oben; kitzelte angenehm, als es über seine Brustwarzen rutschte.

Das gehört bestimmt zu ihrem Liebesspiel, ging es ihm durch den Kopf und seine Erregung wuchs.

Dann rutschte es bedächtig über seine Oberarme bis auf die Schultern, um plötzlich blitzartig hochzuschnellen. In Sekundenbruchteile zog sich das Seil zu und umschlang mit Brachialgewalt seinen Hals.

Er ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte, sich wegzudrehen; schaffte es aber nicht. Der unbekannte Gegner hatte ihn fest im Griff. Die Augenbinde rutsche hinab; fiel auf den Boden. Als der korpulente Mann seinen Kopf zur Seite drehte, erkannte er im schwachen Licht der entfernt stehenden Laternen für einen kurzen Augenblick das Gesicht seines Gegners. Er erschrak; wollte etwas sagen, doch alles, was über seine Lippen kam, war ein keuchendes Hecheln.

Du?, schoss es als innerer Aufschrei durch seine Gedanken. Warum?

Der Mann, der ihm das Seil um den Hals gelegt hatte, zog es mit aller Kraft ruckartig immer strammer. Sein Opfer hatte keine Chance. Sein verzweifeltes Ringen nach Luft blieb aussichtslos. Das hoffnungslose Röcheln aus seinem weit aufklaffenden Mund klang elend; glich einem verzerrten Gurgeln. Die weit aufgerissenen Augen machten den Eindruck, als wollten sie aus ihren Höhlen springen. Das letzte, was er hörte, war das laute Dröhnen eines LKWs, der geräuschvoll über die Brücke der A59 donnerte.

Dann umgab ihn eine tiefe Schwärze.

* * *

Montag, 27. August, 8.05 Uhr

Polizeikommissarin Silvia Muisfeld fühlte sich hundemüde, als sie ihr Büro im Duisburger Präsidium betrat. Die fünfunddreißigjährige Kripobeamtin ließ sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen, streckte sich und gähnte herzhaft. Schon auf der Fahrt zum Dienst hatte sie das Gefühl, heute Morgen überhaupt nicht wach zu werden. Wie so oft in der letzten Zeit, hatte sie mal wieder schlecht geschlafen. Den Auslöser für diese immer häufiger auftretenden Schlafstörungen hatte sie bis heute noch nicht gefunden.

Ich besorg´ mir erst mal einen Kaffee, ging es ihr durch den Kopf. Die junge Frau strich sich mit beiden Händen die schulterlangen, rotbraunen Haare hinter die Ohren und erhob sich. Ich diesem Moment schrillte das Telefon. Silvia Muisfeld empfand dieses Geräusch heute Morgen als besonders grell; ein alles durchdringender Lärm; laut und dröhnend. Für einen Moment starrte sie das Telefon auf ihrem Schreibtisch mit verschlafenem Blick an, so, als sei es ihr Feind. Sie nahm den Hörer ab, legte ihn neben den Apparat auf den Schreibtisch und drückte die Lautsprechertaste des Telefons.

„Muisfeld“, meldete sie sich.

„Meier. ´n Morgen“, klang es aus dem kleinen Lautsprecher.

Silvia Muisfeld verzog für einen Augenblick das Gesicht. Ralf Meier leitete die Spurensicherung und wenn er anrief, gab es Arbeit. „Deine Stimme am frühen Morgen. Das kann nichts Gutes bedeuten.“

„So ist es. Zwei Angler haben heute Morgen an der Ruhr eine männliche Leiche entdeckt. Alles deutet darauf hin, dass der Mann stranguliert wurde.“

„Wo müssen wir hin?“

„Der Fundort liegt kurz vor der letzten Ruhrschleuse. Wenn ihr vom Verteiler Kasslerfeld in den Ruhrdeich abbiegt, an der Metro vorbei, werdet ihr kurz vor der Autobahnbrücke, links neben dem Deich, unsere Autos stehen sehen.“

„Gut. Wir kommen.“

Sie griff zu ihrem Handy und tippte zweimal auf das Display. Schnell hatte sie eine Verbindung. „Sven. Ich bin ´s. Wo bist du?“ … „Noch zuhause?“ … „Es gibt Arbeit. Ich hol´ dich ab; bin gleich bei dir.“

Damit war das Gespräch beendet. Sven Söhlbach war ihr Mitstreiter im Kommissariat für Tötungsdelikte. Er wohnte nur drei Autominuten von Polizeipräsidium entfernt.

Silvia Muisfeld blickte noch einmal auf ihren Schreibtisch. Dort lagen zwei Stapel Akten. Sie atmete tief durch. Ich frag´ mich, wann ich diesen Schreibkram erledigen soll? Hab´ auch nur zwei Hände. Dann verließ sie das Büro.

Um zu ihrem Kollegen zu gelangen, musste sie zunächst der Düsseldorfer Straße, an der auch das Polizeipräsidium lag, in Richtung Süden folgen. Als sie mit ihrem Dienstwagen, einem silbernen VW-Passat älteren Baujahrs, nach etwas mehr als dreihundert Meter an der Einmündung der Karl-Lehr-Straße vorbei fuhr, überkam sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Und wie immer, wurde dieses Gefühl stärker, als sie in den langen Tunnel blickte, in dem die Karl-Lehr-Straße verschwand; der Tunnel, in dem es zu der Loveparade-Katastrophe gekommen war. Der Tag, an dem dieses verhängnisvolle Desaster geschehen war, hatte sich in ihren Kopf eingebrannt. Ihre beste Freundin Nicole hatte die Loveparade besucht. Silvia hatte im Radio von dem Unglück erfahren und sofort versucht, ihre Freundin zu erreichen, doch das Handynetzt war total zusammengebrochen. Es waren Stunden vergangen; Stunden voller Ungewissheit, bis sich Nicole endlich bei ihr gemeldet hatte, um ihr mitzuteilen, dass ihr nichts passiert sei.

Der lange Tunnel, den die Kommissarin schon so oft durchfahren hatte, strahlte bedrückendes Unheil aus; wirkte auf sie, wie ein düsteres Loch; das Loch, welches vielen jungen Menschen das Leben genommen hatte.

Silvia Muisfeld schüttelte diese Gedanken wieder von sich. Als sie wenig später bei ihrem Mitstreiter vorfuhr, stand dieser schon wartend am Straßenrand.

Kommissar Sven Söhlbach war eine auffällige Erscheinung. Er hatte mit 1,87m eine stattliche Größe, wog aber nur achtzig Kilo. Der Volksmund würde ihn als lang und dünn bezeichnen. Söhlbach war achtunddreißig Jahre alt, wirkte aber wesentlich älter. Da seine Geheimratsecken mittlerweile bis zur Kopfmitte ausgeprägt waren, hatte er sich vor einem Jahr die restlichen Haare einfach abrasiert, weil er gemeint hatte, eine gepflegte Glatze wirke ordentlicher. Im Prinzip hatte er sogar Recht, aber diese Glatze ließ ihn rein optisch auch um mindestens fünf Jahre älter erscheinen. Einige Kollegen hatten schon angemerkt, dass er nun eine gewisse Ähnlichkeit mit Bruce Willis hat.

„`n Morgen Silvia“, murmelte er, nachdem er auf dem Beifahrersitz Platz genommen und seine langen Beine im Fußraum verstaut hatte. „Was liegt an?“

„Ein Toter an der Ruhr. Meier ist mit seiner Truppe schon vor Ort.“

Söhlbach strich mit der Hand über seine Glatze. „Vielleicht ist es ein Binnenschiffer, der irgendwo über Bord gegangen ist. Erinnerst du dich noch an den toten Matrose, der vor drei Jahren aus dem Hafenkanal gefischt wurde? Der war mit 2,3 Promille im Blut ebenfalls über Bord gegangen.“

Silvia Muisfeld erinnerte sich genau. Den Anblick des toten Matrosen würde sie niemals vergessen; das Bild einer schrecklich entstellten Leiche. Der Tote war in die Schiffschraube geraten. Dabei waren ihm der linke Arm und die linke Schädelhälfte abgetrennt worden. Silvia hätte diese Erinnerung am liebsten für immer aus ihrem Kopf verbannt, doch das grässliche Bild wollte sich einfach nicht aus ihrem Gedankengut löschen lassen.

„Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war“, meinte sie. „Meier sagte, dass alles darauf hindeutet, dass der Mann stranguliert wurde.“

„Stranguliert?“, murmelte Söhlbach. „Das riecht nach Arbeit.“

Trotz des morgendlichen Berufsverkehrs parkte der silberne Passat keine zehn Minuten später zwischen den Fahrzeugen der Spurensicherung und einigen Streifenwagen.

Dann standen die beiden auf dem Deich und blickten hinab. Unter ihnen breitete sich eine weite Wiesenfläche aus, die erst am Ufer der Ruhr endete. Das fast gleichmäßige Grün der Ebene wurde nur von einigen Buschgruppen unterbrochen.

Die beiden folgten einem Weg, der gleich einer breiten Rampe schräg nach unten führte. Sie marschierten über die Wiese auf den Fluss zu. Die Sonnenstrahlen, welche die Lufttemperatur heute Morgen bereits auf 20 Grad erwärmt hatten, verzauberten die Wasseroberfläche der Ruhr in ein glitzerndes und funkelndes Meer.

Ein paar Hundert Meter rechts von den beiden Kripobeamten überspannte die Brücke der A59 die Landschaft. Am gegenüberliegenden Ufer der Ruhr lagen zwei Frachtschiffe vor Anker. Ein weiteres Schiff fuhr gerade mit langsamer Fahrt in die Ruhrschleuse ein.

Silvia Muisfeld erkannte Im Hintergrund die Ausleger einiger Kräne. Sie wusste, dass sich dort die Becken der großen Ruhrorter Hafenanlage befanden. Die Leute von der Spurensicherung konnte sie allerdings nirgendwo sehen. Die Kommissarin griff nach ihrem Handy. „Wo seid ihr denn, Ralf? Wir sind schon fast am Ruhrufer.“ Sie lauschte in das Gerät und nickte. „Okay, machen wir.“ Dann steckte sie das Mobiltelefon wieder in die Tasche.

„Und?“, wollte ihr Begleiter wissen. „Wo sind sie?“

„Wir sollen nach links gehen, immer an der Ruhr entlang. Dort, wo ein Baum direkt am Ufer steht, ist der Fundort.“

Wenig später erkannten sie in etwa zweihundert Meter Entfernung den von Meier erwähnten Baum. Jetzt sahen sie auch einige weiß gekleidete Gestalten, die dort zu gegen waren. Uniformierte Polizeibeamte waren damit beschäftigt, den Fundort großräumig abzusperren. Ein weiterer Polizist in Uniform unterhielt sich mit zwei jungen Frauen, die mit ihren Hunden unterwegs waren.

Als die beiden Kripobeamten den Fundort erreicht hatten, kam ihnen der Leiter der Spurensicherung ein paar Schritte entgegen.

„Da seid ihr ja“, meinte Meier. „Eines kann ich jetzt schon mit Sicherheit sagen. Der Mann wurde ermordet; mit einem Seil von hinten erdrosselt.“

Der zweiundvierzigjährige Ralf Meier war 1,80 Meter groß. Seine blonden Haare, viele Kollegen behaupten, er würde sie regelmäßig nachfärben, trug er etwas länger. Er hatte den Ruf eines Sonnyboys, der keine Gelegenheit ausließ, die Frauen in seinem Umfeld mit diversen Sprüchen anzubaggern.

Auch wenn die Zusammenarbeit zwischen Ralf Meier und Silvia Muisfeld reibungslos funktionierte, menschlich gesehen harmonierten sie nicht miteinander. Sie mochten sich nicht sonderlich. Es fehlte einfach die gegenseitige Sympathie.

Sven und Silvia traten an das Mordopfer heran. Der Tote lag längs des Ufers, nur etwa einen halben Meter vom Wasser entfernt. Er war nackt. Der korpulente Mann lag auf dem Rücken. Seine matten Augen starrten ins Leere und sein Mund war weit aufgerissen, so, als würde er immer noch nach Luft schnappen. Die Bartstoppeln im Gesicht und am Hals des Toten verrieten, dass er sich schon seit einigen Tagen nicht mehr rasiert hatte. Seine langen Haare waren zerzaust; wirkten fettig und verklebt. Die übergroßen, markanten Ohren passten irgendwie nicht zu den ungewöhnlich schmalen Ohrläppchen, die sehr tief angewachsen waren. Das Seil, mit dem man ihn hinterrücks erdrosselt hatte, lag immer noch um seinen Hals. Überall am Körper gab es diverse Schürfwunden.

Silvia Muisfeld verzog für einen Augenblick das Gesicht. Dann wandte sie sich an Meier: „Wisst ihr schon etwas über seine Identität?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein. Außer dem Seil hatte er nichts bei sich.“

Die Kripobeamtin presste kurz die Lippen aufeinander. Meier war ein fähiger Mann, aber seine sarkastischen Bemerkungen mochte sie noch nie, auch wenn andere Kollegen meinten, dass Ralf Meier immer gut drauf war. Silvia fand diesen unangebrachten Galgenhumor einfach pietätlos.

„Der Mörder hatte viel Kraft“, meinte Meier und trat an den Toten heran. Er schob das Seil am Hals etwas zur Seite. Unter dem tiefroten Würgemal war die Haut regelrecht eingedrückt. Meier deutete auf die Schürfwunden, die sich besonders auf dem Bauch und der Brust des Mordopfers hervortaten. „Ganz offensichtlich wollte der Täter ihn ins Wasser befördern. Wir haben genug Spuren entdeckt, die beweisen, dass der Körper des Toten über den Boden geschleift wurde. Da der Untergrund im direkten Uferbereich aus kleinen Felsbrocken besteht, konnte der Täter sein Opfer nicht bis ins Wasser ziehen. Der tote Körper war zu schwer, um die steinernen Hindernisse so zu überwinden. Ganz offensichtlich wollte der Täter sein Opfer in den Fluss rollen, hat aber nur eine halbe Drehung geschafft. Deshalb weisen die Schürfwunden nun nach oben.“

„Das dürfte nicht einfach gewesen sein“, meinte Söhlbach und blickte auf das nackte Mordopfer. „Der Tote wiegt doch bestimmt an die hundert Kilo.“

„Wahrscheinlich noch mehr“, gab Meier zu verstehen. „Ich sagte es doch. Der Täter muss sehr stark gewesen sein.“

„Wer hat den Mann gefunden?“, wollte Söhlbach wissen.

Der Leiter der Spurensicherung deutete auf zwei Männer, die etwas abseits neben einem uniformierten Polizisten standen. „Die beiden da. Sie wollten hier angeln.“

„Dann wollen wir doch mal hören, was sie zu sagen haben. Was meinst du, Ralf, wann können wir den vollständigen Bericht haben?“

„An mir soll´s nicht liegen. Wir brauchen hier nicht mehr lange. In der Autopsie könnte es aber länger dauern. Ist schließlich ein gewaltiger Körper. Da hat der Doc mehr zu schneiden.“ Meier grinste. Dann zeigte er auf zwei Männer, die mit einem Zinksarg auf sie zukamen. „Die Aasgeier kommen auch schon.“

Silvia Muisfeld wandte sich wortlos ab und marschierte in die Richtung der beiden Angler. Ihr Kollege folgte ihr.

„Du hast es aber eilig“, sagte er, als er sie eingeholt hatte.

„Ich hab ´s nicht eilig. Ich kann mir nur Meiers dummes Geschwätz nicht mehr anhören.“

„Du kennst ihn doch. Er kann nicht anders.“

„Eben drum. Der Mann labert nur Blech, und so etwas brauch´ ich nicht.“

„Warum sagst du ihm das nicht?“

Sie winkte ab. „Weil ich kein Krach mit ihm haben will.“

Dann hatten sie die zwei Angler erreicht. Einer der beiden trug einen Tarnanzug, wie ihn sonst nur Soldaten trugen.

Vor den beiden Männern lagen zwei Klappstühle und zwei längliche Taschen auf der Wiese. Darin hatten sie ganz offensichtlich ihre Angelutensilien verstaut. Neben ihnen stand ein Polizist.

„Guten Morgen“, grüßte Söhlbach.

Der Gruß kam sehr zaghaft zurück.

„Ein guter Morgen ist dat bestimmt nicht“, murmelte einer der Angler.

„Sie zwei haben den Toten also entdeckt“, stellte Söhlbach fest.

„Ja“, antwortete der Mann im Tarnanzug. „Et sollte eigentlich ein geruhsamer Morgen werden. Und plötzlich lag der da. Genau an der Stelle, an der wir immer angeln tun.

Können Se sich vorstellen, wat wir erschrocken waren?

Ich mein, so ´n Toten tut man ja nich immer sehen.“

„Ja“, sagte nun der andere Mann. „Dat stimmt. Wat meinen Se, wat dat für ein Schreck für uns war.“

„Sie kommen also oft hierher, um zu angeln?“, fragte nun die junge Kommissarin die beiden Männer, die das Ruhrpottplatt perfekt und ohne fremden Akzent beherrschten.

„Klar“, sagte der Mann im Tarnanzug. „Mindestens einmal die Woche und manchmal, wenn wa zuhause Zoff mit de Alten haben auch zweimal.“ Er grinste.

„Und als Sie heute Morgen hier ankamen, ist Ihnen nichts Außergewöhnliches aufgefallen? Ich meine, haben Sie irgendwelche Leute gesehen, die hier schon unterwegs waren?“

„Nee, dat war so friedlich wie immer. Von anderen Leuten war nix zu sehen.“

„Und an der Lage des Toten haben Sie nichts verändert?“

„Ey, wat meinen Se? Meinen Se etwa, ich würd´ den anpacken? War schon schlimm genug, datt wa den gefunden haben.“

„Können Sie sich noch daran erinnern, wie spät es war, als Sie den Mann entdeckt hatten?“

„Dat muss so um sieben gewesen sein. Ich hab´ auch sofort die Polizei mit dem Handy angerufen.“

„Das kommt hin“, mischte sich nun der Polizist, der bei ihnen stand, ins Gespräch. „Der Anruf ging um sieben Uhr drei bei uns ein.“

Silvia Muisfeld nickte und sah ihren Kollegen in Uniform an. „Nehmen Sie bitte noch die Personalien der beiden Zeugen auf, falls noch Fragen aufkommen.“

Der Polizist tippte auf seine Brusttasche. „Schon geschehen.“

Über das Gesicht der Kommissarin huschte ein flüchtiges Lächeln. „Sehr aufmerksam, Herr Kollege.“ Dann wandte sie sich an die beiden Angler. „Danke. Sie können jetzt nach Hause gehen.“

Der Mann im Tarnanzug schaute die junge Frau neugierig an. „Darf ich Se noch ma wat fragen?“

„Was?“

„War dat Mord oder hat der Kerl versucht, sich an dem Baum aufzuhängen? Schließlich hat der ja ´n Strick um Hals.“

„Das wissen wir noch nicht. Wir müssen erst die Untersuchung abwarten.“

„Ach so.“

Die beiden Kripobeamten verabschiedeten sich von den Anglern und gingen zum Fundort zurück.

Auch die Männer mit dem Sarg waren gerade angekommen.

Söhlbach wandte sich an Meier: „Die beiden Zeugen haben uns auf eine Idee gebracht. Kann es sein, dass der Mann sich hier am Baum erhängt hat? Es ist doch möglich, dass sich das Seil durch das Gewicht löste und er runterfiel.“

„Quatsch.“ Meier schüttelte den Kopf. „Der Tote wurde eindeutig hierher geschleift. Ich bin mir sicher, dass der Tatort in unmittelbarer Nähe liegt.“

„Warum bist du dir da so sicher?“

„Ich sagte ja schon, dass der Täter sehr kräftig sein muss, aber einen so schwergewichtigen Mann über eine längere Strecke zu tragen, ist unmöglich.“

„Und wenn er den Toten in einer Schubkarre transportiert hat?“

„Auch Quatsch. Dann hätte der Täter sein Opfer direkt da hinten versenkt.“ Meier deutete auf den Weg am Ufer zurück, auf dem sie hierhergekommen waren. „Da hinten sind Rampen, die bis ins Wasser reichen. Warum sollte der Mörder sein Opfer bis hierhin transportieren, wenn er es dahinten problemlos versenken kann?“

Söhlbach nickte. „Logisch.“

„Aber was ist“, warf seine Kollegin nun ein, „wenn es sich um mehrere Täter handelt?“

Auch bei dieser Frage reagierte Meier mit einem Kopfschütteln. „Der Täter hat eindeutig versucht, den Toten ins Wasser zu befördern. Das hat er alleine nicht geschafft.

Für zwei oder mehr Männer wäre es allerdings kein Problem gewesen. Daraus folgere ich, dass es ein Einzeltäter war.“

Die Kommissarin nickt.

„Für uns gibt´s hier nichts mehr zu tun“, meinte sie zu Söhlbach. „Warten wir die Ergebnisse der KTU ab. Lass´ uns zurück fahren. Wir sollten die aktuellen Vermisstenmeldungen mal durchgehen. Vielleicht werden wir ja fündig.“

Als die zwei sich abwandten, um sich auf den Rückweg zu machen, hörten sie hinter sich Meiers Stimme: „Ihr könnt ihn einsargen. Packt ihn am besten gleich mit vier Mann.

Hoffentlich bekommen wir ihn ohne Schuhanzieher überhaupt in die Kiste.“

Muisfeld verzog den Mund und schüttelte den Kopf.

Arschloch, dachte sie. So ein Arschloch.

Es war, als könne Sven Söhlbach die Gedanken seiner Kollegin lesen. „Reg dich nicht auf, Silvia. Das bringt eh nichts.“

Sie gingen wortlos weiter. Vor einer Betonrampe, die vom Ufer aus direkt hinunter in die Ruhr führte und sich unter Wasser verlor, blieben sie stehen. Solche Rampen waren dafür da, um Boote ins Wasser zu lassen.

„Meier hat Recht“, sagte Söhlbach. „An dieser Stelle hier hätte der Täter sein Opfer einfacher in die Ruhr befördern können.“

Die Kommissarin blickte gedankenversunken auf den Fluss. An einem der stählernen Pfeiler am gegenüberliegenden Ufer machte gerade eine weiße Motorjacht fest.

Am Heck dieses Bootes wehte die holländische Flagge.

Das Schiff wollte dort offensichtlich auf die Freigabe zur Einfahrt in die Ruhrschleuse warten. Bis zur Ruhrmündung in den Rhein war es von hier aus nur ein paar Kilometer. Wahrscheinlich wollte die Jacht rheinabwärts in Richtung ihres holländischen Heimathafens fahren.

Söhlbach riss seine Kollegin aus ihren Gedanken. „Wenn der Täter den Mann ins Wasser befördert hätte, wäre der Tote nicht weit gekommen.“ Er deutete nach links. „Er wäre mit Sicherheit am Wehr hängen geblieben.“

Sie wusste sofort, was er meinte. In einiger Entfernung ragten fünf turmartige Gebäude, verbunden durch ein blaues Band, auf: Das Ruhrwehr. Hier rauschte das Wasser einige Meter in die Tiefe. Das, was wie ein blaues Band aussah, war ein Übergang, der Fußgängern und Fahrradfahrern die Überquerung des Flusses ermöglichte.

Ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, setzten die zwei ihren Weg fort. Sie waren ein ungleiches Paar.

Neben dem langen Sven wirkte die nur 1,66 Meter große Silvia zwergenhaft.

Als sie das Absperrband erreichten, stand dort neben einem Polizisten ein junger Mann, der sie erwartungsvoll ansah.

„Ich bin von der Zeitung“, sprach er die beiden Kripobeamten an und wedelte mit einem Presseausweis herum.

„Was ist passiert?“

Wortlos ergriff Silvia Muisfeld den Presseausweis und warf einen Blick darauf. Als sie sah, für welche Tageszeitung er arbeitete, wunderte sie sich. „Eigentlich kenne ich die Journalisten dieser Zeitung sehr gut. Sind sie neu bei dem Verein?“

„Ja. Ich bin Volontär.“

Dann las Silvia seinen Namen. Thomas Meier.

Oh Gott. Schon wieder ein Meier, ging es ihr durch den Kopf.

„Ich wusste gar nicht, dass die Zeitung jetzt schon Volontäre rausschickt, wenn ein Toter gefunden wird.“

„Mich hat auch niemand geschickt. Ich sah die vielen Polizeiautos an der Straße stehen. Da wurde ich natürlich neugierig. Also, was ist passiert? Wer ist der Tote?“

„Wir wissen noch nicht, wer der Tote ist. Wenn wir mehr über den Mann wissen, werden wir die Presse verständigen. Es kann durchaus sein, dass wir zur Identifizierung Fotos in die Zeitungsmedien setzen müssen.“

„Wie ist der Mann denn ums Leben gekommen?“

„Dazu kann ich noch nichts Endgültiges sagen. Wir müssen erst die Untersuchungen abwarten.“

Der junge Volontär kratzte sich ans Kinn.

„Verstehe“, sagte er. „Darf ich Ihren Namen wissen?“

Die junge Kommissarin machte große Augen. „Warum wollen Sie meinen Namen wissen?“

„Ich bin auf dem Weg in die Redaktion“, meinte er und zog einen kleinen Block und einen Kuli aus der Tasche. „Wenn ich meinen Kollegen von dem Toten erzähle, möchte ich wenigstens sagen können, von welcher hübschen Polizistin ich die Infos über den jetzigen Stand der Dinge habe.“

„Schleimer“, sagte Silvia und grinste. „Ich bin Kommissarin Silvia Muisfeld.“

„Silvia Müsfeld“, murmelte der junge Mann und kritzelte etwas auf seinen Block.

„Muisfeld schreibt sich mit `ui´“, erklärte die Polizistin, die es gewohnt war, zu erklären, dass ihr Nachname, auch wenn er mit einem „ü“ ausgesprochen, mit „ui“ geschrieben wird. „Genau wie Duisburg; wird Düsburg gesprochen und Duisburg geschrieben“, fügte sie hinzu.

„Hab´ schon verstanden.“, murmelte der angehende Journalist. Er tippte sich nachdenklich mit dem Finger auf die Nase. „Ich überlege gerade, woher ich ihren Namen kenne. Ich hab´s. Es ist ein uralter Duisburger Name und eine ihrer Vorfahrinnen wurde im Mittelalter als Hexe hingerichtet.“

Sven Söhlbach lachte laut auf. „Das hab ich ja noch nie gehört.“ Er schaute seine Kollegin an. „Du hast also Hexenblut in dir. Nicht dass du mich irgendwann mal in eine Kröte verwandelst.“ Er wandte sich wieder an den jungen Mann. „Sie haben verdammt viel Fantasie. Auf so etwas muss man erst einmal kommen.“

Der Volontär blickte ihn entgeistert an. „Fantasie? Wie kommen Sie denn darauf? Ich interessiere mich für die Geschichte dieser Stadt und habe gelesen, dass hier im Mittelalter eine Frau namens Agnes Muisfeld gab. Diese Frau wurde als Hexe hingerichtet.“

Söhlbach schüttelte ungläubig den Kopf und sah seine Kollegin fragend an. „Hast du davon schon gehört, Silvia?“

Sie nickte. „Ja. Diese alte Geschichte kenne ich. Mein Opa hat sie oft erzählt. Diese Agnes Muisfeld soll Witwe gewesen sein und ob sie Kinder hatte, das weiß niemand.

Es ist also fraglich, ob diese Frau etwas mit meinen Vorfahren zu tun hatte.“

Sven Söhlbach grinste. „Wenn dir demnächst eine dicke Warze auf der Nase wächst, dann weißt du, dass es Erbgut ist.“

„Und wenn ich dich demnächst tatsächlich in eine hässliche Kröte verwandle, dann weißt du, dass du zu frech zu mir warst.“

* * *

10.45 Uhr

Söhlbach und seine Kollegin Muisfeld saßen vor ihren Schreibtischen und starrten auf die Monitore. Sie hatten zunächst alle neueren Vermisstenmeldungen in einem Umkreis von 300 Kilometer abgerufen. Foto für Foto scrollte über den Bildschirm, doch noch war kein Bild dabei, welches dem Toten von der Ruhr auch nur annähernd ähnelte.

Der Klingelton von Sven Söhlbachs Handy ließ ihn für einen Moment die Arbeit vergessen. Er nahm das Gespräch entgegen. „Mama, bist du etwa schon da? … In etwa zwanzig Minuten. … Ich werde pünktlich dort sein.“

Er hatte seiner Kollegin bereits erzählt, dass seine Mutter heute von einer Bustour durch die Toskana zurückkommen würde.

„Ist deine Mama wieder zuhause?“, wollte Silvia von ihm wissen.

„Sie sitzt noch im Bus. Der Bus wird in etwa zwanzig Minuten am Busbahnhof ankommen. Ich hol´ sie dort ab und fahre sie nach Hause.“

Sven wollte noch etwas sagen, als das Faxgerät ansprang. Er schaute auf das bedruckte Papier, welches das Gerät ausspuckte.

„Donnerwetter“, sagte er. „Da ging aber schnell.“

„Der Bericht?“, fragte Silvia.

Ihr Kollege nickte und wartete, bis auch das letzte Blatt im Fach lag. Dann nahm er die Blätter zur Hand. Seine Augen überflogen den Bericht.

Silvia Muisfeld blickte ihn neugierig an. „Und?“

„Der Todeszeitpunkt war gestern zwischen 21 und 22 Uhr.

Unser Toter ist 1,77 Meter groß und wiegt 112 Kilogramm.

Er ist fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt und hat auffallend gesunde Zähne. Die Todesursache steht eindeutig fest. Der Mann wurde mit dem Seil stranguliert, welches um seinen Hals lag. In seinem Blut wurde ein Alkoholwert von 1,1 Promille festgestellt.“

Während Söhlbach die nächste Seite des Berichts überflog, meinte seine Kollegin: „1,1 Promille ist ja nicht viel.

Stinkbesoffen war er also nicht.“

„Höchstens etwas angeheitert“, murmelte Sven.

„Gibt ´s noch etwas Wichtiges?“

Söhlbach nickte. „Es könnte wichtig werden. Am Körper des Toten wurden Faserspuren sichergestellt. Diese Spuren könnten von der Kleidung des Mordopfers stammen, oder, wenn der Mann schon nackt war, als er erdrosselt wurde, auch von der Kleidung des Täters. Die Kleidung des Mordopfers wurde leider nicht gefunden. Es sieht so aus, als hätte der Täter keine Handschuhe getragen, denn auf dem Seil fand man Hautschuppen. Die gefundenen Schuppen im mittleren Teil des Seiles sind der DNA-Analyse nach eindeutig dem Opfer zu zuordnen.

Die Hautschuppen an den Seilenden stammen von einer anderen Person; wahrscheinlich vom Täter. Es wurde schon ein DNA-Abgleich mit unserer Datenbank gemacht, aber der war leider negativ.“

„Das wäre auch zu einfach gewesen“, sagte die junge Kommissarin.

„Der Bericht ist noch nicht komplett“, stellte Söhlbach fest.

„Was fehlt?“

„Die Fotos.“

Söhlbach griff zum Telefon. „Ich bin´s, Sven. Es geht um den Toten an der Ruhr. Euer Bericht ist angekommen, aber die Fotos fehlen.“ Er lauschte eine ganze Weile in den Hörer. Dann schmunzelte er. „Der arme Kerl. Muss ein ganz schöner Schreck gewesen sein.“ Damit war das Gespräch beendet.

Silvia Muisfeld blickte ihn neugierig an. „Von welchem armen Kerl ist die Rede?“, wollte sie wissen.

„Schneuzler, unser Fotograf, bekam, nachdem die Arbeit auf den Ruhrwiesen beendet war, einen Anruf. Er sagte zu den Kollegen, dass er schnell weg müsse und verschwand. Vor einer Stunde rief er an und entschuldigte sich. Seine Tochter hatte ihn angerufen. Sie hatte am Telefon geweint und wirkte wohl ganz aufgelöst. Als sie nach Hause gekommen war, war die hochschwangere Mama nicht da. Stattdessen hatte sie in der Küche eine große Blutlache vorgefunden.“

„Ach du Scheiße“, kam es aus Silvias Mund. „Da kann ich verstehen, dass Schneuzler es plötzlich eilig hatte. Ist denn alles wieder in Ordnung?“

Sven grinste. „Es war von Anfang an alles in Ordnung. Der schwangeren Frau ist beim Öffnen des Kühlschranks eine Flasche Ketchup entgegen gekommen, auf den Boden geknallt und zersplittert. Muss `ne ganz schöne Schweinerei gewesen sein. Die Frau hatte zunächst die Scherben eingesammelt und damit sich niemand dran verletzen kann, sofort nach draußen in die Mülltonne gebracht. Den Boden wollte sie danach reinigen. Die Mülltonnen stehen auf dem Hof und genau dort war sie auf eine Nachbarin getroffen. Die beiden Frauen hatten lange zusammengestanden und gequatscht. Schneuzlers Frau konnte ja nicht ahnen, dass ihre Tochter heute früher aus der Schule gekommen war, weil die letzten zwei Stunden ausgefallen waren.“

Silvia schüttelte den Kopf. „Muss wirklich ein Schock für Schneuzler gewesen sein. Wann bekommen wir denn die Fotos?“ Sie deutete auf ihren Monitor. „Wenn wir unseren Toten hier nicht finden, müssen wir die Fotos in der Presse veröffentlichen.“

„Schneuzler ist bereits unterwegs. Kann aber noch dauern, weil er auf der A40 im Stau steht. Da hat `s wohl einen Unfall gegeben.“

„A40? Was macht er denn da?“

„Er wohnt doch in Mülheim.“

„Ach so“, sagte Silvia und wandte sich wieder ihrem Monitor zu. „Das wusste ich nicht.“

Ihr Kollege schaute auf die Uhr.

„Ich muss los“, meinte er. „Mama holen. Bin in etwa einer halben Stunde wieder da. Bis dahin hast du hoffentlich die Identität des Mannes herausgefunden.“

Er erhob sich und ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Ich hab ´ne Idee, Silvia. Vielleicht würde es unsere Suche erleichtern, wenn du dabei deine Hexenkräfte einbringst.“

Mit einem Augenzwinkern verließ er das Büro.

Silvia Muisfeld lächelte.

Sven und sie arbeiteten bereits seit fast fünf Jahren zusammen. Mit der Zeit waren die beiden zu einem richtig guten Team geworden. Der eine wusste immer, was der andere tat, und sie erledigten ihre Arbeit immer Hand in Hand. Sie verstanden sich aber nicht nur dienstlich. Auch privat trafen sie sich oft zu gemeinsamen Aktivitäten. Sie joggten zusammen oder besuchten zu zweit das Fitnessstudio. Da beide ungebunden waren, gehörte auch der regelmäßige Besuch in der Stammkneipe zu ihren Aktivitäten. Oft verbrachten sie bei Sven zuhause gemeinsame Fernsehabende. Und wenn es dann mal zu spät wurde, dann übernachtete Silvia auf Svens breitem Sofa. Die beiden hatten sich eigentlich immer etwas zu erzählen, und ihnen war noch nie der Gesprächsstoff ausgegangen. Sie verstanden sich einfach super. Silvia hatte schon oft darüber nachgedacht, dass Sven der ideale Ehemann für sie sein könnte, wenn, ja wenn er ihr Typ wäre. Und genau das war er nicht. Sven war ein echter Freund; ein toller Kumpel, mit dem sie durch dick und dünn gehen konnte, aber er war halt nicht der Typ Mann, in den sie sich hätte verlieben können.

Silvia Muisfelds Augen blieben für einen Moment auf dem Monitor kleben. Das Bild eines der als vermisst gemeldeten Männer sah auf dem ersten Blick dem des Toten ähnlich. Doch Silvias Hoffnung, das Geheimnis um die Identität des Mordopfers gelüftet zu haben, schwand beim zweiten Blick. Der Mann auf dem Foto war ebenfalls sehr korpulent und hatte das gleiche runde Gesicht. Doch nicht nur, dass die Gesichtszüge etwas anders waren. Die Größe der Ohren hielt sich im Normalbereich, während die des Toten über jede Norm hinaus gingen. Außerdem war das Alter des Vermissten mit 42 Jahre angegeben.

Die junge Ermittlerin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Sie schaute gedankenversunken zum Fenster. Dabei dachte sie an ihren Kollegen Sven, der gerade zum Busbahnhof unterwegs war. Svens Mama wohnte nur etwa fünfhundert Meter von seinem Zuhause entfernt. So konnte er immer für sie da sein, wenn Not am Mann war.

Die Parallelen, die sich im Leben von Sven und Silvia abzeichneten, waren außergewöhnlich. Beide hatten ihre Väter verloren. Svens Vater war bei einem Autounfall gestorben, als Sven acht Jahre alt war. Silvias Vater starb vor vier Jahren an Krebs. Er wurde nicht einmal 54 Jahre alt. Im Gegensatz zu Sven, der eine eigene Wohnung hatte, lebte Silvia immer noch gemeinsam mit der Mutter in ihrem Elternhaus. Silvia hatte es mit ihrer Mutter nicht immer leicht, denn Mamas Ansichten zu vielen Dingen wichen von den ihren doch erheblich ab. Auch wenn jede quasi ihren eigenen Wohnbereich im Haus hatte, kamen sich die beiden mit ihren verschiedenen Vorstellungen oft in die Quere. Die Momente, in denen Mama Silvia fast zur Weißglut gebracht hatte, konnte sie nicht mehr zählen.

Natürlich hatte sie oft drüber nachgedacht, sich genau wir Sven eine eigene Wohnung zu nehmen. Doch nicht nur, dass sie das ihrer Mutter allein aus menschlichen Aspekten nicht antun konnte, Mama litt unter Diabetes mellitus. Das regelmäßige Zuführen des Insulinpräparats, täglich drei Spritzen in den Bauch und abends noch eine in den Oberschenkel, vergaß Mama leider manchmal. Das hatte zur Folge, dass ihr Blutzuckerspiegel dann verrückt spielte. Gewiss, Silvia könnte ihre Mutter, sowie sie es auch jetzt oft während ihrer Dienstzeit tat, anrufen, um sie an die Spritzen zu erinnern. Doch wenn Silvia nicht aufpasste, dann aß Mama auch Dinge, die sie eigentlich nicht essen durfte. Auch das war ein Grund dafür, Mama nicht allein zu lassen.

Es gab eine weitere Parallele im Leben von Sven und Silvia. Beide hatten eine kaputte Beziehung hinter sich.

Svens Ehe war nach sechs Jahren in die Brüche gegangen, weil seine Frau es mit der Treue nicht so genau genommen hatte. Den dritten Seitensprung hatte er ihr dann nicht mehr verziehen. Silvia war zwar niemals verheiratet, hatte aber vier Jahre mit ihrem damaligen Lebensgefährten Dirk zusammengelebt. Sie hatte ihn geliebt und war so richtig glücklich. Dann, genau auf ihrem dreißigsten Geburtstag, hatte er ihr gesagt, dass es mit ihrer Beziehung vorbei wäre, weil er sich in eine andere verliebt hatte. Es hatte sie, wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie hatte die gemeinsame Wohnung verlassen und war wieder in ihr Elternhaus gezogen. Als sie nach einiger Zeit wieder zurückgekehrt war, um noch ein paar Sachen aus der Wohnung zu holen, war Dirks Neue bereits eingezogen. Dirk hatte schweigend neben Silvia gestanden, als sie ein paar persönliche Dinge in eine Reisetasche gepackt hatte. Da war die Neue aus dem Bad gekommen. Ihr einziges Kleidungsstück war ein Slip. Diesen Anblick hatte Silvia bis heute noch nicht vergessen. Dieses schwarzhaarige Luder mit einem Engelsgesicht hätte mit ihrer Figur jedes Covergirl vom Playboy ausstechen können. Silvia war sich sicher, dass bei den prallen Brüsten dieser Frau kräftig mit Silikon nachgeholfen worden war.

Als Silvia später im Auto saß und nach Hause fuhr, sah sie immer wieder das Bild dieser Frau vor ihren Augen.

Sie dachte über sich selbst nach; dachte daran, dass sie sich immer toll fand, wenn sie in den Spiegel schaute.

Silvia hatte ein hübsches Gesicht und auch ihr Körper war wohlgeformt. Mit ihrer sportlich schlanken Figur und auch mit ihren Brüsten war sie immer sehr zufrieden. Aber mit diesem schwarzhaarigen Luder konnte sie nicht konkurrieren. Sie war davon überzeugt, dass es wohl kaum eine Frau gab, die sich mit diesem Silikonweib messen konnte.

Seit diesem Zeitpunkt hatte Silvia keine ernste Beziehung mehr zu einem Mann aufbauen können.

Die Kommissarin wandte sich wieder dem Monitor auf ihrem Schreibtisch zu. Sie griff nach der Maus und ließ Foto für Foto über den Bildschirm scrollen.

Zwischendurch blickte sie immer wieder auf die Uhr. Die halbe Stunde, die ihr Kollege eigentlich weg bleiben wollte, war schon längst überschritten. Als Sven Söhlbach nach einer geschlagenen Stunde wieder das Büro betrat, sah sie ihn strafend an.

„Hast du mal auf die Uhr geguckt?“, sagte sie. „Von wegen eine halbe Stunde. Du warst `ne ganze Stunde weg.“ Sie machte eine abwertende Handbewegung Richtung Monitor. „Lässt mich einfach mit den scheiß Vermisstenmeldungen alleine.“ Auch wenn Silvia ihre Stimme etwas gehoben hatte, böse war sie ihrem Kollegen eigentlich nicht. Dafür verstand sie sich einfach zu gut mit ihm.

„Erstens“, meinte Sven, „kam der Bus zu spät und zweitens habe ich nebenbei noch einen heißen Hinweis auf die Identität unseres Toten gefunden.“

Silvia Muisfeld blickte ihn ungläubig an. „Du hast was?“

Er ging auf ihre Frage nicht ein.

„Meine liebe Kollegin“, sagte er stattdessen. „Während du hier deine Zeit mit irgendwelchen Vermisstenmeldungen verplemperst, habe ich echte Polizeiarbeit geleistet.“

„Da bin ich aber gespannt.“

„Ich hab´ Mama nach Hause gefahren, ihre Koffer in die Wohnung geschleppt und als ich mich wieder von ihr verabschieden wollte, bat sie mich, ein paar alte Zeitschriften mit nach unten zu nehmen und diese ins Altpapier zu legen. Im Keller des Hauses steht ein großer Korb, in den die Bewohner ihr Altpapier sammeln. Ich wollte gerade Mamas Zeitschriften ablegen, als mein Blick auf die oberste Zeitung im Korb fiel.“

Erst jetzt sah Silvia, dass ihr Kollege das Blatt einer Tageszeitung in der Hand hielt, welches er nun vor ihr auf den Schreibtisch legte.

„Sieh mal, was ich entdeckt habe“, meinte er und deutete auf einen bebilderten Bericht.

In dem Artikel mit der Überschrift >Stadtrat fordert hartes Durchgreifen<, ging es darum, die Alkoholikerszene, die sich auf den Bänken im Bereich des Gerichtsgebäudes etabliert hatte, von der Kö, so wird im Volksmund die Königstraße genannt, fernzuhalten.

„Den Bericht hab´ ich schon gelesen“, sagte Silvia. „Ist bestimmt schon `ne Woche her. Die Stadt will den Bürgern den Anblick der Junkies und Alkis auf ihrer Einkaufsmeile ersparen.“

„Der Artikel ist auch nicht relevant. Sieh dir mal das Foto an.“

Silvia betrachtete das Bild.

„Das ist er“, kam es staunend aus ihrem Mund. „Das ist unser Mann.“

Auf dem Bild in der Zeitung war die Gruppierung zu sehen, um die es in dem Artikel ging; einige herumlungernde Leute mit Bierflaschen in den Händen. Einer dieser Typen, der ebenfalls eine Bierflasche in der Hand hielt, war eindeutig der Mann, der tot an der Ruhr gefunden wurde.

Sven Söhlbach griff zum Telefon.

„Wem rufst du an?“, fragte seine Kollegin neugierig.

„Ich rufe bei der Zeitung an. Der Fotograf hat doch bestimmt noch mehr Bilder geschossen. Auf dem Foto sind ja nur fünf der Männer deutlich zu erkennen. Vielleicht sind auf den unveröffentlichten Aufnahmen ja noch andere zu sehen. Jeder von ihnen kann ein wichtiger Zeuge sein und vielleicht ist einer von ihnen sogar unser Täter.“

Söhlbach stellte das Telefon so ein, dass seine Kollegin das Gespräch mit verfolgen konnte.

„Zemanowski, Redaktion“, tönte schließlich eine männliche Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.

„Guten Tag Herr Zemanowski, Sven Söhlbach, Kommissariat 11.“

„Kommissariat 11, hmm, Sie sind doch für Tötungsdelikte zuständig. Es geht also um die Leiche, die man in den Ruhrwiesen gefunden hat.“

Der Kripobeamte räusperte sich kurz.

„Eigentlich rufe ich an, weil ich einen Ihrer Fotografen sprechen möchte.“

„Geht im Moment nicht. Sind alle unterwegs. Wen wollen Sie denn sprechen?“

„Leider ist das Kürzel des Fotografen, welches unter dem Foto ist so abgegriffen, dass ich es nicht mehr lesen kann.

Es geht um den Artikel mit der Überschrift >Stadtrat fordert hartes Durchgreifen< und es ging um…“ „Daran kann ich mich erinnern“, fiel Zemanowski ihm ins Wort. „Es ging um die Alkohol- und Drogenszene auf der Kö. Ist gut `ne Woche her. Das Foto ist von PP. Er arbeitet freiberuflich für uns; vertritt im Moment unseren eigenen Fotograf, weil dieser im Urlaub ist. Heute Nachmittag zwischen vier und fünf haben wir in unserem Haus eine Besprechung. PP wird auch da sein.“

„Wer ist PP?“