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Ein Junge schwört, auf Wangerooge ein Alien gesehen zu haben. Steht der Fund einer ermordeten Frau mit dieser Sichtung in Verbindung? Die Kommissare Wagner und Reinders ermitteln. Es stellt sich heraus, dass eine tote Frau, die vor einigen Jahren gefunden wurde, auch ein Opfer dieses Mörders war. Dann verschwindet wieder eine Frau. Es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod.
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Seitenzahl: 340
Jennifer Bogner blickte zum Himmel. Nun hatten sich auch die allerletzen Wolken vollends aufgelöst und die Junisonne spendete mit ihren wohltuenden Strahlen eine angenehme Wärme.
Trotzdem fühlte sich sie junge Frau nicht wohl in ihrer Haut. Ihr Weg hatte sie durch wilde Wiesen in eine mit dichten Büschen zugewucherte Landschaft im Westteil der Insel Wangerooge geführt. Obwohl es auf Wangerooge vor Touristen nur so wimmelte, erblickte sie hier weit und breit nicht einen einzigen Menschen. Vorhin, auf dem Hauptweg, waren ihr noch ein paar Fahrradfahrer und Jogger begegnet, doch seitdem sie in diesen schmalen Nebenweg abgebogen war, hatte sie das Gefühl, als sei sie ganz allein auf der Insel.
Jennifers Urlaub auf Wangerooge sollte eine Woche dauern. Heute war ihr zweiter Tag auf der kleinen Nordseeinsel. Eigentlich wollte sie den Inselurlaub gemeinsam mit ihrer besten Freundin Lea antreten, doch diese lag nach einem unglücklichen Sturz mit einem komplizierten Beinbruch im Krankenhaus. Aus diesem Grund wollte Jennifer den Urlaub abblasen, aber Lea hatte darauf bestanden, dass ihre Freundin alleine nach Wangerooge fährt. Wenigstens eine von ihnen sollte mal eine Woche so richtig ausspannen können.
Jennifer strich sich eine Strähne ihrer blonden Haarpracht hinter das Ohr und atmete tief durch. Um sie herum herrschte eine merkwürdig anmutende Stille, die nur ab und zu vom grellen Gekreische der Möwen, die über ihr am Himmel kreisten, durchbrochen wurde.
Sie blickte sich suchend um.
Hier sollte ich eigentlich richtig sein, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht hat er sich verspätet.
Sie dachte an den netten Mann, einen Insulaner, den sie gestern kennengelernt hatte. Jenni, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, war gestern am frühen Abend beim Versuch, einen steil ansteigenden Dünenaufgang zu erklimmen, abgerutscht. Die Rutschpartie über den sandigen Untergrund ließ sie unsanft auf dem Strand landen; genau vor die Füße dieses Mannes, der ihr beim Aufstehen hilfreich unter die Arme gegriffen hatte. Die beiden waren ins Gespräch gekommen und bald zog der Mann, der sich später als Karl vorstellte, zwei Dosen Bier aus einer Umhängetasche.
„Das Bier ist kalt“, hatte er erklärt. „Eigentlich wollte ich es mir in den Dünen gemütlich machen, und beim Sonnenuntergang mit einem Bierchen meinen Feierabend genießen. Ich würde gerne den Sonnenuntergang und das Bier mit Ihnen teilen.“
Jenni sah sein Gesicht noch genau vor sich, wie er sie mit hochgezogenen Augenbrauen und großen Augen fragend angeblickt hatte. Sie war auf sein Angebot eingegangen. Es wurde ein netter Abend. Die beiden hatten ungezwungen über Gott und die Welt gequatscht und als Jenni ihm erzählte, wie gerne sie reitet, erfuhr sie von seinen Pferden, die hier auf einer Inselweide standen. Karls Angebot, gemeinsam mit ihm ein paar Runden durch die naturbelassene Insellandschaft zu reiten, konnte sie einfach nicht ausschlagen. Heute Morgen wollten sie sich hier treffen, um die Pferde von der Weide zu holen.
Sie blickte auf ihre Uhr. Neun Uhr. Ich bin pünktlich. Dann betrachtete sie noch einmal den Zettel in ihrer Hand, eine Skitze der Insel, auf der die Wegbeschreibung eingezeichnet war. Ich hab´ mich genau an die Beschreibung gehalten. Er wird wohl gleich kommen.
Ihr Blick fiel auf zwei langgestreckte, dünenartige Erhebungen, zwischen denen ein halb zugewachsener Pfad in ein Gewirr aus dichten Sträuchern führte. Sie erinnerte sich daran, dass Karl ihr erzählt hatte, dass seine Weiden nur durch einen fast zugewucherten Weg zu erreichen sind.
Das könnte der Weg zu den Pferden sein.
„Komm hier entlang“, erklang plötzlich eine dumpfe Stimme.
Jenni zuckte zusammen. Sie blickte sich nach allen Seiten um. Ihrer Meinung nach kam die Stimme aus der Richtung des Pfades.
„Karl? Bist du das?“ Ihre Augen suchten das dicht bewachsene Gelände ab, doch sie konnte niemanden sehen. „Karl?“
„Komm hier entlang“, erklang die Stimme erneut. Sie klang merkwürdig dunkel und dumpf. Jenni konnte dieses Mal aber genau die Richtung bestimmen, aus der die Stimme gekommen war, irgendwo hinten aus den dicht gewachsenen Büschen, in denen sich der schmale Pfad zwischen den langgestreckten Erhebungen verlor. Obwohl Jenni nicht mit Sicherheit wusste, ob es wirklich Karl war, der sie da gerufen hatte, huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Er wartet schon bei den Pferden. Es wird bestimmt ein schöner Tag.
Ohne zu zögern marschierte die junge Frau los. Der Pfad wurde immer enger und sie musste aufpassen, dass sie nicht mit der Kleidung an den stacheligen Sanddornbüschen, die an manchen Stellen über den schmalen Weg ragten, hängen blieb.
Für einen Moment verspürte sie Unsicherheit. Was wäre, wenn diese Stimme überhaupt nicht zu Karl gehörte, wenn sie jemand anderes in dieses Dickicht locken wollte? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, ging es ihr durch den Kopf. Diesen Spruch hatte ihre Mutter ihr eingeprägt. Jenni griff in ihre Tasche. Sofort spürte sie die kleine Spraydose in ihrer Hand. Das Pfefferspray hatte ihre Freundin Lea irgendwoher besorgt. Jenni war eine sehr selbstbewusste Frau und fürchtete eigentlich nichts und niemanden. Dennoch wollte sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Nur wenige Meter vor ihr vernahm sie ein lautes Rascheln, so, als ob sich jemand durch die Büsche bewegt. Sie verharrte in der Bewegung. „Karl?“ Jenni bekam keine Antwort. Hatte sie gerade noch daran gedacht, was sie doch für eine mutige Frau war und sie nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte, verspürte sie nun mit einem Mal Angst. Trotz der milden Temperaturen, glaubte sie für einen Augenblick zu frieren. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie schüttelte sich. Jetzt konzentrierte sie sich wieder auf die dichten Büsche, aus denen das unheimliche Rascheln gekommen war. Jenni lauschte angespannt in die Stille. Es war nichts zu hören und zu sehen. Vielleicht war es nur irgendein Tier. Trotzdem zog sie die kleine Dose mit dem Pfefferspray aus der Tasche. Mit dem Spray in der Hand fühlte sie sich wieder sicherer. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schritt langsam den schmalen Pfad entlang. Nachdem sie ein paar weitere Meter zwischen den Sträuchern, deren knorrig gewachsenen Äste immer wieder das Weiterkomme erschwerten, zurückgelegt hatte, verspürte sie etwas Befremdendes, ein merkwürdiges Kribbeln, welches sich in ihrem ganzen Kopf auszubreiten schien. Dann überkam sie ein immer intensiver werdendes Schwindelgefühl. Diese merkwürdige Empfindung verstärkte sich bei jedem Schritt. Ihr Umfeld erschien mit einem Mal immer irrealer. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Ihr Blick verschwamm. Plötzlich erkannte sie vor sich eine schemenhafte Gestalt. „Karl?“ Nein, das war nicht Karl. Die Gestalt wirkte fremdartig, unwirklich, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Was geschieht hier? Sie versuchte, sich zu konzentrieren. War es ein Trugbild oder hatte die Kreatur, die sich nun langsam auf sie zubewegte, merkwürdige Auswüchse an ihrem Schädel? Jenni kniff ihre Augen für einen Moment fest zusammen, doch es half nichts. Das Schwindelgefühl wurde immer stärker und sie war nicht mehr in der Lage, ihr Gleichgewicht zu halten. Sie spürte noch, wie ihre Knie nachgaben; wie sie fiel. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Dass sie mit dem Gesicht unsanft auf den Boden schlug, merkte sie nicht mehr.
* * *
Justin und Mesut passierten gerade den Ehrenfriedhof. Die zwei vierzehnjährigen Jungen kamen von einem Bummel durch die Wangerooger Souvenirläden zurück und waren auf dem Weg zur Jugendherberge. Die beiden stammten aus Berlin und verbrachten eine Woche mit ihrer Schulklasse auf der Insel.
„Eh, Alter“, Mesut stieß Justin mit der Hand gegen die Schulter. „Haste mitgekriegt, was der Kevin heute Morgen erzählt hat?“
„Nee.“
„Kevin ist gestern Abend einfach abgehauen, hat im Dunklen ´ne Tour durch die Dünen gemacht, weil se ihm erzählt haben, dass man da den Pärchen heimlich beim Bumsen zugucken kann.“
„Ey, wat? Voll abgefahren, der alte Spanner.“ Justin lachte kurz auf. „Und? Hat er ´n paar Bumser gecheckt?“
„Nee, aber er behauptet, ein Alien gesehen zu haben.“
„Ey, voll krass, der Kevin. Hat er ein Ufo gesehen oder wat?“
„Nee. Kevin sagt, das Alien sei direkt auf ihn zugekommen, hat ganz schwer geatmet und so, so richtig außerirdisch.“
„Voll krass. Und dann?“
„Er sagt, er ist davongelaufen, musste sich in Sicherheit bringen, hat sich fast vor Angst die Hose vollgeschissen.“
„Eh, Alter, der hat sich wohl heimlich Stoff besorgt und sich zugedröhnt oder wat. Glaubst du ihm etwa?“
Ey, für wie blöd hältst du mich, ey.“
„Wo soll dat Alien denn gewesen sein?“
„Irgendwo in den Dünen hinter der einen Gaststätte.“
Justin blickte seinen Nebenmann fragend an. „Wat für ne Gaststätte?“
„Da sind wir doch vorbei gekommen, Gasthaus Seedorf.“
„Ey, da kommen wir gleich wieder vorbei. Wir kürzen den Weg ab, quer durch dat Gelände. Vielleicht sehen wir ja ein paar heimliche Bumser.“
„Eh, Alter, du bis ja total verkifft.“ Mesut lachte. „Ey, du willst wohl auch den Alien seh´n oder wat.“
Die beiden hatten den Ehrenfriedhof bereits hinter sich gelassen. Am Ende des Waldstücks zu ihrer rechten Seite bog ein Weg ab. Die zwei Schüler folgten dem Weg. Schließlich verließen sie ihn und liefen einfach querfeldein in Richtung Westen. Anfänglich glich ihr Umfeld noch einer sandigen Heidelandschaft. Dann aber versperrten immer mehr dichte Büsche ihren Weg. Es ging nur noch in einem verworrenen Zickzackkurs voran. Die Landschaft wurde immer hügeliger.
Mesut drehte sich um. „Wat is, wenn wir uns verlaufen, ey?“
Justin lachte. „Hier kann man sich nicht verlaufen, Alter.“
Vor ihnen tat sich, am Fuße einer Anhöhe, eine kleine, grasbewachsene Lichtung auf.
Justin blieb stehen und deutete auf die unteren Äste einer verkrüppelt gewachsenen Kiefer. „Die haben hier wirklich voll rumgebumst, Alter.“
Mesut sah sofort, was Justin meinte. Zwischen den Ästen hingen mehrere gebrauchte Kondome.
„Krass, alles voll Gummis. Die geilen Säue. Da hat der Kevin Recht gehabt. Hier kann man nachts heimlich die Bumser checken.“
Die beiden Jungen stiegen nun die Anhöhe hinter der Lichtung empor. Es war nicht einfach, den sandigen Aufstieg zu bewältigen, denn es ging sehr steil aufwärts. Oben angekommen eröffnete sich vor ihnen eine tiefe Mulde.
Als die zwei in die Mulde blickten, erstarrten sie fast gleichzeitig. Mit einem Schlag wich sämtliche Farbe aus ihren Gesichtern. Das, was sie da vor sich sahen, ließ Übelkeit in ihnen aufsteigen.
In der Mulde lag der nackte, leblose Körper einer Frau. Die Tote lag auf dem Bauch. Das Gesicht schien im Sand vergraben zu sein. Als unter Justins Füßen ein paar Sandkrümel in die Vertiefung hinunterrollten und auf dem toten Körper landeten, flog laut summend ein Schwarm blau schillernder Schmeißfliegen auf, der sich aber Sekunden später wieder auf der Leiche niederließ.
Mesut schüttelte leicht den Kopf. „Scheiße, voll scheiße.“
Er bekam nicht mit, dass Justin sich abgewandt hatte und sich übergab.
* * *
„Na, Lars, wo bleibt denn dein neuer Kollege?“
Der Angesprochene blickte auf die große Wanduhr, die eher in ein Bahnhofsgebäude gepasst hätte, als in dieses Polizeibüro. „Das würde ich auch gern wissen. Er sollte schon vor einer halben Stunde hier sein. Das fängt ja gut an.“
„Ich muss dich jetzt allein lassen, Lars. Hab einen Termin bei unserem Leichenfledderer.“
„Viel Spaß, Andre.“
Hauptkommissar Andre Langmeier nahm sein dunkles Sakko von der Stuhllehne und verließ den Raum. Sein Kollege Lars Reinders blickte ihn hinterher. Er beneidete Langmeier nicht um seinen momentanen Fall. Gestern Morgen wurde mitten in der Wilhelmshavener Innenstadt eine nackte, männliche Leiche gefunden. Dem Toten war das Geschlechtsorgan großflächig herausgeschnitten worden. Genauer gesagt, klaffte in dessen Unterleib ein Loch, welches fast bis zum Bauchnabel reichte. Reinders hatte die Akte gesichtet und sich die Tatortfotos angesehen. Die Bilder waren widerlich und abstoßend; die Lache aus Gedärme und Blut, in der die Leiche lag; Gänsehaut erregend. Der Anblick hatte ihm gereicht. Nicht nur, dass es Stunden gedauert hat, diese Fotos wieder aus dem Kopf zu bekommen, ausgerechnet beim Essen in der Kantine waren die schrecklichen Bilder wieder durch Reinders Kopf gegeistert. Er hatte keinen Bissen herunter bekommen und den vollen Teller weggeschoben. In den vier Jahren, in denen er schon bei der Wilhelmshavener Mordkommission seinen Dienst tat, waren ihm schon einige entstellte Mordopfer untergekommen, doch er war jedes Mal froh, wenn ihm ein solcher Anblick erspart blieb. Nein, er beneidete seinen Kollegen Langmeier, der gleich in der Gerichtsmedizin mit diesem Anblick konfrontiert werden sollte, nicht im Geringsten.
Der fünfunddreißigjährige Hauptkommissar lehnte sich nach hinten und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch herum. Wieder ein kurzer Blick auf die Uhr.
Möchte mal wissen, wo dieser Kerl bleibt.
Dieser Kerl, das war sein neuer Partner, Hauptkommissar Günter Wagner. Wagners bisherige Dienststelle war das Hamburger Kommissariat für Tötungsdelikte und als er von der freigewordenen Stelle in Wilhelmshaven gehört hatte, hatte er sich sofort darum beworben. Lars Reinders kannte Wagner nicht persönlich. Ihm war aber zu Ohren gekommen, dass Wagner sich nur beworben hatte, weil die Wilhelmshavener Dienststelle auch für einen Teil der ostfriesischen Inseln zuständig war. Angeblich wurde Wagner von der Sehnsucht nach den Inseln erfasst, als er als Leiter einer Sonderkommission einen Fall auf Juist löste. Dabei haben wir mit Juist überhaupt nichts zu tun, ging es Reinders durch den Kopf. Dafür sind die Kollegen aus Aurich zuständig. Und wann passiert schon ein Mord auf eine der Inseln?
Natürlich war er sehr neugierig auf seinen neuen Kollegen und hatte sich bei einem befreundeten Beamten der Hamburger Kripo ein paar Informationen über Wagner verschafft. Schließlich wollte er wissen, was ihn erwartet. Viel hatte er allerdings nicht herausgefunden. Reinders wusste, dass Wagner geschieden war und dass er bis vor kurzem unter psychologischer Betreuung stand, weil er den Tod eines Kollegen nicht verkraftet hatte. Das waren aber auch schon alle Infos, die ihm zur Verfügung standen.
Er atmete tief durch. Gerade wollte er wieder zur Uhr blicken, als es an der Tür klopfte.
„Ja?“
Ein Mann trat ein. „Moin.“ Er wirkte für einen kurzen Augenblick unsicher.
„Moin“, grüßte Reinders zurück und fixierte den 1,80 Meter großen Mann.
„Ich bin Günter Wagner, der neue. Eigentlich sollte ich mich ja beim Dienststellenleiter melden, aber der ist nirgendwo aufzufinden. Da dachte ich mir, ich stelle mich direkt bei meinen neuen Kollegen vor.“
Reinders erhob sich, knöpfte wohl erzogen sein Sakko zu und schritt seinem neuen Kollegen entgegen. „Na dann, herzlich willkommen in Wilhelmshaven.“ Er reichte seinem Gegenüber die Hand. „Ich bin Lars Reinders. Auf gute Zusammenarbeit.“
„Auf gute Zusammenarbeit“, wiederholte Wagner.
Sofort hatte Wagner den ersten Eindruck, den sein neuer Kollege bei ihm hinterließ, gespeichert: Etwa fünf Zentimeter kleiner als ich, war wohl gerade beim Friseur, ordentlicher Kurzhaarschnitt, gepflegte Kleidung, Sakko, weißes Hemd und Krawatte, muss ein penibler Typ sein.
„Ich möchte mich für mein Zuspätkommen entschuldigen.“ Wagner hob die Hände hoch, eine Geste der Hilflosigkeit. „Mein Navi gab plötzlich seinen Geist auf und ich musste mich auf den letzten Kilometern durchfragen.“
Reinders lachte. „Kann passieren.“
Er sieht irgendwie komisch aus, wenn er lach“, ging es Wagner durch den Kopf. Sein neuer Kollege erinnerte ihn für einen Moment an einen Frosch, den er in irgendeinem Zeichentrickfilm gesehen hatte. In der Tat dominierte in Reinders´ fast rundes Gesicht der sehr breite Mund, der beim Lachen noch breiter erschien. Dabei entblößte sich sein ebenfalls breites, sehr gleichmäßiges Gebiss.
Reinders wies auf einen Schreibtisch. „Bitte. Das ist Ihr neuer Arbeitsbereich, Herr Kollege.“
Wagner stutzte für einen Moment. Dabei rieb er sich mit den Fingern über seine dünne Nase. Er blickte Reinders fragend an. „Ist es in Wilhelmshaven üblich, dass man sich unter Kollegen siezt?“
Der Angesprochene zog die etwas buschigen Augenbrauen hoch. „Eigentlich nicht. Ich wollte mich nicht unkorrekt verhalten.“
„Na dann.“ Wagner lächelte. „Günter und Du.“
Wagner ließ am ihm zugewiesenen Schreibtisch nieder und blickte auf einige Schriftstücke, die vor ihm lagen.
„Das ist also mein neuer Arbeitsplatz“, murmelt er.
Lars Reinders setzte sich an den angrenzenden Schreibtisch ihm gegenüber. „Der Dienststellenleiter hat übrigens bis vor einer halben Stunde auf dich gewartet. Er musste weg und meinte zu mir, dass ich mich um meinen neuen Kollegen kümmern soll.“ Jetzt erst betrachtete Reinders seinen neuen Kollegen genauer. Vom Aussehen her nur ein Durchschnittstyp, ging es ihm durch den Kopf. Sofort waren ihm Wagners Geheimratsecken und die etwas zu schmal geratene Nase aufgefallen.
Er schaute Wagner fragend an. „Und? Hast du schon eine neue Unterkunft in Wilhelmshaven gefunden?“
„Wagner blickte auf. „Ja, aber ich werde erst mal im Hotel wohnen. Die neue Wohnung werde ich von Bekannten übernehmen, einem Ehepaar, welches wir mal im Urlaub kennen gelernt hatten. Der Kontakt zu den beiden ist bis heute nicht abgebrochen. Sie erwarten bald ein Baby und deshalb ziehen sie in eine größere Wohnung. Als ich davon erfuhr, hab ich natürlich sofort zugegriffen.“
Reinders wollte gerade etwas sagen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er hob ab. „Ja, Reinders.“ Während er in den Hörer lauschte, wurden seine Augen immer größer. „Die Spurensicherung ist schon unterwegs? Ja, ich weiß, dass der dicht ist. Gut, wir machen uns auf den Weg.“
Er legte auf und atmete tief durch. Dann lehnte er sich nach hinten und blickte seinen neuen Kollegen auffordernd an. „Es sieht so aus, als hätten wir zwei unseren ersten gemeinsamen Fall, Günter.“
„Und? Worum geht es?“
„Eine Frauenleiche, gefunden in den Dünen von Wangerooge.“
„Wangerooge?“ Wagner wirkte für einen Augenblick verwirrt.
„Ja. Das heißt, wir haben eine kleine Reise vor uns. Wir fahren nach Harlesiel und von dort aus geht es mit dem Flieger rüber auf die Insel.“
Wagner grinste. „Kaum im Dienst und schon geht ´s los. Aber wieso müssen wir bis Harlesiel fahren? Gibt es in Wilhelmshaven keinen Flugplatz?“
„Natürlich gibt ´s hier einen Flugplatz, Mariensiel, gleich um die Ecke, doch der ist ausgerechnet jetzt für zwei Tage dicht, weil an der Start- und Landebahn gearbeitet wird.“
Reinders griff noch einmal zu Telefon und wählte mit flinken Fingern eine Nummer. „Ich bin ´s. Tut mir leid, aber mit uns wird es heute nichts.“ Dann verzog er das Gesicht, kniff die Augen zusammen und hielt den Hörer etwas weiter von Ohr weg.
Wagner konnte deutlich die schimpfende Frauenstimme hören, die aus dem Telefon ertönte.
„Aber ich kann doch nichts dafür“, rechtefertigte sich sein Kollege am Telefon. „Wir haben einen Fall auf Wangerooge.“ Er schwieg für einen Moment. „Ja. Ich werde mich zwischendurch bei dir melden, spätestens, wenn ich zurück bin.“ Er legte den Hörer auf, atmete tief ein und blies die Luft durch die Backen wieder aus. „Man, man, man“, murmelte er.
Wagner grinste. „Ob du es glaubst oder nicht, Lars, aber das kommt mir sehr bekannt vor. Hattest du heute etwa etwas vor?“
„Ja. Ich wollte mit meiner Süßen Essen gehen.“ Reinders zuckte mit den Schultern. „So geht das jedes Mal. Immer, wenn was dazwischen kommt, regt sie sich fürchterlich auf. Dabei wusste sie von Anfang an worauf sie sich eingelassen hatte, als sie einen Polizisten zu ihrem Geliebten erwählte.“
„Seid ihr verheiratet?“
Reinders schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir leben schon seit drei Jahren zusammen in einer gemeinschaftlichen Wohnung.“
„Ich hoffe, du hast mehr Glück als ich, Lars. Meine Beziehung ist in die Hose gegangen, weil meine Frau mit meinem Beruf nicht klar kam.“
Lars Reinders presste für einen Moment die Lippen fest zusammen und atmete noch einmal tief durch. „Ich hoffe auch, dass ich mehr Glück als du hab´. Weißt du, ich liebe sie nämlich.“
Wagner lächelte, doch irgendwie lag in diesem Lächeln Mitleid.
Sein Kollege erhob sich. „Dann lass uns mal alles vorbreiten, was wir für die Inselermittlungen brauchen.“
* * *
Sein Gesichtsausdruck war grimmig und spiegelte Boshaftigkeit wider.
Sie haben sie gefunden, ging es ihm durch den Kopf. Die Polizei vom Festland ist informiert und wird sich bald auf dem Weg zur Insel machen, um mit ihren Ermittlungen anzufangen.
Ein kurzes, verächtliches Lächeln huschte über seine Lippen. Wenn sie wüssten, dass es bald noch ein Mordopfer geben wird. Noch einmal zeigte sich das niederträchtige Lächeln, welches sich schnell in ein heimtückisches Grinsen verwandelte. Seine Gedanken waren wirr und konfus. Dieses unkontrollierbare Gefühl überfiel ihn immer, wenn er sich ein neues Opfer ausgewählt hatte. Dann konnte er die Vorgänge in seinem Gehirn nicht mehr steuern, dann musste er handeln, bis es vollbracht war.
Sein Blick fiel auf den Körper einer jungen Frau, den er gerade auf den Tisch vor sich abgelegt hatte.
Es wird noch einige Stunden dauern, bis sie wieder aufwacht, ging es ihm durch den Kopf. Mädchen, bevor ich dich eliminiere, werde ich viel Spaß mit dir haben.
Er spürte die innere Aufregung. Da war eine Kraft, die ihn solange beherrschte, bis die chaotischen Gedanken und sein unstillbarer Körper wieder erschöpft waren. Erst dann konnte er wieder von seinem Opfer ablassen.
Die bewusstlose junge Frau, deren Körper schlaff auf dem Tisch lag, war sehr hübsch. Sie war gekleidet mit einer Jeans und einer weißen Bluse. Eine Strähne ihrer langen, blonden Haare war quer über das anmutige Gesicht gerutscht.
Er beugte sich über sie und schob mit der Hand langsam die Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Du bist verdammt hübsch.
Die Wände des etwa fünf Meter langen und fast ebenso breiten Raumes, in dem er sein Opfer deponiert hatte, bestanden aus rauem, schmutziggrauen Beton. In den Winkeln einer jeden Ecke dominierten dick verstaubte Spinnweben. Eine matte Glühbirne, die offen in einer Fassung an der Decke hing, erhellte den Raum mit einem schwachen, gelblichen Licht. Die Verkleidung der über die Wand verlaufenden Stromleitung, welche die Birne mit Energie versorgte, wirkte alt und brüchig.
Sein Blick ging suchend zu einem Wandregal. Zwischen alten, rostigen Blechdosen und diversen Werkzeugen entdeckte er das, wonach er suchte. Er griff in das Regal und hielt eine große Schere in der Hand.
Mit einem Lächeln im Gesicht stellte er sich vor den erschlafften Frauenkörper. Jetzt werde ich es dir etwas bequemer machen, mein Mädchen. Er setzte die Schere in Knöchelhöhe am Hosenbein an und schnitt die Jeans seitlich von unten nach oben langsam auf. Als er am Gürtel angekommen war, hielt er inne. Mit einem Griff öffnete er den Gürtel und zog ihn durch die Schlaufen der Hose hinaus. Nachdem der störende Gürtel entfernt war, durchschnitt er die letzten Zentimeter der Jeans. Dann machte er sich daran, das andere Hosenbein genauso zu öffnen.
Die große Schere wirkte in der klobigen, schwarz ummantelten Hand winzig.
Und jetzt die Bluse. Mit wenigen Schnitten war auch der dünne Stoff der weißen Bluse durchtrennt.
Als er der jungen Frau die zerschnittenen Kleidungsstücke von Körper nahm, ging er sehr rücksichtslos vor. Die Hose zog er mit ein paar kräftigen Rucks unter ihrem Körper weg. Um ihr die Bluse auszuziehen, hob er ihren Oberkörper in eine aufrechte Position. Es war nicht einfach, das Kleidungsstück vom erschlafften Körper herunter zu ziehen. Als er schließlich auch den zweiten Ärmel über dem herabbaumelnden Arm gezogen hatte, ließ er sie einfach nach hinten fallen. Die Frau knallte mit Kopf und Rücken auf die harte Unterlage.
Bums.
Nun trug sie nur noch einen Slip und einen BH. Er fasste den BH genau in der Mitte zwischen den Brüsten und zog sie daran erneut hoch. Während die eine Hand sie im Nacken stützte, schnitt er ihr mit der anderen den BH durch, um auch diesen zu entfernen. Als er sie wieder los ließ und sie erneut hart auf den Tisch knallte, grinste er hämisch.
Bums
Dann entledigte er ihr auch noch das letztes Kleidungsstück, das Höschen.
Er stand da und starrte sie an.
Hübsch bist du, blond bist du und einen herrlich jungen Körper hast du auch. Oh ja, ich werde sehr viel Spaß mit dir haben.
Ohne einen Blick von dem nackten Körper zu nehmen, begab er sich zu dem Ende des Tisches, an dem ihre Füße lagen. Er packte diese und zog sie zu sich, so, dass sie über dem Tisch baumelten. Dann drückte er ihre Schenkel weit auseinander.
Direkt neben ihm, an der schmutzig grauen Wand, hing ein Kasten, von dem der einst rote Anstrich bis auf wenige Reste abgeblättert war. Aus diesem, etwa aktenkoffergroßen Gebilde, ragte ein rostiger Hebel heraus.
Seine klobige, schwarze Hand griff nach dem Hebel und schob ihn herunter. Sofort erfüllte ein Zischen den Raum. Unmittelbar danach ertönte ein lautes Brummen.
Er wandte sich wieder seinem Opfer zu.
Viel Spaß.
Erneut verwandelte sich sein Gesicht in eine bösartige Maske, die maßlose Gier widerspiegelte.
* * *
Günter Wagner blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach Zwölf. Er war erstaunt, wie schnell die Autofahrt nach Harlesiel vorüber gegangen war. Dank der guten Ortskenntnisse seines Kollegen, der die Strecke im Schlaf zu kennen schien und dank der lebhaften Konversation, mit der sich die beiden neuen Kollegen unterwegs die Zeit vertrieben, hatte Wagner die Fahrt als kurz empfunden. Bei ihrer Unterhaltung war es überwiegend um Wagners neue Dienststelle in Wilhelmshaven gegangen. Reinders hatte ihm alles erklärt, was er für wichtig hielt. Natürlich ging es auch um private Dinge. So offerierte Wagner seinem Kollegen den Niedergang seiner Ehe. Auch nahm er kein Blatt vor dem Mund, als es darum ging, wie sehr ihn die Trennung von seiner Frau getroffen hatte und dass es Jahre gedauert hatte, bis er endlich einigermaßen drüber weg war.
Reinders war anfangs überrascht, dass sein neuer Partner, den er ja gerade erst ein paar Stunden kannte, so unverblümt und geradeheraus seine Gefühle preisgab. Ein offener und ehrlicher Mensch, dieser Günter, ging es ihm durch den Kopf und er empfand diese Offenheit als große Ehre.
Reinders stoppte den Wagen auf einem großen Parkplatz.
„Flugplatz Harle, alle aussteigen.“ Lars Reinders´ Stimme klang gut gelaunt.
Wagner grinste, stieg aus dem Auto und reckte sich. Er fühlte sich irgendwie müde, denn er war den ganzen Tag lang, außer bei der Autofahrt, noch nicht ein einziges Mal zur Ruhe gekommen; war bereits seit fünf Uhr morgens auf den Beinen. Er rieb sich mit der Handfläche über sein schmales Gesicht, so als wolle er die Müdigkeit wegwischen. Dann streckte er sich ein weiteres Mal und gähnte herzhaft. Dabei schien seine sowieso schon hohe Denkerstirn mit den ausgeprägten Geheimratsecken noch höher zu werden.
„Da ist aber jemand müde“, meinte Reinders, der ebenfalls ausgestiegen war.
Wagner zuckte kurz mit den Schultern. „Ist heute irgendwie nicht mein Tag.“
Als sein Kollege um das Fahrzeug herum ging und den Kofferraum öffnete, trat Wagner neben ihn. Jeder von ihnen nahm eine Reisetasche aus dem Kofferraum. In den Taschen befanden sich, angefangen von einer Zahnbürste, alle Utensilien, die man für den mehrtägigen Aufenthalt auf Wangerooge, der für die eventuellen Ermittlungen eingeplant war, brauchte.
„Ich hoffe“, meinte Reinders leise, während er den Kofferraum wieder schloss, „dass es sich um ein Unfallopfer handelt. Dann können wir noch heute wieder nach Hause fliegen.“
Die zwei gingen hinüber zum Flugplatz. Sie bildeten ein sehr ungleiches Paar. Wagners Kleidung bestand aus einer Jeans und einem weißen T-Shirt, während Reinders trotz des warmen Sommertags weder das Sakko noch seine Krawatte abgelegt hatte. Auch wirkte der fünf Zentimeter kleinere Reinders neben Wagner, dessen Figur sportlich schlank erschien, deutlich breiter und kompakter.
Wagner dachte daran, dass er seinen neuen Partner noch nicht ein einziges Mal ohne Jacke gesehen hatte. Er ahnte aber, dass Lars gut durchtrainiert und sehr muskulös war, denn ab und zu, wenn Lars sich bewegte, spannte sich der Stoff seiner Jacke im Bereich der Oberarme und es malten sich darunter kräftige Bizeps ab.
Zehn Minuten später stiegen sie in eine kleine, viersitzige Cessna. Sie hatten beide hinter dem Pilot Platz genommen.
Dieser wandte sich zu den zwei Passagieren um und schaute sie durch die dunklen Gläser seiner zu groß geratenen Sonnenbrille an. „Sie sind also die Herren von der Polizei“, sagte er. „Ein Mord auf Wangerooge. Das gibt `s nicht alle Tage.“
Reinders wirkte überrascht, seine Nase schien sich zu kräuseln. „Woher wissen Sie, dass wir Polizisten sind?“
Der Pilot grinste. „Ich habe da so meine Informanten und außerdem spricht sich so etwas immer sehr schnell rum.“ Dann wandte er sich wieder nach vorne. „Na, dann wollen wir mal.“
Nach der kurzen Beschleunigungsphase über die Startbahn hob der Flieger mit laut dröhnendem Motor sehr schnell ab.
Der Flug mit einem kleinen Sportflugzeug war für beide Passagiere zwar nichts Neues, doch der Blick von oben auf die Nordsee mit ihren Inseln war immer wieder etwas Besonderes.
„Die Inseln von oben“, meinte Wagner. „Immer wieder ein faszinierender Anblick. Ich möchte mal alle Inseln abfliegen. Einmal von Wangerooge bis nach Borkum und wieder zurück.“
Reinders lachte kurz auf. „Das sind aber nur die Ostfriesischen Inseln. Wenn du schon alle überfliegen willst, solltest du in Holland bei den Westfriesischen anfangen und von Texel aus starten, dann rauf bis zu den Nordfriesischen und schließlich als Krönung noch nach Helgoland rüber fliegen.“
Ein Lächeln huschte über Wagners Gesicht. „Ja, das wär was.“
„Sag mal, Günter.“, Lars blickte ihn forschend an. „Warum hast du dich eigentlich für die Dienststelle in Wilhelmshaven entschieden? Man beantragt doch nicht ohne Grund eine Versetzung und ändert sein ganzes Umfeld.“
Wagners Gesichtsausdruck wurde ernst. Er atmete tief durch. „Weißt du, Lars, es gibt mehrere Gründe für diesen Entschluss. Ausschlaggebend war letztendlich ein Fall, den ich auf der Insel Juist bearbeitet hatte. Da lernte ich zum ersten Mal dieses typische Inselfeeling kennen. Die Ermittlungsarbeiten verliefen irgendwie viel entspannter. Alles war so ruhig, ganz ohne Stress. Das kann man einfach nicht mit dem Dienst in Hamburg vergleichen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da manchmal auf dem Kiez zur Sache geht.“ Wagner blickte nach unten. Für einen Moment schien sich ein dunkler Schatten über sein Gesicht zu legen. „Weiß du, Lars, auf dem Kiez verlor ich meinen Partner. Es gab ´ne Schießerei. Er wurde getroffen, Bauchschuss, und ich musste zusehen, wie er starb. Verstehst du, er starb vor meinen Augen und ich konnte ihm nicht helfen. Noch nie im Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt.“ Er presste für einen Augenblick die Lippen zusammen. „Die Sache hatte mich echt mitgenommen. Ich war lange Zeit unter psychologischer Betreuung, weil ich einfach nicht damit klar kam, und wenn ich ganz ehrlich bin, ich bin immer noch nicht drüber weg. Manchmal überkommt es mich einfach, dann sehe ich wieder alles vor mir, so, als ob es gerade passiert.“
Reinders blickte ihn an. In diesem Moment verspürte er aufrichtiges Mitleid mit seinem Kollegen. „Ich weiß nicht, wie ich so etwas verarbeiten würde. Es muss hart sein, den Partner auf diese Weise zu verlieren. Tut mir leid, Günter, dass du so etwas erleben musstest.“
„Ich hab´ mich für eine Versetzung nach Wilhelmshaven entschieden, weil ich hoffe, hier etwas mehr Abstand zu all dem zu bekommen. In Hamburg wurde ich stets mit Erinnerungen konfrontiert, von denen ich eigentlich Abstand gewinnen wollte. Bei jedem Einsatz auf dem Kiez kam alles wieder hoch. In meinem privaten Umfeld war es nicht viel anders. Überall gab es Dinge, die mich an meine Frau erinnerten. Sicher, über die Trennung bin ich so gut wie weg, aber manchmal, wenn ich in meiner Wohnung saß, sah ich sie vor mir, sah, wie glücklich wir mal waren.“
Wagner schaute für einen Moment aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf die offene See, die sich irgendwo am fernen Horizont verlor. Dann wandte er sich wieder seinem Kollegen zu. „Ich musste raus aus meinem Leben, weg von meinem Umfeld. Als ich die Stellenausschreibung von Wilhelmshaven las, sah ich darin die Chance für einen Neuanfang.“
Reinders nickte. „Wenn du nichts dagegen hast, Günter, würde ich dir gerne beim Neuanfang meine Unterstützung anbieten.“
Wagner blickte ihn an und schob verwundert die Augenbrauen nach oben.
Sein Kollege grinste. „Jetzt guck nicht so überrascht. Ich kenn´ in Wilhelmshaven viele nette Leute, mit denen ich oft was unternehme, kenn tolle Kneipen und weiß, wo immer etwas los ist. Ist doch logisch, dass ich meinen neuen Kumpel mal mitnehmen möchte. Selbstverständlich nur, wenn du willst.“
„Ich wird´ drauf zurück kommen.“
Während Wagners Blick wieder aus dem Fenster fiel schmunzelte er. Junge, du hast Glück. Lars ist in Ordnung. Hab ein gutes Gefühl. Er dachte daran, dass die Entscheidung, sich hierher versetzen zu lassen, genau die richtige gewesen ist.
Die Stimme seines neuen Partners riss ihn aus den Gedanken. „Ich möchte dich etwas fragen, habe aber zwei Bitten.“
Wagner blickte seinen Nebenmann mit großen Augen an.
„Erstens“, meinte Reinders, „bitte ich dich darum, mir wegen meiner Frage nicht böse zu sein und zweites bitte ich dich um eine ehrliche Antwort.“
„Schieß los.“
„Also, ich weiß, dass sich auch einige Kollegen aus Wilhelmshaven auf die Stellenausschreibung beworben hatten, alles fähige Mitarbeiter. Warum hast ausgerechnet du, ein Kollege aus Hamburg, diese Stelle bekommen? Das sieht ein wenig nach Vetternwirtschaft aus. Kennst du den Polizeipräsidenten vielleicht persönlich oder bist du mit dem Staatsanwalt verwandt?“
Wagner grinste. „Ich möchte von Anfang an ehrliche Verhältnisse schaffen, Lars. Deine beiden Vermutungen treffen zwar nicht zu, aber ich hatte halt das Glück, dass der Hamburger Oberstaatsanwalt mich ganz gut leiden konnte. Obwohl er mich nicht gerne gehen ließ, legte er ein gutes Wort bei der Wilhelmshavener Obrigkeit für mich ein.“
„So etwas hab´ ich mir fast gedacht.“ Reinders kratzte sich am Kinn. Er wechselte das Thema. „Hattest du eigentlich mittlerweile schon eine andere Frau? Ich meine, als Mann bleibt man doch nicht gern allein.“
Als Wagner nicht sofort reagierte, stutzte Reinders. „Entschuldige die Frage, geht mich nichts an.“
„Natürlich geht dich das etwas an. Bist schließlich mein neuer Kumpel.“ Er lachte kurz auf. „Also, ich habe eine neue Beziehung; bin sogar wieder verliebt. Und bevor du mich jetzt fragst, warum ich dann Hamburg den Rücken kehre, werde ich dir diese Beziehung erklären. Es ist eine Art Fernbeziehung. Ihr Name ist Christiane. Sie lebt in Duisburg. Ich hab´ sie im Urlaub auf der Insel Juist kennengelernt. Wir besuchen uns mehr oder weniger regelmäßig. Mal fahr ich nach Duisburg und mal kommt sie nach Hamburg. Jetzt wird sie natürlich nach Wilhelmshaven kommen. Den Urlaub verbringen wir immer zusammen. Die Zeit, die wir gemeinsam erleben, ist unglaublich harmonisch und intensiv. Natürlich würde ich sie gerne öfter sehen, doch solange Christiane noch an Duisburg gebunden ist, bleibt es eine Fernbeziehung.“
Reinders schmunzelte. „Ich hatte vor Jahren auch mal einen Urlaubsflirt. Es war auf Mallorca und wir landeten schnell im Bett. Die Frau war toll und ich war davon überzeugt, dass sich daraus eine ernste Beziehung entwickeln könnte.“
„Und? Hat sich eine Beziehung entwickelt?“
Lars schüttelte langsam den Kopf. „Nach drei Tagen gestand sie mir, dass sie verheiratet sei und eine glückliche Ehe führt. Ich frag mich, was für eine Ehe das sein soll, wo die Frau allein in den Urlaub fährt und sich mit anderen Männern im Bett austobt.“
„Auf keinen Fall eine glückliche Ehe.“
„Das kannst du laut sagen, Günter.“
„Ich denke nicht daran, noch einmal eine Ehe einzugehen. Unser Beruf taugt für die Ehe nicht. Auch wenn ich meine jetzige Beziehung Christiane gerne öfters sehen würde, ich glaub´ nicht, dass wir zwei jemals heiraten werden.“ Wagners Gesichtsausdruck verdunkelte sich für einen Moment.
„Ist was?“ fragte Reinders sofort.
Wagner schüttelte den Kopf. „Nein. Ich musste nur kurz an meinen Juisturlaub denken, bei dem ich Christiane kennen gelernt habe. Ich weiß nicht, ob dir der Fall Harry Kleever bekannt ist. Man nannte ihn auch die Bestie von Juist.“
„Über diesen Fall habe ich etwas gelesen. Kleever war doch ein psychopathisch veranlagter Frauenmörder, der von den Kollegen durch einen finalen Rettungsschuss niedergestreckt wurde.“
„Genauer gesagt, durch zwei finale Rettungsschüsse. Diesen Fall werde ich nie vergessen, denn Kleever wollte auch Christiane umbringen.“
Reinders machte große Augen. „Ich wusste zwar, dass Kleever beim Versuch, eine Frau und einen Polizisten zu töten, niedergestreckt wurde, aber dass es sich dabei um deine Freundin handelte, darauf wär ich nicht gekommen.“ „Das ist eine lange Geschichte, Lars. Ich werde sie dir später mal erzählen, wenn wir mehr Zeit haben.“
Das kleine Flugzeug flog eine Kurve. Es begann der Landeanflug auf Wangerooge. Kurze Zeit später setzte die viersitzige Cessna auf. Das einmotorige Flugzeug rollte bis zu den Flugplatzgebäuden. Als es zum Stehen gekommen war, stiegen die beiden Passagiere aus.
„Na dann, viel Erfolg“, gab der Pilot ihnen mit auf den Weg.
Kaum hatten sie ihre Reisetaschen zur Hand genommen, schritt ihnen ein Mann entgegen.
„Die Herren von der Polizei, wenn ich mich nicht irre“, kam es freundlich aus seinem Mund.
„Sie irren sich nicht“, meinte Wagner und blickte den etwas korpulenten Mann, den er auf etwa fünfzig Jahre schätzte, fragend an.
„Mein Name ist Jürgen Claasen. Ich soll Ihnen mitteilen, dass Sie sich noch etwas gedulden müssen. Das Auto mit ihren Kollegen ist gerade erst losgefahren. Es dauert ein paar Minuten, bis es zurück kommt, um Sie zu holen.“
„Kollegen?“, wunderte sich Wagner.
„Unsere Spurensicherung“, erklärte Reinders. „Sie müssen kurz vor uns hier angekommen sein.“
Der Mann, der sich als Jürgen Claasen vorgestellt hatte, schüttelte den Kopf. „Ihre Kollegen sind schon seit einer halben Stunde hier. Es hat nur so lange gedauert, bis wir einen fahrbaren Untersatz gefunden hatten, der Sie zum Tatort bringt. Letztendlich hat die Freiwillige Feuerwehr ein Auto zur Verfügung gestellt.“ Claasen kratzte sich nachdenklich am Kopf. Seine dunkle Haartracht bestand aus dichten, kurzen Locken, die weit in die Stirn hinab wuchsen. Die Stirn selbst wirkte dadurch sehr niedrig. „Sie können sich so lange ins Restaurant setzen. Da ist es gemütlicher.“
„Restaurant?“, kam es überrascht aus Wagners Mund.
„Ja“, erklärte Claasen. „Das Flugplatzrestaurant.“ Er deutete auf ein Gebäude mit großen Glasscheiben.
Jetzt erst erkannte Wagner, dass hinter diesen Scheiben einige Leute an gedeckten Tischen saßen und speisten.
„Ich muss sowieso wieder rein“, meint Claasen. „Hab mir gerade ein Schnitzel mit Pommes bestellt.“
Wagner atmete tief durch. „Man, ich könnte jetzt auch einen Happen vertragen.“
„Da musst du dich wohl noch etwas gedulden“, sagte Reinders. „Die Spurensicherung wartet auf uns.“
Gemeinsam mit Claasen betraten sie das Restaurant.
„Da bist du ja, Jürgen“, wurde Claasen von einem Mann hinter der Theke empfangen. Ich habe gerade das Essen an deinen Tisch gebracht.“ Er deutete auf einen Fensterplatz. Dort stand ein Teller mit einem großen Schnitzel und einer riesigen Portion Pommes auf dem Tisch.
„Gemein“, murmelte Wagner. „Das könnte ich jetzt auch verdrücken.“
Claasen grinste Wagner an. „Wissen Sie was? Sie setzen sich jetzt hin und essen das Schnitzel. Ich bestell´ mir einfach ein neues.“
„Das würden Sie wirklich tun?“
„Klar. Ich hab es mit dem Essen nicht so eilig.“
Das ließ sich Wagner nicht zweimal sagen. Er nahm Platz und ließ sich das Schnitzel und die Pommes schmecken.
„Und ich?“ Reinders blickte seinen Kollegen fragend an.
„Wenn du auch Hunger hast, Lars, dann hol dir einen Teller. Wir teilen uns das Schnitzel.“
Reinders grinste. Dabei wirkte sein Mund besonders breit. „Lass mal, ich hab´ noch keinen Hunger. Wollte nur mal sehen, ob du auch teilst.“ Er nahm neben Wagner Platz.
Claasen, der sich gerade ein neues Schnitzel bestellt hatte, kam nun ebenfalls zu ihrem Tisch und setzte sich.
„Schrecklich, was mit dieser Frau passiert ist“, sagte er. „Hoffentlich fassen Sie den Mörder schnell.“
Lars Reinders zog die Augenbrauen hoch. „Mörder? Steht denn schon fest, dass die Frau ermordet wurde?“
„Klaus geht davon aus.“
„Wer ist Klaus?“
„Unser Inselpolizist. Ich hab mit ihm gesprochen und er sagte, das Gesicht des Mordopfers sei in den Sand gedrückt worden.“
„Da sind Sie aber verdammt gut informiert“, meinte Wagner mit vollem Mund.
„Ich bin immer gut informiert, wenn etwas auf der Insel passiert.“ Stolz klang in Claasens Stimme.
Reinders blickte ihn neugierig an. „Welche Rolle spielen Sie denn auf der Insel, dass Sie immer informiert sind?“
Claasen lächelte. „Ich arbeite ehrenamtlich für die Gemeinde, mache eigentlich alles, bin ein Mann für alle Fälle. Hab ja auch genug Zeit.“
„Rentner?“
„Nicht direkt, aber man könnte es fast so bezeichnen. Ich möchte Sie aber jetzt nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen.“
Wagner schluckte gerade einen Happen herunter. „Warum nicht? Würd´ mich interessieren.“ Er schob sich ein paar Pommes in den Mund.
„Na ja, aufregend ist meine Geschichte nicht. Wangerooge war schon immer unsere Lieblingsinsel. Meine Frau und ich fuhren zweimal im Jahr auf die Insel, um Urlaub zu machen. Ich hatte in Hannover einen eigenen Betrieb, Bioenergie und Zubehör. Meine Firma war sehr lukrativ; hatte sechsundzwanzig Angestellte. Dann bekam meine Frau Krebs. Sie starb mit fünfunddreißig; ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Eine Woche vor ihrem Tod kam der Lottogewinn, fünfhunderttausend Mark. Ich musste ihr versprechen, mir davon ein Häuschen auf Wangerooge zu kaufen, auf der Insel, auf der wir immer so glücklich waren. Hab ich getan. Mich hat die Sache damals sehr mitgenommen und ich war nicht mehr in der Lage, meinen Betrieb weiterzuführen. Da entschloss ich mich dazu, alles zu verkaufen, den Betrieb und auch das Haus in Hannover. Das brachte noch mal viel Geld ein. Ich bin dann für immer nach Wangerooge gezogen. Da ich hier schon viele Leute kannte, lebte ich mich schnell ein, was bei den manchmal etwas sturen Insulanern nicht immer ganz einfach war. Heute geht es mir wieder ausgezeichnet und ich kann von meinen Zinsen mehr als gut leben. Und da ich, wie gesagt, einige ehrenamtliche Arbeiten für die Gemeinde erledige, kenne ich auch keine Langeweile.“
„Eine traurige Geschichte“, meinte Reinders, „aber um Ihr jetziges Leben kann man Sie echt beneiden.“
Claasen nickte. „Ich möchte auch mit niemanden tauschen.“
Nachdem Wagner sich das letzte Stück Schnitzel einverleibt hatte, schob er den Teller zur Tischmitte und lehnte sich zurück. „Das war lecker.“ Er blickte zu dem Mann, der hinter der Theke stand. „Herr Wirt, ich möchte gerne zahlen.“
Der Wirt hob die Hände und deutete auf Claasen. „Ist schon bezahlt.“