Das Schwert des Damokles - Dieter Ebels - E-Book

Das Schwert des Damokles E-Book

Dieter Ebels

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Beschreibung

Dieter Ebels Das Schwert des Damokles Als Kommissarin Silvia Muisfeld und ihre Kollegen Tibo Nowack und Sven Söhlbach zum Tatort, an dem eine ermordete Frau aus der Obdachlosenszene gefunden wurde, gerufen werden, wissen sie zunächst nicht, in welche Richtung sie ermitteln sollen. Da Kommissar Söhlbach, gemeinsam mit seiner neuen, großen Liebe Nina, seinen Urlaub antritt, arbeiten Nowack und Muisfeld schließlich alleine an diesem Fall weiter. Als wenig später das nächste Mordopfer, ebenfalls ein Obdachloser, auftaucht, suchen die Ermittler nach einem Zusammenhang. Noch ahnt niemand, dass der Mörder einen teuflischen Plan ausgearbeitet hat, der mit der Ermordung von Söhlbachs geliebten Nina und dem Tod von Sven enden soll, einen Plan, den der Täter gnadenlos bis zum Ende durchführt.

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Überlieferung aus Ciceros tusculanae disputationes

...und dann erblickte Damokles das schwere Schwert, welches, nur von einem dünnen Rosshaar gehalten, bedrohlich über seinem Haupte hing...

Inhaltsverzeichnis

Die Tote in Binsheim

Der heimliche Beobachter

Der Typ auf der Bank

Das Warten auf den Feierabend

Ein tödlicher Plan

Silvias Beichte

Wochenende

Es ist Montag

Die weißen Riesen

Der tote Mann am Wasserturm

Ein entspannter Chef

Szenenwechsel zur Ostsee

Wieder in Homberg

Wer ist der Mann im Lieferwagen?

Verzweiflung

Freitag

Ein grausamer Fund

Ein unfassbarer Verdacht

Kein schöner Samstagmorgen

Zurück aus dem Urlaub

Der Drohbrief

Alles läuft nach Plan

Erdrückende Indizien

Die Zeugenüberprüfung

Ein erkenntnisreicher Samstagnachmittag

Söhlbachs Verzweiflung

„Jetzt stirbst du, Nina“

Söhlbachs schwerer Schicksalsschlag

Am Fundort

Eine bittere Erkenntnisse

Ein böses Erwachen

Eine vergebliche Suche

Das Schwert fällt, der Tod kommt von oben...

Wie ein Wunder

Die Tote in Binsheim

„Das Auto fährt viel ruhiger als unser alter Wagen“, stellte Kommissar Sven Söhlbach, der den dunkelblauen VW-Passat Kombi steuerte, fest.

„Das ist mir auch sofort aufgefallen“, sagte sein Beifahrer, Tibo Nowack.

Hinter den beiden Kripobeamten, auf der Rückbank, saß ihre Kollegin Silvia Muisfeld.

„Es war auch allerhöchste Zeit für einen neuen Dienstwagen“, meinte sie. „Der Alte ist ja fast auseinandergefallen.“

„So neu ist das Auto ja auch nicht“, warf Tibo ein. „Die Karre hat auch schon zehn Jahre auf dem Buckel.“

„Unser alter Wagen war doppelt so alt“, sagte Silvia.

Für die drei war es die allererste Fahrt mit dem neuen Dienstfahrzeug.

Sie befuhren die Binsheimer Straße, vom Duisburger Stadtteil Baerl kommend, in Richtung Orsoy.

Ihr Ziel war das dazwischenliegende Binsheim, ein Stadtteil, welcher nur aus ein paar wenigen Bauernhöfen und Häusern bestand.

Ein Anrufer hatte dort angeblich eine tote Frau mit einer Kopfverletzung entdeckt.

Der Anruf war um 7.30 Uhr bei der Polizei eingegangen.

Zunächst war ein Streifenwagen nach Binsheim gefahren, um die Sache zu überprüfen. Die Polizisten hatten tatsächlich eine Tote entdeckt und sofort die Kripo informiert.

Jetzt war es 8.10 Uhr.

Söhlbach fuhr sehr zügig und hielt sich nicht an die Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h, die auf dieser mit Bäumen gesäumten Straße zulässig war. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dieser Allee, die durch weitläufige Felder verlief, hatte einen guten Grund. Es hatte hier immer wieder schwere Unfälle mit Todesfolge gegeben, und es war noch gar nicht so lange her, dass eine junge Frau hier ihr Leben verloren hatte, als ihr Auto mit hoher Geschwindigkeit mit einem Baum kollidiert war.

„Gestern Abend bin ich auch hier entlang gefahren“, sagte Sven. „Da kam ich von einem Besuch bei Bekannten in Orsoy zurück.“

„Ich wusste nicht, dass du dort Bekannte hast“, hörte er Silvia hinter sich sagen.

„Du musst ja auch nicht alles wissen“, sagte Söhlbach schnippisch.

Bevor Muisfeld noch etwas sagen konnte, bremste Sven vor einer Linkskurve stark ab.

An das Verkehrsschild, welches auf eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf nun 50 km/h hinwies, störte Söhlbach sich nicht.

Erst als die Straße einen Rechtsknick machte und vor ihnen das Ortsschild von Binsheim auftauchte, fuhr er langsamer.

Schließlich sahen sie dort, wo die Straße, geregelt durch eine abknickende Vorfahrt, in Richtung Orsoy weiterführte, einen Streifenwagen, der eine von rechts einmündende Straße halb versperrte.

Söhlbach hielt neben dem Polizeiwagen an.

Als ein uniformierter Polizist ihm Handzeichen gab, weiterzufahren und ihn durchwinken wollte, hielt Nowack seinen Dienstausweis aus dem Autofenster.

„Ups“, sagte der Polizist. „Kollegen.“

Er wies in die einmündende Straße.

„Ihr müsst hier entlang.“

Tibo nickte ihm zu, und Sven steuerte das Auto am Polizeiwagen vorbei.

„Wolterhofer Straße“, las Nowack die Angaben auf dem Straßenschild laut vor.

Vor ihnen, in etwa einhundert Meter Entfernung, stand ein weiterer Streifenwagen und ein Traktor, welche die Straße blockierten.

Hinter dem letzten Haus auf der rechten Straßenseite erstreckten sich Felder soweit das Auge reichte.

Sven stoppte das Auto unmittelbar vor dem Streifenwagen.

Neben dem Traktor standen drei Polizisten und zwei Männer in Arbeitskleidung.

Als Silvia und ihre beiden Kollegen aus dem Wagen stiegen, kam einer der Polizisten sofort auf sie zu.

Nach einer kurzen Begrüßung deutete er auf eine Hecke, die auf der rechten Straßenseite wuchs.

„Die Tote“, sagte er mit heiserer Stimme, „liegt dort hinter der Hecke, ganz am Ende.“

Dort befanden sich auch die anderen Polizisten und die beiden Männer.

Wenig später standen Nowack, Söhlbach und Muisfeld vor der toten Frau.

Sofort stach ihnen die klaffende Wunde auf ihrer Stirn in die Augen. Das Blut, welches ihr aus der Wunde heraus über das von tiefen Falten durchzogene Gesicht gelaufen war, war eingetrocknet. Auch in den krausen, ungepflegt wirkenden, grauen Haaren konnte man überall Blut erkennen.

Die Kleidung der Toten machte die drei stutzig. Sie trug trotz der sommerlichen Temperaturen eine dunkelgrüne, vergammelt wirkende Thermojacke. Die Jacke war nicht zugeknöpft, und ein Blick auf die darunterliegende Kleidung ließ erkennen, dass alles, was die Frau trug, schmutzig und verschlissen war. Neben der Toten lag eine prall gefüllte, große Einkaufstasche aus Plastik, auf der man noch schwach das fast abgeblätterte Logo eines großen Lebensmitteldiscounters erkennen konnte.

Einer der Männer in Arbeitskleidung, die neben den Polizisten standen, trat an sie heran.

„Ich hab´ erst gedacht“, sagte er, „dass die aus der Obdachlosenszene sich jetzt auch schon bei uns zum Nickerchen niederlassen, aber dann hab´ ich gesehen, dass sie tot ist.“

Nowack schaute den Mann an.

„Sie haben die Tote entdeckt?“, fragte er.

„Ja“, antwortete er. „Als ich vom Feld zurückkam, habe ich sie oben vom Trecker aus im Vorbeifahren gesehen.“

Mit einem kurzen Blick auf den Traktor, der in Fahrtrichtung der Häuser stand, sagte Tibo: „Und als Sie heute Morgen zum Feld gefahren sind, lag die Frau noch nicht da?“

Der Angesprochene verzog das Gesicht und blickte kurz nach unten auf seine lehmverschmierten Stiefel. Dann schaute er den Kommissar an, zuckte mit den Schultern und sagte: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe nicht darauf geachtet. Kann sein, dass sie schon dort lag, kann aber auch nicht sein. Ich weiß es nicht. Gestern Nachmittag lag sie auf jeden Fall noch nicht dort, denn dann hätte ich sie gesehen, weil ich hier zu Fuß unterwegs war.“

„Wann sind Sie denn heute Morgen auf das Feld gefahren?“, wollte Nowack von ihm wissen. „Wie spät war es da?“

Die Antwort war zunächst ein erneutes Schulterzucken.

Dann sagte er: „Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber es war noch nicht lange hell.“

Tibo schaute sich um.

„Es ist alles sehr einsam hier“, sagte er. „Sind Ihnen heute Morgen, als sie hier unterwegs waren, irgendwelche Leute aufgefallen, und wie war es, als Sie die Tote entdeckt hatten?“, fragte Tibo den Mann.

„Nein, so früh sind hier keine Leute unterwegs, und wenn, dann nur Leute, die auf den Feldern arbeiten.

Heute war aber definitiv niemand hier zu sehen. Als ich die Frau gesehen habe, bin ich sofort vom Trecker runter und zu ihr hin. Ich wollte sie ansprechen, aber als ich die blutige Wunde bei ihr gesehen habe, wusste ich sofort, dass sie tot war. Ich habe die Frau nicht angefasst und die Polizei angerufen.“

„Und Sie haben nicht einen Moment daran gedacht, dass die Frau nur schwerverletzt sein könnte?“, wollte Nowack von ihm wissen.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, dass sie tot ist und keinen Notarzt mehr braucht, war mir sofort klar.“

Tibo verzog kurz den Mund.

Dann deutete er zu den Beamten der Streifenwagenbesatzung und sagte: „Würden Sie bitte bei den Kollegen ihre Personalien hinterlassen?“

Der Mann nickte und begab sich wieder zu den uniformierten Polizisten.

Söhlbach, der die Aussage des Zeugen mitgehört hatte, wog den Kopf hin und her und meinte: „Wer weiß, vielleicht hat die Tote schon dort gelegen, als ich gestern hier vorbeigefahren bin. Mir wäre sie hinter der Hecke nicht aufgefallen.“

Silvia schaute ihn mit großen Augen an.

„Wie, du bist hier vorbeigefahren? Ich dachte, du bist von deinen Bekannten in Orsoy gekommen.“ Sie deutete zur Hauptstraße, an der der zweite Polizeiwagen stand und die Einmündung absperrte. „Soweit ich weiß, ist diese

Straße hier eine Sackgasse, die ins Nirgendwo führt. Die Hauptstraße ist hundert Meter von hier entfernt. Von dort aus hättest du die Hecke überhaupt nicht sehen können.“

Sven lächelte.

„Da hast du Recht, Silvia. Von der Hauptstraße aus kann man die Hecke nicht sehen. Ich habe aber gestern noch einen Abstecher gemacht, der genau hier vorbeiführte. In der Hoffnung, einen anderen Bekannten von mir zu treffen, der mindestens dreimal in der Woche an der Natorampe sitzt, um dort zu angeln, bin ich genau hier vorbeigefahren und das gleich zweimal, einmal hin und wenig später wieder zurück. Mein Bekannter war leider nicht da.“

„Was ist denn eine Natorampe?“, wollte Tibo wissen.

„Dass es so etwas hier gibt“, antwortete Sven, „das wissen selbst viele Duisburger nicht. Diese Straße hier ist, wie Silvia schon sagte, eine Sackgasse. Sie endet nach, nun ich schätze mal, gut anderthalb Kilometern, direkt am Rhein. Genauer gesagt, führt sie in den Rhein hinein. Mir hat jemand mal erzählt, dass diese Rampe aus der Zeit des kalten Krieges stammt und im Verteidigungsfall für eine Pontonbrücke eingesetzt werden kann, um den Rhein zu überqueren.“

Söhlbach wollte noch etwas sagen, aber er schwieg, weil in diesem Moment zwei Fahrzeuge der Spurensicherung in die schmale Straße eingebogen und auf sie zufuhren.

„Die Spusi kommt“, stellte Nowack fest.

Kaum waren die Autos zum Stehen gekommen, stiegen die weißgekleideten Frauen und Männer aus.

Ralf Meier, der Leiter der Spurensicherung, war wie immer der Einzige, der seine Kapuze nicht über den Kopf gezogen hatte.

Mit den Worten: „Donnerwetter! Ihr seid ja ausnahmsweise mal schneller als wir vor Ort“, begrüßte er die drei Kripoleute.

Meier hatte eigentlich immer das Bestreben, mit seinen Leuten vor allen anderen an den Tatorten zu sein. In den meisten Fällen gelang es ihm auch. Für den Leiter der Spurensicherung war es ein sportliches Wetteifern, immer der Erste sein zu wollen.

In seinem Gesichtsausdruck konnte man deutlich den Unmut darüber ablesen, dass Muisfeld, Söhlbach und Nowack heute schon hier waren.

Meier strich sich eine Strähne seiner blonden Haare von der Stirn und schaute die drei fragend an.

„Was habt ihr bis jetzt?“, wollte er wissen.

„Eine tote Frau mit einer offensichtlichen Schädelverletzung“, antwortete Söhlbach. „Für die Todesumstände seid ihr und die Rechtsmedizin zuständig. Also, Ralf, ran an die Arbeit, damit auch wir mit Ermittlungen anfangen können.“

Meier runzelte für einen Moment die Stirn.

„Was machst du überhaupt hier, Sven?“, fragte er verwundert. „Heute ist doch Samstag. Ich dachte, du bist im Urlaub.“

Söhlbach verzog den Mund.

„Du weißt doch, wie das ist, Ralf. Eigentlich wäre heute mein erster Urlaubstag, aber da ich erst am morgigen Sonntag verreise und unsere liebe Kollegin Silvia heute verschlafen hat, habe ich mich vom Chef überreden lassen, einzuspringen. Naja, Silvia ist ja dann doch noch gekommen. Da ich schon mal da war, habe ich mich dazu entschlossen, meine beiden Mitstreiter zu unterstützen. Aber ab morgen bin ich weg. Dann müssen Silvia und Tibo alleine klarkommen.“

Nach einem kurzen Blick zu Nowack und Muisfeld meinte Meier zu Sven: „Meinst du, die beiden schaffen das ohne dich?“

Der Leiter der Spusi war dafür bekannt, immer wieder unpassende Bemerkungen und Sticheleien von sich zu geben.

Während Tibo über diese Aussage nur müde lächelte, verzog Silvia kurz das Gesicht. Sie mochte Meier nicht sonderlich, denn seine oft auch frauenfeindlichen Anmerkungen waren ihrer Meinung nach aus der untersten Schublade, auch wenn andere darüber lachen konnten.

Ralf Meier fühlte sich als Sunnyboy, denn er wusste, dass er gut aussah und besonders bei seinen Mitarbeiterinnen gut ankam.

Während Sven und Tibo mit Ralf gut klarkamen, hatte sich Silvia noch nie so richtig mit ihm anfreunden können.

Das einzige, was die Kommissarin dem Leiter der Spurensicherung hoch anrechnete, war, dass er und sein Team eine mehr als ausgezeichnete Arbeit leisteten.

Wenn es an den Tatorten auch nur die geringsten Hinweise gab, mochten sie noch so unscheinbar sein, Ralf und seine Leute fanden sie.

Meier trat an die tote Frau heran, begutachtete sie kurz und gab seinen Mitarbeitern umgehend Anweisungen.

Man merkte sofort, dass sie ein eingespieltes Team waren. Während die einen die Tote näher untersuchten, schwärmten die anderen aus und schauten sich akribisch das Umfeld des Fundorts an.

Währenddessen blickte Muisfeld sich um. Sie deutete auf die wenigen Wohngebäude, die hier standen.

Dann sagte sie: „Ich schlage vor, dass wir bei den Anwohnern anklingeln, um sie zu fragen, ob ihnen gestern oder heute etwas aufgefallen ist.“

„Gute Idee“, meinte Nowack, „Dann lasst uns mal gleich losgehen.“

„Und wenn ihr von eurer Befragung wieder zurück seid“, sagte Ralf Meier, der das mitgehört hatte, „kann ich euch vielleicht schon die ersten Erkenntnisse über die Tote mit teilen.“

Silvia, Sven und Tibo teilten sich auf, um die Anwohner zu befragen.

Es dauerte nicht lange, und sie kamen ohne neue Hinweise zurück. Von den Leuten, die sie zuhause angetroffen hatten, hatte niemand etwas gehört oder gesehen.

„Diese Befragung hätten wir uns auch sparen können“, murmelte Muisfeld, als sie wieder am Fundort der Toten angekommen waren.

„Es gab von den Anwohnern also keine Hinweise“, deutete Meier ihre Aussage. „Dafür kann ich euch schon etwas Näheres über die Todesursache sagen. Die Frau wurde offensichtlich erschlagen. Neben der Wunde auf der Stirn befinden sich unter ihren Haaren noch zwei weitere, erhebliche Kopfverletzungen. Näheres wird sich bei der Autopsie ergeben. Ich kann nur sagen, dass die Wunden, nun, wie soll ich es beschreiben, sehr merkwürdig aussehen.“

„Merkwürdig?“, fragte Nowack. „Wie meinst du das, Ralf?“

„Das kann ich schlecht erklären“, sagte Meier, „aber wenn die Frau zum Beispiel mit einem Knüppel oder einer Eisenstange erschlagen worden wäre, dann hätten die Wunden in etwa das gleiche Aussehen. Hier sieht jede Wunde aber irgendwie anders aus.“ Tibo blickte ihn ungläubig an.

„Du meinst, der Täter hat mit verschiedenen Dingen zugeschlagen?“

„Ich meine gar nichts“, antwortete der Leiter der Spusi.

„Ich sage nur, dass die Wunden ein sehr ungewöhnliches Aussehen haben.“

„Also definitiv Mord“, sagte Tibo.

„Ja, definitiv.“

„Habt ihr beim Mordopfer Hinweise auf die Identität gefunden?“

Ralf Meier schüttelte den Kopf.

„Nein, wir konnten weder in ihrer Kleidung noch in der großen Tasche Dinge finden, die auf ihre Person hindeuten.“

Bevor jemand noch etwas sagen konnte, trat einer der uniformierten Polizisten, der bis gerade noch neben dem Streifenwagen gestanden hatte, an sie heran.

„Entschuldigt, Kollegen“, sagte er, „aber wie es aussieht, hat jemand diese Frau gestern als vermisst gemeldet.“

Söhlbach schaute ihn verwundert an.

„Und warum erfahren wir das erst jetzt?“

„Ich habe es gerade erst erfahren. Als ich einem Kollegen der Homberger Wache am Telefon eine kurze Beschreibung der Toten durchgab, hat er sofort gesagt, dass gestern jemand zur Wache gekommen war, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben und dass die

Beschreibung der Toten passen könnte.“

„Dann haben wir also die Identität der Toten?“

„Nein, nicht direkt. Es gab nur eine Personenbeschreibung. Der Mann, der sie vermisst, gab an, dass es sich um die grüne Gertrud handeln würde.“

Svens Augen wurden immer größer.

„Die grüne Gertrud?“, kam es verwundert über seine Lippen. „Was ist das denn für ein Name?“

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern.

Dann sagte er: „Der Kollege von der Wache meinte, dass die Gesuchte wohl genauso aus der Obdachlosenszene stammen würde, wie der Mann, der sie als vermisst gemeldet hat. Da die Frau erst seit zwei Tagen nicht mehr gesehen wurde, hat man den Mann wieder weggeschickt.“

„Und was hat der Kollege von der Wache sonst noch erzählt?“, wollte Söhlbach wissen.

„Nichts. Das war alles.“

„Dann werde ich doch gleich noch mal nachhaken“, sagte Sven. „Vielleicht kann sich der Kollege von der Wache ja noch an weitere Dinge bezüglich der Vermisstenmeldung erinnern. Ich brauche sofort eine Verbindung zu ihm.“

Die gewünschte Verbindung stand sehr schnell, und nachdem Söhlbach sich kurz vorgestellt hatte, bat er den Polizisten der Homberger Wache ihm haarklein zu erzählen, wie das mit der Vermisstenmeldung abgelaufen war.

„Nun“, erzählte der Kollege, „gestern Nachmittag, so gegen 17 Uhr, war ein Mann in der Wache aufgetaucht, um das plötzliche Verschwinden seiner Freundin zu melden. Er hatte sich als Frank Meier vorgestellt. Es war ein sehr ungepflegter Typ mit langen, grauen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er hatte gesagt, seiner Freundin sei mit Sicherheit etwas zugestoßen und dass wir unbedingt nach ihr suchen müssten. Als wir ihn gefragt hatten, warum er sich so sicher sei, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, hatte er geantwortet, dass sie ihre Verabredung nicht eingehalten hätte. Daraufhin hatten wir dem Mann erklärt, dass wir deswegen noch lange keine Vermisstenmeldung aufnehmen können. Er war aber hartnäckig geblieben und hatte gesagt, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, denn die grüne Gertrud sei die zuverlässigste Person, die er kenne. Grüne Gertrud, über diesen merkwürdigen Namen hatten wir uns natürlich gewundert und sofort nachgefragt, was er zu bedeuten hat. Angeblich wird die Frau so genannt, weil sie immer, egal zu welcher Jahreszeit, eine dunkelgrüne Jacke tragen würde. Nun, wir hatten dem Mann noch einmal klar gemacht, dass er deswegen keine Vermisstenmeldung aufgeben könne. Daraufhin war er laut schimpfend gegangen. Beim Hinausgehen hatte er noch gesagt, dass er tagsüber auf den Bänken vor dem Brunnen auf dem Markt zu finden sei und dass wir ihm dort Bescheid geben sollten, wenn wir die grüne Gertrud finden. Ich möchte anmerken, dass dieser Frank Meier ganz offensichtlich zur Obdachlosenszene gehörte. Nicht nur, dass sein Aussehen auf diese Szene hingewiesen hatte, als er gegangen war, hatte ich aus dem Fenster geguckt und gesehen, wie er mit einem mit Plastiktüten gefüllten Einkaufswagen, den er auf dem Gehweg vor der Wache abgestellt hatte, davongegangen war.“ Söhlbach überlegte kurz.

Dann fragte er den Kollegen am Telefon: „Hat dieser Frank Meier denn erwähnt, dass die Vermisste von jemandem bedroht worden war oder dass sie vor irgendetwas Angst hatte?“

„Nein, so etwas hatte er nicht erwähnt.“

„Danke für die Info“, sagte Sven und beendete das Telefonat.

Alle anderen hatten mitgehört.

„Wie es aussieht“, sagte Nowack, „wird es sich bei der Toten tatsächlich um die grüne Gertrud handeln. Sie gehörte offensichtlich auch der Obdachlosenszene an.

Dann waren die Sorgen dieses Frank Meiers berechtigt.“ Seine Kollegin Muisfeld nickte und sagte: „Das bedeutet für uns, dass wir jetzt, in der Hoffnung Frank Meier zu finden, zum Homberger Markt fahren müssen.“

Sie verabschiedeten sich kurz von den Mitarbeitern der Spusi, stiegen in ihren Dienstwagen und fuhren los.

* * *

Der heimliche Beobachter

Der Mann legte das Fernglas beiseite und lächelte.

„Es läuft alles wie geplant“, sagte er leise zu sich selbst.

Von seinem Versteck aus, welches sich etwa vierhundert Meter vom Fundort der toten Frau entfernt befand, hatte er alles durch ein extra starkes Objektiv beobachtet.

Sein Lächeln verwandelte sich in ein bösartiges Grinsen.

„Söhlbach, du wirst sterben.“

Er hatte sich für seine Planungen und Vorbereitungen viel Zeit gelassen und Kommissar Sven Söhlbach, so gut es ihm möglich war, beobachtet. Ihm durfte kein Fehler unterlaufen. Es hatte zwei Jahre gebraucht und er hatte auch finanziell einiges für sein Vorhaben ausgeben müssen. Nun war er sich sicher, einen fehlerfreien Plan zu haben.

Selbst das Versteck, in dem er jetzt saß und die Polizei beobachtete, hatte er mit Bedacht ausgewählt. Ihm war bewusst, dass hier niemand hinkommen würde.

Der Mann saß versteckt im Gestrüpp in einer der Gehölzgruppen, die sich wie mit Bäumen und Büschen bewachsene Inseln mitten in den Binsheimer Feldern befanden. Zunächst hatte er sich über diese begrünten Inseln im Feld gewundert und sich gefragt, warum die Bauern diese Areale nicht auch umgepflügt hatten, um sie für die Landwirtschaft nutzbar zu machen.

Akribisch, wie er bei seiner Planung war, hatte er den Grund dafür sehr schnell herausgefunden. Bei diesen dicht bewachsenen Gehölzgruppen handelte es sich um ehemalige Flakstellungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Hier verstecken sich die Überreste von ehemaligen deutschen Geschützeinheiten. Die Betonfundamente, die heute von einer dichten Vegetation überwuchert sind, waren nie entfernt worden und verhinderten, dass diese Flächen ackerbaulich genutzt werden konnten.

Er ergriff erneut sein Fernglas, um die weiß gekleideten Leute der Spurensicherung zu beobachten. Das Fernglas legte er auf einer der alten Betonmauern ab, um die Szenerie besser im Blick zu haben. Bei der starken Vergrößerung des Fernglases war es nicht möglich, es so ruhig in den Händen zu halten, ohne dass das Geschehen in der Ferne vor den Augen verwackelte. Nun, wo sein Sichtgerät ruhig auf einer erhöhten, von Moos bewachsenen Betonmauer lag, konnte er alles klar erkennen.

Jetzt, wo er durch das Glas schaute, sah er, wie Kommissar Söhlbach neben einem der uniformierten Polizisten stand und sich angeregt mit ihm unterhielt.

Schade, dachte der Mann, dass ich nicht hören kann, worüber sie gerade reden.

Nun beobachtete er, wie Söhlbach telefonierte.

Was nutzt ihm die ganze Ermittlungsarbeit, ging es ihm durch den Kopf. Er wird sowieso nicht mehr lange leben.

Jetzt erkannte er durch das Fernglas, dass der Kommissar, den er beobachtete, das Telefongespräch beendete und etwas zu seiner Kollegin Muisfeld und dem schwulen Kollegen Nowack sagte. Er hatte auch über die beiden viel herausbekommen, denn er hatte sie ebenfalls im Vorfeld genau unter die Lupe genommen. So wusste er, dass Silvia Muisfeld keinen festen Partner hatte. Tibo Nowack hingegen war mit einem gewissen Matteo zusammen. Dieses schwule Pärchen hatte er schon einige Mal beobachten können.

Nun sah er, dass Söhlbach mit den beiden zum Dienstwagen ging. Die drei stiegen ein und fuhren los. Schließlich verschwand das Auto aus seinem Blickfeld.

Alles läuft nach Plan, dachte er und in seinem Gesicht zeigte sich wieder ein zufriedenes Lächeln.

Er atmete tief durch und schaute auf die alten, teilweise zerborstenen Betonplatten, die noch deutlich die Form der ehemaligen Flakstellung, in der er sich versteckt hatte, erkennen ließen.

Aus reiner Neugier hatte er Nachforschungen über diese Monumente aus einer schrecklichen Zeit angestellt. Diese bunkerartigen Überreste, die ihn umgaben, vermittelten für einen Augenblick ein merkwürdiges, fast unheimliches Gefühl. Es war, als wollten die halb von der Vegetation überwucherten Betonmauern noch einmal nachdrücklich an den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges erinnern. Dank seiner Nachforschungen kannte er alle Einzelheiten über diesen erdrückenden Ort. So wusste er, dass diese Geschützstellung im Frühjahr 1944 fertiggestellt worden war. Zur Bedienung der Kanonen hatte man damals Jungen der Hitlerjugend herangezogen, um sie an der Flak auszubilden. Schließlich war die Stellung Ende 1944 wieder aufgegeben worden.

Zu seiner Verwunderung hatte er sogar erfahren, dass diese ehemaligen Flakstellungen, die hier in den Binsheimer Feldern lagen, sogar amtlich eingetragene Bodendenkmäler der Stadt Duisburg waren.

Der Mann nahm das Fernglas von der Mauer und begab sich zur anderen Seite der verfallenen Flakstellung. Von hier aus konnte er durch die Büsche hindurch die Binsheimer Straße sehen. Diese vielbefahrene Allee führte in einer Entfernung von nur fünfzig Metern an seinem Versteck vorbei.

Er ging davon aus, dass die Ermittler über die gleiche Straße zurückfahren würden, über die sie auch hierher gekommen waren und dass das Auto, in das sie gerade eingestiegen waren, gleich hier vorbeikommen würde. Abwartend schaute er nach rechts, wo das Fahrzeug eigentlich jeden Moment auftauchen sollte.

Als das Auto, auf das er wartete, auch nach zwei Minuten noch nicht zu sehen war, stutze er.

Wo bleiben sie? Sie hätten schon lange hier vorbeifahren müssen.

Seine Gedanken kreisten, und er dachte daran, dass sie in Richtung Orsoy gefahren sein könnten, um sich von dort aus mit der Fähre auf die andere Rheinseite in den Stadtteil Walsum übersetzen zu lassen.

Er wollte noch eine Minute warten, und wenn sie dann nicht kommen würden, würde er sich auf den Heimweg machen.

Der Mann steckte sein Fernglas in den kleinen Rucksack, den er bei sich trug. Seinen Rückweg würde er zunächst ein kurzes Stück über den Acker auf einem schmalen Feldweg zurücklegen. Er trug Gummistiefel, denn mit normalen Schuhen wäre der Weg über dem lehmigen Untergrund ein schwieriges Unterfangen gewesen. Es war alles genau geplant, und der Feldweg würde ihn über ein kleines Sträßchen hinauf auf den Wall führen, über dem die Dammstraße verlief. Dort, wo diese Straße kurz vor dem Stadtteil Baerl wieder vom Damm aus nach unten führte, hatte er sein Auto abgestellt. Das Ganze würde für ihn ein Spaziergang von etwa zwei Kilometern sein.

Zunächst aber wartete er noch in seinem Versteck.

Er konnte nicht ahnen, dass die Einmündung zur Wolterhofer Straße, an der der Fundort des Mordopfers lag, mittlerweile von mehreren Streifenwagen abgesperrt worden war und dass diese erst zur Seite manövriert werden mussten, damit die Kripoleute mit ihrem Fahrzeug weiterfahren konnten.

Als der Mann noch einmal zur Allee hinüberschaute, sah er schließlich doch noch den dunkelblauen Passat Kombi, auf den er gewartet hatte, die Straße entlang kommen.

Als das Auto in etwa fünfzig Meter Entfernung an ihm vorbeifuhr, erkannte er Sven Söhlbach, der hinter dem Lenkrad saß, ganz deutlich.

„Söhlbach“, sagte er leise, „ich weiß, dass du morgen in den Urlaub fährst. Ich weiß auch, wo und mit wem du deinen Urlaub verbringen wirst. Genieße deinen Urlaub, denn bald wirst du sterben. Das Schwert des Damokles schwebt über dir und der dünne Faden, an dem es hängt, wird bald reißen. Dann bist du tot, Söhlbach.

* * *

Der Typ auf der Bank

Kommissarin Silvia Muisfeld und ihre beiden Kollegen betraten den Homberger Marktplatz.

„Es ist ja nicht gerade viel los hier“, meinte Nowack angesichts der Tatsache, dass die Anzahl der Leute, die hier unterwegs waren, sehr überschaubar war.

„Heute ist ja auch Samstag“, sagte Silvia. „Gestern war hier auf dem Bismarckplatz Wochenmarkt. Da wird es garantiert unruhiger gewesen sein.“

Sie deutete auf den historischen Brunnen, der sich auf dem Platz befand. Oben auf diesem Wahrzeichen des Marktes thronte eine Frauenstatue. Unweit des Brunnens standen einige Bänke.

„Da sitzen ein paar Leute herum. Mit etwas Glück ist dieser Frank Meier auch dabei.“

„Hier bin ich noch nie gewesen“, sagte Nowack. „Das ist ein sehr schöner Brunnen. Was soll diese Statue oben auf dem Brunnen denn darstellen?“

„Das kann ich dir nicht sagen, Tibo“, antwortete Silvia.

„Aber ich kann es dir sagen“, meinte Sven. „Eine Tante von mir hat früher einmal hier gewohnt, und sie hat mir erzählt, dass die Dame auf dem Brunnen, die meine Tante immer als Komps Traut bezeichnet hatte, die Göttin des Glücks sei. Der Brunnen ist übrigens schon mehr als einhundert Jahre alt.“

„Komps Traut?“, kam es verwundert aus Silvias Mund.

„Was ist das denn für ein komischer Name?“

Söhlbach zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung“, entgegnete er. „Ich weiß nur, dass auch die Nachbarn meiner Tante die Frau auf dem Brunnen so genannt hatten.“

Nowack deutete auf eine der Bänke.

„Ich glaube, das dort ist unser Mann.“

„Das denke ich auch“, sagte Silvia angesichts des mit gefüllten Plastiktüten beladenen Einkaufswagens, der direkt neben der Bank stand.

Das Aussehen des Mannes auf der Bank wies eindeutig auf eine Herkunft aus der Obdachlosenszene hin. Bekleidet war er mit verschlissene Sandalen und eine ebensolche Jeans, über die er ein blau kariertes, kurzärmeliges Hemd trug.

Der Mann saß schräg nach hinten gelehnt mit nach vorne ausgestreckten Beinen auf der Bank. Seine Arme hatte er vor dem Bauch verschränkt und auf den ersten Blick wirkte es so, als würde er nach unten auf den Boden schauen.

Erst als die drei Ermittler näher kamen, erkannten sie, dass er offensichtlich ein Nickerchen machte, denn seine Augen waren geschlossen.

So, wie er mit nach vorne hängendem Kopf dort saß, sah man, dass die wenigen langen, grauen Haare, die seine Glatze umrahmten, hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

„Herr Meier?“, sprach Muisfeld den Mann leise an, als sie und ihre beiden Kollegen schließlich direkt vor ihm standen.

Er reagierte nicht.

„Herr Meier“, sagte sie nun etwas lauter.

Ein unschlüssiges Brummen kam aus seinem Mund.

Dann hob er den Kopf und öffnete langsam die Augen, um sie dann wieder, geblendet vom hellen Sonnenlicht, zu zukneifen.

„Was“, brummelte er. „Was wollt Ihr?“

Er öffnete seine Augen wieder zu schmalen Schlitzen und sah die Leute, die direkt vor ihm standen, skeptisch an.

Die drei blickten in ein unrasiertes, mit weißen Bartstoppeln übersätes, faltiges Gesicht. Die rote Nase des Mannes war mit kleinen, bläulichen Äderchen durchzogen und unter seinen Augen lagen dicke Tränensäcke.

„Mein Name ist Muisfeld“, stellte sich die Kommissarin vor, „und das sind meine Kollegen Nowack und Söhlbach. Wir sind von der Kripo und…“

„Ich habe nichts gemacht!“, fiel der Mann auf der Bank ihr ins Wort, bevor sie ihren Satz zu Ende bringen konnte.

„Nein, Sie haben auch nichts gemacht“, erklärte Muisfeld ihm. „Sie sind doch Frank Meier, oder?“

Der Angesprochene zögerte kurz.

Dann sagte er: „Ja. Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Herr Meier, Sie waren gestern in der Homberger Polizeiwache, um dort eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Ist das richtig?“

„Ja, das war ich.“

Er hob seine Arme, die bis gerade eben noch vor seiner Brust verschränkt waren, in die Höhe.

„Ich wusste es doch“, sprach er weiter. „Der grünen Gertrud ist etwas Schlimmes passiert.“

Seine Stimme klang heiser.

„Wann haben Sie Gertrud das letzte Mal gesehen?“,

wollte Silvia von ihm wissen.

Der Mann vor ihr blickte kurz nach unten und runzelte dabei nachdenklich seine faltige Stirn.

Dann schaute er wieder auf und sagte: „Vor vier Tagen, aber jetzt will ich erst mal wissen, was der Gertrud passiert ist.“

„Tut mir leid“, sagte die Kommissarin, „aber sie ist tot.“

Meier schaute sie zweifelnd an. Dabei klappte sein Unterkiefer nach unten, und für einen Moment sah es so aus, als würde seine unnatürlich dick wirkende Zunge ihm jeden Moment aus dem Mund rutschen.

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Die Gertrud ist tot“, kam es fast flüsternd aus seinem Mund. Er atmete tief durch. „Wie ist das passiert?“

„Sie wurde ermordet.“

„Was?“ Ermordet?“

„Ja.“

Meier schüttelte den Kopf. „Die Gertrud“, meinte er, „war der liebenswerteste Mensch, den ich kannte. Sie konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum wurde sie ermordet, und wer war das?“

„Das wüssten wir auch gerne, Herr Meier“, sagte Silvia.

„Und nicht nur das, wir würden auch gerne ihren vollen Namen erfahren. Wie hieß sie denn mit Nachnamen?“

Die Antwort war ein Schulterzucken. „Keine Ahnung. Alle haben sie immer nur die grüne Gertrud genannt.“

„Kannten Sie die Gertrud denn schon lange, Herr Meier?“, wollte Söhlbach, der genau wie Nowack bisher geschwiegen hatte, von ihm wissen.

„Ja“, antwortete der Mann auf der Bank. „Ich kannte sie schon seit vielen Jahren. Ich hatte sie damals hier in Homberg im Übergangsheim an der Königstraße kennengelernt. Gertrud und ich hatten uns für einige Zeit aus den Augen verloren, aber seit dem letzten Jahr haben wir uns wieder regelmäßig getroffen. Ich kann gar nicht glauben, dass sie tot ist.“

„Hatte sie, außer Ihnen, noch andere Bekannte, mit denen sie regelmäßig zusammen war?“

„Ja, sie hatte sich auch mit anderen aus der Szene getroffen.“

„Können Sie uns sagen, mit wem sie sich getroffen hatte?“, fragte Söhlbach. „Verraten Sie uns, wie diese Leute heißen, damit wir sie auch befragen können?“

Meier schüttelte den Kopf.

„Nein, das kann ich nicht. Ich kenne diese Penner nicht und will auch nichts mit ihnen zu tun haben. Ich weiß nicht einmal, wo sie sich herumtreiben.“

Sven hob verwundert seine Augenbrauen.

„Gibt es einen Grund dafür, dass Sie mit den anderen nichts zu tun haben wollen?“

„Ja. Sie glauben nicht, wie oft diese Penner mich schon bestohlen haben. Bekannte, die einen beklauen, brauche ich nicht.“

Er schaute Söhlbach fragend an. „Wo hat man Gertrud denn umgebracht?“, wollte er wissen.

„Man hat sie in Binsheim tot aufgefunden.“

„Binsheim, Binsheim“, murmelte Meier. „Gehört habe ich das schon mal, aber ich weiß nicht genau, wo das ist. Helfen Sie mir mal auf die Sprünge.“

„Der Ort liegt oben im Norden, kurz vor Orsoy.“

„Ach ja, ich glaube, das kenne ich.“

„Nun ergriff Nowack das Wort: „Herr Meier, können Sie uns sagen, wann genau Sie Gertrud das letzte Mal gesehen haben?“

„Das war vor vier Tagen, nachmittags, aber die genaue Uhrzeit weiß ich nicht. Als wir uns nach unserem Treffen voneinander verabschiedet hatten, hatten wir uns direkt wieder für den nächsten Tag verabredet. Gertrud war bei jeder Verabredung immer pünktlich und man konnte sich auf sie verlassen. Als sie zu unserer Verabredung nicht gekommen war, wusste ich sofort, dass ihr etwas passiert sein musste.“

„Wissen Sie“, fragte Tibo weiter, „wohin Gertrud gegangen war, nachdem Sie sich voneinander verabschiedet hatten?“

„Nein, ich wusste noch nicht einmal, wo sie immer übernachtet hatte.“

„Ich dachte, Sie kannten sie gut?“

„Na, so gut kannte ich sie ja auch nicht.“

„Sagen Sie, Herr Meier“, übernahm nun wieder Silvia die Befragung des Mannes, „wo haben Sie Gertrud denn das letzte Mal gesehen?“

„Das war gar nicht weit von hier, in der Nähe von Aldi. Da gibt es eine Stelle, an der man sich unauffällig in die Büsche schlagen kann. Da ist man ganz ungestört.“

Die Kommissarin machte große Augen.

„Und was haben Sie dort gemacht, wenn ich fragen darf?“

„Das, was wir regelmäßig dort gemacht hatten. Die Gertrud hatte mir einen geblasen. Sie bläst, wie der Teufel, aber an dem Tag hatte ich keinen hoch gekriegt, weil ich zu besoffen war. Deshalb hatten wir uns auch für den nächsten Tag verabredet.“

Nach dieser Aussage fehlten Silvia für einen Augenblick die Worte. Sie warf ihren beiden Kollegen ungläubige Blicke zu.

Dem Mann auf der Bank war die Reaktion der Kommissarin nicht entgangen.

„Sie brauchen nicht so merkwürdig zu gucken“, sagte Meier. „Menschen wie wir haben auch Gefühle und Bedürfnisse. Das, was Sie zuhause im Bett machen, machen wir in den Büschen.“

Muisfeld schluckte.

„So genau wollte ich das gar nicht wissen, Herr Meier. Also, ich fasse das noch einmal zusammen. Sie wissen nicht, wie Gertrud mit vollem Namen heißt, Sie wissen nicht, wie deren Bekannte heißen, und Sie wissen nicht, wo Gertrud übernachtet hat. Wenn Gertrud mit Ihnen zusammen war, dann haben Sie sich doch bestimmt auch mal unterhalten. Hatte sie Ihnen überhaupt nichts von ihrem Leben erzählt?“

„Nein, wenn wir zusammen waren, dann nur in den Büschen und da haben wir nicht geredet, sondern etwas anderes gemacht.“ Meier grinste. „Außerdem konnte sie dann nicht reden, weil sie den Mund voll hatte. Sie hatte es im Übrigen auch nicht umsonst gemacht. Ich musste ihr jedes Mal ein paar Fläschchen Schnaps dafür geben. Sie brauchen mich jetzt auch nicht fragen, woher ich den Schnaps hatte, denn woher ich meine Getränke beziehe, ist meine Sache. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich werde die grüne Gertrud, dieses liebenswerteste Miststück, vermissen.“

Nowack schmunzelte.

Dann sagte er: „Herr Meier, verraten Sie uns doch bitte, wo sie gestern am späten Nachmittag, beziehungsweise abends waren.“

„Wie? Wo ich war? Jetzt hören Sie mal. Sie denken doch wohl nicht, dass ich die Gertrud getötet habe, oder?“

„Nein, das denke ich nicht, aber wir ermitteln in einem Mordfall, und deshalb muss ich Sie befragen.“

„Ich kann Ihnen sagen, wo ich war“, sagte Meier. „Ich war genau hier, wo ich jetzt auch bin.“

„Gibt es Zeugen, die Sie hier gesehen haben?“, wollte Tibo von ihm wissen.

„Zeugen? Ja, es gibt Zeugen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie heißen, denn die Leute, die hier vorbeikommen und den armen Obdachlosen auf der Bank mitleidvoll oder naserümpfend betrachten, kenne ich nicht näher.“

Nowack atmete tief durch.

„Nun, sagte er, dann haben wir erst mal keine weiteren Fragen.“

Er reichte dem Mann auf der Bank seine Karte.

„Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, dann setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung, Herr Meier.“

Der Angesprochene lachte kurz auf.

„Ihre Karte können Sie behalten“, sagte er. „Ich kann mich mit niemanden in Verbindung setzen, weil mein Telefon kaputt ist.“ Er griff in seine Tasche und zog ein betagt anmutendes Handy heraus. „Das Ding funktioniert schon lange nicht mehr. Ab und zu darf ich es in einem Geschäft aufladen. Dann kann ich immerhin noch damit fotografieren, aber anrufen, nee, das kann ich nicht mehr.“

„Na gut“, meinte Tibo, „dann bitte ich Sie darum, den Kollegen von der Homberger Wache Bescheid zu geben, falls Ihnen noch etwas einfällt. Die Karte können Sie dann den Kollegen zeigen, damit sie wissen, wen sie anrufen sollen.“ Meier nickte.

Die drei Ermittler verabschiedeten sich von dem Mann und wandten sich ab, um zu gehen.

„Warten Sie bitte noch einen Augenblick“, hörten sie Meier sagen. „Ich würde noch gerne etwas von Ihnen wissen.“

Sie drehten sich wieder um und blickten ihn fragend an.

„Was möchten Sie denn wissen?“, fragte Muisfeld ihn.

„Sie haben gesagt, dass die Gertrud ermordet wurde. Ich würde gerne wissen, wie sie ermordet wurde. Hat man sie erwürgt?“

„Wie kommen Sie darauf, dass sie erwürgt wurde?“, wollte Silvia von ihm wissen.

Meier zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin. Ich habe mir das halt so vorgestellt. Wurde sie denn erwürgt?“

„Nein, sie wurde wahrscheinlich erschlagen. Näheres wird aber erst die Obduktion ergeben.“

Der armselig gekleidete Mann auf der Bank blickte für einen Moment teilnahmslos in die Ferne.

Dann sagte er: „Ich hätte noch eine Frage. Hätten Sie vielleicht ein paar Euro für mich?“

Während Sven und Silvia lächelnd mit den Köpfen schüttelten, zückte Tibo seine Geldbörse aus der Tasche, nahm einen Fünfeuroschein heraus und überreichte ihn Meier.

„Für ein paar belegte Brötchen reicht das“, meinte Nowack.

„Danke“, sagte Meier. „Das ist sehr lieb von Ihnen.“

Dann machten sich die drei Ermittler wieder auf den Weg zu ihrem Auto.

* * *

Das Warten auf den Feierabend

„Es ist schon zwölf Uhr“, sagte Nowack und blickte zu seinem Kollegen Söhlbach, der am Schreibtisch nebenan saß. „Warum gehst du denn nicht nachhause, Sven? Eigentlich hast du ja Urlaub.“

Söhlbach schüttelte den Kopf und meinte: „Eigentlich hätten wir heute alle frei und sitzen jetzt wartend hier herum. Außerdem habe ich schon alles für meinen Urlaub eingepackt. Ich brauche mich morgen Früh nur noch in mein Auto zu setzen und loszufahren. Ich bin genauso neugierig auf den Obduktionsbericht und auf die Erkenntnisse der Spusi wie ihr. Es kann ja nicht mehr allzu lange dauern.“

„An deiner Stelle wäre ich auch schon längst weg, Sven“, sagte Muisfeld, die das Büro im Duisburger Polizeipräsidium mit ihren beiden Kollegen teilte. „Warum fährst du nicht zu deiner geliebten Nina, um mit ihr zu besprechen, was ihr zwei alles im Urlaub machen wollt.“