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Ein mutmaßlicher Serienmörder stellt Kommissarin Silvia Muisfeld und ihre Kollegen Sven Söhlbach und Tibo Nowack vor eine schwere Aufgabe. Der Täter tötet seine Opfer oben auf dem Kaiserberg vor der großen Felswand. Hinter dieser steinernen Wand befindet sich auch heute noch eine fast vergessene Tropfsteinhöhle. Niemand ahnt, dass diese verborgene Grotte ein dunkles Geheimnis in sich trägt und dass die Morde ein Racheakt für eine lange zurückliegende Geschichte sind. Als die Ermittler herausfinden, welche Personen noch auf der Todesliste des Mörders stehen, ist es zu spät, denn der Täter hat sein nächstens Opfer bereits zur Hinrichtung geführt. -Das dunkle Vermächtnis des Kaiserbergs- ist ein rasanter Thriller, eine spannungsgeladene Geschichte, die den Leser von Anfang bis zum Ende in Atem hält.
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Seitenzahl: 331
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Als Autor kann Dieter Ebels bereits auf mehr als 30 Buchveröffentlichungen in den verschiedensten Genres zurückblicken. Er beschäftigt sich auch intensiv mit der Historie seiner Heimatstadt Duisburg. So verfasste er bereits viele Werke über die Stadtgeschichte. Duisburger Geschichten und Legenden findet man genauso in seinen literarischen Arbeiten wieder, wie Rückblicke auf die reale Vergangenheit und Ausflüge in die Gegenwart der Stadt. Dieses Wissen über oft vergessene Geschichten und verborgene Orte aus der Vergangenheit, sowie die genauen Kenntnisse über örtliche Lokalitäten lässt Ebels auch in seinen Duisburg-Krimis einfließen. Alle Örtlichkeiten des jeweiligen Geschehens gibt es auch in der Realität und sind dem Leser meist sehr vertraut. Der Autor überrascht in seinen Krimis aber auch mit realen Orten, von denen kaum noch jemand Kenntnis hat. So baute er sein Wissen über das weit verzweigte Tunnelsystem unter dem Hauptbahnhof und über die fast vergessene, aber immer noch existierende Tropfsteinhöhle auf dem Kaiserberg, genauso in seine Krimis ein, wie die alte Thingstätte im Mattlerbusch. Doch nicht nur die mit viel Lokalkolorit versehenen Handlungen machen die Geschichten lesenswert, auch das Ermittlerteam wird den Lesern sehr schnell vertraut. In den ersten Krimis ermitteln die Kommissarin Silvia Muisfeld und ihr Kollege Sven Söhlbach noch zu zweit. Bald schon stößt Kommissar Tibo Nowack zu dem Team, und sie gehen zu dritt auf Täterjagd. Das Ermittlertrio mit all seinen Ecken und Kanten wächst dem Leser sehr schnell ans Herz. Jeder einzelne dieser fesselnd geschriebenen Krimis ist spannungsgeladen und ein absoluter Thriller.
Auch wenn jedes Buch eine abgeschlossene Geschichte beinhaltet, um die Entwicklungsgeschichte des Ermittlerteams noch besser verstehen zu können, empfiehlt es sich, die Krimis in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen.
Die Buchtitel der Duisburg-Krimis in chronologischer Reihenfolge:
1.) Ruhrmord
2.) Thingstätte
3.) Die Toten vom Wambachsee
4.) Dionysius
5.) Mord am Magic Mountain
6.) Der Brunnenmörder
7.) Das dunkle Vermächtnis des Kaiserbergs
Ich wünsche allen Krimi-Fans viel Spaß und Spannung beim Lesen.
Barbara Schmitz, Lektorin
Textbeginn
Ein Monat später
Der nächste Morgen
Eine Stunde später
Der nächste Tag.
2 Stunden später
18.15 Uhr
„Ist es noch weit, Tina?“, fragte Steffanie Kunze ihre Begleiterin, während die beiden Frauen in den Mitternachtsstunden den Kaiserberg emporstiegen.
„Nein Steffi, wir haben es gleich geschafft“, antwortete Tina und leuchtete mit ihrem Handy den Weg durch die Dunkelheit vor ihnen aus.
Steffanie Kunze hatte nach einem Schlaganfall eine leichte, halbseitige Lähmung davongetragen, und deshalb fiel es ihr schwer, den Anstieg zu bewältigen. Ihre rechte Körperhälfte gehörte ihr nicht mehr so, wie sie es gerne hätte.
Tina hatte ihr ihre Hilfe beim Laufen angeboten, aber sie war fest dazu entschlossen, den Weg alleine zu schaffen.
Sie blieb einen Moment stehen.
„Ich muss kurz verschnaufen, Tina“, sagte sie und schaute in die nächtliche Finsternis. „Und du meinst wirklich, dass es funktioniert?“
„Ich meine es nicht, ich weiß es, Steffi. Es hat mir geholfen und es hat auch dem Mann einer Cousine von mir geholfen. Es war wie ein Wunder, denn nach dieser Zeremonie waren bei uns die halbseitigen Lähmungen verschwunden. Wenn wir nachher den Berg wieder hinuntergehen, wirst du befreit sein.“
„Du weißt, Tina, eigentlich glaube ich ja nicht an so einen Hokuspokus, aber ich vertraue dir. In meiner Situation greift man nach jedem kleinen Strohhalm.“
„Ich hatte vorher auch nicht an Wunder geglaubt, Steffi, doch dann habe ich es selbst erlebt.“
Die beiden Frauen gingen weiter.
Der Weg führte sie durch die Dunkelheit, links an dem großen Teich am Schülkeplatz vorbei. Dann bogen sie nach rechts auf den Weg ab, der zwischen dem Teich und einer steil aufragenden Felswand verlief.
„Wir sind da, Steffi.“
Tina leuchtete auf die Felswand.
„Gleich wir dein Leiden vorbei sein, Steffi. Lehne dich mit dem Rücken an die Wand und lege deine Handflächen hinter den Rücken auf den Fels.“
Auch wenn Steffanie Kunze noch immer Zweifel hegte, sie befolgte die Anweisungen ihrer Begleiterin.
„Und nun, Steffi, atme tief durch und schließe die Augen.
Du darfst sie erst wieder öffnen, wenn ich es dir sage.“
Steffanie folgte auch dieser Ansage.
Weil sie die Augen geschlossen hatte, konnte sie nicht sehen, dass Tina ein langes Messer zückte, welches sie bisher unter ihrer Jacke verborgen hatte.
Sie holte mit dem Messer aus und rammte es mit aller Kraft von unten in Steffis Bauch.
Steffanie spürte den stechenden Schmerz, der sie plötzlich durchfuhr und riss die Augen auf. Sie wusste nicht, was geschah und konnte nicht reagieren, als das Messer blitzschnell ein zweites und drittes Mal mit großer Wucht in ihren Körper eindrang.
Dann sackte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie und schaute ihre Begleiterin ungläubig an.
Ein bösartiges Lächeln huschte über Tinas Lippen.
„Du bist die Erste, Steffi“, sagte sie, und in ihrer Stimme klang Genugtuung. „An diesem Ort ist die Schande geschehen und an diesem Ort wird sie gesühnt. Erbsünde ist ein schweres Vergehen, und für diese Sünde wirst du jetzt büßen. Du wirst die Erbsünde mit deinem Leben bezahlen, weil sie sonst für alle Ewigkeit auf dir lasten würde. Ich werde deine komplette Blutlinie auslöschen. Du bist die Erste, und es werden noch sechs weitere folgen.
Erst dann ist es vollbracht.“
Steffanies Sinne schwanden.
Sie nahm aber noch wahr, dass ihre Begleiterin ein weiteres Mal ausholte und ihr das Messer mit Brachialgewalt von unten in den oberen Bauchbereich, direkt unter die Rippen, stieß.
Das war das Letzte, was Steffanie Kunze noch schwach wahrnehmen konnte, denn der dieser finale Stich beendete ihr Leben.
* * *
Silvia Muisfeld saß an ihrem Schreibtisch im Polizeipräsidium und wirkte unzufrieden.
Die 35jährige Kriminalkommissarin schob sich nachdenklich eine Strähne ihrer schulterlangen, rotbraunen Haare hinter das Ohr. Dann schaute sie abwechselnd zu den beiden Männern hinüber, die mit ihr das Büro teilten.
Am Arbeitsplatz, links von ihr, saß ihr langjähriger Kollege Sven Söhlbach, ein schlaksiger Typ mit einem Gardemaß von 1,87 Meter. Sven, den viele Kollegen mit Bruce Willis verglichen, weil er sich die wenigen verbliebenen Haare abrasiert hatte und nun eine Glatze trug, war drei Jahre älter als sie.
Der Schreibtisch rechts von Silvia gehörte Tibo Nowack.
Sein richtiger Vorname war Tiberius, doch so wollte er nie genannt werden. Auch wenn Tibo schon erfolgreich einige Fälle gemeinsam mit Silvia und Sven gelöst hatte, gehörte er noch nicht lange zum Ermittlerteam. Er war erst vor einiger Zeit aus Hamburg nach Duisburg gezogen, um hier seinen Dienst anzutreten. Der 29jährige Nowack, ein sehr gepflegter und gut aussehender Mann, hatte sich von Anfang an als schwul geoutet und allen ganz offen erzählt, dass er HIV-positiv sei. Diese Offenheit war bei den Kollegen sehr gut angekommen, obwohl einige Kolleginnen traurig darüber waren, dass so ein Sahneschnittchen von einem Mann, dessen strahlend blaue Augen manche Frauenherzen höher schlagen ließen, nur dem eigenem Geschlecht zugetan war.
Beim Blick auf ihre beiden Kollegen stellte Muisfeld fest, dass sie genauso missgestimmt dreinblickten wie sie.
Die Stimmung im Raum war nicht die beste, weil vor wenigen Minuten der Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte, namens Metzger-Ibbenburg, laut seine Unzufriedenheit kundgetan hatte. Er hatte mürrisch herumgemault, weil Silvia und ihre beiden männlichen Mitstreiter in dem Mordfall am Kaiserberg, der jetzt einen Monat zurück lag, bei den Ermittlungen noch keinen Schritt weitergekommen waren. Genauso aufgebracht, wie Metzger-Ibbenburg das Büro betreten hatte, hatte er es auch wieder verlassen.
Vor genau 30 Tagen hatten Spaziergänger am Schülkeplatz auf dem Kaiserberg ein weibliches Mordopfer entdeckt. Die durch vier Messerstiche im Bauchbereich getötete Frau hatte am Rand des oberen Teiches, direkt vor der dahinter aufragenden Felswand, gelegen. Der oder die Täter hatten keinerlei Spuren hinterlassen.
Vom Tatwerkzeug, laut KTU vermutlich ein Messer mit einer etwa 23 cm langen, beidseitig geschliffenen Klinge, hatte ebenfalls jede Spur gefehlt.
„Dass der Chef am frühen Morgen schon dermaßen rummeckern muss“, murmelte Silvia.
Sie dachte daran, dass die Identität des Mordopfers anhand von Ausweispapieren, die die Tote bei sich getragen hatte, schnell festgestellt worden war. Es handelte sich um eine 48jährige Frau, namens Steffanie Kunze. Sie war in einem der bis zu 15 Etagen hohen Häuserblöcke in der Wohnanlage Hagenshof im Stadtteil Meiderich zuhause. Um mehr über die Frau zu erfahren, hatten die Polizeibeamten sämtliche Nachbarn befragt.
Das Ergebnis dieser Befragung war ernüchternd. Nicht nur, dass Frau Kunze mit niemandem Kontakt hatte, die meisten Hausbewohner hatten sie noch nie gesehen, obwohl sie bereit seit fünf Jahren dort gelebt hatte.
Lediglich eine Nachbarin, die in der gleichen Etage wohnte, hatte durch ihren Türspion beobachtet, dass Frau Kunze regelmäßig Besuch von zwei unbekannten Frauen hatte. Die Nachbarin hatte diese Frauen aber nur vage beschreiben können. So hatte sie ausgesagt, dass sie die Haarfarbe einer der Frauen nicht erkennen konnte, weil diese immer eine dunkle Kappe auf dem Kopf trug. Die andere Frau hingegen war blond. Laut der Nachbarin kamen diese Frauen aber nie zu zweit, sondern immer alleine. Die Nachbarin hatte vom Fenster aus gesehen, dass eine dieser Frauen, es war die blonde, in einen roten Kleinwagen gestiegen war. Dieses Auto hatte, ihrer Aussage, nach regelmäßig vor dem Haus gestanden. Als die Nachbarin nach der Automarke gefragt worden war, hatte sie nur gemeint, dass sie sich mit Autos nicht auskenne und dass es für sie nur ein kleines, rotes Auto war.
Aus Unterlagen, die man in der Wohnung des Mordopfers gefunden hatte, ging hervor, dass Frau Kunze seit mehr als 20 Jahren eine Berufsunfähigkeitsrente bezogen hatte.
Ein Schlaganfall hatte sie psychisch und physisch aus dem Arbeitsleben gerissen. Das Kaufhaus, in dem Frau Kunze damals gearbeitet hatte, gab es schon lange nicht mehr und es gab auch keine ehemaligen Kollegen, die etwas über sie hätten berichten können.
Da die Ermittler nichts über die weiteren Lebensumstände des Mordopfers herausfinden konnten, hatten sie sogar in der Hoffnung, dass jemand etwas über das Umfeld der Frau wusste, ein Foto und den Namen der Toten in der Presse veröffentlicht.
Auf diesem Pressebericht hin hatte sich eine Sabrina Schumann gemeldet und angegeben, dass es sich bei der Ermordeten um ihre Schwester handele. Frau Schumann war der Kripo aber auch keine Hilfe, denn sie hatte ausgesagt, dass sie ihre Schwester seit 25 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nach einem Streit hatten die Geschwister damals kein Wort mehr miteinander gewechselt und sich schließlich aus den Augen verloren.
„Wir haben doch nichts übersehen“, sagte Kommissar Söhlbach und riss Muisfeld aus ihren Gedanken.
„Nein“, meinte Silvia. „Wir haben alles zehnmal durchgekaut.“
„Und das weiß auch der Chef“, sagte Nowack. „Ich verstehe nicht, warum er sich so aufregt.“
„Er meint es nicht so“, gab Silvia ihm zu verstehen. „Du darfst das nicht so eng sehen, Tibo.“
In diesem Moment betrat erneut der Kommissariatsleiter den Raum.
„Wenn man vom Teufel spricht“, murmelte Nowack ganz leise.
Metzger-Ibbenburg schloss die Tür hinter sich, atmete tief durch und blickte die drei Ermittler unschlüssig an.
„Also“, sagte er schließlich. „Es tut mir leid, dass ich gerade nicht den richtigen Ton getroffen habe. Ich weiß ja, dass Sie sich die allergrößte Mühe geben, und ich weiß auch, dass, wenn überhaupt jemand in diesem Fall weiterkommen kann, Sie es sind.“
Muisfeld lächelte.
„Sein Sie ehrlich, Chef“, sagte sie. „Die Presseleute stellen Fragen, die Sie nicht beantworten können, und das macht Sie nervös, oder?“ Metzger-Ibbenburg nickte.
„Es würde Sie auch nervös machen“, antwortete er.
„Jeden Morgen, wenn ich in mein Büro komme, klingelt schon das Telefon. Immer die gleichen Fragen und immer die gleichen, negativen Antworten.“
Er kratzte sich mit der Hand am Kopf.
„Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich im Moment auch privat etwas überfordert bin. Meine beiden Nichten Lea und Maria haben doch bald Geburtstag. Sie werden vierzehn. Ich bereite für die zwei eine große Überraschung vor und das beschäftigt mich total. Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Überraschung gelingen wird.“
„Darf man fragen, was das für eine Überraschung sein wird?“, wollte Söhlbach wissen.
Der Chef wog den Kopf hin und her.
„Allzu viel kann ich dazu nicht sagen, denn ich bewege mich da auf einem Terrain, von dem ich überhaupt keine Ahnung habe. Wissen Sie, die beiden Mädels lieben K-Pop, und da gibt es eine ganz neue Gruppe, von der Maria und Lea Fans sind.“
Sven machte große Augen.
„Was ist denn K-Pop?“, fragte er.
Metzger-Ibbenburg schmunzelte.
„Da bin ich ja froh“, meinte er, „dass ich nicht der Einzige bin, der von dieser Materie keinen Ahnung hatte. Ich habe mich aber von meinen Nichten aufklären lassen. Die Bezeichnung K-Pop ist aus dem Englischen abgeleitet und bedeutet Korean Popular Music oder kurz Korea Pop. Es gibt mittlerweile einige Musikgruppen aus Südkorea, die weltweit Erfolge feiern. Meine Nichten lieben diese Musik und sind, wie gesagt, Fans einer Gruppe, die es erst seit kurzem gibt. Die Gruppe besteht aus sechs Leuten, die singen und tanzen. Sie nennen sich Weikaybies, das wird YKBs geschrieben. Das ist die Abkürzung von Yong Korean Boys. Eine Bekannte von mir hat sehr gute Beziehungen. Sie hat dafür gesorgt, dass ich zwei handsignierte Musik-Alben dieser Gruppe bekomme. Vielleicht kann meine Bekannte durch ihre Beziehungen noch für eine weitere Überraschung sorgen, aber das steht noch nicht fest. Lea und Maria werden staunen, wenn sie das Geschenk ihres Onkels bekommen. Genau deswegen werde ich mich jetzt auch bei Ihnen verabschieden. Ich habe nämlich über mein Handy Bescheid bekommen, dass das Päckchen mit dem Musik-Album abholbereit in einer Packstation liegt, weil ich nicht zuhause war, als der Zusteller kam. Ich fahre jetzt dorthin und hole das Päckchen ab. Sollte jemand nach mir fragen, dann sagen Sie, dass ich dienstlich unterwegs bin. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.“
„Klar, Chef“, sagte Silvia. „Das wissen Sie doch.“
„Ich habe auch noch ein paar andere Dinge zu erledigen“, erklärte der Kommissariatsleiter. „Deshalb werde ich erst heute Mittag wieder zurück sein. Nichts für ungut.“
Dann verließ Metzger-Ibbenburg den Raum.
„Der Chef liebt seine beiden Nichten“, sagte Silvia, nachdem ihr Vorgesetzter das Büro verlassen hatte.
„Hat der Chef noch mehr Nichten oder Neffen?“, wollte Nowack wissen.
„Nein, Tibo, nur die zwei.“
„Was für ein Zufall“, meinte Tibo, „dass die beiden zur gleichen Zeit ihren 14ten Geburtstag feiern.“
„Das ist kein Zufall“, sagte Sven. „Lea und Maria sind Zwillinge.“
„Ach so“, äußerte Nowack sich. „Ich kann ja nicht alles wissen. Der Chef hat mir ja noch nichts über sein privates Umfeld erzählt. Ich hoffe, das wird sich mit der Zeit ändern.“
Silvia lachte.
„Wenn du neugierig auf das private Umfeld des Chefs bist, Tibo, dann kann ich dich ja mal grob darüber aufklären.
Der Chef ist verheiratet mit einer Frau von Ibbenburg. Vor seiner Eheschließung hieß er schlicht und einfach Metzger, hat aber bei der Heirat einen Doppelnamen angenommen. Da der Name Metzger von Ibbenburg irgendwie komisch klang, wurde das Wort `von´ einfach weggelassen. Der Chef wäre auch gerne Vater geworden, aber aus irgendeinem Grund konnten die zwei keine Kinder bekommen. Ich denke, das wird auch der Grund dafür sein, dass der Chef auf die Zwillinge seines jüngeren Bruders Hannes und dessen Frau Isabell besonders stolz ist.“
Nowack machte große Augen.
„Und das hat der Chef euch alles einfach so erzählt?“, fragte er.
Söhlbach nickte.
„Ja, aber nicht auf einmal. Diese Infos kristallisierten sich nach und nach bei Gesprächen heraus. Themenwechsel“, sagte Sven und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, „bevor ich vergesse, es euch zu sagen. Ich habe heute Abend ein Date.“
„Ein Date?“, fragte Silvia. „Interessant. Kennen wir die Glückliche?“
„Nein, ihr kennt sie nicht.“
„Wie heißt sie denn?“, wollte Silvia wissen.
„Svenja.“
„Sven und Svenja“, sagte Tibo und lachte. „Das passt ja.“
„Und woher kennst du sie“, fragte Muisfeld neugierig.
„Willst du mich jetzt ausfragen? Ich komme mir ja schon wie in einer Vernehmung vor.“
„Das ist eine Vernehmung. Ich muss schließlich wissen, mit wem sich mein Lieblingskollege herumtreibt.“ Sie blickte kurz zu Nowack. „Entschuldige, Tibo, du bist ja auch mein Lieblingskollege. Also, ich muss wissen, mit wem sich einer meiner beiden Lieblingskollegen herumtreibt.“
Sven lachte.
„Also“, sagte er. „Ich kenne Svenja schon seit einigen Monaten. Allerdings lief diese Bekanntschaft anfangs nur über ein Internetportal. Vor einem Monat haben wir uns das erste Mal in einem Café getroffen und letzte Woche ein zweites Mal. Wir haben viel miteinander gelacht und verstehen uns sehr gut. Ihr wisst ja beide, dass ich, was Beziehungen angeht, ein sehr vorsichtiger Mensch bin.
Bei Svenja hatte ich von Anfang an ein sehr gutes Gefühl.
Zwischen uns stimmt die Chemie einfach. Heute Abend werden wir uns das erste Mal mehr Zeit für einander nehmen und zusammen essen gehen. Mal sehen, wie der Abend verläuft. Ich habe, wie gesagt, ein gutes Gefühl und freue mich schon darauf.“
„Was macht deine Svenja denn beruflich?“, fragte Muisfeld.
„Sie ist Frisörin und hat einen eigenen kleinen Salon.“
„Soso“, sagte Silvia. „Sie hat einen Salon.“
Dabei schaute sie ihren Kollegen forschend an.
„So ist es“, bestätigte Sven. „Ich war sogar schon dort und habe mir den Salon angeguckt. Svenja hat sogar vier Angestellte, drei weibliche und einen männlichen. Er heißt Hape und ist schwul.“ Söhlbach warf Nowack einen Blick zu. „Hape ist sehr nett, Tibo. Vielleicht wäre er etwas für dich?“ Nowack lachte.
„Nein danke, Sven. Ich bin vergeben.“
Natürlich wusste Sven, dass Tibo seit einiger Zeit einen festen Partner, namens Matteo, hatte.
„Wie alt ist deine Svenja denn?“, wollte Silvia wissen.
„Fünf Jahre jünger als ich.“
„Hast du ihr erzählt, was du beruflich machst?“
Söhlbach blickte seine Kollegin an und grinste.
„Liebste Silvia“, sagte er, „wenn ich mich heute mit Svenja treffe, werde ich das Diktiergerät auf den Tisch legen und das Gespräch aufzeichnen. Dann kannst du dir morgen die Aufzeichnung anhören und musst mich nicht mehr ausfragen.“
Nowack lachte kurz auf.
Muisfeld verzog den Mund und meinte: „Liebster Sven, damit hast du mir meine letzte Frage noch nicht beantwortet.“
„Also gut“, antwortete Söhbach und schüttelte dabei leicht den Kopf. „Ich habe ihr erzählt, dass ich bei der Polizei bin. Daraufhin hat Svenja mich sofort gefragt, ob ich mit einem Polizeiauto durch die Gegend fahre. Ich habe ihr gesagt, dass ich keinen Streifenwagen fahre, sondern überwiegend im Innendienst tätig bin. Mehr habe ich ihr noch nicht erzählt.“
„Und mit dieser Auskunft war sie zufrieden?“, wunderte Silvia sich. „Frauen sind doch eigentlich immer sehr neugierig und wollen alles ganz genau wissen.“
„Svenja ist eben anders als die meisten Frauen.“
„Und warum ist sie anders?“, hakte Muisfeld nach.
„Weil…, man, Silvia! Jetzt reicht es aber mit deiner Ausfragerei! Warum willst du das so genau wissen?“
„Weil ich so bin, wie die meisten Frauen. Ich bin nämlich neugierig.“
Söhlbach lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand über seine Glatze.
„Weißt du was, Silvia? Ich mache jetzt von meinem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern.“
Nowack saß grinsend an seinem Schreibtisch und meinte:
„Also ehrlich, Sven, du solltest schon etwas kooperativer sein, wenn unsere Lieblingskollegin dich um ein paar Auskünfte bittet.“
Söhlbach sah ihn mit großen Augen an.
„Und du, Tibo, hältst mal wieder zu ihr. Schön zu hören!“
„Aber nur, weil ich ebenfalls neugierig bin. Zunächst verkündest du voller Stolz, dass du heute ein Date hast und dass dein Date Svenja heißt, und wenn wir mehr über diese Svenja wissen wollen, blockst du ab.“
„Ich blocke nicht ab. Ihr wisst, dass ich ihr von meinem Beruf erzählt habe, wisst, was sie beruflich macht und wisst, wie alt sie ist. Was wollt ihr denn noch alles wissen?“
„Ich würde gerne wissen“, sagte Silvia, „wie sie aussieht.
Hast du kein Foto von ihr?“
Sven atmete tief durch.
Dann nahm er sein Handy und tippte darauf herum.
„Natürlich habe ich ein Bild von ihr.“
Er schaute lächelnd auf das Display und meinte: „Sie ist sehr hübsch.“
Sein Blick auf das Handy wirkte fast verträumt.
Nachdem er erneut tief durchgeatmet hatte, sah er abwechselnd zu Silvia und Tibo hinüber.
„Wenn ihr zwei sie sehen wollt, müsst ihr schon zu mir kommen“, forderte er die beiden auf.
Muisfeld und Nowack erhoben sich gleichzeitig und traten an den Schreibtisch ihres Kollegen heran.
Söhlbach übereichte ihnen sein Mobiltelefon.
Tibo war der erste, der einen Kommentar zu dem Foto abgab: „Sie sieht wirklich gut aus, Sven, sehr gut. Auf dem Bild wirkt sie sogar zehn Jahre jünger als du.“
Silvia betrachtete das Foto etwas länger.
Dann meinte sie: „Ganz nett, aber meinst du nicht, dass sie etwas aufgetakelt wirkt?“
Sven schaute seine Kollegin ungehalten an.
„Höre ich da etwa Neid heraus, Silvia? Svenja ist auf diesem Bild nahezu ungeschminkt. Sie ist, wie du natürlich auch, liebste Kollegin, eine Naturschönheit.“
„Jetzt schleim´ mal nicht so herum, Sven“, entgegnete sie.
Nowack, der die Unterhaltung schmunzelnd verfolgte, wollte gerade etwas sagen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.
Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
Das, was er von dem Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung zu hören bekam, ließ seine Augen immer größer werden.
„Das gibt´s doch nicht“, sagte er. „Wir kommen sofort.“
Er legte auf und blickte Sven und Silvia an.
„Ihr werdet es nicht glauben. Soeben wurde auf dem Kaiserberg an der gleichen Stelle, an der die tote Frau Kunze lag, ein weiterer Toter gefunden, vermutlich ebenfalls ermordet.“
* * *
Als Kommissarin Muisfeld, zusammen mit ihren beiden Kollegen, den Tatort erreichte, war rundherum bereits alles mit polizeilichen Flatterbändern abgesperrt worden.
Überall liefen die weiß gekleideten Mitarbeiter der Spurensicherung herum, um das Umfeld nach Beweismitteln, die zur Aufklärung der Tat nützlich sein könnten, abzusuchen.
Als Ralf Meier, der Leiter der Spurensicherung, die drei sah, winkte er ihnen zu.
„Ich glaube“, sagte er laut, „ich habe ein Deja vu, nur dass das Opfer dieses Mal männlich ist.“
Nowack, Söhlbach und Muisfeld traten an den Toten, der sich fast an derselben Stelle wie das Mordopfer vor einem Monat befand, heran.
Der getötete Mann, der mit dem Oberkörper gegen die Felswand gelehnt, vor ihnen lag, war etwa 50 Jahre alt.
Seine Kleidung war im Bauchbereich blutdurchtränkt. Es war, als könne man im Gesichtsausdruck des Toten noch den Schmerz ablesen, den er unmittelbar vor seinem Tod hatte erleiden müssen.
„“Meiner Meinung nach“, sagte Meier. „war das derselbe Täter, der vor einem Monat an gleicher Stelle diese Frau getötet hatte.“
Er deutete auf die blutgetränkte Kleidung des Mordopfers.
„Der Mann wurde durch vier Stiche mit einem sehr scharfen Gegenstand, vermutlich einem langen Messer, getötet. Mich würde nicht wundern, wenn es die exakt gleiche Tatwaffe war, wie beim letzten Opfer.“
„Habt ihr schon irgendwelche brauchbaren Spuren entdeckt, Ralf?“, wollte Söhlbach wissen.
„Nein, bisher nicht, und ich denke, wenn es sich um denselben Täter handelt, dann werden wir auch, genau wie beim letzten Mord, keinerlei Spuren finden.“
„Gibt es denn schon Hinweise auf die Identität des Opfers?“, fragte Silvia und betrachtete den toten Mann.
Noch bevor Meier sich äußern konnte, wurde Silvia mit einem Schlag blass. Sie verzog das Gesicht, wandte sich um und hastete mit schnellen Schritten davon.
„Seit wann ist sie denn so empfindlich?“, wunderte sich Ralf Meier und strich sich mit der Hand über seine hellblonden Haare. „Sie hat doch schon wesentlich schlimmer zugerichtete Mordopfer gesehen.“
Söhlbach eilte seiner Kollegin hinterher.
Als er sie eingeholt hatte, stand sie nach vorne gebeugt vor einem Gebüsch und übergab sich.
Sven fasste sie an die Schultern.
„Was ist los mit dir, Silvia? Kannst du keine Toten mehr sehen?“
Seine Kollegin hustete und spuckte ein letztes Mal aus.
Dann griff sie in ihre Tasche, zog ein Papiertaschentuch heraus und wischte sich damit den Mund ab.
„Geht `s dir wieder besser?“, fragte Söhlbach.
„Es geht schon wieder, Sven.“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dir beim Anblick eines Toten schon mal schlecht wurde.“
„Es war nicht der Anblick des Toten, Sven. Ich fühle mich schon den ganzen Tag nicht so richtig wohl; muss wohl etwas Falsches gegessen haben.“
Als die zwei wieder zum Tatort zurückgingen, kam ihnen Nowack entgegen.
„Was war denn los?“, wollte er wissen.
„Es ist alles wieder gut“, antwortete Söhlbach. „Unsere Kollegin ist wohl ihr Essen nicht bekommen.“
Schließlich standen die drei wieder vor dem Mordopfer.
Meier blickte Muisfeld kopfschüttelnd an.
„Wenn du so etwas nicht mehr sehen kannst, Silvia“, meinte er, „dann musst du dir einen anderen Job suchen.“
Der Leiter der Spurensicherung wartete ihre Antwort nicht ab und hielt einen Plastikbeutel mit einer Geldbörse hoch.
„Raubmord war das auf jeden Fall nicht“, sagte er. „In dem Portemonnaie, was wir bei dem Toten gefunden haben, sind, neben den Papieren, noch 300 Euro in bar drin.“
Er überreichte Tibo den Plastikbeutel.
Nowack streifte sich Handschuhe über und zog die Geldbörse aus dem Beutel.
In einem Fach der Geldbörse steckte ein Personalausweis. Tibo nahm ihn heraus und verglich das Passfoto mit dem Gesicht des Mordopfers.
„Der Mann heißt Johannes Metzger, wohnhaft in Duisburg.
Er war 62 Jahre alt.“
„Wo in Duisburg wohnte er denn?“, wollte Sven von Tibo wissen.
Nowack reagierte nicht. Er schaute nachdenklich auf den Ermordeten.
„Kuckuck, Tibo“, sagte Söhlbach. „Ich habe dich etwas gefragt.“
Der Angesprochene blickte zunächst Sven und dann Silvia unsicher an.
„Mir gehen gerade ganz blöde Gedanken durch den Kopf“, sagte er schließlich. „Ihr habt mir doch vorhin erzählt, dass der Bruder vom Chef Hannes heißt, Hannes Metzger.
Hannes ist doch die Kurzform von Johannes. Schaut euch mal ganz genau die Gesichtszüge des Toten an. Ich finde, dass eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Chef vorhanden ist. Ich meine, dass kann natürlich auch Zufall sein, aber…“
Nicht nur Sven und Silvia, auch Ralf Meier betrachteten das Mordopfer nun ganz genau.
Dann hörte man Söhlbach laut schlucken.
Er schüttelte leicht mit dem Kopf.
„Ich will das einfach nicht glauben“, kam es leise über seine Lippen.
„Es kann ja wirklich Zufall sein“, sagte Silvia und schaute den ermordeten Mann an, „aber diese Ähnlichkeit…“ Sie wandte den Blick nicht von dem Toten ab.
Nun sagte niemand mehr etwas. Sie standen vor dem Mordopfer und schwiegen. Es war eine sehr merkwürdige Atmosphäre.
Jeder einzelne schien seinen eigenen Gedanken nachzugehen.
Sven beugte seinen Kopf leicht nach vorne und fasste sich mit den Fingern an die Stirn. Er schloss die Augen und wirkte hochkonzentriert.
Dann sagte er: „Der Chef hatte mir mal Familienfotos gezeigt, auf denen die Zwillinge und im Hintergrund sein Bruder und seine Schwägerin zu sehen waren. Ich sehe das Foto genau vor mir.“ Er blickte wieder zu dem Ermordeten. „Auch wenn ich mir immer noch nicht ganz sicher bin, aber der Tote könnte tatsächlich sein Bruder sein.“
„Oh Gott“, kam es flüsternd aus Silvia Mund.
Sie holte tief Luft und schloss die Augen.
„Er wollte doch den Geburtstag seiner Kinder feiern“, sagte sie leise mit bebender Stimme, „und jetzt ist er tot.“
Was nun folgte, war erneut ein gemeinsames Schweigen.
Sie standen da, und ihre ungläubigen Blicke waren auf den toten Mann gerichtet.
Selbst Ralf Meier, der bekannt dafür war, in jeder Situation passende oder unpassende Kommentare abzugeben, fehlten die Worte.
Ihre Gesichter wirkten wie versteinert, und es war, als könne man die tragische Atmosphäre, die nun an diesem Ort herrschte, fast körperlich fühlen.
Ein weiß gekleideter Mann der Spurensicherung trat an sie heran und brach das Schweigen.
„Wir haben jeden Stein dreimal umgedreht“, sagte er. „Es ist wie beim letzten Mal. Der Täter hat nicht die winzigste Spur hinterlassen.“ Er deutete auf das Mordopfer.
„Können wir ihn schon mitnehmen?“
Meier nickte, worauf sein Kollege den anderen ein Zeichen gab.
Daraufhin traten weitere, ebenfalls weiß gekleidete Männer mit einem Zinksarg an sie heran.
Während diese den Toten vorsichtig in den Sarg legten, standen Silvia und ihre Kollegen immer noch schweigend daneben.
Als die Männer mit dem Sarg schließlich davonschritten, blickten die Ermittler ihnen wortlos hinterher.
Es war Sven, der nun mit heiserer Stimme die Frage in den Raum stellte, vor der sie alle Angst hatten: „Wer sagt es dem Chef?“
Er bekam keine Antwort.
Silvia hatte kurz nach oben zum Himmel geschaut. Als sie ihren Blick über die steile Felswand hinab wieder nach unten gleiten ließ, blieb er an einem Loch, das in etwa drei Meter Höhe über ihnen im Fels zu sehen war, hängen.
„Ist das Blut?“
Sie deutete nach oben auf das Loch, welches wie eine kleine Höhle wirkte.
Alle sahen hinauf.
Der obere Bereich der Vertiefung in der Felswand, deren Ende man nicht einsehen konnte, war rötlich verfärbt.
„Das könnte in der Tat Blut sein“, sagte Meier, rief nach seinen Leuten und wies diese an, eine Leiter zu besorgen.
Söhlbach reagierte sofort und stellte sich mit dem Rücken zur Wand unter die kleine Höhle.
„Los, Tibo!“, forderte er seinen Kollegen auf. „Räuberleiter.
Sieh dir das mal aus der Nähe an.“
Nowack stieg ohne zu zögern auf Svens Hände und dann auf seine Schultern, um sich mit den Händen an dem Fels nach oben zu arbeiten.
„Es scheint wirklich Blut zu sein“, stellte er fest, als er das Loch erreichte. „Hier geht es richtig tief in den Fels rein.
Das ist tatsächlich eine kleine Höhle.“
„Kannst du etwas darin erkennen?“, fragte Silvia.
„Nein, darin ist es stockfinster.“
Nowack griff vorsichtig in seine Tasche und zog das Handy heraus.
„Ich werde mit dem Handy ein Foto machen. Darauf müsste man mehr erkennen.“
Er hielt das Handy vor die Höhle. Dann blitzte es kurz auf.
„Das gibt´s doch nicht“, kam es überrascht aus seinem Mund, als er schließlich das gerade geschossene Foto betrachtete. „Das ist ja eine richtige Höhle, eine Tropfsteinhöhle.“
„Du spinnst, Tibo“, sagte Sven. „Hier gibt es keine Tropfsteinhöhlen.“
Nowack kletterte wieder hinunter und hielt seinem Kollegen sofort das Handy hin.
„Und was ist das?“, sagte er. „Das ist ja wohl keine Fata Morgana, oder?“
Söhlbach schaute auf das Foto.
„Unglaublich“, sagte er. „Da ist tatsächlich eine große Höhle in dem Berg.“
Muisfeld und Meier traten an ihn heran und betrachteten ebenfalls das Bild.
„Ich werd´ verrückt“, kommentierte Silvia das Foto. „Das ist wirklich eine Tropfsteinhöhle. Man kann deutlich die Stalaktiten an der Decke erkennen.“
Nun begutachteten sie das Foto genauer.
„Das in der Mitte auf dem Bild sieht aus, wie Treppenstufen“, stellte Tibo fest.
Er legte die Finger auf das Display und vergrößerte die Aufnahme.
„Das sieht nicht nur so aus wie Treppenstufen“, sagte er.
„Das sind Treppenstufen und zwar von Menschen gemacht.“
Er betrachtete die Einzelheiten, die auf dem vergrößerten Bild zu sehen waren.
„Diese Stufen führen zu einem Gang hinauf, der weiter nach hinten in die Höhle hineinführt. Dieser Stollen endet vor einem eckigen Durchgang. Da muss wohl mal eine Tür gewesen sein, doch diese Tür ist mit Ziegelsteinen zugemauert worden.“
„Unglaublich“, kommentierte Sven Nowacks Entdeckung.
Tibo schaute weiterhin konzentriert auf die Vergrößerung.
„Rechts in der hinteren Höhlenwand ist etwas zu sehen, das wie ein ebenfalls zugemauertes Fenster aussieht.“
Er schob mit dem Finger das vergrößerte Foto zur anderen Seite.
„Da hat wohl jemand einen symbolisierten Totenkopf mit darunter gekreuzten Knochen auf die Wand gemalt. Das kann man ganz deutlich erkennen.“
Nun schob er das Bild nach oben, um sich den unteren Bereich genau zu betrachten.
„Auf dem Höhlenboden liegen alte Flaschen und Dosen, alle mit einer dicken Staubschicht bedeckt.“
Er reichte das Handy an die anderen weiter.
„Seht euch das selbst mal an.“
Während Sven und Silvia das Foto betrachteten, stand Ralf Meier nachdenklich neben ihnen und kratzte sich am Kopf.
„Ich habe mal irgendetwas von einer Grotte auf dem Kaiserberg gelesen“, sagte er. „Ich weiß nur nicht mehr, wo das war.“
Er wurde abgelenkt, als seine Kollegen mit einer Leiter den Ort erreichten.
„Gut, dass wir so eine gute Ausrüstung in den Fahrzeugen haben“, meinte er und wies die Männer an, die Leiter unter dem Loch in der Felswand aufzustellen.
Dann stieg Meier persönlich die Leiter hinauf.
„Das ist eindeutig Blut“, stellte er fest, als er sich die rötliche Verfärbung genauer betrachtete.
Er hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel unter die Verfärbung und kratzte vorsichtig mit einem kleinen Messer eine Probe der rötlichen Substanz ab.
Nachdem er den Beutel mit der Probe verschlossen hatte, schaute er in das dunkle Loch hinein.
„Nichts zu erkennen“, sagte er. „Alles stockfinster da drin.“
Sein Blick ging kurz auf die rote Verfärbung, die nur im oberen Bereich der Vertiefung zu sehen war. Dann schaute er in die Dunkelheit der entdeckten Höhle und murmelte: „Ich habe da eine Idee.“
Er kletterte die Leiter wieder hinunter.
„Achim soll mal mit seiner Kamera kommen“, sagte er zu einem der weiß gekleideten Männer.
„Was für eine Idee hast du denn, Ralf?“, fragte Silvia, der seine Äußerung nicht entgangen war.
„Auf Tibos Foto konnten wir ja nur den hinteren Bereich der Grotte schwach erkennen“, erklärte der Leiter der Spurensicherung, „aber das, was unmittelbar hinter dieser Felswand auf dem Boden der Höhle liegt, war nicht zu sehen.“ Er deutete nach oben auf die Vertiefung im Fels.
„Dort ist eindeutig Blut. Ich vermute, der Täter hat das Tatwerkzeug dort entsorgt. Er könnte es durch das Loch in die Höhle geworfen haben. Wenn man von hier unten aus ein blutiges Messer dort hineinwirft, wird es dabei fast zwangsläufig zunächst den oberen Bereich der Vertiefung berühren und dabei Spuren hinterlassen.“
Muisfeld nickte.
„Das wäre in der Tat eine einleuchtende Erklärung für diese Blutspuren, Ralf. Gut kombiniert.“
„Was heißt hier, gut kombiniert?“, meinte Meier. „Wenn man einen so hohen IQ hat wie ich, dann kommen solche Folgerungen von ganz alleine.“
Silvia hüstelte.
„Ganz schön staubig hier“, kommentierte sie Meiers Äußerung.
Nun trat ein Mann mit einer Kamera an sie heran.
„Was soll ich ablichten, Ralf?“, fragte er Meier.
Der Leiter der Spurensicherung klopfte mit der Hand auf die vor ihnen aufragende Felswand.
„Direkt hier hinter befindet sich eine Grotte.“ Er zeigte nach oben zur Vertiefung im Fels. „Durch das Loch dort kann man in die Höhle hineingucken. Steig die Leiter rauf, Achim, und strecke deinen Arm mit der Kamera hinein.
Fotografiere in allen Richtungen. Ich möchte jeden Winkel dieser Höhle auf den Fotos erkennen. Mich interessiert ganz besonders der Boden unmittelbar hinter der Felswand. Ich denke, das Blitzlicht deiner Kamera wird viel ans Tageslicht bringen.“
Der Angesprochene nickte.
Er stieg die Leiter empor, streckte, wie Meier es angewiesen hatte, seinen Arm mit der Kamera in das Loch und drückte auf den Auslöser.
Deutlich konnten alle, die unterhalb der Leiter standen, das schnelle Aufleuchten der Kamera in der Vertiefung erkennen. Der Fotograf der Spusi erhellte das Innere der Höhle mit einem wahren Blitzlichtgewitter.
Kurze Zeit später stieg der Mann, den Meier mit Achim angesprochen hatte, wieder die Leiter hinab.
„Dann zeig mal her“, sagte Ralf zu ihm. „Zunächst die Fotos vom Boden.“
Mit schnellem Tippen auf der Rückseite seiner Kamera suchte Achim die geforderten Fotos.
Dann hielt er Meier das Display hin.
„Das ist unmittelbar hinter der Felswand“, erklärte er.
Ein zufriedenes Lächeln huschte über Ralfs Gesicht.
„Wusst´ ich`s doch“, sagte er. „Kannst du mir diesen Ausschnitt noch etwas vergrößern, Achim?“
„Na, klar.“
Dann sah Meier eindeutig das, was er sehen wollte.
„Da liegen zwei Messer, zwei lange Messer, und die Blutspuren an den Klingen sind auch deutlich zu erkennen.“
Söhlbach, Muisfeld und Nowack traten an ihn heran und betrachteten die Aufnahme.
„Die Tatwaffen“, sagte Tibo. „Der Täter war sich der Sache sicher, dass sie dort niemand finden würde.“
„Fragt sich nur“, meinte Sven, „wie wir an die beiden Messer kommen. Auch, wenn ich von dieser Grotte hier bisher nichts gewusst habe, ich war schon sehr oft hier oben auf dem Kaiserberg und bin auch über die Wege gelaufen, die sich oberhalb und hinter dieser Höhle befinden. Da gibt es definitiv nirgendwo einen Eingang, der in die Grotte führt. Die Zugänge zu dieser Tropfsteinhöhle wurden offensichtlich vor langer Zeit zugemauert oder verschüttet, und das kleine Loch da oben ist so eng, dass nicht einmal ein Kind hindurchpassen würde.“
„Dann müssen wir den verschütteten Zugang eben mit schwerem Gerät freischaufeln“, sagte Meier, „und die zugemauerte Tür aufmeißeln.“
„Das wird nicht nötig sein“, mischte sich der Fotograf, der bis jetzt schweigend neben ihnen gestanden hatte, in das Gespräch. „Es könnte auch anders funktionieren.“
Meier blickte ihn verwundert an.
„Dann lass mal hören, Achim.“
„Eigentlich hätte ich ja heute meinen freien Tag“, sagte der Fotograf. „Ich wollte mir einen geruhsamen Tag machen und hatte auch schon alles dafür vorbereitet. Dann kam euer Anruf und man teilte mir mit, dass ich zum Kaiserberg kommen soll. Ich habe mich natürlich sofort in mein Auto gesetzt, bin losgefahren und hierher gekommen.“
Er schaute Meier an und lächelte.
„Ich habe ganz vergessen“, fuhr Achim fort, „euch zu sagen, dass ich eigentlich zum Angeln fahren wollte und alle Utensilien, die man fürs Angeln braucht, bereits ins Auto gepackt hatte. Mit Hilfe der Angelrute und etwas Zubehör dürfte es kein Problem sein, die beiden Messer aus der Höhle zu fischen.“
Ralf blickte ihn ungläubig an.
„Willst du die Messer etwa am Angelhaken da herausziehen? Das klappt niemals.“
„Wer redet denn vom Angelhaken?“, gab Achim Meier zu verstehen. „Damit würde es logischerweise nicht funktionieren. Wir haben in unserer Ausrüstung unter anderem einen kleinen Magneten. Den könnte ich an der Angelschnur befestigen und damit die Messer dann nach oben ziehen. Oberhalb des Magneten würde ich dann noch unsere kleine Minikamera an die Schnur befestigen.
Dann bräuchten wir nicht blind fischen, sondern könnten auf dem Laptop die Aktion gezielt verfolgen.“
„Geniale Idee!“, kam es begeistert aus Nowacks Mund.
Meier wog skeptisch den Kopf hin und her.
„Und was machen wir“, meinte er, „wenn die Schnur reißt?“
Der Fotograf lachte kurz auf.
„Ralf, ich wollte heute beim Angeln auf Hecht gehen. Was meinst du, was so eine Hechtschnur für eine Zugkraft hat?“
Meier ging auf diese Frage nicht ein.
Stattdessen sagte er: „Na dann, Achim, worauf wartest du? Hol´ deine Angel und bereite alles vor.“
Der Angesprochene lächelte, nickte kurz und ging davon.
„Sag mal Ralf“, sprach Nowack Meier an, „hattest du vorhin nicht gesagt, dass du mal irgendwo etwas von einer Grotte am Kaiserberg gelesen hast?“
„Ja, aber ich weiß nicht mehr wo.“
Tibo nahm sein Handy und tippte darauf herum.
„Grotte am Kaiserberg“, murmelte er.
„Bingo!“, sagte er schließlich. „Hier steht sogar eine ganze Menge über diese Grotte.“
„Dann lies mal vor“, forderte Sven ihn auf.
„Früher“, las Nowack, „gab es auf dem Kaiserberg, bei dem es sich um den nordwestlichsten Ausläufer des rheinischen Schiefergebirges handelt, eine Attraktion, die heute fast gänzlich in Vergessenheit geraten ist.
Auf dem Kaiserberg entstand um die Jahrhundertwende herum der Schülkeplatz mit drei Teichen, einer künstlichen Grotte sowie Aussichtsplätzen. Über eine Treppe gelangt man auf die mittlere Ebene des Schülkeplatzes. Am Nordufer des großen Teiches wurde 1902 ein Grottenbauwerk als künstliche Felsformation errichtet. Für die 12m hohe Natursteinfelswand mit innenliegender Tropfsteinhöhle diente die Dechenhöhle bei Lethmathe im Sauerland als Vorbild.
In der auch heute noch beeindruckenden Felswand befand sich damals der Eingang zu der Grotte. Man hatte hier am Südhang des Kaiserberges eine echt wirkende, künstliche Tropfsteinhöhle erschaffen. Die Grotte am Kaiserberg konnte für einen Eintrittspreis von 20 Pfennig betreten werden. Man konnte sich sogar in ein Gästebuch, welches auf einem Tisch auslag, eintragen. Besucher hatten die Möglichkeit, sich auf einen der vielen Stühle in der Höhle niederzulassen, um so den Aufenthalt in diesem unterirdischen Gefilde zu genießen. Zur Erhellung der Grotte waren Fenster mit buntem Glas eingebaut worden.“
Tibo schmunzelte kurz und las weiter: „Kaum zu glauben, aber das Eintrittsgeld diente zur weiteren Verschönerung des Duisburger Waldes.“
Nowack schaute auf sein Handy und zuckte kurz mit den Schultern.
„Seit wann man diese Tropfsteinhöhle nicht mehr betreten konnte“, sagte er schließlich, „das steht hier nirgendwo.
Hier steht nur, irgendwann war der Zugang zur Höhle eingestürzt, und die Grotte konnte nicht mehr betreten werden.“
Tibo blickte die anderen an.
„Ich komme ja aus Hamburg“, sagte er, „und bin deshalb mit der Duisburger Geschichte nicht vertraut, aber ihr seid von hier und habt von dieser Grotte wirklich nichts gewusst?“
Die Antwort war nur ein Kopfschütteln.
Söhlbach wies auf die steil aufragende Felswand und meinte: „Die Höhle da drin ist immerhin 120 Jahre alt, und wer weiß, wie lange sie schon verschüttet ist. Ich denke, dass nur wenige davon wissen.“
„Ist ja auch egal“, meinte Silvia. „Wir müssen jetzt an etwas Anderes denken, und das ist heikler, als sich den Kopf über eine Höhle zu zerbrechen.“
„Ich weiß“, sagte Tibo. „Wir müssen es dem Chef sagen.“
Muisfeld schluckte laut.
Dann sagte sie leise: „Nur wie?“
„Wir sollten zurück ins Präsidium fahren“, schlug Sven vor.