Ghandoya - Dieter Ebels - E-Book

Ghandoya E-Book

Dieter Ebels

0,0

Beschreibung

GHANDOYA, DAS GEHEIME LAND ist ein mitreißender und fesselnder Jugend-Fantasy-Thriller des erfolgreichen Krimi-Autors Dieter Ebels. Die drei Jugendlichen Thorsten, Kristin und Karina entdecken in einem alten Gewölbe die Hinterlassenschaften der Zauberin Ledja. Die drei erfahren, dass Ledja vor langer Zeit in einem unbekannten Land namens Ghandoya einen unermesslichen Schatz und ein geheimnisvolles Buch, dessen Besitz unvorstellbare Macht bedeutet, versteckt hatte. Sie wollen diesen Schatz unbedingt aufspüren, und mittels eines magischen Amuletts finden die drei Jugendlichen sich plötzlich in Ghandoya wieder, einer fremdartigen Welt, in der sie auf seltsame Kreaturen treffen. Es ist der Beginn einer unglaublichen Reise voller Gefahren und Abenteuer, eine Geschichte mit Hochspannung bis zum Ende.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 764

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die maßlose Angst, die Ledja umfing, war unbeschreiblich.

Die Frau stand im Kellergewölbe ihres Hauses und vermauerte mit zitternden Händen den einzigen Zugang, der in diesen Raum führte. Sie mauerte sich selbst ein. Ledja wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde.

Man schrieb das Jahr 1509. Es war eine sehr schwere Zeit, besonders für Frauen wie Ledja. Auch in ihrer Stadt war der Hexenwahn ausgebrochen. Das Haus von Ledja lag zwar etwas außerhalb der Stadtmauer, fiel aber, wie alle im Außenbereich liegenden Anwesen, unter die Stadtzugehörigkeit.

Die Menschenmenge draußen vor Ledjas Haus wurde immer größer; ein wütender Mob, der zu allem bereit war. Immer wieder ertönten die Rufe: „Hagzissa! Hagzissa!“ Das Wort Hagzissa bedeutete nichts anderes als Hexe. Diese niederträchtigen Beschimpfungen gingen Ledja tief unter die Haut. Sie war genauso wenig eine Hexe, wie all die anderen Frauen, die in dieser grausamen Zeit unschuldig auf den lodernden Scheiterhaufen brannten.

Dennoch trug sie ein unglaubliches Geheimnis in sich. Ledja war eine Zauberin. Sie besaß die Macht, in andere Welten zu sehen. Es war ihr sogar möglich, diese Welten zu betreten. Von diesem Geheimnis wusste allerdings niemand etwas. Die aufgebrachte Menschenmenge vor ihrem Haus hatte einen anderen Grund, sie als Hexe zu bezeichnen. Ledja war mit ihren vierzig Lebensjahren noch immer eine alleinstehende Frau. Sie lebte sehr zurückgezogen und kaum jemand wusste etwas über sie. Das allein war der Grund dafür, eine bisher unbescholtene Bürgerin als Hexe zu bezeichnen. Die Inquisition nahm in den letzten Jahren immer schlimmere Ausmaße an. Viele unschuldige Frauen fielen dieser wahnsinnigen Hexenjagd zum Opfer.

Ledja hatte bei ihren vielen Reisen schon oft die brennenden Scheiterhaufen gesehen, auf denen die vermeintlichen Hexen ihr qualvolles Ende gefunden hatten. Vorher waren all diese Frauen auf grausame Weise gefoltert worden. Irgendwann hatte jede zugegeben, eine Hexe zu sein, nur um den unsagbaren Schmerzen der quälenden Folter ein Ende zu setzen. Die Inquisitoren hatten genau gewusst, wie sie ein Geständnis von jeder Frau, egal wie stark sie war, herauspressen konnten.

Während Ledja sich Stein für Stein einmauerte, musste sie an die Hexenverbrennungen denken, denen sie zwangsweise beigewohnt hatte. Wäre sie nicht als Zuschauerin dabei gewesen, dann hätte jeder sofort geglaubt, dass auch sie eine Hexe sei; eine Hexe, die den qualvollen Tod einer Leidensgenossin nicht hatte ertragen können. So hatte sie sich dieses schaurige Spektakulum jedes Mal angewidert mit ansehen müssen. Niemals würde sie die schmerzverzerrten Gesichter der Hingerichteten vergessen. Einige dieser verzweifelten Frauen hatten bis zum Ende lauthals ihre Unschuld herausgeschrien; andere wiederum hatten sich ihrem Schicksal gefügt und sich mit Tränen in den Augen stillschweigend ihrem unvermeidlichen Ende hingegeben. Ledja hasste die Inquisitoren und sie hasste die Kirche. Die Hexenverfolgung gab es schon lange, doch seit Papst Innozenz VIII vor fünfundzwanzig Jahren die päpstliche Bulle Summis desiderantibus affectibus erlassen hatte, war keine Frau mehr sicher. Diese Bulle gegen die Hexerei war der Anlass, überall regionale Inquisitoren zu ernennen. Es hatte sich eine Klasse von berufsmäßigen Hexensuchern gebildet. Diese sammelten Anschuldigungen und setzten die entsprechenden Frauen dann der Hexenprobe aus. Für jede Frau, die man überführen konnte, gab es eine angemessene Bezahlung. Es war ein sehr gutes Geschäft für die gnadenlosen Hexensucher, denn es gab genug Frauen, die man als Hexe enttarnen konnte. Die wohl gebräuchlichste Hexenprobe war das Stechen. Angeblich trugen alle Hexen irgendwo am Körper ein schmerzempfindliches Mal, welches ihnen der Teufel aufgedrückt hatte.

Wurde so ein Mal gefunden, war der Beweis erbracht, denn wenn man so lange in ein Muttermal sticht, bis eindeutig ein Zeichen von Schmerz zu erkennen ist, dann war die Hexe überführt. Frauen, bei denen man kein Mal fand, mussten sich der Wasserprobe unterziehen. Sie wurden an Händen und Füßen gefesselt in ein Gewässer geworfen. Konnten sie sich über Wasser halten, dann waren sie Hexen, gingen sie unter und ertranken, dann waren sie unschuldig.

Ledja hatte panische Angst. Sie wollte nicht sterben, doch sie wusste, dass sie ihrem Schicksal nicht entgehen konnte. Nur noch drei Steine, dachte sie. Dann ist der Eingang zum Kellerraum zugemauert. Ledja besaß als Zauberin unglaublich große Macht. Sie kannte unsagbar viele Formeln und Sprüche, mit denen sie hätte andere Menschen beeinflussen und sogar töten können. Doch diese Magie bedurfte einer langen Vorbereitung. Gegen den aufgebrachten Mob, der sich vor ihrem Haus gebildet hatte und sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen sehen wollte, konnte sie nichts ausrichten; sie war machtlos. Innerlich wünschte sie sich, in irgendeiner anderen Zeit geboren zu sein, in einer Zeit, in der es friedlicher zuging. Doch sie musste ausgerechnet im Heiligen Römischen Reich leben. Der momentane Herrscher über das Reich, Maximilian der Erste, war in ihren Augen das Schlimmste, was über ihr Land hatte kommen können. Als König Maximilian vor einem Jahr Kaiser geworden war, waren die Zahlen der grausamen Hexenverbrennungen ständig angestiegen.

Heiliges Römisches Reich, dachte sie verächtlich und setzte den letzten Stein in die Mauer. Nun war Ledja von der Außenwelt abgeschlossen. Ledja hatte bereits seit einiger Zeit geahnt, dass so etwas auf sie zukommen könnte. Doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Dennoch hatte sie für den Fall der Fälle Vorbereitungen getroffen, und dieser Fall war nun eingetreten. Um sie herum, im Kellerraum, waren die Dinge, die kein anderer Mensch in die Finger bekommen durfte. Niemand sollte an ihre Geheimnisse gelangen. Keiner durfte den Weg zu dem Schatz finden, den sie in ihrem Leben als Zauberin zusammen getragen hatte. Dieser unschätzbare Hort bestand aus Gold und Juwelen. Wer diesen Schatz besaß, der verfügte über Reichtum, welches unermesslich war. Ledja bewahrte aber noch etwas in ihrem Besitz, etwas, das noch viel wertvoller war, als ihr Schatz. Es war das geheimnisvolle Buch von Godorrha, ein Relikt, welches kaum einem Menschen bekannt war. Die Zauberin wusste, welche Kräfte von diesem Werk aus uralter Zeit ausgingen, und sie wusste, dass man mit dem Buch von Godorrha sogar den Weg zur verlorenen Bundeslade finden konnte. Wer im Besitz dieses geheimnisvollen Relikts war, der besaß Kräfte, die jenseits aller Vorstellungen lagen. Selbst Ledja hatte es sich bisher noch nicht gewagt, diese Kräfte zu nutzen.

Ledja konnte über ihren Schatz und über das Buch von Godorrha nicht mehr verfügen, und sie wollte verhindern, dass andere ihren Reichtum und das geheimnisvolle Buch in die Hände bekamen.

Erschöpft setzte sie sich auf den rauen, aus Lehm gestampften Kellerboden. Sie lehnte sich mit den Rücken an die Wand. Noch einmal blickte sie sich in ihrem Keller um. Es war ein kleiner Raum, etwa dreimal drei Meter groß. Die Decke war gewölbeartig mit einem geschwungenen Rundbogen gemauert. Zwei Fackeln an den Wänden spendeten ein wenig Licht. In einer weiß gekälkten, aus Felsgestein gemauerten Wand waren Nischen eingearbeitet. Darin standen ein paar kleine Gefäße, in denen Ledja Essbares aufbewahrte. Vor dieser Wand befand sich ein Tisch. Darauf lagen aufgeschlagene Bücher mit geheimen Kräuterrezepturen. Ledjas Blick fiel auf einen kleinen Haufen aufgestapelter Holzscheite, unterfüttert von trockenem Heu, der sich direkt vor ihr auf dem Boden befand. Das sollte Ledjas allerletztes und alles beendendes Feuer werden. Oben auf den Holzscheiten lag ein Buch. Es enthielt Formeln und Zaubersprüche. In ihren Händen hielt Ledja ein weiteres Buch, ein Buch, in dem ihr Lebenswerk festgehalten war. In dieses Buch hatte sie gerade die letzten Zeilen geschrieben. Nun legte sie es ebenfalls auf die vorbereitete Feuerstelle. Jetzt brauchte sie nur noch eine Fackel daran halten und ihr Lebensinhalt würde für immer von dieser Welt verschwinden. Neben ihr lagen noch einige Steine. Diese waren übrig geblieben. In einem Holztrog befand sich noch Mörtel. Ledja brauchte die Steine und den übrigen Mörtel nicht mehr, denn die Mauer war vollendet.

Mich werdet ihr nicht lebendig bekommen, dachte sie. Eure Häscher und Folterknechte werden keine Möglichkeit haben, ihre schrecklichen Instrumente bei mir anzuwenden. Ich werde nicht auf dem Scheiterhaufen enden.

Plötzlich glaubte sie, das Prasseln eines Feuers zu vernehmen. Sie lauschte. Ja, es war ganz eindeutig ein Knistern zu hören. Ledja spürte jetzt auch ganz deutlich, dass es im Keller immer wärmer wurde. Nun roch sie auch den Rauch. Dieser drang durch einige Ritze des zugemauerten Eingangs hinein. Offensichtlich hatten ein paar Fugen in der Mauer Löcher.

Sie haben mein Haus angezündet, schoss es Ledja durch den Kopf.

Das Prasseln des Feuers wurde immer lauter und eine fast unerträgliche Hitze erfüllte den Kellerraum. Ein lautes Poltern, welches direkt über ihr zu hören war, ließ sie zusammenzucken. Ledja ahnte, dass dieses Geräusch von den Balken des einstürzenden Daches kam.

Mit einem sicheren Griff löste sie den Verschluss einer Kette, die sie um ihren Hals trug. Ledja nahm das Schmuckstück in die Hand und betrachtete den Anhänger der Kette. Es war ein kreisrundes, etwa drei Zentimeter durchmessendes Amulett. Auf der Vorderseite des silbernen Amuletts war eine Hand abgebildet; eine Hand mit sechs Fingern. Auf der Rückseite waren verschnörkelte Buchstaben eingraviert. Dort stand in Großbuchstaben das merkwürdige Wort GRORR. Ledja strich mit den Fingern über das Schmuckstück, so, als wolle sie das Amulett zärtlich streicheln.

„Oh, Grorr“, flüsterte sie leise. „Du warst mir ein treuer Begleiter. Jetzt werden sich unsere Wege für immer und ewig trennen.“

Mit diesen Worten legte sie die Kette behutsam auf die Bücher. Dann griff sie in ihre Rocktasche und zog ein kleines Fläschchen heraus. Den Inhalt hatte sie selbst gemischt. Ledja hatte alles genau geplant. Sie öffnete das Fläschchen und trank. In wenigen Minuten würde sie einschlafen und nie mehr wach werden. Nun bräuchte sie nur noch das Feuer zu entflammen. Ihr Vermächtnis sollte so für immer aus dieser Welt verschwinden. Ledja wollte aufstehen, um eine Fackel zu holen. Sie spürte plötzlich, dass ihre Beine versagten. Sekundenbruchteile später fühlte sie, dass auch ihre Arme schwerer wurden. Sie erschrak. Hatte sie sich bei der Mixtur ihres Trankes vertan? Müdigkeit überfiel sie. Jetzt hatte sie die schreckliche Gewissheit. Der Trank war zu stark! Offensichtlich war ihr beim Mischen des tödlichen Gebräus ein Fehler unterlaufen. Ledja starrte auf die vorbereitete Feuerstelle. Sie starrte auf die Bücher und auf die Kette. Ihre Gedanken waren wirr. Das hätte nicht passieren dürfen.

Die Bücher!, ging es ihr durch den Kopf. Die Kette, oh, Grorr, keiner darf deiner Herr werden.

Mit allerletztem Willen streckte sie zitternd ihre Hand aus und griff nach der Kette. Sie nahm das silberne Schmuckstück und schob es in ihre Rocktasche.

Oh, Grorr, keiner darf dich bekommen. Niemand soll den Weg nach Ghandoya finden. Das waren Ledjas letzte Gedanken. Ihre Sinne schwanden für immer.

Draußen vor dem lichterloh brennenden Haus standen viele Dutzend aufgebrachter Leute. „Die Hagzissa soll brennen!“, hallte es immer wieder aus ihren Kehlen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die lodernden Flammen des Feuers ihre Nahrung verschlungen hatten. Irgendwann züngelten aus dem glühenden Haufen hier und da noch ein paar kleine Flammen empor. Dann war von dem Haus der Ledja nur noch ein pechschwarzer Berg aus qualmenden und verkohlten Trümmerresten übrig.

Schweigend blickte die Menschenmenge auf das bösartige Werk. Schließlich sagte ein Mann: „Es ist vollbracht. Die Hexe lebt nicht mehr. Bürger, geht in eure Häuser zurück und betet zu Gott, dass er uns vor weiteren Hexen in unserer Stadt bewahrt.“

Mit den Gedanken, die Hexe verbrannt zu haben, löste sich die Menschenansammlung langsam auf.

* * *

Kristin Schumann hatte bis gerade eben mit ihrer Tante geskypt und nun den PC heruntergefahren. Sie schlug ihr Tagebuch auf, nahm einen Stift zur Hand und schrieb folgende Zeilen:

30. August

Heute fahre ich zu Tante Elke. Nietzi wird mich begleiten. Ich freue mich riesig darauf. Es wird garantiert eine schöne Woche.

Sie legte den Stift wieder beiseite und schloss das Tagebuch. Ich werde heute Abend weiter schreiben, dachte sie.

Zu diesem Zeitpunkt konnte Kristin noch nicht ahnen, dass sie bald etwas Unbegreifliches erleben würde. Ihr stand ein unvorstellbares Abenteuer bevor, welches all ihre Vorstellungskraft um ein Vielfaches übersteigen sollte.

Kristin deponierte das Tagebuch in eine große Sporttasche, die sie bereits mit allen Utensilien gefüllt hatte, die ein sechzehnjähriges Mädchen für eine Woche benötigte. Sie hatte Sommerferien, doch ihre Eltern konnten aus beruflichen Gründen nicht mit ihr in den Urlaub fahren. Kristins Mutter hätte eventuell Urlaub bekommen, doch ihr Vater war Abteilungsleiter in einem großen Zulieferungsunternehmen, welches an einem Stahlwerk in Duisburg gekoppelt war. Er war momentan für die Firma unabkömmlich.

Deshalb hatten sie den Familienurlaub auf den Herbst verschoben. Da gab es schließlich auch noch mal Schulferien.

Kristin lebte in einer beschaulichen Einfamilienhaussiedlung im Duisburger Norden. Da fast alle aus ihrem Freundeskreis in den Urlaub geflogen waren, war hier nicht mehr viel los. Der letzte Versuch, gemeinsam mit ihrer Freundin Nietzi, Ablenkung in einer Disco zu finden, war beim Türsteher vor dem Eingang gescheitert. Nietzi und Kristin hatten das Gefühl, vom Leben abgeschottet zu sein. Es war auch niemand mehr da, mit dem man mal irgendwo hätte abhängen können. Deshalb freute sich Kristin darüber, dass ihre Tante Elke sie eingeladen hatte, eine Woche bei ihr zu verbringen. Tante Elke wohnte in Pramberg, einem Städtchen in der Nähe von Münster. Auch wenn Pramberg eine Kleinstadt war, wenn Tante Elke sie beim Bummel durch die Fußgängerzone begleitet hatte, war immer die Post abgegangen. Tante Elke war immer gut drauf und hatte ein offenes Ohr für die Probleme der Jugend. Kristin hatte schon öfter einige Tage bei ihrer Tante verlebt und es war jedes Mal ein tolles Erlebnis gewesen. Vor einem Monat hatte in Pramberg ein riesiges Outlet Center eröffnet, und in Kristins Gedanken entfachte ein wahres Freudenfeuer, wenn sie nur an den bevorstehenden Bummel durch das Center dachte.

Dieses Mal freute sich Kristin aber ganz besonders auf die Tage in Pramberg, denn ihre beste Freundin Nietzi sollte sie begleiten. Nietzi war nur ein Spitzname, denn eigentlich hieß sie Karina Nietze. Die gleichaltrige Karina wohnte direkt im Haus nebenan und die zwei Mädchen kannten sich schon von klein auf. Sie besuchten auch die gleiche Schule und gingen in dieselbe Klasse. Die Erwachsenen nannten die beiden immer „die Unzertrennlichen“, denn wo die eine war, da war auch die andere. Karina und Kristin unternahmen alles gemeinsam. Streit zwischen ihnen gab es so gut wie nie. Wahrscheinlich lag es daran, weil sie vom Typ her eigentlich ganz verschieden waren; Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten.

Karina, genannt Nietzi, war 1,65 m groß. In ihrem fast runden Gesicht glaubte man stets, etwas Schelmiges zu entdecken. Sie trug eine Kurzhaarfrisur. Keines ihrer hellblonden Haare war länger als zwei Zentimeter. Ihre Frisur ähnelte einem Igel, nur eben blond. Nietzis Körperbau wirkte eher kräftig. Sie war nicht dick, nicht einmal pummelig, wurde aber auf Grund ihres Aussehens schon das eine oder andere Mal mit einem Jungen verwechselt. Ihre Vorliebe für Latzhosen aus Jeansstoff unterstrich das männlich wirkende Outfit. Die Latzhosen waren Karinas ganz persönliche Note. Sie fühlte sich darin so richtig wohl. Auch ihr Wesen hätte eher zu einem Jungen gepasst. Bereits als kleines Kind war sie schneller auf die höchsten Bäume geklettert, als so mancher Junge. In ihrem Schwimmverein galt sie auch heute noch als die mit Abstand beste Schwimmerin. Auch viele Jungen konnten mit ihrem Schwimmtempo nicht mithalten. Karina ließ sich durch nichts und niemanden beeindrucken. In ihrer Schule gab es fast keinen, der gegen ihre große Klappe ankam.

Ihre Freundin Kristin war ganz das Gegenteil von ihr. Sie war eher zurückhaltend. Kristin, von Karina wurde sie immer „Krissi“ genannt, war ein sehr hübsches Mädchen mit langen, dunkelblonden Haaren, die sie fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Ihre großen, blauen Augen und ihre kleine Stupsnase ließen sie etwas jünger erscheinen. Mit einer Größe von 1,62 m war sie drei Zentimeter kleiner als Karina. Auch sie hatte eine Vorliebe für Jeans, nur eben nicht in Form einer Latzhose.

Wenn die zwei gemeinsam für die Schule lernten, ergänzten sie sich ausgezeichnet. Karinas Lieblingsfach war Deutsch und bei den Klassenarbeiten in diesem Fach hagelte es immer Bestnoten. Dafür schwächelte sie in Mathematik und Geologie, welches aber Kristins Lieblingsfächer waren. Da die zwei sich beim Lernen gegenseitig unterstützten und die eine der anderen jeweils das erklärte, was sie nicht so richtig verstand, konnten sie sich beide auch in ihren schwachen Fächern gut über Wasser halten. Natürlich hatten die zwei Freundinnen auch Gemeinsamkeiten. Sie hörten die gleiche Musik und schwärmten für die gleichen Popstars, von denen große Poster an den Wänden ihrer Zimmer hingen. Und da war noch eine Gemeinsamkeit. Beide Mädchen waren verknallt, und zwar in den gleichen Jungen. Er hieß Dennis und war zwei Schuljahre weiter. Die Mädchen waren sich einig, dass er den knackigsten Hintern von allen hatte. Dennis war der begehrteste Junge auf der ganzen Schule. Seit einigen Tagen war er, zum Leidwesen aller anderen Mädchen, mit Steffi aus der Parallelklasse zusammen. Steffi sah gut aus, war immer toll geschminkt und sie hatte einen Körper, nach dem sich alle Jungen umdrehten. Sie brauchte keine Konkurrenz in ihrer Schule zu befürchten.

Karina beneidete Steffi um ihre Figur, denn sie selbst hatte kaum weibliche Kurven. Ihr Busen wollte und wollte nicht richtig wachsen. Dennoch hatte sie aber schon einmal einen Freund. Diese Beziehung hatte allerdings nur sehr kurz gehalten.

Bei Kristin war das anders. Wenn sie in engen Jeans über den Schulhof schritt, dann begleiteten sie die positiven Kommentare der Jungen. Selbstverständlich tat sie immer so, als überhöre sie die teilweise sehr dummen Sprüche. Innerlich aber war sie stolz darauf, die Blicke der Jungen auf sich zu ziehen. Krissi war mit ihrer Figur zufrieden. Natürlich konnte auch sie nicht mit der zwei Jahre älteren Steffi mithalten, doch wenn sie zu Hause entkleidet vor dem Spiegel stand, sagte sie sich jedes Mal selbst, was für einen tollen Busen sie schon hatte.

Kristin schloss den Reisverschluss ihrer großen Sporttasche, nahm diese in die Hand und begab sich in die Küche.

Bereits im Flur hörte sie, dass ihre Mutter, wie jeden Morgen, bereits in der Küche herumhantierte. Kristin wusste, dass der Frühstückstisch schon gedeckt war. Sie brauchte sich nur noch an den Tisch setzen und essen. Ihre Mutter verwöhnte die einzige Tochter wo sie nur konnte.

„Guten Morgen“, wurde sie von ihrer Mutter begrüßt, als sie den Raum betrat.

“`n Morgen, Mama.“

„Na, hast du schon alles, was du brauchst, eingepackt?“

„Ja“, kam es kurz und knapp aus Kristins Mund. Sie setzte sich wortlos an den gedeckten Tisch und begann zu frühstücken.

„Freust du dich schon auf Tante Elke?“, fragte ihre Mutter sie.

„Ja.“

„Hast du Nietzi auch gesagt, dass sie pünktlich hier sein soll?“

„Ja.“

Kristin biss in das Brötchen mit Erdbeermarmelade, welches ihre Mutter ihr schon fertig geschmiert hatte.

Obwohl sie sich auf den heutigen Tag freute, fühlte sie sich, wie immer um diese Uhrzeit, müde. Sie war ein echter Morgenmuffel. Diese andauernde Fragerei ihrer Mutter ging ihr auf den Geist. Überhaupt, wenn jemand morgens schon so gut drauf war, wie Mama, dann raubte ihr es oft den letzten Nerv. Mama brachte es sogar fertig, morgens fröhlich pfeifend durch das Haus zu laufen, und das empfand Kristin als echt ätzend.

„Besonders gesprächig bist du ja heute nicht“, bemerkte ihre Mutter.

Ihre Tochter reagierte nicht auf diese Bemerkung. Sie kaute teilnahmslos auf ihrem Brötchen herum.

„Hast du auch nichts vergessen, Kristin?“, fragte die Mutter erneut.

„Nein.“

„Hast du genug Unterwäsche eingepackt?“

„Ja.“

„Und die Fahrkarte? Hast du sie in deine Tasche gesteckt?“

„Ja.“

„Und deine Zahnbürste, hast du an deine Zahnbürste gedacht?“

„Ja, Mama, ich habe an meine Zahnbürste gedacht.“ Kristin liebte ihre Mutter über alles. Doch momentan ging ihr das ständige Gefrage immer mehr auf den Geist. „Manchmal behandelst du mich, wie ein Kind, Mama“, beschwerte sie sich.

„Du bist ja auch mein Kind.“

„Aber zum selbstständigen Kofferpacken bin ich alt genug.“

Ihre Mutter atmete tief durch. „Ich mein es ja auch nur gut.“

Immer, wenn es um Kristin ging, spielte ihre Mutter die Sorgenvolle. Das war schon immer so, doch seit der Loveparade, die ein so schreckliches Ende genommen hatte, glitten die Bemutterungen schon fast ins Krankhafte. Das hatte seinen Grund, denn seinerzeit waren Mädchen aus der Nachbarschaft zu diesem Großevent gefahren. Als deren Mütter in den Nachrichten von dem schweren Unglück gehört hatten, waren sie in Panik geraten und hatten die ganze Nachbarschaft verrückt gemacht. Alle Versuche, die Mädchen mit dem Handy zu erreichen waren gescheitert, da das Netz wegen Überlastung zusammengebrochen war. Die Stunden, in denen sie verzweifelt auf eine Nachricht der Mädchen gewartet hatten, waren bis heute unvergessen, obwohl ihnen nichts passiert war.

Auch wenn diese Bemutterungen Kristin manchmal auf den Geist gingen, tief im Inneren hatte sie Verständnis für ihre Mama.

In dem Moment klingelte es an der Türe.

„Das wird Nietzi sein“, sagte Kristin und sprang auf. Sie lief zur Türe und begrüßte ihre beste Freundin.

Karina trug wie immer eine Jeanslatzhose. In der Hand hielt sie eine große Sporttasche. „Bist du soweit?“, fragte sie. Ihr fröhlich wirkendes Gesicht ließ erkennen, dass sie offensichtlich nicht zu den Morgenmuffeln gehörte.

Als ihre Freundin nicht sofort antwortete, stellte sie ihre Frage noch einmal: „Bist du soweit?“

„Ja, wir können sofort los.“ Kristin ging zurück in die Küche und nahm ihre Tasche. Dann gab sie ihrer Mutter einen Kuss. „Tschüss Mama.“

„Du hast dein Brötchen noch nicht aufgegessen.“

„Ich bin satt. Also, bis dann.“

„Tschüss, mein Schatz und pass auf dich auf.“

„Das werde ich machen.“

„Und vergiss nicht, mich anzurufen, wenn du angekommen bist. Hast du gehört?“

„Ja, Mama.“

Ihre Mutter trat vor die Tür und begrüßte Karina. „Pass mir gut auf meine Kristin auf“, sagte sie zu ihr.

„Keine Angst, ich bringe sie heil wieder zurück.“ Karina lachte.

Dann machten sich die beiden Mädchen auf den Weg zum Bahnhof.

Kristin wandte sich noch einmal um und erblickte ihre Mutter, die hinter dem Küchenfenster stand und ihr hinterher winkte.

* * *

Die Bahnfahrt verging wie im Flug. Als die beiden Mädchen im Bahnhof Nottuln-Appelhülsen den Zug verließen, hatten sie Glück, denn der Bus nach Pramberg fuhr nur zehn Minuten später ab. Beim Einsteigen stellten die beiden fest, dass der Bus fast leer war. Es lag wohl daran, dass Ferien waren. Die meisten Leute waren irgendwo im Urlaub. Sie setzten sich ganz nach hinten auf die letzte Sitzbank.

„Ich freu mich schon auf Bolle“, sagte Kristin. „Den habe ich schon ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen.“

„Und ich hoffe“, meinte Karina, „dass Bolle so nett ist, wie du immer sagst.“

„Das ist er. Du wirst es sehen.“

Bolle, das war Kristins Cousin. Eigentlich hieß er Thorsten, Thorsten Bolenter. Von dem Nachnamen Bolenter war sein Spitzname „Bolle“ abgeleitet worden. Karina kannte Bolle noch nicht. Sie kannte auch Kristins Tante nicht. Bisher hatte sie Bolle und seine Mutter nur auf Fotos gesehen. Nietzi war aber fest davon überzeugt, dass Tante Elke eine supernette Frau war. Als sie Kristin telefonisch eingeladen hatte, für eine Woche zu ihr zu kommen, hatte sich Kristin riesig gefreut. Dann hatte sie so ganz nebenbei erwähnt, dass ihre beste Freundin dann halt für diese Zeit ohne sie auskommen müsse. „Warum bringst du sie nicht einfach mit?“, hatte Tante Elke spontan gesagt. „Platz habe ich mehr als genug.“ Diese Einladung hatte Karina natürlich nicht ausgeschlagen.

„Wie alt ist Bolle eigentlich?“, wollte Karina wissen.

„Er ist ein Jahr älter, als wir.“

„Sieht er in Wirklichkeit auch so gut aus, wie auf den Fotos, die du mir gezeigt hast?“

„Er sieht nicht schlecht aus, Nietzi. Mein Geschmack ist er allerdings nicht. Bolle ist sehr sportlich. Er spielt Fußball und ist einer der besten seiner Mannschaft. Zwei Mal in der Woche geht er außerdem zu seinem Judoverein. Ich kenne mich da nicht so gut aus, aber Bolle hat bereits das Höchste erreicht, was man in seinem Alter im Judosport erreichen kann.“

„Ich lass´ mich überraschen, was für ein Typ er ist.“ Karinas Blick ging aus dem Fenster. Appelhülsen hatten sie hinter sich gelassen. Der Bus fuhr jetzt durch eine eher eintönige Gegend. So weit das Auge reichte, waren Felder zu sehen. Es waren überwiegend Rapsfelder. Ab und zu sorgten Maisfelder oder Weiden mit ein paar grasenden Kühen für etwas Abwechslung. Die Bauernhöfe, die diese riesigen Flächen bewirtschafteten, lagen weit verstreut in der Landschaft. Immer wieder sahen sie Gruppen riesiger Windkraftanlagen, deren gewaltige Rotoren sich langsam drehten.

Es war zwar noch verhältnismäßig früh am Tag, doch die beiden Mädchen merkten jetzt schon, dass es heute sehr heiß werden würde.

Der Himmel war blau und die Sonnenstrahlen drangen warm durch die Fensterscheiben des Busses.

„Ich bin auf das neue Haus meiner Tante gespannt“, sagte Kristin. Sie hatte ihrer Freundin bereits erzählt, dass Tante Elke umgezogen war. Kristin kannte das Haus noch nicht. Ihr Cousin hatte es ihr aber bereits am Telefon beschrieben. Demnach musste es ein großes Haus sein, in das Bolle und seine Mutter zunächst ganz alleine eingezogen waren. Bolle hatte auch berichtet, dass es im östlichen Teil der Stadt Pramberg einen großen, bebauten Hügel gab und dass ihr neues Haus genau oben auf dieser Erhebung lag. Mittlerweile lebte auch Tante Elkes Lebensgefährte dort. Nach Bolles Beschreibung war das Haus zwar schon uralt, aber es hatte einen riesigen Garten.

Der Bus erreichte Pramberg. Nun mussten sie nur noch an der richtigen Haltestelle aussteigen.

„Nächster Halt, Schlossstraße“, klang es schließlich aus dem Lautsprecher des Busses.

Kristin nickte kurz. „Wir sind da. Hier müssen wir raus.“

Nachdem die Mädchen den Bus verlassen hatten, kramte Kristin in ihrer Tasche herum.

„Was suchst du, Krissi?“ Karina blickte sie fragend an.

„Den Zettel mit der Wegbeschreibung. Tante Elke hat mir am Telefon genau beschrieben, wie wir laufen müssen, um zu ihrem Haus zu gelangen.“

„Ich dachte, du kennst den Weg.“

„Nein. Ich kenne nur die Adresse, Am Brandberg 10. Wie wir zu dieser Straße hinkommen, das weiß ich nicht, noch nicht.“

In dem Moment, als sie das sagte, hielt sie einen Zettel in der Hand. „So“, sprach sie weiter. „Jetzt weiß ich es.“

Die beiden Freundinnen machten sich auf den Weg. Dabei hielten sie sich genau an die Wegbeschreibung, die Kristins Tante durchgegeben hatte.

„Hat deine Tante gesagt, wie weit es ist?“, wollte Karina wissen.

„Sie sagte, dass wir von der Bushaltestelle aus etwa eine viertel Stunde laufen müssten.“

„Das ist ja nicht weit.“

Nach ungefähr zehn Minuten entdeckten sie das Straßenschild mit der Aufschrift „Am Brandberg“. Sie bogen in diese Straße ein. Hier ging es leicht bergauf. Das erste Haus auf der rechten Seite trug die Hausnummer 2. Es war ein großes Einfamilienhaus mit einem riesigen Vorgarten.

„Es kann nicht mehr weit sein“, stellte Kristin fest.

Die Mädchen marschierten weiter. Das nächste Haus trug die Hausnummer 4. Auch dieses Gebäude hatte einen parkähnlichen Garten. Auf der anderen Straßenseite stand eine wunderschöne, alte Villa, deren Eingang von Marmorsäulen umgeben war.

„Das scheint ja eine gehobene Wohngegend zu sein“, stellte Karina fest.

Ihre Freundin stimmte ihr zu.

Es ging weiterhin leicht bergauf. Die Zwei passierten die Hausnummer 6 und dann das Haus mit der Nummer 8.

„Das nächste Haus muss es sein“, meinte Kristin.

Doch zur Verwunderung der Mädchen war kein Haus zu sehen. Vor ihnen reichte auf beiden Seiten dichter Wald bis an die Straße heran.

„Bist du sicher, Krissi, dass du dir die richtige Hausnummer gemerkt hast?“

Die Angesprochene hielt den Zettel hoch. „Hier steht es doch. Am Brandberg 10.“

Karina zuckte mit den Schultern. „Dann wollen wir die Nummer 10 mal suchen.“

Sie marschierten zügig weiter und bereits nach einigen Minuten konnten sie auf der rechten Straßenseite, eine Einfahrt erkennen.

„Na also“, meinte Kristin. „Das wird es sein.“

Schließlich standen sie vor dem Haus mit der Nummer 10. Es war ein zweigeschossiges Gebäude und lag etwa zehn Meter von der Straße entfernt. Das Haus wirkte sehr betagt und war von altem Baumbestand umgeben. Die Hauswände bestanden aus schmutzig dunklen Ziegelsteinen. Der Eingang befand sich auf der rechten Seite des Gebäudes.

Zielsicher gingen die zwei Freundinnen auf die Eingangstür zu. Noch bevor sie diese erreichten, öffnete sie sich. Eine Frau trat heraus. „Hallo Kristin!“, rief sie erfreut und kam den Mädchen entgegen.

Es war Karina sofort klar, dass das Krissis Tante sein musste. Auf den Bildern, die Kristin ihr von der Tante gezeigt hatte, war diese blond. Die Frau, die ihnen entgegen kam, hatte aber einen feuerroten Haarschopf.

„Hallo Tante Elke“, begrüßte Kristin die Frau.

Ihre Tante nahm sie in den Arm und drückte sie. Dann wandte Tante Elke sich an Kristins Begleiterin. „Du musst Nietzi sein. Ich habe mich schon drauf gefreut, Kristins beste Freundin endlich mal kennen zu lernen.“ Sie reichte Karina die Hand.

„Guten Tag Frau Bolenter“, grüßte diese freundlich.

Kristins Tante lächelte sie an. „Sag Elke und Du zu mir.“

Nun wandte sie sich wieder ihrer Nichte zu. „Und dir habe ich auch schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht mit Tante ansprechen sollst. Das hört sich immer so an, als sei ich schon steinalt.“

Lachend gingen die drei zum Eingang. Tante Elke ging vor.

Als Karina auf die vorausgehende Frau blickte, stellte sie fest, dass Elke eigentlich noch sehr jung wirkte. Die Frau war vierzig Jahre alt. Das hatte Kristin ihr erzählt. Karina war der Meinung, dass man Krissis Tante durchaus auf dreißig schätzen könnte. Sie trug eine schulterlange, moderne Frisur und ihre Kleidung glich eher der von Jugendlichen. Auch die schlanke Figur ließ sie deutlich jünger erscheinen. Vom ersten Augenblick an verspürte Karina Sympathie für die Frau. Auch wenn Nietzi sie noch gar nicht so richtig kennen gelernt hatte, irgendwie mochte sie Krissis Tante jetzt schon.

Als die drei das Gebäude betreten hatten, wandte Elke sich an ihre beiden Gäste: „Wollt ihr sofort ein zweites Frühstück einlegen oder soll ich euch zuerst durchs Haus führen?“

Die Mädchen waren sich einig, dass sie zunächst die Räumlichkeiten sehen wollten. Schließlich musste die weibliche Neugier gestillt werden.

Die Räume waren alle sehr groß und hatten eine außergewöhnliche Deckenhöhe. In der oberen Etage gab es zwei leere, noch unmöblierte Zimmer. Die anderen Räume dienten als Arbeitszimmer. Hier befanden sich überall an den Wänden prallgefüllte Bücherregale.

Kristins Tante erzählte, dass ihr Lebensgefährte sich hier eingerichtet hatte. Er war von Beruf Bibliothekar und arbeitete bei der Stadtverwaltung im Archiv für Stadtgeschichte. Nebenbei übersetzte er auch Bücher. Dazu benötigte er diese Arbeitszimmer.

Das Zimmer, in dem Karina und Kristin wohnen sollten, lag im Erdgeschoss. Der Raum war gemütlich eingerichtet. Direkt vor dem großen Fenster stand ein Tisch mit drei Stühlen. An einer Wand standen zwei Kleiderschränke und an der gegenüberliegenden Wand zwei Betten.

„Ich glaube“, stellte Kristin mit einem Lächeln fest, „hier können wir es aushalten.“

Nachdem die Räumlichkeiten des Hauses erkundet waren, führte Tante Elke die beiden Mädchen in das Esszimmer. Ihr Blick fiel auf einen gedeckten Tisch und es roch nach frischem Kaffee.

„Setzt euch“, meinte Elke und blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich werde Thorsten rufen. Er hat bestimmt wieder die Zeit vergessen. Eigentlich wollte er pünktlich hier sein, um zusammen mit euch ein zweites Frühstück einzulegen.“

„Wo ist er denn?“, fragte Kristin neugierig.

„Er ist hinten im Garten und gräbt ein großes Loch.“

„Ein Loch? Was hat er denn vor?“

„Er möchte einen Gartenteich anlegen, so ein Biotop.“

„Wenn du nichts dagegen hast“, meinte Kristin zu ihrer Tante, „dann würd ich Bolle gerne persönlich holen.“

Elke zuckte mit den Schultern.

„Dann hole ihn persönlich. Er wird sich garantiert freuen.“

„Ich komm mit“, sagte Karina.

Schließlich wollte auch sie endlich diesen Bolle kennen lernen.

„Wie kommen wir denn in den Garten, Elke?“

„Wenn ihr aus der Haustür kommt, dann haltet ihr euch links.“

Die zwei Mädchen verließen das Esszimmer. Als sie durch die Haustür ins Freie traten, entdeckte sie sofort den schmalen Weg, der hinter das Haus führte. Dieser Weg verlief geschwungen zwischen immergrünen Hecken hindurch. Die Höhe dieser Hecken betrug ungefähr drei Meter. Diese dichte Bepflanzung diente als Sichtschutz. Von der Straße aus konnte man das Gartengrundstück nicht einmal erahnen.

Als Karina und Kristin den Garten schließlich betraten, waren sie überrascht. Sie hatten zwar einen großen Garten erwartet, doch das, was da vor ihnen lag, glich einer Parkanlage mit beachtlichen Ausmaßen. Auf einer großen Terrasse standen zahlreiche Gartenmöbel. Am Ende der Terrasse schloss sich eine gepflegte Rasenfläche an. An einigen Stellen auf dieser Wiese stachen hübsch angelegte Blumenbeete ins Auge. Diese wirkten wie bunte Inseln in einem grünen Meer. Zu beiden Seiten wurde das Grundstück von den gleichen hohen Hecken begrenzt, die den Weg in den Garten säumten. Wie weit diese Grünanlage nach hinten verlief, das konnten die Mädchen nicht erkennen. Eine Vielzahl von hohen Rhododendronsträuchern versperrte die Sicht.

„Wo soll denn dein Cousin sein?“, fragte Karina.

Kristin zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es auch nicht. Lass uns weiter hinten im Garten nachsehen.

Irgendwo muss er ja sein.“

Die beiden Mädchen überquerten den Rasen. Als sie die Rhododendren erreicht hatten, wunderten sie sich. Hier endete der Rasen und ein regelrechter Wildwuchs begann. Die zwei waren sich einig, dass hier dringend ein Gärtner benötigt wurde. Von einem gepflegten Garten konnte hier keine Rede mehr sein. Zwischen dichten Sträuchern, die teilweise von Efeu überwuchert wurden, schien alles erdenkliche Kraut zu wachsen, welches nur irgendwie Fuß fassen konnte. Weiter hinten standen zwischen den eng zusammen gewachsenen Büschen gewaltige Bäume, deren dichten Kronen fast keinen Sonnenstrahl mehr auf den Boden ließen.

Plötzlich fasste Kristin ihre Freundin am Arm und blieb stehen.

„Hörst du das?“, fragte Krissi.

„Ja. Das muss dein Cousin sein.“

Das, was die zwei hörten, war nicht etwa das Geräusch eines Menschen bei der Arbeit, sondern ein lautes Schimpfen und Fluchen.

„Bolle scheint nicht sehr gut drauf zu sein“, meinte Karina.

Die Mädchen folgten der Stimme. Bolle musste sich irgendwo ganz hinten zwischen dem alten Baumbestand aufhalten. Ein schmaler, offensichtlich kaum benutzter Trampelpfad führte durch das Dickicht. Die Mädchen hoben beim Laufen ihre Hände hoch, denn zu beiden Seiten des Pfades wucherten bis in Hüfthöhe Brennnesseln. Sie wussten, dass eine Berührung mit diesen Pflanzen sehr unangenehm sein konnte.

Thorsten Bolenter hatte den Mädchen den Rücken zugedreht, als diese ihn erreichten. Er bemerkte die beiden nicht. Der Junge stand in einer Vertiefung und hackte immer wieder mit einem Spaten in den Boden.

„Verdammter Mist!“, schimpfte er laut. „So eine Scheiße!“

Als er hinter sich ein Lachen hörte, drehte er sich erschrocken um. Es schien einen Augenblick zu dauern, bis er registrierte, wer da vor ihm stand.

„Kristin“, kam es aus seinem Mund. „Ich wusste nicht, dass du schon so früh kommst.“

Er kletterte aus dem Loch, ging auf die beiden Mädchen zu und wollte ihnen die Hand geben. Doch Karina und Kristin zogen ihre Hände zurück.

„Sei mir nicht böse, Bolle“, sagte seine Cousine, „aber berühr mich nicht, bevor du dir die Hände gewaschen hast.“

Thorsten blickte auf seine lehmverschmutzten Finger und wusste sofort, was Kristin meinte.

Nun machte Kristin ihren Cousin mit Karina bekannt.

„Das ist Nietzi“, sagte sie zu ihm.

Dann wandte sie sich an Karina und meinte:

„Und das ist Bolle.“

Nietzi und Bolle nickten sich lächelnd zu.

„Dich hab ich mir eigentlich etwas anders vorgestellt“, sagte Karina und lachte. Dabei blickte sie Thorsten von oben bis unten an. Er trug einen alten Arbeitsanzug, der ihm einige Nummern zu groß war. Auch die Knie hohen Gummistiefel wirkten viel zu groß. All diese Sachen waren mit Erde und Lehm verschmiert. Scheinbar hatte Bolle sich mit den dreckigen Fingern ins Gesicht gefasst, denn auf seiner rechten Wange prangten zwei lehmig braune Streifen. Er glich damit einem Indianer, der seine Kriegsbemalung noch nicht vollendet hatte. Thorsten war 1,80 Meter groß und hatte kurz geschnittene, blonde Haare.

Er verstand natürlich sofort, dass Karinas Bemerkung seiner merkwürdigen Arbeitskleidung galt.

Thorsten grinste. „Ich hätte auch lieber so eine Arbeitshose, wie du“, meinte er und deutete auf Karinas Kleidung.

Das Mädchen blickt an sich herab. Karina wusste, dass Latzhosen aus Jeansstoff auch als Arbeitskleidung benutzt wurden. Sie grinste zurück.

„Bist du vielleicht neidisch?“

Ihrem Gegenüber wurde sofort bewusst, dass er ein sehr schlagfertiges Mädchen vor sich hatte. Karina stand vor ihm und stemmte erwartungsvoll ihre Hände in die Hüften. Das Grinsen in ihrem runden Gesicht wirkte lustig.

Thorsten lachte.

„Eigentlich wollten wir dich zum Frühstück holen“, sagte Kristin.

„Ich komm mit euch“, meinte ihr Cousin. „Glaubt mir, ich wusste nicht, dass es schon so spät ist. Wenn man arbeitet, dann vergeht die Zeit wie im Flug.“ Thorsten legte seinen Spaten beiseite.

„Warum hast du denn gerade so geschimpft?“, wollte Karina wissen.

„Ich möchte mir hier ein Biotop anlegen. Die Stelle, an der ich zuerst gegraben hatte, schien mir dafür ideal. In einer Tiefe von etwa vierzig Zentimeter bin ich aber auf Steine gestoßen. Eigentlich wollte ich sie einfach nur ausgraben und beiseite legen, um weiter in die Tiefe graben zu können. Doch diese Steine gehören zu einer gewölbten Mauer, die hier früher einmal gestanden haben muss. Diese Mauer ist ganz offensichtlich umgekippt und liegt nun flach unter der Erde. Daraufhin hab ich ein paar Meter weiter angefangen zu graben. Dort ging es zunächst ganz gut voran. Bald hatte ich ein Loch, das fast einen Meter tief war. Als ich das Loch seitlich vergrößern wollte, bin ich schon wieder auf eine Mauer gestoßen. Diese geht allerdings senkrecht in den Boden hinein. Vielleicht stand hier früher mal ein Haus, denn es scheint eine Grundmauer zu sein.“

Kristin blickte ihn fragend an. „Und jetzt musst du dir schon wieder eine andere Stelle für deinen Teich suchen?“

„Nein. Ich werde mein Biotop direkt neben der Mauer anlegen. Da sind zwar auch `ne Menge Steine im Boden, doch die kann man ausgraben.“

„Und deswegen hast du gerade so geflucht?“

„Ja, denn immer, wenn ich dachte, dass ich jetzt zügig weiter graben kann, stieß ich erneut auf einen Stein. Aber ich habe es bald geschafft.“ Er wies in das ovale Loch. Am tiefsten war es direkt an der erwähnten Grundmauer. Dort war das Loch mehr als einen Meter tief. Von der Mauer weg wurde die Vertiefung immer flacher. Die größte Ausdehnung betrug etwa drei Meter. Hinter der Mauer waren mehrere Stellen freigelegt worden, an denen ebenfalls vermauerte Steine zu sehen waren. Das war ganz offensichtlich die Mauer, die nach oben gewölbt auf der Erde lag. Im Loch lagen zahlreiche, unregelmäßig behauene Gesteinsbrocken. Auch die freigelegte Mauer war aus solchen Steinen gefertigt worden.

„Es sieht so aus, als ob diese Grundmauer ganz aus Natursteinen besteht“, stellte Kristin fest. „Die muss ja schon sehr alt sein.“

„Darüber hab ich mich auch schon gewundert“, meinte Bolle. „Das erste Stück dieser Mauer hab ich schon gestern Nachmittag freigelegt. Ich hatte sofort Peter geholt. Er sollte sich das mal ansehen. Er war genauso verwundert wie ich und...“

„Bevor du weiter redest“, unterbrach Karina ihn, „Sag uns erst mal, wer Peter ist.“

„Ach ja, den kennt ihr ja noch nicht. Also, Peter ist Mamas Lebensgefährte. Er ist total in Ordnung. Ihr werdet Peter noch kennen lernen. Er hat sich auf jeden Fall genau so über diese alte Mauer gewundert wie ich. Scheinbar ist er auch genau so neugierig wie ich, denn er ist sofort mit mir ins Haus gegangen, um die Unterlagen des Hauses heraus zu suchen. In diesen Unterlagen sind auch Pläne unseres Grundstücks. Doch außer dem Haus ist dort nichts eingezeichnet. Aus den Unterlagen geht aber hervor, dass dort, wo unser Haus jetzt steht, früher einmal ein anderes Gebäude stand. Es wurde aber im letzten Weltkrieg bei einem Bombenangriff total zerstört. Auf den Grundmauern dieses Hauses wurde dann unser errichtet. In den Unterlagen ist aber nirgendwo ein Hinweis darauf zu finden, dass sich auf dem Grundstück noch ein anderes Gebäude befand.“

„Aber es muss hier ein Haus gegeben haben“, sagte Karina. „Diese Mauern sind der Beweis dafür.“

„Ja“, meinte Thorsten. „Aber es muss vor sehr langer Zeit gewesen sein.

Selbst auf älteren Stadtplänen ist hier kein Gebäude eingezeichnet.“

„Wisst ihr, was für Bauwerke man früher mit solchen Natursteinen gebaut hat?“, fragte Kristin. „Burgen und Schlösser!“

Thorsten lachte. „Ich glaube nicht, dass es hier eine Burg gab. Man hat auch andere Häuser mit solchen Steinen gebaut.“

„Aber wenn hier doch eine Burg stand“, mutmaßte Krissi, „und es weiß niemand, dann gibt es vielleicht eine verborgene Schatzkammer. Wenn wir sie ausgraben, dann sind wir reich.“

„Ich glaube, meine liebe Cousine, jetzt geht deine Fantasie mit dir durch.“

Nun machten sich die drei auf den Weg zurück zum Haus. Die beiden Mädchen gingen voraus.

Thorsten, der unmittelbar hinter Karina herlief, schmunzelte, denn das Mädchen mit der Latzhose wirkte von hinten sehr lustig. Er dachte darüber nach, was ein sechzehnjähriges Mädchen dazu bringen könnte, ausgerechnet solch eine Hose zu tragen. Seine Cousine hatte ihm am Telefon zwar schon davon erzählt, dass ihre beste Freundin Karina einen Latzhosentick hatte. Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, doch jetzt, wo sie so vor ihm herschritt, musste er grinsen. Er wusste durch Kristin auch, dass Karina in jeder Beziehung echt cool war. Trotzdem fragte Thorsten sich, warum sie so herumlief. Eigentlich will doch jedes Mädchen den Jungen gefallen, doch Karina versucht das anscheinend mit allen Mitteln zu verhindern, wenigstens, was das Outfit anging. Dass Karina nicht auf den Mund gefallen war, hatte er gerade selbst zu spüren bekommen. Er dachte an die gleichaltrigen Mädchen in seiner Schule. So etwas wie Karina fand man dort nicht. Auch die Mädchen aus seinem Judoverein gaben sich anders. Sie scheint trotzdem ganz nett zu sein, dachte er, und das ist das Wichtigste.

Bald betraten sie das Haus.

Kristin und Karina setzten sich sofort an den Tisch und frühstückten gemeinsam mit Tante Elke. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis auch Thorsten erschien. Er war frisch gewaschen und hatte sich umgezogen.

Während des Essens bemerkte Thorsten, dass Karina ihn beobachtete.

„Warum siehst du mich immer so merkwürdig an?“, wollte er schließlich von ihr wissen.

„Nur so.“

„Wie, nur so?“

„Na ja“, meinte Karina schließlich. „Krissi hat mir erzählt, dass du zu den besten Judokas in deinem Verein zählst. Deshalb dachte ich eigentlich, dass du bestimmt eine sehr sportliche Figur hast, breite Schultern, dicke

Oberarme und so, doch du wirkst eher etwas schmächtig.“

Thorsten machte große Augen. Dann lachte er. „Ganz offensichtlich weißt du nicht viel über die Sportart Judo. Es kommt dabei nicht auf breite Schultern und dicke Oberarme an.“

„Krissi hatte mir erzählt, dass dein Körper total durchtrainiert ist und richtig gut aussieht.“

„Hat sie das?“

Thorsten lächelte.

Nun mischte sich Kristin in das Gespräch.

„Jetzt sei nicht so bescheiden, Bolle“, meinte sie. „Nietzi soll nicht denken, dass ich sie angelogen habe.“

„Mein Judotrainer“, erwiderte Thorsten und grinste dabei, „sagt immer, dass Bescheidenheit eine große Tugend sei.“

Nun stand Kristin ohne ein Wort zu sagen auf und trat hinter Thorstens Stuhl. Sie beugte sich von hinten über Thorsten, fasste sein T-Shirt am Bund und zog es bis über die Brust nach oben. Thorstens Bauch lag nun frei.

„Na“, sagte Kristin zu Karina. „Habe ich dir zu viel versprochen?“

Karinas Blick fiel auf eine, offensichtlich sehr gut durchtrainierte Bauchmuskulatur. Es war der perfekte Sixpack, jeder einzelne Muskel malte sich ab.

„Donnerwetter“, kam es anerkennend aus ihrem Mund.

Thorsten zog sein Shirt wieder herunter.

„Wie oft muss man denn für so etwas trainieren?“, wollte Karina wissen.

„Es kommt drauf an“, meinte Thorsten. „Mal mehr und mal weniger. Kurz vor Wettkämpfen trainiere ich persönlich überhaupt nicht.“

„Es muss doch ein tolles Gefühl sein“, sagte Karina, „wenn man zum Beispiel auf dem Schulhof weiß, dass man bei einem Streit jeden blitzschnell auf den Boden befördert kann, oder?“

„Ich streite mich nicht“, antwortete Thorsten. „Judo dient lediglich der Verteidigung.“

„Ach so“, meinte Karina.

Dann wandte sie sich wieder dem Essen zu.

Thorsten musste daran denken, dass er soeben gelogen hatte. Natürlich diente Judo der Verteidigung, dennoch hatte er schon den einen oder anderen Streit angefangen, auch in der Schule. Einmal war ein Neuling in seine Klasse gekommen, so ein Angebertyp. Thorsten hatte diesen Typen solange mit irgendwelchen Dingen provoziert, bis dieser wütend auf ihn losging. Darauf hatte Thorsten nur gewartet. Der Neuling lag sehr schnell geschlagen auf dem Boden und wären andere Schüler nicht dazwischen gegangen, dann hätte Thorsten diesen Angebertypen den Arm ausgekugelt. Manchmal vergaß Thorsten die Tugenden, die ihm sein Judotrainer immer predigte.

Nun lenkte er seine Gedanken wieder in andere Bahnen.

Es gab viel zu erzählen und die Zeit verging wie im Flug.

Die beiden Mädchen beschlossen, gleich in die Innenstadt zu fahren, um noch ein wenig durch die Fußgängerzone zu bummeln und wenn noch genug Zeit war, das neue Outlet Center zu besuchen.

„Kommst du mit uns, Bolle?“, fragte Karina.

„Nein, Nietzi, ich werde weiter an meinem Biotop arbeiten. Ihr müsst alleine gehen.“

„Wenn ihr nichts dagegen habt“, schlug Elke den Mädchen vor, „dann komme ich mit. Ich muss sowieso noch einkaufen. Dann braucht ihr auch nicht den Bus nehmen. Wir fahren mit meinem Auto.“

Natürlich waren die beiden einverstanden, und direkt nach dem Frühstück fuhren sie los.

Der Bummel durch die Innenstadt wurde schließlich für alle ein sehr abwechslungsreiches Unterfangen. Elke zog zusammen mit Kristin und Karina durch die Geschäfte. Es wurden zahlreiche Dinge angeschaut und zahllose Blusen und Jeans anprobiert, die man letztendlich doch nicht kaufte. Als nach ein paar Stunden die Beine müde wurden, kehrten die drei bei McDonalds ein, um sich zu stärken. Die Mädchen durften sich ihr Wunschmenü aussuchen und Tante Elke bezahlte. Je länger die drei zusammen waren, desto mehr merkten sie, wie gut sie sich verstanden.

Nachdem weitere Geschäfte durchforstet waren, setzten sie sich in ein Straßencafe und bestellten Eis.

Erst am späten Nachmittag kehrten sie wieder nach Hause zurück. Kristin und Karina waren sich einig, dass dieser abwechslungsreiche Bummel mit Elke einfach toll war. Das neue Outlet Center wollten sie sich in den nächsten Tagen vornehmen, denn Elke meinte, dass man dafür einen ganzen Tag braucht.

Kaum waren die Mädchen aus dem Auto gestiegen, begaben sie sich in den Garten. Sie wollten sehen, wie weit die Arbeiten an Thorstens Teich fortgeschritten waren.

Bolle winkte ihnen entgegen, als er sie kommen sah. Er stand in der Vertiefung. Erst als die beiden Mädchen in den Schatten der großen Bäume traten, unter denen Thorsten arbeitete, erkannten sie ihn.

„Bist du etwa schon fertig?“, fragte Nietzi.

„Nein. Es ist wesentlich schwieriger, als ich zunächst angenommen hatte.“ Thorsten deutete auf einen Haufen, der neben dem Loch entstanden war. Dieser Haufen bestand aus Steinen und alten Balken, die er offensichtlich ausgegraben hatte.

„Ich glaube“, sprach er weiter, „das Haus, welches hier einmal gestanden hatte, war einem Feuer zum Opfer gefallen. Es muss damals bis auf die Grundmauern abgebrannt sein.“

Sofort wussten die beiden Mädchen, was er meinte.

Die Balken waren fast alle verkohlt und auch an den alten Steinen erkannten sie rußgeschwärzte Stellen.

„Wenn man sich diese Mauer genauer betrachtet, dann sieht man darauf auch Brandspuren“, erklärte Thorsten.

Karina blickte in das Loch.

„Du hast ja viel tiefer gegraben, als du wolltest“, stellte sie fest.

„Ich musste tiefer graben, sonst hätte ich diese Balken nicht herausbekommen.“

Die Mauer war jetzt bis in eine Tiefe von gut 1,50 Meter freigelegt. Als Karina die Mauer genau betrachtete, fiel ihr etwas auf. Eine Fläche in der Mauer sah anders aus. Die Steine waren wesentlich kleiner, als die übrigen. Auch die Fugen dieses Mauerteils waren anders. Hier hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Mauer ordentlich zu verfugen. Für Karina stand fest, dass sich dort einmal eine Tür befunden hatte, die unsauber zugemauert worden war.

Sofort teilte sie ihre Entdeckung den anderen mit.

Thorsten nickte. „Dass ich das nicht selbst bemerkt habe. Du hast Recht, Nietzi. Die Fugen sind überall glatt. Nur an dieser Fläche wurde unordentlich gemauert. Teilweise sind die Fugen nicht richtig gefüllt und an manchen Stellen hat man den herausgelaufenen Mörtel nicht entfernt.“ Er ließ seine Hand über die besagte Stelle gleiten. Eine der Fugen war besonders breit. Entweder hatte man hier den Mörtel ganz vergessen oder er war bereits heraus gefallen. Dort existierte ein etwa drei Zentimeter hoher, waagerechter Schlitz. Thorsten hob einen dünnen Ast auf, der in die Grube gefallen war. Damit kratzte er den Lehm, der diese breite Fuge teilweise ausfüllte, aus der Wand. „Ich habe ja nicht viel Ahnung von Maurerarbeiten“, murmelte er, „doch hier wurde damals schon Pfusch am Bau geleistet.“ Er drückte den, etwa einen halben Meter langen Ast in die Fuge. Plötzlich rutschte dieser ganz hinein. „Die Mauer muss verdammt dick sein“, stellte Thorsten fest. Suchend blickte er sich um. Er hielt nach einem etwas längeren Ast Ausschau, damit er die Mauerstärke messen konnte. Allerdings war in der Grube nichts Geeignetes zu finden. „Ich brauche einen langen, dünnen Ast oder eine Stange“, gab er den beiden Mädchen zu verstehen.

„Kein Problem“, hörte er Kristin sagen. „Ich habe vorhin im Garten Stangen gesehen. Sie stecken in einem der Blumenbeete. Scheinbar waren damit irgendwelche Pflanzen hochgebunden worden.“

„Zerstöre bloß die Blumenbeete meiner Mutter nicht“, sagte Thorsten. „Die sind ihr ein und alles.“

„Keine Angst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da keine Blumen mehr dran waren.“ Mit diesen Worten verschwand Kristin. Es dauerte nur kurze Zeit, bis sie wieder zurück war. In der Hand hielt sie eine etwa einen Meter lange Eisenstange. Mit dem Kommentar: „Die ist zwar rostig, aber zweckmäßig“, übergab sie ihrem Cousin die Stange.

„Genau das, was ich brauche“, meinte Thorsten.

Er setzte die Eisenstange in die Fuge und schob sie mit Schwung hinein. Zum Erstaunen aller Anwesenden verschwand sie ganz in der Mauer. Die rostige Stange rutschte Thorsten aus den Fingern. Aus dem Loch in der Fuge hörte man ein schwaches Geräusch. Dieses Geräusch war eindeutig von der Eisenstange gekommen, die irgendwo hinter der Mauer auf den Boden aufgeschlagen war.

„Das gibt ´s doch nicht“, wunderte sich Thorsten. „Hinter der Mauer muss ein Raum sein.“

„Da ist auch ein Raum“, meinte Karina und zeigte auf die Stelle hinter der Mauer. Dort hatte Thorsten die ersten Versuche gestartet, ein Biotop anzulegen. An einigen Stellen waren freigelegte Steine zu sehen. Sie gehörten zu der gewölbten Mauer, die nach Thorstens Meinung umgefallen war und nun flach auf dem Boden lag. „Das, was du da oben ausgegraben hast“, sprach Karina weiter, „ist keine umgefallene Mauer. Es ist die nach oben gewölbte Decke des Raumes, der hinter dieser Mauer liegt.“

„Ein uralter Gewölbekeller“, stellte Kristin leise fest. Ehrfurcht lag in ihrer Stimme. „Vielleicht verbirgt sich darin ja doch eine Schatzkammer.“

Obwohl keiner an so etwas glaubte, wuchs ihre Aufregung.

„Du hast eine tolle Entdeckung gemacht, Bolle“, meinte Karina anerkennend. „Wir müssen unbedingt herausbekommen, was hinter dieser Mauer ist.“

Bolle nickte. „Das werden wir auch.“ Seine Stimme klang erregt.

„Ein altes Gewölbe, das vielleicht schon seit über hundert Jahre nicht mehr betreten wurde.“, sprach er weiter. „Wer weiß, was wir hinter dieser Mauer finden.“

„Vielleicht finden wir in diesem Gewölbe antike Möbelstücke“, Karinas Augen glänzten. „Solche Stücke sind wertvoll. Wenn wir sie verkaufen, bekommen wir bestimmt einen guten Preis dafür.“

„Oder es gibt doch einen Schatz“, mutmaßte Kristin erneut.

Karina schüttelte leicht mit dem Kopf und grinste. „Du und dein Schatz, Krissi. Doch ganz egal, was wir darin finden werden, es wird sehr alt sein, und alles, was alt ist, hat heutzutage einen gewissen Wert.“

„Ja“, stimmte Kristin ihr zu. „Vielleicht springen dabei ja ein paar hundert Euro für jeden von uns raus.“

„Oder sogar ein paar tausend.“

Nun mischte sich Thorsten wieder in das Gespräch ein: „Bevor ihr euch noch mehr steigert, Mädels, habt ihr schon einmal daran gedacht, dass hier vielleicht nur ein Kohlenkeller war?“

Die zwei Mädchen schwiegen einen Moment.

Dann sagte Karina: „Bolle, du hast überhaupt keine Fantasie.“

Nun kletterte Thorsten aus dem Loch. „Ich werde mir aus dem Keller unseres Hauses die richtigen Werkzeuge besorgen. Dann brechen wir die Mauer auf. Egal, was sich dahinter verbirgt, ich finde meine Entdeckung spannend.“

Er stellte sich zwischen den Mädchen. Die drei gingen aber noch nicht zurück zum Haus. Sie standen vor dem gegrabenen Loch und blickten auf den zugemauerten Eingang. Irgendwie beschlich sie alle ein merkwürdiges Gefühl. Obwohl heute eigentlich ein warmer Sommertag war, schien die Luft plötzlich kühl zu werden. Ein auffrischender Wind brachte die Blätter der Bäume mit einem Mal zum Rascheln. Der Wind wurde plötzlich zum Sturm, der durch das Blätterdach über den dreien fegte. Ängstlich richteten sich ihre Blicke nach oben. Die dicken Äste der mächtigen Bäume bewegten sich bedrohlich hin und her. Es war, als hätte sich ein wilder Herbststurm in der Jahreszeit geirrt.

„Was ist das?“, fragte Kristin mit leiser Stimme.

Sie bekam keine Antwort.

Wie gebannt starrten die drei nach oben. Der Anblick von dem, was sich über ihen abspielte, erweckte den Eindruck, als tobten sich unbändige Naturgewalten hoch über ihnen aus. Die mächtigen Stämme der alten Bäume schienen zu wanken.

Dann, mit einem Schlag, war der Spuk vorbei. Es war wieder fast absolut windstill.

Man hörte Kristin laut schlucken. „Was war das?“, wiederholte sie ihre Frage von gerade.

„Keine Ahnung“, flüsterte Thorsten. Er blickte wieder auf die von ihm ausgegrabene Mauer. Thorsten hatte keine Erklärung für das merkwürdige Gefühl, dass ihn plötzlich überfiel. Doch es war, als ob von dieser Mauer irgendetwas ausging, etwas Unheimliches. Er bekam mit einem Mal eine Gänsehaut.

Kristin bemerkte, dass Thorsten wie gebannt auf den zugemauerten Eingang starrte. „Stimmt etwas nicht, Bolle?“

„Ich weiß nicht, Kristin, eigentlich glaub ich ja nicht an irgendwelche Spukgeschichten, aber diese Mauer...“

„Was ist mit der Mauer?“

„Wenn ich das nur wüsste. Mir wird diese Mauer langsam unheimlich.“

Nun mischte sich Karina in das Gespräch. „Glaubst du etwa, dass die Mauer den Wind von gerade erzeugt hat? Vielleicht ist die Mauer ja sauer auf dich, weil du sie in ihrer Ruhe gestört hast.“ Sie lachte Thorsten aus.

Dieser ließ sich aber nicht beeindrucken. „Es war nicht alleine der Wind.“ Sein Gesicht wirkte sehr ernst. „Als ich die Mauer ausgrub, verspürte ich eine merkwürdige Kälte. Zuerst dachte ich, ich bilde mir das nur ein. Doch ich bekam nach kurzer Zeit eine Gänsehaut. Als ich das Loch verließ, um eine kurze Pause einzulegen, wurde mir sofort wieder warm. Es war merkwürdig, denn eigentlich wollte ich mir die Ausmaße der Grube von oben anschauen, um einen Überblick zu bekommen. Ich wollte wissen, ob das Loch bereits die richtige Größe für das Biotop hat. Doch was tat ich? Ich starrte eine ganze Weile auf diese Mauer. Fragt mich nicht, warum, ich weiß es nicht. Als ich wieder in die Grube stieg, um weiter zu graben, seid ihr zwei gekommen.“

Karina lachte erneut. „Eines muss man dir wirklich lassen. Du kannst tolle Gruselgeschichten erzählen.“

Kristin fand diese Geschichte nicht so komisch, wie ihre Freundin. Dieser plötzliche Wind eben hatte ihr Angst gemacht. Und nun, nach Thorstens Schilderung, war ihr erst recht nicht mehr wohl. Nun ging auch ihr Blick zur Mauer. Der Anblick des zugemauerten Eingangs verursachte nun auch bei ihr eine Gänsehaut. „Die Mauer ist mir unheimlich“, sagte sie leise.

„Ja“, meinte Karina. „Vielleicht ist es ja auch eine verwunschene Grabkammer und jeder, der die Ruhe des Toten stört, wird von dessen Mumie gefressen.“ Scheinbar fand sie diese Situation recht lustig, denn sie lachte.

„Lass uns zurück zum Haus gehen“, sagte sie schließlich.

Wortlos machten sie sich auf den Weg in Richtung Haus.

Als sie den gepflegten Rasen mit den wunderschön angelegten Blumenbeeten erreichten, blieb Thorsten noch einmal stehen. Er wandte sich um. Sein Blick ging zum hinteren Teil des Grundstückes, zu dem alten Baumbestand, unter dem er sein Biotop anlegen wollte. Alles wirkte wie immer. Es schien eine friedliche Idylle zu sein. Warum hatte er nur das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war? „Merkwürdig“, kam es leise über seinen Lippen.

„Was ist denn jetzt schon wieder merkwürdig?“, fragte Karina. „Hast du noch nie erlebt, dass es mal plötzlich stürmt?“

„Doch, das habe ich. Aber dieser Sturm gerade, der war anders.“

„Du hast Recht, Bolle, es war zwar etwas merkwürdig, aber es war halt nur ein plötzlich aufkommender Sturm. So etwas gibt es.“

Die drei gingen weiter. Als sie die Haustür erreichten, kam Tante Elke ihnen entgegen. „Da seid ihr ja. Ich wollte euch gerade holen. Das Essen ist fertig.“

„Eigentlich will ich noch gar nicht essen“, meinte Thorsten. „Ich wollte nur in den Keller gehen, um mir Werkzeug zu holen.“

„Was für Werkzeug?“, fragte seine Mutter neugierig. „Ich denke, du gräbst nur ein Loch in den Garten.“

„Ich brauche Hammer und Meißel.“

„Wozu das denn?“

„Im Loch liegen ein paar große Steine. Diese Steine sind so schwer, dass man sie nicht herausheben kann. Ich muss sie deshalb zerteilen“, log Thorsten seine Mutter an.

Er wollte von der ausgegrabenen Mauer nichts sagen. Seine Mutter hätte ihm vielleicht verboten, die Mauer aufzustemmen. Sie war immer sehr besorgt um ihn. So eine alte Mauer könnte ja schließlich einstürzen und ihren Sohn unter sich begraben.

Kristin und Karina wunderten sich zwar über Thorstens Lüge, doch sie sagten nichts dazu. Ihnen war klar, dass es wohl irgendeinen Grund für diese Unwahrheit geben wird.

„Ob du willst oder nicht, Thorsten“, sagte seine Mutter schließlich, „zuerst wird gegessen. Du hast den ganzen Tag noch nichts Anständiges in den Bauch bekommen.“

„Ich habe doch gefrühstückt.“

„Das war heute Morgen.“

„Ich hab´ aber noch keinen Hunger.“

„Keine Widerrede! Jetzt wird gegessen.“

Thorsten zuckte mit den Schultern. „Na gut.“ Er wirkte resigniert. „Dann essen wir eben.“

Sie begaben sich direkt in das Esszimmer. Kaum hatten sie Platz genommen, da hörten sie, wie die Haustüre aufgeschlossen wurde.

„Ich bin wieder da“, vernahm man eine männliche Stimme.

„Du kommst genau richtig“, sagte Elke. „Wir wollen gerade Essen.“

Nun betrat ein Mann das Esszimmer. Es war Peter, der Lebensgefährte von Thorstens Mutter. Er war etwa 1,80 Meter groß und eigentlich schlank, wäre da nicht dieser kleine Bauch zu sehen. Auf der Nase trug er eine Brille mit sehr kleinen Gläsern. Peter hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare. Seine Frisur, wenn man es überhaupt als Frisur bezeichnen konnte, bestand aus vielen kleinen Löckchen, von denen ein paar bis über seine Stirn hingen. Er musste etwa im gleichen Alter sein wie Elke.

Ein freundliches „Hallo“, kam aus seinem Mund, als er Karina und Kristin sah.

Elke machte sie miteinander bekannt, und Peter bot den Mädchen sofort das „Du“ an. Er war den beiden auf Anhieb sympathisch.

Jetzt wandte Peter sich an Thorsten. „Ich habe mir einige Unterlagen aus dem Stadtarchiv heraus gekramt und Kopien davon gemacht.“

Er griff in eine Aktentasche und zog eine Mappe heraus. „Es wird dich bestimmt interessieren, Thorsten.“ Er hielt die Mappe hoch. „Das sind Auszüge aus der Stadtgeschichte. Das, was ich über dieses Grundstück hier herausgefunden habe, ist fast unglaublich. Ich werde es dir vorlesen.

Du wirst staunen.“

Er öffnete die Mappe, nahm ein paar Blätter heraus uns sagte: „Hör´ zu…“

„Niemand hört jetzt zu“, unterbrach Elke ihn. „Jetzt wird erst einmal gegessen.“

Elkes Lebensgefährte verzog kurz den Mund, legte die Papiere wieder in die Mappe und schloss sie. Dann setzte er sich an den Tisch.

„Das riecht aber verdammt gut aus der Küche“, sagte er. „Was hast du denn gekocht, Elke?“

„Ich habe zwei Bleche mit Pizza in den Backofen geschoben.“

„Hmm, Pizza“, meinte Kristin.

Elke lachte. „Es dauert aber noch ein paar Minuten. Die Pizza ist noch nicht ganz fertig.“

„Das halte ich gerade noch aus“, meinte Peter. „Übrigens, Elke, hast du morgen irgendetwas vor?“

„Dumme Frage, du weißt doch genau, dass ich morgen nichts vorhabe.“

„Du hast aber sehr wohl etwas vor.“ Peter grinste.

Elke blickte ihren Lebensgefährten skeptisch an. „Da bin ich aber gespannt.“

„Ich muss morgen dienstlich nach Marentdorf. Der Ort feiert dieses Jahr sein fünfhundertjähriges Bestehen. Im Schloss Marentdorf soll ich ein paar alte Bücher übersetzen, damit man bei der Jubiläumsfeier etwas über die Geschichte des Städtchens erzählen kann. Dafür werde ich mindestens zwei Tage brauchen.“

„Wo liegt denn Marentdorf? Ich habe noch nie etwas von diesem Ort gehört.“

„Es ist ein wunderschönes, bayrisches Städtchen mit alten Fachwerkhäusern, unweit von den Bergen.“

„Dann hast du ja ein paar schöne Tage vor dir, Peter. Ich möchte auch mal wieder in die Berge.“ Peters grinsen wurde immer breiter.

Als Elke das sah, meinte sie: „Peter, du hast doch nicht etwa...?“

„Doch, Elke, ich habe. Es gibt in Marentdorf ein kleines Hotel. Darin habe ich ein Doppelzimmer für uns gebucht. Wir werden gemeinsam ein paar schöne Tage haben.“

Elke ging zu ihm und gab ihm einen dicken Kuss. „Du bist ein Schatz. Ich kann es gar nicht glauben. Wir fahren morgen in die Berge.“

Nun blickte sie die drei Jugendlichen an, die am Tisch saßen und nun ebenfalls grinsten.

„Aber“, meinte Elke, „die Kinder sind doch bei mir. Ich weiß nicht, ob ich sie alleine lassen kann.“

„Mach dir keine Sorgen, Mama“, sagte Thorsten sofort. „Wir sind alt genug, um uns für ein paar Tage selbst zu versorgen.“

„Ja“, stellte Kristin fest, „wir sind schließlich keine Babys mehr. Gönnt euch ruhig mal ein paar schöne Tage, Tante Elke.“

Elke zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht.“