Scador - Dieter Ebels - E-Book

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Dieter Ebels

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Beschreibung

Eigentlich wollten die zwei Freunde Thomas Winter und Axel Bertram ihren Urlaub auf der Insel Scad vor der irischen Küste genießen. Sie ahnen nicht, dass auf Scad ein Armreif aus einer unbekannten Zeit gefunden wurde, ein uraltes Relikt, dessen Besitz große Macht verspricht. Die beiden wissen auch nicht, dass sich bereits Syndikate auf die Jagd nach dem Reif gemacht haben. Auch wenn Axel auf der Insel die junge Doris trifft und sich sofort in sie verliebt, bleibt dieses Glück nicht lange bestehen, denn die skrupellosen Verbrecher gehen über Leichen. Als die beiden Freunde durch Zufall auf das unglaubliche Geheimnis der Insel stoßen, wird ihr Urlaub zu einem Horrortrip. Scador ist ein nervenaufreibender Thriller mit Hochspannung bis zum Ende.

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Routiniert wischte die junge Frau den Flur des Xmatter-Laboratory in Dublin. Eigentlich fehlte der dunkelhäutigen Putzfrau jegliche Befugnis, hier tätig zu sein; genauer gesagt, hätte sie sich nicht einmal in Irland aufhalten dürfen. Die aus Algerien stammende Frau war illegal ins Land gekommen und arbeitete unter falschen Papieren für eine Reinigungsfirma.

Plötzlich verhielt sie in der Bewegung. Ihr Blick richtete sich auf die Tür eines der zahlreichen Laborräume. Ihre Pupillen vergrößerten sich und der Blick wurde starr. Die Frau stellte den Wischer beiseite, öffnete die Tür und trat ein. In der Mitte des Raumes stand ein großer Arbeitstisch, auf den sie sich, wie unter Zwang, zubewegte. Tief in ihrem Inneren war ihr bewusst, dass sie etwas streng Verbotenes tat, denn es war den Reinigungskräften untersagt, die Laborräume zu betreten. Die dunkelhäutige Frau wollte umkehren; wollte sich wieder zurück in den Flur begeben, aber sie konnte es nicht. Sie fühlte eine unsichtbare und unheimliche Kraft, die sie daran hinderte, diesen Raum zu verlassen. Es war, als hätte eine unbezwingbare Macht von ihr Besitz ergriffen.

Vor ihr, auf dem Arbeitstisch, lag ein alter, metallener Armreif. Wie unter Hypnose streckte sie ihre Hand danach aus. Noch einmal versuchte sie, sich zu konzentrieren. Sie wollte sich diesem Bann, der ihren Geist handlungsunfähig machte, entziehen, doch ihre Gedanken waren wie gelähmt. Sie nahm den alten Armreif in die Hand und betrachtete ihn. Ein orangefarbener Stein verzierte den Reif, ein Stein, der in seinem Inneren zu leuchten schien. Während sich die Frau den Armreif langsam über ihr linkes Handgelenk schob, starrte sie gebannt auf den Stein, dessen Leuchten sich nun schlagartig verstärkte.

Draußen schritt ein Mitarbeiter des Xmatter-Laboratory durch den Flur. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass etwa zwanzig Meter vor ihm ein Putzeimer und ein Wischer neben einer offenen Labortür standen. Als er die Tür fast erreicht hatte, zuckte er zusammen. Ein greller Aufschrei hallte durch den Flur. Sekunden später wurde er von der dunkelhäutigen Frau, die panisch aus dem Labor gehetzt kam, fast umgerannt. Ein Blick in das Gesicht der Frau ließ den Labormitarbeiter erschauern. Das Gesicht glich einer verzerrten Fratze und in ihren Augen stand die blanke Angst. Mit schnellen Schritten hastete sie an ihm vorbei und war wenige Augenblicke später im Treppenhaus verschwunden.

Die Gedanken des Mannes waren wirr. Was konnte diese Frau dermaßen in Panik versetzt haben? Vorsichtig betrat er den Raum, aus dem die Frau gekommen war. Verunsichert blickte er sich um. Er war angespannt, bereit sich schnell in Sicherheit zu bringen. Seine Augen suchten jeden Winkel des Raumes ab. Doch er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Alles war so, wie es sein sollte. Dann fiel sein Blick auf den Boden. Dort lag ein alter Armreif. Der Mann wusste, dass ein Kollege von ihm den Auftrag bekommen hatte, eine Metallanalyse von diesem Reif zu erstellen, um die Herkunft dieses uralten Artefakts aus einer bisher unbekannten Zeitepoche zu ermitteln.

Während er den Armreif aufhob und wieder auf den Tisch legte, schaute er sich noch einmal suchend um. Irgendetwas musste dieses merkwürdige Verhalten der Frau ausgelöst haben, doch was? Er dachte darüber nach, dass sich manche Frauen vor Mäusen oder Insekten fürchteten und panisch reagierten, doch die Hygienevorschriften im Laborgebäude waren so streng, dass Getier jeglicher Art nicht die geringste Chance hatte, hier einzudringen. Dann kam ihm der Gedanke, dass diese Frau auch unter Drogeneinfluss gestanden haben könnte.

Noch einmal fiel sein Blick auf den alten Armreif. Dann zuckte er kurz mit den Schultern und verließ den Raum.

* * *

Von seinem Standort, oben auf einer Düne, beobachtete Axel Bertram die gespenstig wirkende Szenerie. Unter ihm, am Strand, standen einige Männer mit brennenden Fackeln. Die Dunkelheit war schon weit fortgeschritten. Deshalb konnte Bertram nicht erkennen, womit sich diese Männer dort beschäftigten. Von der Neugier getrieben stieg er von der Düne hinab und schlenderte auf die Gruppe der Fackelträger zu.

Bertrams Ankunft im irischen Küstenstädtchen Clifbie lag erst wenige Stunden zurück. Um sich von den Reisestrapazen etwas zu erholen, hatte er sich noch für einen gemütlichen Spaziergang entlang der Dünen entschieden. Der auffrischende Wind, der hier an der Atlantikküste allgegenwärtig war, wirbelte durch Axels blonden Haarschopf. Dank seiner stattlichen Größe von 1,85 Meter, seiner strahlend blauen Augen und einem unwiderstehlichen Lächeln gehörte er zu der Sorte Mann, welche die Herzen so mancher Frauen höher schlagen ließen. Sein markantes, männliches Gesicht und die sportliche Figur punkteten ebenfalls beim anderen Geschlecht. In seiner Heimatstadt, der deutschen Bankenmetropole Frankfurt, betrieb er eine eigene Detektei, die sich erfolgreich darauf spezialisiert hatte, Versicherungsbetrug aller Art aufzuklären. Der Achtundzwanzigjährige hatte es in jungen Jahren bereits weit gebracht und war stolz auf sein Unternehmen, in dem er zehn Angestellte beschäftigte.

Dieses Jahr wollte er, wie so oft, den Jahresurlaub mit seinem gleichaltrigen, irischen Freund Thomas Winter verbringen. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Schulzeit. Sie hatten sich durch einen Schüleraustausch kennen gelernt. Thomas Winter wohnte in Dublin. Axel und Thomas hatten bereits damals jede Möglichkeit wahrgenommen, sich gegenseitig zu besuchen. Mal war Thomas nach Frankfurt, mal Axel nach Dublin gekommen. Zwischen den beiden hatte sich eine enge Beziehung entwickelt, eine echte Freundschaft, die bis heute anhielt. Urlaub bedeutete für die beiden alles, was mit Abenteuer und Nervenkitzel zu tun hatte. Zusammen hatten sie bereits zwei Sechstausender im Himalaja bestiegen, hatten mit Kamelen drei Tage lang die Sahara durchquert und waren in der Karibik zu uralten Schiffswracks hinabgetaucht. Im vergangenen Jahr waren die beiden Abenteurer nach Peru geflogen, um sich dort durch den dichten Dschungel zu schlagen und in eine fast unerforschte Höhle hinabzusteigen.

Dieses Jahr wollten sie ihren Urlaub bei einer Tante von Thomas Winter verbringen. Diese wohnte auf einer der vielen Inseln, die hier vor der irischen Westküste lagen. Thomas hatte seinem Freund einen Trip durch ein Inselteil versprochen, welches, wie Thomas´ Tante berichtete, vor ihnen noch nie ein Mensch betreten hatte, ein echtes „Terra incognita“. Die Inselbewohner mieden dieses Gebiet bis heute, weil dort, wie es in alten Überlieferungen stand, das Böse wohnt. Axels Freund beschrieb dieses Gebiet als eine nur schwer zugängliche, bizarre Landschaft. Etwas Neues zu erkunden, das galt als Abenteuer pur, genau das, was die beiden liebten.

Winter war schon seit einigen Tagen auf der Insel und sein Freund wollte nun zu ihm stoßen.

Axel Bertram hatte das Boot, welches die Inseln vor der Küste regelmäßig anlief, verpasst. Deshalb musste er sich für eine Nacht in Clifbie einquartieren. Gleich morgen früh wollte er sich nach Scad, so hieß die Insel auf der Thomas´ Tante wohnte, übersetzen lassen.

Nun, da die Dämmerung schon sehr weit fortgeschritten war, wollte Axel sich eigentlich wieder auf den Rückweg zu seiner Pension machen.

Doch dann hatte er die Männer mit den Fackeln entdeckt, auf die er nun neugierig zuging.

Axel war den Fackelträgern am Strand schon sehr nah gekommen.

Jetzt erkannte er, dass es fünf Männer waren. Ihre Fackeln erhellten nur die engste Umgebung. Irgendetwas lag vor den Männern im Sand.

Als ihm gewahr wurde, was dort lag, verhielt er in der Bewegung. Axel blickte auf einen leblosen, menschlichen Körper. Es war der Körper einer jungen Frau.

Langsam trat er an die fünf Männer heran. Diese nahmen seine Anwesenheit noch nicht wahr.

Axel vermutete, dass diese Frau wahrscheinlich ertrunken war. Er fühlte sich mit einem Mal nicht mehr wohl in seiner Haut.

Die Wellen des Atlantiks spülten ihre Schaumkämme nur wenige Meter von ihm entfernt an den Strand. Im Schein der Fackel wirkte die dunkle Szenerie unheimlich.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit.

Als Axel das Gesicht der toten Frau sah, erschrak er. Die rechte Gesichtshälfte war blutüberströmt.

Nun bemerkten die fünf Fackelträger seine Anwesenheit. Sie blickten ihn wortlos an. Bertram beschlich das Gefühl, als ginge von den Männern eine Bedrohung aus. Ihre Gesichter waren starr.

Trotz des lauen Sommerabends, glaubte Axel zu frieren. Sein Blick ging wieder zu der Frau. Sie trug eine Jeans und eine weiße Bluse. Sie schien noch sehr jung zu sein.

„Was wollen Sie hier?“, fragte einer der Männer.

Bertram schluckte. Deutlich spürte er den drohenden Unterton in der Stimme des Mannes.

„Ich mache nur einen Abendspaziergang“, erwiderte Axel unsicher.

„Was ist denn passiert?“

„Die Frau ist von irgendeinem Schiff über Bord gegangen und ertrunken. Sie wurde hier angespült. So etwas geschieht öfter. Und jetzt gehen Sie weiter. Es gibt hier nichts zu gaffen.“

Bertram spürte, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war. Er sah auch, dass eine der düsteren Gestalten, die da vor ihm standen, einen Knüppel in der Hand hielt. Im Schein der Fackeln glaubte Axel, Blut an diesem Knüppel zu erkennen. Erneutes Unbehagen stieg in ihm auf. Er fühlte die Bedrohung, die von den Männern ausging, jetzt ganz deutlich.

Ohne noch etwas zu sagen, machte er kehrt und setzte den Weg zu seiner Pension fort. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass einer der Männer die tote Frau aufhob und diese über seine Schulter legte. Dann verließen die Männer den Strand. Axel registrierte aber auch, dass ein Mann zurück geblieben war und ihm hinterher schaute. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend verschlimmerte sich. Seine Schritte wurden immer schneller. Er wollte einfach nur weg von diesem Ort.

Die Pension, in die er sich einquartiert hatte, lag in Strandnähe. Er erreichte sie schnell. Bevor Axel eintrat, drehte er sich noch einmal um, denn irgendwie beschlich ihn das Gefühl, verfolgt zu werden. Doch in der nur schwach ausgeleuchteten Gasse konnte er keine Bewegung ausmachen. Die alten, teilweise verschachtelt gebauten Häuser des Küstenstädtchens waren ihm bei seiner Ankunft am Nachmittag noch sehr romantisch erschienen, und die enge Gasse, in der die Pension lag, hatte ihm am besten gefallen.

Doch jetzt wirkte alles anders. In der Dunkelheit erschien ihm die enge Gasse mit einem Mal unheimlich. Eigentlich war Axel ein Mensch, der sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen ließ. Jetzt aber verspürte er Unbehagen. Er machte sein Erlebnis am Strand für dieses Unbehagen verantwortlich.

Axel öffnete die Tür und trat ein. Er begab in sein Zimmer, zog sich in Gedanken versunken aus und legte sich auf das Bett. Da er morgen das erste Boot nach Scad nehmen wollte, musste er wieder früh aufstehen. Er schloss die Augen. Immer wieder sah er das blutige Gesicht der jungen Frau vor sich. Er sah aber auch den Mann mit dem Knüppel. Sollten die Männer diese Frau wirklich erschlagen haben?

Seine Gedanken kreisten. Der Mann hatte gesagt, sie wurde angespült.

Jetzt, wo Axel darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass die Kleidung der Toten überhaupt nicht nass war. Doch vielleicht hatte die Leiche ja schon länger am Strand gelegen, und die Kleidung war schon getrocknet. Warum sollten die Männer auch eine junge Frau erschlagen? Erneut erschien ihm in seinem Gedächtnis das blutige Gesicht der Toten.

Das Blut!, schoss es ihm mit einem Mal durch den Kopf. Das Blut war frisch!

Nun wurde es für ihn zur Gewissheit. Er war Zeuge einer grausamen Tat geworden.

Warum haben die Männer das getan? Warum bringt man auf so brutale Weise eine Frau um?

Ihm wurde bewusst, dass er diesen Vorfall der Polizei melden musste.

Doch was war, wenn die Männer doch nicht gelogen hatten und die Frau wirklich ertrunken war? In dem Fall würde er sich lächerlich machen, wenn er jetzt bei der Polizei anrufen würde. Er grübelte. Sollte diese Begegnung mit dem Tod ihm so zugesetzt haben, dass ihm solch absurde Gedankengänge durch den Kopf gingen? Er verspürte Unsicherheit. Und wenn er doch zum Zeuge eines Mordes geworden war?

Axel Bertram konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Wenn hier ein Verbrechen vorlag, dann hatten die Mörder jetzt sowieso alle Spuren beseitigt. Deshalb entschied sich Axel dazu, am nächsten Tag zunächst mit seinem Freund Thomas darüber zu reden.

Er lag noch lange grübelnd in seinem Bett, bis ihm schließlich irgendwann vor Müdigkeit die Augen zufielen.

* * *

Das Boot tuckerte schon mehr als einer Stunde über das Meer. Axel Bertram stand an der Reling. Sein Blick richtete sich auf die aufschäumenden Wellen, die vom Bug weg seitlich am Boot vorbeizogen.

Er war extra früh aufgestanden, um möglichst schnell bei seinem Freund auf der Insel zu sein. Immer wieder geisterte ihm die Szenerie des vergangenen Abends durch den Kopf. Der Anblick der toten Frau hatte sich tief in seine Gedanken eingeprägt. Axel konnte es kaum erwarten, seinem Freund von diesem Vorfall zu erzählen. Tommy sollte auch erfahren, dass Axel einen Mord vermutete.

Tommy, das war der Spitzname von Thomas Winter. Axel nannte seinen Freund bereits seit der Kindheit so.

Nun ging sein Blick über das Meer. Der Himmel war klar und wirkte nur am Horizont noch etwas diesig. Langsam erwärmte die Sonne die noch kühle Seeluft. Der Ozean verhielt sich verhältnismäßig ruhig. Trotzdem schaukelte das etwa dreißig Meter lange Boot leicht in den Wogen.

In einiger Entfernung machte Axel ein Fischerboot aus. Es hielt Kurs auf Clifbie, um den nächtlichen Fang in den Hafen zu bringen.

Axel blickte sich auf dem Schiff um. An Bord befanden sich neben ihm noch einige andere Passagiere. Sie alle hielten sich ebenfalls oben auf dem Deck auf. Bertram hatte sich mit dem Aufbau des Schiffes bereits vertraut gemacht und unter Deck zwei kleine Aufenthaltsräume mit Tischen und Stühlen entdeckt. Aber niemand nahm diese in Anspruch.

Neben den Passagieren gab es auch noch zwei Autos an Bord, die auf eine der Inseln abgesetzt werden sollten.

Axel hatte heute Morgen den Fahrplan des Bootes, der an der Anlegestelle in Clifbie aushing, studiert. Das Boot fuhr insgesamt acht Inseln nacheinander an. Zwei Inseln waren bereits angelaufen worden.

Dort waren einige Mitreisende von Bord gegangen und zwei neue Passagiere zugestiegen. Diese mussten, um ans Festland zu gelangen, die ganzen noch übrigen Inseln mit anfahren. Erst nach der letzten Insel ging es zurück nach Clifbie.

Die nächste Insel sollte Scad sein. Axel blickte suchend über das Meer.

In der Ferne glaubte er, etwas zu erkennen. Er machte seine Augen zu schmalen Schlitzen. Nun erkannte er deutlich den Umriss einer Insel.

Das musste Scad sein.

Scad, die kleinste der Inseln, die das Boot anlief, lag weiter draußen im Ozean, als alle anderen Inseln.

Thomas Winter hatte seinem Freund die Insel bereits beschrieben.

Deshalb wusste Axel auch, was ihn dort erwartete.

Die Insel, etwa acht Kilometer lang und vier Kilometer breit, erstreckte sich wie ein langes Oval von Osten nach Westen. Die etwas schmalere Ostseite lag der Küste zugerichtet und bestand aus grünen Hügeln.

Thomas Winter hatte erzählt, dass es dort auch einige kleine Wäldchen gab. Die dem offenen Atlantik zugerichtete Westseite wurde von einer zerklüfteten Felsenlandschaft dominiert, an deren Steilküste sich die Wellen des Ozeans brachen. Hier lag auch das Gebiet, von dem die Inselbewohner glaubten, dass dort das Böse hausen würde.

Was die Verbindung zum Festland anging, galt die Insel als genauso rückständig, wie ihre Bewohner. Da man immer ohne viel Technik über die Runden gekommen war, hatten sich die Inselbewohner niemals die Mühe gemacht, sich einen Telefonanschluss legen zu lassen, und wer es mit dem Handy versuchte, musste sehr schnell feststellen, dass es auf Scad keinen Empfang gab.

Axel erkannte immer mehr Einzelheiten.

Der etwas stärker gewordene Wind ließ seinen blonden Haarschopf nach allen Seiten wehen. Die See wurde deutlich unruhiger. Immer wieder spritze die Gischt der Bugwelle über das Schiff. Dass die Jeans und das T-Shirt dabei nass wurden, störte Axel nicht. Die Sonne und der Seewind sorgten dafür, dass die Kleidung schnell wieder trocknete.

Durch seinen Freund wusste Axel, dass das Boot die Insel Scad normalerweise nur bei der ersten, morgendlichen Fahrt anlief und sonst nur, wenn ein Passagier auf die Insel übersetzen wollte. Natürlich konnten die Inselbewohner bei Bedarf das Boot jederzeit anfordern. Für einen solchen Fall gab es auf Scad ein altes Funktelefon, dessen Gegenstück sich auf einer Nachbarinsel, die mit modernen Telefonverbindungen ausgestattet war, befand.

Bald hatte das Boot hatte Scad erreicht.

Auf dem Anlegesteg standen zwei Leute. Als sie Axel sahen, winkten sie ihm zu. Axel erkannte seinen Freund Tommy. Neben ihm stand eine Frau, ganz offensichtlich Tommys Tante.

Der Steg ragte etwa fünfzig Meter weit ins Meer hinaus. Er hatte die Form von einem großen T, dessen Fuß am Land festgemacht war.

Unmittelbar hinter dem Steg lagen einige Gebäude. Es waren fünf an der Zahl. Zwei davon schienen Wohnhäuser zu sein, die anderen erinnerten an Lagerschuppen. All diese Gebäude hatten aber eines gemeinsam, sie machten einen sehr baufälligen Eindruck.

Das Boot fuhr langsam an den, ebenfalls sehr brüchig wirkenden Steg heran. Es machte am äußeren Ende, dem oberen T-Stück des Steges fest. Ganz offensichtlich reichte die Wassertiefe nahe des Ufers für den Tiefgang des Schiffes nicht aus und es bestand die Gefahr einer Grundberührung.

Überall auf dem Steg verteilt standen alte, teilweise verrottete Kisten.

Axel winkte seinem Freund zu. Dessen fast rundes Gesicht strahlte vor Freunde.

Thomas Winter stellte mit ebenfalls 1,85 Meter eine stattliche Erscheinung da. Seine krausen, rotblonden Haare standen etwas zu Berge. Anders kannte Axel seinen Freund auch nicht. Diese strohigen Haare, die kaum ein Kamm bändigen konnte, hatten Axel bereits in seiner Jugend dazu veranlasst, Tommy mit dem Struwwelpeter zu vergleichen.

Das Boot legte an. Axel nahm seine Reisetasche und ging von Bord.

Thomas lief sofort freudestrahlend auf ihn zu. Die Begrüßung fiel herzlich aus; mit einer innigen Umarmung. Immerhin war seit ihrem letzten Zusammentreffen fast ein Jahr vergangen. Diese Reise hatten sie per Emails und Telefonate vorbereitet.

Die Freude über das Wiedersehen ließ Axel sogar für einige Augenblicke das grausame Ereignis des gestrigen Abends vergessen.

„Wie geht `s dir?“, fragte Thomas und klopfte freundschaftlich auf Axels Schultern. Bevor dieser antworten konnte, fuhr Thomas fort: „Übrigens, das ist Tante May.“

Er drehte sich nun der Frau zu und wies mit offener Handfläche in ihre Richtung. Das strahlende Lächeln in seinem mit Sommersprossen übersäten Gesicht wollte nicht mehr weichen.

Nun wandte sich auch Axel der Frau zu. Er reichte ihr die Hand. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Tante May.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte sie. „Thomas hat mir schon so viel über dich erzählt, dass ich es kaum erwarten konnte, dich endlich kennen zu lernen.“

Sie nahm Axel in die Arme und drückte ihn. Dieser wurde von so viel Herzlichkeit geradezu übermannt. „Übrigens“, sprach die Tante weiter, „sag einfach May zu mir. Das ist familiärer.“

Von dem dunklen Geheimnis, welches tief in May schlummerte, konnte Axel nichts ahnen. Während sie ihn drückte, verspürte sie ein ganz bestimmtes Kribbeln. In dem Moment wusste sie, dass Axel bald ihr gehören würde. Er war jung und gut aussehend, genau das, was sie brauchte.

Tante May, mit vollem Namen hieß sie May Susan Wittham, war neunundvierzig Jahre alt. May lebte als Witwe ganz allein in ihrem Haus auf Scad. Der Tod ihres Mannes lag bereits zwölf Jahre zurück.

Thomas hatte Axel bereits erzählt, wie sehr seine Tante unter dem Tod seines Onkels gelitten hatte. Besonders in den ersten Jahren danach hatte sie ihre Verzweiflung immer wieder in Alkohol ertränkt. Schließlich brachte sie es aber doch fertig, ihren Kummer auch ohne den Griff zur Flasche zu bewältigen. Mays Körpergröße lag bei 1,65 Meter. Sie wirkte etwas pummelig. Ihre dunklen Haare waren kraus und kurz geschnitten.

Die rosigen Wangen in ihrem rundlichen Gesicht verstärkten den Eindruck von Güte und Herzlichkeit noch mehr, und niemand wäre darauf gekommen, dass diese liebenswürdige Frau ein dunkles Geheimnis in sich trägt.

Thomas wandte sich wieder seinem Freund zu.

„Hab ich dir eigentlich schon gesagt, Axel, dass man Scad auch die Insel der Eidechsen nennt?“

Axel wurde schlagartig blass. Im gleichen Moment lachte sein Freund laut los.

„Blödmann!“, fuhr Axel ihn an.

„Eigentlich wollte ich dir die frohe Botschaft überbringen, dass es auf der Insel nicht eine einzige Eidechse gibt. Entschuldige meinen Scherz, aber ich wollte mal wieder dein dummes Gesicht sehen.“

Thomas lacht erneut.

Eidechsen gehörten zu Axels wenigen Schwachstellen. Er fürchtete weder Tod noch Teufel, doch wenn ihm eine Eidechse über den Weg lief, bekam er panische Angst. Wegen dieser Abscheu vor Eidechsen wurde er schon oft ausgelacht. Leute, die unter einer Spinnen- oder Schlangenphobie litten, waren etwas normales, doch dass sich jemand mit einer Eidechsenphobie herumschlagen musste, stieß oft auf Unverständnis.

Thomas´ Aussage, dass es hier auf der Insel diese verhassten Reptilien nicht gab, nahm Axel als eine gute Nachricht auf.

Thomas wie er leibt und lebt, ging es Axel durch den Kopf, als er sah, dass sein Freund immer noch lachte.

Er hatte auch gut lachen, denn er fürchtete sich vor nichts. Für Thomas gab es nichts Schöneres, als andere Leute zu verulken und deren Ängste auszuspielen. Da kam ihm Axels Eidechsenphobie immer wieder gelegen. Doch Thomas dachte oft daran, dass er jederzeit mit seinem Freund tauschen würde. Ihm wäre es egal, eine Phobie zu haben, wenn er dafür so gut bei den Frauen ankommen würde, wie Axel. Ja, er würde dafür zusätzlich noch alle anderen Phobien, die es so gab, auf sich nehmen. Axel sah sehr gut aus, genau der Typ Mann, den die Frauen liebten. Thomas hingegen empfand sich selbst immer nur als Mittelmaß, und das bekam er, wenn es um Frauen ging, oft zu spüren. Und wenn doch mal ein paar Schönheiten Interesse an ihm zeigten, dann nur deshalb, weil sie wussten, dass er der Spross einer wohlhabenden Industriellendynastie war. Das traditionsreiche Familienunternehmen Winter & Winter Industries, in dem Thomas, genau wie sein Vater und auch schon sein Großvater, erfolgreich mitarbeitete, beliefert weltweit die Baumaschinenindustrie mit Hydraulikvorrichtungen. Auch wenn die Aufträge in den letzten Jahren etwas stagniert waren, erwirtschaftet das Großunternehmen immer noch Millionenumsätze.

Irgendwann einmal würde Thomas die Firma übernehmen. Eines hatte er in den letzten Jahren gelernt: Reichtum lockt genau die Sorte Frauen an, die nicht für echte Liebe geeignet sind.

Wenn er sich mit Axel verglich, hielt er sich aber immer vor Augen, dass er seinem Freund in einigen Dingen dennoch überlegen war. Gewiss, Axel war sehr sportlich, doch mit Thomas konnte er diesbezüglich nicht mithalten. Thomas war seit einigen Jahren dem Triathlon verfallen.

Immer, wenn sich die Möglichkeit dazu ergab, meldete er sich bei den Wettbewerben an. Im letzten Jahr hatte er sich den Traum aller Triathleten erfüllt und am berühmten Ironman auf Hawaii teilgenommen, 3,8 km Schwimmen, 180 km Fahrrad fahren und 42 km Laufen. Auch wenn er das Ziel nur im hinteren Mittelfeld erreicht hatte, er hatte es geschafft und war nicht, wie viele andere, vorher ausgestiegen.

Trotzdem waren die schönsten Momente in seinem Leben immer noch die Urlaubstage, die er mit Axel verbracht hatte, einem Freund, mit dem man durch Dick und Dünn gehen konnte.

Axel nahm seine Tasche auf und die drei marschierten in die Richtung der Häuser.

Aus dem Augenwinkel erkannte Axel, dass hinter ihnen vom Boot ein Paket auf den Steg geworfen wurde. Dann legte das Boot wieder ab.

Für Axel war es jetzt an der Zeit, von dem zu erzählen, was ihm schon die ganze Zeit über im Magen lag. „Ich habe gestern etwas Schreckliches erlebt“, sagte er, während sie über den Steg schritten.

Thomas und seine Tante blickten Axel mit großen Augen an.

Bevor dieser aber weitererzählen konnte, kam ihnen am Ende des Steges ein älterer Mann entgegen. Er war aus dem ersten Wohnhaus gekommen. Als er die drei fast erreicht hatte, konnte Axel auch sein Gesicht deutlich erkennen. Es machte den Eindruck, als hätte es der raue Seewind mit den Jahren in eine Falten- und Furchenlandschaft verwandelt.

„`n Morgen May, `n Morgen Thomas“, sagte er. „Ihr habt wohl Besuch bekommen.“

Er blickte Axel forschend an.

„Guten Morgen, Lesley“, grüßte Tante May.

Auch Thomas wünschte dem Mann einen guten Morgen.

Axel Bertram nickte dem Alten freundlich zu. Dieser nickte kurz zurück und setzte zügig seinen Weg über den Steg fort.

„Das ist Lesley“, erklärte Thomas seinem deutschen Freund. „Er holt seine Bestellung ab, die regelmäßig vom Festland angeliefert wird; Lebensmittel und was man sonst noch so braucht. Lesley wohnt hier in Scadharbour.“

„Wie bitte?“, kam es verblüfft aus Axels Mund. „Dieses winzige Kaff trägt den Namen einer Hafenstadt?“

„Warte erst einmal ab, bist du Windgroul gesehen hast“, meinte Thomas und lachte.

„Was ist Windgroul?“

„Das ist der Ort, an dem Tante May wohnt. Es ist neben Scadharbour der einzige Ort auf der Insel.“ Thomas grinste. Dann fügte er hinzu:

„Windgroul besteht immerhin aus einem Haus, einem Stall und einem Schuppen.“

Ungläubig schüttelte sein Freund den Kopf.

„Und jetzt“, meinte Thomas, „erzählst du uns von dem, was du gestern erlebt hast. Ich bin schon ganz neugierig“ Bevor Axel seine Geschichte erzählen konnte, hörten sie den alten Lesley rufen: „Hey, May, willst du heute deine Zeitung nicht mal selbst mitnehmen?“

May Wittham wandte sich um. „Ja“, natürlich.“

Lesley kam mit dem abgelieferten Paket zu ihnen, entnahm daraus eine Zeitung und übergab sie May.

„Danke, Lesley.“

Dann verschwand der Alte mit dem Paket zügig in seinem Haus.

„Weißt du“, richtete sich May an Axel, „Lesley bringt mir täglich die Tageszeitung nach Windgroul. Er ist ein netter Kerl.“

„Darf ich die Zeitung einmal kurz haben?“, fragte Axel mit einem Mal aufgeregt.

Thomas´ Tante übergab sie ihm und er blätterte sie sofort suchend durch. Nachdem er auch die letzte Seite überflogen hatte, sagte er laut:

„Ich hab es doch gewusst!“

Um seine verdutzt dreinschauenden Begleiter nicht noch länger auf die Folter zu spannen, erzählte er ihnen, während sie an den windschiefen Häusern von Scadharbour langsam vorbeischritten, von seinem gestrigen Erlebnis.

„Am Strand von Clifbie wurde gestern eine junge Frau umgebracht.“

„Was?“, kam es ungläubig aus dem Mund von Thomas´ Tante.

„Ich wollte es erst auch nicht glauben, aber so, wie es aussieht, haben einige Männer die Frau mit einem Knüppel erschlagen.“

„Wer hat dir das erzählt?“, fragte Thomas neugierig.

„Niemand hat es mir erzählt. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen.“

„Du hast es gesehen?“

„Nicht direkt, ich hab die junge Frau gesehen. Sie lag tot am Strand und die Männer standen vor ihr.“

Axel wirkte sehr aufgeregt. Jetzt, wo er sich das gestrige Ereignis noch einmal durch den Kopf gehen ließ, überfiel ihn wieder dieses mulmige Gefühl in der Magengegend.

Die drei blieben stehen.

May hatte Axels Aufregung gespürt. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. „Jetzt erzähle uns doch einmal ganz genau, was passiert ist“, sagte sie zu ihm, „und zwar langsam und der Reihe nach.“

Axel atmete tief durch. „Ich bin gestern am frühen Abend spazieren gegangen; wollte mir noch mal die Beine vertreten. Dabei sah ich, dass am Strand einige Männer standen. Sie trugen Fackeln. Ich wurde neugierig und bin zu den Männern hinüber gegangen. Als ich sie erreichte, erkannte ich, dass dort eine tote Frau im Sand lag. Die Männer standen um sie herum und einer von ihnen hielt noch den Knüppel, mit dem er sie erschlagen hatte, in der Hand.“

„Hast du gesehen, wie sie erschlagen wurde?“

„Nein.“

„Und wieso glaubst du dann, dass die Männer sie umgebracht haben?“

„Die blutende Wunde am Kopf der jungen Frau und der Knüppel, an dem das Blut noch haftete, sind eindeutige Indizien.“

„Vielleicht wurde die Frauenleiche ja auch von den Männern am Strand gefunden“, meinte Thomas. „Sie könnte mit dem Kopf auf einem Knüppel gelegen haben, und einer der Männer hatte diesen Knüppel aufgehoben. Das würde erklären, weshalb Blut daran war.“

Axel schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mir ganz sicher, dass sie die Frau umgebracht haben, warum auch immer.“

„Haben die Männer dich denn nicht bemerkt?“, wollte May wissen.

„Natürlich hatten sie mich bemerkt. Ich hatte sofort gespürt, dass von ihnen eine Bedrohung ausgegangen war.“ Axel atmete noch einmal tief durch. „Die Männer hatten mich dazu aufgefordert, weiter zu gehen. Sie hatten gesagt, dass es hier nichts zu gaffen gäbe und dass diese Frau wohl von irgendeinem Schiff gefallen wäre.“

„Wenn die Männer das gesagt haben“, meinte Thomas, „dann ist doch alles klar. Die Tote ist irgendwo über Bord gegangen und ertrunken.

Dann wurde sie am Strand angespült. Wer weiß, wie lange sie schon im Wasser war.“

„Du verstehst mich nicht, Tommy, das war eindeutig keine Wasserleiche. Das Blut war frisch. Die junge Frau wurde ermordet. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Es ist in der Tat schon vorgekommen, dass eine Leiche angespült wurde“, sagte May. „So ein Ereignis konnte man aber am nächsten Tag sofort in der Presse nachlesen. In Clifbie gibt es nämlich einen Zeitungsverlag, der über so etwas immer umgehend berichtet.“ May Wittham schüttelte ungläubig den Kopf. „Warum sollten Männer eine Frau einfach so erschlagen?“

„Die gleiche Frage habe ich mir auch schon gestellt“, sagte Axel.

„Nun“, meinte Tante May, „ihr müsst morgen auf jeden Fall nach Clifbie hinüberfahren, um der Polizei diesen Vorfall zu melden. Ich bin aber davon überzeugt, dass ihr erfahren werdet, dass die Frau angeschwemmt wurde.“

„Ja“, nickte Tommy. „Wir werden morgen das erste Boot nehmen. Dann sind wir früh da. Bei dieser Gelegenheit werde ich Axel die Stadt zeigen. Mit dem letzten Boot werden wir dann wieder zurückkommen.“

Die drei setzten ihren Weg fort. Nun blickte sich Axel zum ersten Mal bewusst um. Die schmale Straße, der sie folgten, führte auf einen Parkplatz zu. Dort standen einige Autos. Direkt hinter dem Parkplatz erhoben sich grüne Hügel. Die Landschaft vor ihnen wirkte, wie aus einem Touristenprospekt und entsprach der Vorstellung von Irland, die Axel in sich trug. Auf den sanften, grünen Hügeln erkannte man vereinzelt dicke, moosüberzogene Felsbrocken.

Obwohl ihm das gestrige Erlebnis immer noch immer in den Knochen steckte, begann Axel sich auf seinen Urlaub zu freuen. Diese Insel schien wirklich genau das Richtige zu sein, um auszuspannen. Auch der Gedanke daran, ein unbekanntes, und wie die Inselbewohner behaupteten, vom Bösen bewohntes Stück Land zu betreten, versprach aufregende Tage.

Schließlich erreichten die drei den Parkplatz. Dieser entpuppte sich aber bald schon als Autofriedhof, denn unter den fünf dort abgestellten Wagen gab es nur einen, der einen fahrtüchtigen Eindruck hinterließ.

Auf dieses Auto, einen alten Ford, hielten Thomas und seine Tante zu.

Alle anderen Autos bestanden nur noch aus Rost. Sie besaßen teilweise keine Räder mehr oder die Türen hingen herausgebrochen, ebenfalls nur noch von Rost gehalten, schräg an ihren Halterungen.

May Wittham öffnete die Fahrzeugtür und die drei stiegen ein. May drehte den Zündschlüssel herum und im gleichen Moment erklang ein polterndes Geräusch, welches immer schriller wurde. Axel zuckte zusammen. Es hörte sich an, als würde der Motor der alten Karosse jeden Moment seinen Geist aufgeben. Dann aber verstummte dieses Geräusch. Der Motor lief, wenn auch von einem störenden Tuckern begleitet, deutlich ruhiger. Jetzt legte Tommys Tante den ersten Gang ein. Ein lautes „Knack“ ließ Axel erneut zusammen zucken. Scheinbar hatte die Kupplung auch schon bessere Zeiten erlebt.

Schließlich fuhren sie los. Die schmale, unbefestigte Straße führte die Hügel hinauf. Axel, der hinten im Fond saß, öffnete das Autofenster.

Eine herrlich würzige Luft schlug ihm entgegen. Es roch nach frischer Seeluft und grünen Wiesen. Er sog die Luft tief durch die Nase ein und schloss dabei genüsslich die Augen.

Jetzt kann der Urlaub beginnen, dachte er.

Hier und da säumten einige alte Bäume die Straße. Ein windschiefer Wuchs gab diesen knorrigen Bäumen einen besonderen Charakter.

Etwas weiter weg von der Straße erkannte Axel am Fuß der Hügel das eine oder andere kleine Wäldchen.

Noch schöner, als in den Urlaubsprospekten von Irland abgebildet, ging es ihm durch den Kopf, während er die Landschaft durch das offene Autofenster betrachtete.

Während seiner Anreise nach Clifbie mit dem Zug hatte er das Land schon in sein Herz geschlossen. Überall, soweit das Auge zu blicken vermochte, erstreckten sich sanfte, mit einem satten Grün überzogene Hügel. Diese, für Irland so charakteristische Landschaft, strahlte etwas ganz Besonderes aus.

Nach etwa drei Kilometern Autofahrt hatten sie Windgroul erreicht.

„Das ist Tante Mays Anwesen“, erklärte Thomas seinem Freund.

Dieser sagte, nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, für einen Moment gar nichts. Axel war sprachlos. Vor ihm lagen in der Tat die von Tommy beschriebenen Gebäude, ein Haus, ein Schuppen und ein Stall.

Wäre Axel hier zufällig vorbei gekommen, dann hätte er es wohl für ein verfallenes Gehöft gehalten, welches bereits seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt war.

Das Haus wirkte schon sehr betagt; ein Gebäude gebaut aus unregelmäßig gehauenen, hellgrauen Steinen, auf denen in Bodennähe dunkelgrünes Moos wucherte. Die Fenster des zweigeschossigen Hauses lagen tief in ihren Höhlen. Zwei kleinere Fensterchen in der Giebelseite verrieten, dass auch eine Dachgeschosswohnung vorhanden war. Das Dach selbst bestand durchweg aus Holzschindeln.

Einige hellere Stellen auf dem Dach ließen erkennen, dass es schon einige Male geflickt worden war.

Der hölzerne Stall schloss sich rechtwinklig an das Haus an. Gleich daneben befand sich, wiederum im rechten Winkel verlaufend, der flache, lang gestreckte Schuppen. Aus der Vogelperspektive musste das ganze Anwesen wie ein großes U aussehen.

„Guck nicht so entgeistert“, lachte Thomas, als er die skeptischen Blicke seines Freundes sah. „Du wirst dich gleich wundern, wie gemütlich es da drin ist.“

Er wies mit der Hand auf das Haus. „Es sieht doch wohnlich aus, oder?“

Doch der skeptische Blick in Axels Gesicht wollte nicht weichen.

Sie schritten auf das Gebäude zu. Kurz bevor sie es erreichten, hastete plötzlich, laut kläffend, ein Hund aus der Tür, ein zottiger, schwarzer Terrier. Dieser rannte mit freudig wedelndem Schwanz in Richtung Tante May.

„Ja, wo ist denn mein Leon?“, begrüßte May ihn und wollte ihn streicheln.

Der Terrier jedoch entdeckte in diesem Moment den Neuankömmling.

Sein Bellen wurde zu einem bösartigen Knurren, und ehe man sich versah, hatte er Bertrams Hosenbein geschnappt. Er zerrte wie besessen an dem Stoff herum. Axel wollte gerade versuchen, den Hund mit ein paar schnellen Bewegungen abzuschütteln, als ein lautes „Aus!“

von May ertönte.

So schnell wie der Terrier zugebissen hatte, ließ er auch wieder los und lief zu seinem Frauchen.

„Leon!“, schimpfte sie laut. „Du bist ein böser Hund. Ab in `s Haus!“

Der Terrier zog seinen Schwanz ein und trottete sofort mit geducktem Kopf in das Gebäude.

„Sei bitte nicht böse, Axel“, beruhigte May die Situation, „aber Leon duldet keine Fremden hier. Ich habe ihn so erzogen. Wenn er sich an deine Anwesenheit gewöhnt hat, dann wird er dich schon mögen.“

„Es ist ja auch nichts passiert, May“, meinte Axel, nachdem er sich von dem Schrecken erholt hatte.

Thomas hingegen fand diese Situation offensichtlich sehr amüsant, denn er lachte: „So habe ich den Hund auch kennen gelernt, genau so.“

Sie betraten das Haus.

„Als erstes werde ich dir mal die Räumlichkeiten zeigen“, sagte Tommy zu seinem Freund. „Damit du dich nicht verläufst.“

Es überraschte Axel, wie sauber und ordentlich es hier im Haus war.

Der äußere Eindruck des Gebäudes hatte ihn getäuscht.

Zunächst betraten sie eine etwa viermal vier Meter große Diele. Eine massiv wirkende Holztreppe führte nach oben. Diese Treppe verlief in einem sanften Bogen hinauf in das erste Stockwerk. Hinter einer Tür, die direkt rechts unterhalb der Treppe lag, befand sich eine kleine Abstellkammer. Die gegenüberliegende Tür, auf der linken Seite, führte in das geräumige Badezimmer. Hier gab es neben einer alten, großen Wanne auch noch eine Dusche.

Die mittlere Tür, die genau gegenüber vom Hauseingang lag, führte ins Wohnzimmer. Dieses Gemach bestach nicht nur durch seine Größe.

Alte, schon antik wirkende Möbelstücke verliehen dem Raum ein gewisses, wohliges Flair. Eine große Standuhr mit zahlreichen Messingverzierungen tickte laut vor sich hin. Auf dem glänzenden Dielenboden dominierten dicke, flauschige Teppiche. Die verhältnismäßig kleinen Fenster, die dicht nebeneinander in die linke Längswand eingelassen waren, ließen nicht allzu viel Licht in den Raum. Auf der gegenüber liegenden Seite zog ein offener Kamin mit bunten Kacheln die Blicke auf sich. Direkt rechts neben dem Kamin führte eine weitere Tür in die Küche.

Axel bevorzugte moderne Wohnungen mit glatten, schnörkellosen Möbelstücken. Bei ihm musste alles hell und freundlich sein. Als er jetzt aber den großen Wohnraum betrat, fühlte er sich von Wärme und Behaglichkeit umgeben. Er dachte einen Moment daran, dass er seinen jetzigen Wohnstil vielleicht doch einmal überdenken sollte.

Nach der Führung durch das untere Geschoss, zeigte Thomas ihm die oberen Etagen. Als erstes führte Thomas seinen Freund in das Zimmer, in dem er wohnen sollte, der erste Raum, gleich oben neben der Treppe. Die Einrichtung bestand aus einem Schrank, einem Tisch mit vier Stühlen und einem Bett. Auch hier bedeckten dicke Teppiche den dunklen Dielenboden. Zwei ebenfalls verhältnismäßig kleine Fenster gaben den Blick auf die grünen Hügel der Insel frei.

„Ich vermute“, sagte Tommy, „du möchtest dich jetzt unter die Dusche begeben, richtig?“

„Das ist eine sehr gute Idee.“

Thomas kannte seinen Freund nur zu gut. Egal wo sie bisher ihren Urlaub verbracht hatten, Axels erstes Ziel nach der Anreise war immer die Dusche.

„Wenn du nachher ausgepackt hast, dann werden wir erst mal essen“, Thomas deutete auf Axels Reisetasche. „Viel zum Auspacken gibt es ja bei dir nicht. Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass Tante May eine begnadete Köchin ist.“

„Du hattest es angedeutet.“

Während sie die breiten Stufen der Holztreppe wieder hinunter stiegen, meinte Axel: „Sag mal, Tommy, woher kommen eigentlich Wasser und Strom für das Haus? Ein Wasser- oder Elektrizitätswerk gibt es ja offensichtlich nicht.“

„Irland ist bekannt dafür, dass es hier viel regnet. Das Wasser fürs Haus kommt von einem Sammelbecken, welches sich auf einem hoch liegenden Plateau hinter den Hügeln befindet. Dort wird Niederschlagswasser gesammelt. Rohrleitungen befördern es hierher und auch nach Scadharbour. Da dieser kleine See wesentlich höher liegt, als Windgroul, ist immer genügend Wasserdruck vorhanden. Natürlich durchläuft das Wasser noch ein Filtersystem, bevor es hier aus der Leitung fließt.

Der Strom wird durch einen großen Generator erzeugt, der sich in einem der Schuppen in Scadharbour befindet. Früher führte eine Überlandleitung bis hierher. Doch fast jedes Mal, wenn die Herbststürme über die Insel fegten, wurden die Masten umgeknickt und die Leitung riss. Daraufhin wurde die Stromleitung unterirdisch verlegt.

Der Strom wird hier in unserem Schuppen zusätzlich in mehrere Batterien eingespeist, damit auch nachts, wenn in Scadharbour das Dieselaggregat des Generators abgeschaltet wird, immer Strom vorhanden ist.“

„Warum wird der Generator nachts Abgeschaltet?“

„Warum? Natürlich um Dieselkraftstoff zu sparen. Im Generatorschuppen ist zwar ein großer Tank, aber dieser wird nur viermal im Jahr aufgefüllt. Öfter fahren die Tankschiffe die Insel nicht an. Sicher, man könnte sich auch mit dem Boot den Treibstoff von Clifbie mitbringen, doch die Kanisterschlepperei wäre zu aufwendig.“

Mit dieser Erklärung gab sich Axel zufrieden.

„Bis gleich“, sagte er zu Tommy, bevor er mit einem Handtuch in der Hand im Badezimmer verschwand.

* * *

Der erste Tag auf Scad verging für Axel wie im Flug. Nach dem ausgiebigen Essen zeigte Thomas ihm die Insel. Zuerst fuhren die zwei mit dem alten, klapprigen Ford von Tante May nach Scadharbour. Dort erklärte Thomas ihm den Generator, der für die Stromerzeugung zuständig war. Sie besuchten auch den alten Lesley, der sich Axel gegenüber aber noch sehr zurückhaltend verhielt. Danach unternahmen sie einen Spaziergang am einzigen Sandstrand von Scad. Dieser lag auf der Ostseite der Insel, unmittelbar neben Scadharbour. Ansonsten war die Küste überall sehr steinig und unzugänglich. Große, von den Wellen rund geformte Felsen säumten das Inselufer.

Schließlich fuhren die zwei Freunde in den Westteil der Insel. Sie nahmen den gleichen Weg, den sie gekommen waren. Es gab nur diese eine, unbefestigte Straße auf Scad.

Unterwegs erfuhr Axel von seinem Freund, dass Lesley und Tante May die einzigen Bewohner der Insel waren. Alle anderen Inselbewohner waren schon vor Jahren auf das Festland gezogen.

Sie fuhren an Tante Mays Anwesen vorbei. Die Straße führte auf einen großen Hügel hinauf.

Oben stoppte Thomas das Auto und sie stiegen aus.

„Genieße diese Aussicht“, meinte Tommy. „Es ist der schönste Punkt der ganzen Insel.“

Axel schaute sich nach allen Seiten um. Die Aussicht von hier oben war herrlich. Etwa einhundert Meter unter ihnen lag Windgroul. Axel erkannte in der Ferne, zwischen den grünen Hügeln, die Häuser von Scadharbour.

Zur anderen Seite des Hügels fiel der Blick auf einen kleinen See.

Thomas erklärte, dass dieser See das Sammelbecken war, welches die Wasserversorgung der Insel sicherte. Etwas weiter hinter dem See begann eine mit dunklen Felsen überzogene Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckte.

„Dort“, meinte Thomas und deutete auf die bizarr anmutende Felsenlandschaft, „liegt das Gebiet, welches von den Inselbewohnern immer schon gemieden wurde. Zwischen diesen Felsen soll das Böse hausen. Irgendwo dahinter befindet sich die Steilküste. Da geht es bis zu einhundertundfünfzig Meter senkrecht in die Tiefe.“

„Einhundertfünfzig Meter“, wiederholte Axel und nickte beeindruckt mit dem Kopf. „Das müssen wir uns ansehen.“

„Das werden wir auch. Doch dazu müssen wir erst einmal die Gegend, in der das Böse wohnt, überwinden. Die Straße endet unten am See.

Zur Steilküste führt weder eine Straße, noch ein Pfad. Da müssen wir uns einen Weg zwischen den Felsen suchen.“

„Was hält denn deine Tante von dieser Geschichte über das Böse?“

Thomas zuckte mit den Schultern. „Eigentlich lacht sie darüber. Trotzdem würde sie dieses Gebiet nie betreten. Der alte Lesley allerdings glaubt ganz fest daran, dass dort in den Felsen das Böse wohnt.“

„Und wie soll das Böse aussehen?“

„Das weiß Lesley nicht. Er erzählt immer die Geschichte, die er von seinem Großvater als Kind gehört hatte. Dem Großvater soll in seiner Jugend das Böse begegnet sein. Dieses Böse, was immer es auch ist, soll so schrecklich gewesen sein, dass man es einem Kind nicht beschreiben darf. Lesleys Großvater wollte es aber seinem Enkel erzählen, wenn dieser erwachsen wäre. Nur leider verstarb der Großvater vorher.“

„Hat Lesley schon als Kind auf Scad gelebt?“

Thomas nickte. „Er ist hier geboren. Seine Familie wohnte schon immer auf der Insel. Insgesamt sollen früher einmal acht Familien in Scadharbor gelebt haben. Sie sind aber nach und nach zum Festland übergesiedelt. In den warmen Jahreszeiten konnte man sich hier gut vom Fischfang ernähren, doch im Winter wurde das Leben auf der Insel fast unerträglich. In Scadharbor standen früher einige Häuser mehr als heute. Sie verfielen nach und nach und wurden schließlich abgerissen.

Lesley wollte seine Insel niemals verlassen. Tante May sagt immer, dass Lesley nur hier geblieben ist, weil er keine Frau mitbekommen hatte. Sie sagt, dass sich mit so einem Eigenbrötler, wie Lesley, keine Frau einlassen würde.“

Axel lächelte. „Wenn ich eine Frau wäre“, meinte er, „dann würde ich auch keinen Mann haben wollen, der an die Gruselgeschichten seines Großvaters glaubt.“

„Lesley ist aber fest davon überzeugt, dass es keine erfundene Geschichte ist. Für ihn ist dieser Inselteil ein absolutes Tabu. Das Gleiche galt übrigens auch für die anderen Leute, die damals auf Scad gewohnt haben.“

„Aberglaube“, murmelte Axel und blickte zu der bizarren Felslandschaft hinüber. Der Gedanke an ihr Vorhaben, diese Gegend zu erkunden und bis zur Steilküste zu wandern, begeisterte ihn.

„Bist du wirklich noch nie zu der Steilküste vorgedrungen?“, fragte er seinen Freund.

„Nein. Ich bin aber schon mit dem Boot um die Insel herum gefahren, und ich kann dir sagen, dass die Steilküste beeindruckend ist. Ob sich überhaupt schon jemand die Mühe gemacht hatte, die Steilküste zu Fuß zu erreichen, das wage ich zu bezweifeln. Das Gerücht über das Böse hatte die Inselbewohner bisher davon abgehalten. Hinzu kommt noch, dass dieses felsige Gelände nur sehr schwer zu durchqueren ist.“

Die zwei Freunde freuten sich schon auf den Tag, an den sie diese Tour unternehmen würden.

Sie standen da und genossen die Aussicht vom Hügel. Den Horizont bildete rundum das weite Meer. Nur dort, wo die Steilküste lag, verdeckten die schroffen Felsen, die wie Reißzähne von Fabelwesen in die Höhe ragten, den Blick auf das Wasser. Hinter diesen Felsen gab es nur noch die scheinbar unendliche Weite des Atlantischen Ozeans.

„Sag mal, Tommy“, Axel legte seinem Freund die Hand auf die Schulter, als er ihn ansprach. „Hast du mittlerweile die Sache mit Svetlana verdaut?“

Thomas blickte ihn an und atmete tief durch. Sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Schlag ernst. Axel hatte etwas angesprochen, das eine noch nicht ganz verheilte Wunde traf. Svetlana war Thomas´ Exverlobte, eine aus Russland stammende Schönheit, die ihm den Kopf verdreht hatte. Er hatte sich bis über beide Ohren in Svetlana verliebt und auch sie hatte ihm die große Liebe vorgespielt. Die hübsche Russin hatte ihn umgarnt und verwöhnt, und das in jeder Beziehung. Die Hochzeit war bereits geplant und Axel sollte der Trauzeuge sein. Durch Zufall hatte sich dann herausgestellt, dass Svetlana, genau wie alle anderen Frauen, die ein ernstes Interesse an Thomas vorgeheuchelt hatten, eigentlich nur eines wollte, reich werden.

Kennen gelernt hatte Thomas die junge Russin, als er in einem See sein Schwimmtraining absolviert hatte und erschöpft aus dem Wasser gestiegen war. Die mit einem Trainingsanzug bekleidete Svetlana war ganz zufällig genau in diesem Moment an ihm vorbeigejoggt und genauso zufällig direkt vor seinen Augen zusammengebrochen. Als Thomas der jungen Frau zur Hilfe geeilt war, hatte nicht ahnen können, dass dieser Schwächeanfall nur vorgetäuscht war. Svetlana hatte alles genau berechnet. Sie hatte bereits seit Wochen die Lebensgewohnheiten des Mannes, der ihr mit seinem Reichtum zu einem wohlhabenden Leben verhelfen sollte, beobachtet. Von ihrem vermeintlichen Schwächeanfall hatte sie sich schnell erholt und den Mann, der sofort zur Stelle war, um ihr Hilfe zu leisten, zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Thomas hatte bei einer so schönen Frau nicht nein sagen können. Als die beiden kurz danach in ein Café eingekehrt waren, hatte sie ihm schöne Augen gemacht und von seiner tollen Figur geschwärmt. Sie hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass es ihr ernst war.

Schließlich hatte sie nicht wissen können, dass er wohlhabend war, so hatte er es wenigstens geglaubt. Als die Bedienung mit der Rechnung zu ihrem Tisch gekommen war, hatte die junge Frau die Bezahlung übernommen, denn Thomas hatte ihr erzählt, dass er momentan nur wenig Geld hätte, da er Arbeitslos war. Svetlana hatte ihm darauf zu verstehen gegeben, dass die Einladung von Herzen gekommen war, denn schließlich war er als Helfer in der Not sofort zur Stelle gewesen.

Als sie ihm dann noch gesagt hatte, dass sie ihn gerne noch einmal einladen würde, hatte Thomas innerlich triumphiert. Er hatte immer noch nicht so richtig glauben wollen, dass er für eine dermaßen hübsche Frau attraktiv war. Die beiden hatten sich danach noch dreimal im Café getroffen und Thomas, der immer noch etwas Misstrauen gehegt hatte, war bei jedem Treffen in einem verschlissenen Trainingsanzug aufgetaucht. Er hatte Svetlana das Bezahlen überlassen. Nach dem dritten Treffen hatte Svetlana ihn zu sich nach Hause eingeladen.

Es war zum ersten Kuss und zum ersten Beischlaf gekommen. Thomas war die ganze Nacht bei ihr geblieben und sie hatte ihr Bestes gegeben; hatte ihm vorgegaukelt, sich bis über beide Ohren in ihn verliebt zu haben. Thomas Misstrauen war nun endgültig gewichen. Er war am nächsten Tag mit seinem Porsche bei ihr vorgefahren und hatte sie zum Essen in ein vornehmes Hotel eingeladen. Dort hatte er ihr gebeichtet, dass er sie belogen hatte und alles andere als bettelarm war. Er war fest davon überzeugt, endlich die Frau seines Lebens gefunden zu haben.

Im letzten Jahr, kurz vor der geplanten Hochzeit, war ein Mitarbeiter der Firma in Thomas´ Büro erschienen und hatte ihn um ein Gespräch gebeten. Dieser ebenfalls aus Russland stammende Mann hatte Thomas vor Svetlana gewarnt. Er hatte gesagt, dass er zufällig ein in russischer Sprache geführtes Telefonat belauscht hatte, ein Telefonat zwischen Svetlana und einer Freundin von ihr. Sie hatte dabei ganz unverblümt erzählt, dass sie Thomas ausnehmen wolle, wie eine Weihnachtsgans und dann hätte sie noch weitere schlimme Dinge gesagt. Natürlich hatte Thomas dem Mann sofort klargemacht, dass er ihn für so eine ungeheure Anschuldigung aus der Firma schmeißen würde. Als der Mann, der eigentlich als fleißiger und loyaler Mitarbeiter bekannt war gesagt hatte, dass er Thomas nur aus Dankbarkeit, dass er hier arbeiten durfte, warnen wollte, war Thomas zwar für einen Moment stutzig geworden, doch er hatte den Mann angewiesen, aus der Firma zu verschwinden. Der Mitarbeiter hatte sich wütend erhoben und gemeint: „Sie hat auch gesagt, dass der Trottel nicht merken würde, dass sie ihm die Verliebte vorspielt.“ Dann war der Mann verschwunden. Thomas war verwirrt zurückgeblieben. Er hatte sich gefragt, warum dieser Mitarbeiter seinen Job aufs Spiel gesetzt hatte.

Hätte der Mann so etwas gesagt, wenn es nicht der Wahrheit entspräche? Die Verunsicherung war gewachsen. Da hatte Thomas einen Plan gefasst. Als er mittags nach Hause zu Svetlana gekommen war, hatte er ihr gesagt, dass sein Vater ihn enterbt und die Firma einer Stiftung überschrieben hätte. Daraufhin hätte er mit dem Vater Streit bekommen und wäre aus der Firma geschmissen worden. Thomas hatte zu Svetlana gesagt, dass er aber nicht auf der faulen Haut liegen wolle, sondern gleich morgen zum Arbeitsamt gehen würde, um sich nach einem neuen Job umzusehen. Er hatte gemeint, dass Restaurantaushilfen immer gesucht werden und dass sie sich jetzt auch eine kleinere und billigere Wohnung suchen müssten. Die Hauptsache sei ja, dass sie sich liebten. Svetlana hatte es für einen Scherz gehalten und gelacht. Thomas hatte es aber geschafft, ernst zu bleiben. Er hatte eine Zeitung zur Hand genommen und darin nach billigen Wohnungsangeboten gesucht. „Du meinst es wirklich ernst?“, hatte sie gefragt.

Thomas hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass er schließlich nichts dafür kann, dass sein Vater mit einem Mal durchdreht.

Er hatte auch gesagt, dass er niemals bei seinem Vater betteln würde, denn dazu wäre er zu stolz. Andere hätten schließlich auch wenig Geld und das Wichtigste sei, dass man glücklich ist. Daraufhin hatte Svetlana irgendwelche russischen Flüche ausgestoßen. Schließlich hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie nicht nach Irland gekommen sei, um in Armut zu leben. Eine Frau wie sie hätte etwas Besseres verdient. Sie hatte ihre Koffer gepackt und war verschwunden. Thomas hatte nicht glauben wollen, dass die Frau, die er über alles liebte, ihn so an der Nase herumgeführt hatte. Er war danach zwei Wochen lang nicht mehr ansprechbar gewesen. Das Einzige, was ihn in dieser Zeit über Wasser gehalten hatte, waren die Telefongespräche mit Axel, bei denen er sich regelmäßig ausgeheult hatte. Auch Monate danach hatte Thomas sich noch krank gefühlt. Liebeskummer hatte er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt, doch jetzt, wo es ihn selbst erwischt hatte, war für ihn die Welt zusammengebrochen. In dieser Zeit war Axel an zwei verlängerten Wochenenden nach Irland geflogen, um seinem Freund beiseite zu stehen. Es hatte Monate bedurft, bis Thomas einigermaßen darüber hinweggekommen war.

Jetzt, wo er hier neben Axel auf dem Hügel stand, um die schöne Aussicht über die Insel zu genießen, wurde Thomas wieder bewusst, was die Freundschaft zu Axel für ihn bedeutete. Er wandte sich zu ihm und umarmte ihn spontan.

„Was ist los?“, fragte Axel überrascht. „Tut es immer noch so weh?“

„Nein, Axel, ich bin einigermaßen drüber hinweg. Es gibt aber etwas, über das ich allerdings niemals hinweg kommen würde.“

„Über was?“

Thomas trat ein Schritt zurück und blickte seinem Gegenüber in die Augen. „Wenn ich dich als Freund verlieren würde.“

Axel lachte.

„Übrigens“, sagte Thomas. „Ich hatte dir doch erzählt, dass ich den Mitarbeiter, der mich gewarnt hatte, wieder einstellen wollte, doch dieser nicht mehr auffindbar war. Im letzten Monat fand ich durch einen anderen Firmenmitarbeiter seine neue Adresse heraus. Ich habe ihn Zuhause besucht und mich bei ihm entschuldigt. Es war ein komisches Gefühl, denn seine Frau und seine beiden Kinder standen neben ihm und starrten mich böse an. Als ich ihm anbot, wieder für unser Unternehmen zu arbeiten und ihm den Lohn, den er seit seinem Rauswurf verdient hätte, nachzuzahlen, blickte er mich verblüfft an. Er schien noch zu zögern, doch als ich mich auch noch bei seiner Familie für meine Dummheit entschuldigte, willigte er ein. Jetzt hat er seinen alten Posten zurück, natürlich mit einer kleinen Gehaltserhöhung. Das war ich ihm schuldig.“

„Ich freu´ mich, Tommy, dass alles wieder in Ordnung ist.“

Noch einmal ließen die beiden ihren Blick über die Insel schweifen.

Dann stiegen sie in das Auto und fuhren wieder hinunter nach Windgroul. Als sie dort ankamen, hatte Tante May schon das Abendessen vorbereitet. Nach dem ausgiebigen Mahl saßen sie noch bis in die Nacht zusammen. Sie hatten sich viel zu erzählen.

* * *

Das Boot, auf dem sich Axel Bertram und Thomas Winter befanden, lief in den kleinen Hafen von Clifbie ein.

Die beiden waren früh aufgestanden und hatten, wie geplant, das erste Schiff genommen, welches Scad angelaufen hatte.

Es war früher Vormittag. Der grau verhangene Himmel ließ der Sonne, die gestern noch den ganzen Tag am blauen Firmament stand, keine Chance. Es sah nach Regen aus. Die dicken, dunklen Wolken machten einen dusteren Eindruck, so, als würde sich jeden Moment ihre schwere Last über die Erde ergießen. Über die außergewöhnlich ruhige See regte sich kaum ein Lüftchen.

Diese bedrückende Stimmung passte zu Axels Gemüt. Jetzt, wo er sein grausames Erlebnis der Polizei erzählen wollte, lag ihm diese Geschichte wieder im Magen. In seinen Gedanken sah er erneut die Tote vor sich, und er sah das blutüberströmte Gesicht der jungen Frau.

Er ging davon aus, dass dieses Erlebnis, diese Begegnung mit dem Tod, ihn noch Tage lang beschäftigen würde.

Tommy und Axel standen an der Reling. Sie beobachteten von Bord aus, wie am Kai einige Fischerboote entladen wurden.

Der Fischfang in den Gewässern vor Clifbie fand überwiegend nachts statt. Zwischen den vorgelagerten Inseln und der Küste gab es lohnenswerte Fischgründe. An guten Tagen brachten die dicht über den Grund geschleppten Netze eine reichliche Ausbeute. Manchmal erlebten die Fischer aber auch Zeiten, in denen der Fang eher kärglich ausfiel.

Der Hafen von Clifbie war nicht sehr groß. Nur wenige Meter hinter der Kaimauer, an der das Boot mit Bertram und Winter anlegte, führte ein Pfad zum Strand, zu dem Strand, an dem Axel die tote Frau gesehen hatte.

Die zwei jungen Männer gingen von Bord. Ihr Weg führte sie über einige gemauerte Stufen direkt von der Kaimauer zur Straße hinauf.

Gleich auf der anderen Straßenseite standen die ersten Häuser von Clifbie; alte Gebäude, deren Giebelfronten zum Hafen ausgerichtet waren. Zwischen den Häusern hindurch verliefen kleine Gassen in die Innenstadt.

Thomas führte seinen Freund durch die engen Sträßchen. Er hatte einen Teil seiner Kindheit hier verbracht und kannte sich deshalb in Clifbie gut aus. Die Stadt hatte sich mit den Jahren nur wenig verändert.

Damals gab es allerdings diese Andenkenläden noch nicht, die man heute an fast jeder Ecke sah. Die Einwohner des Ortes hatten es gelernt, aus dem Tourismus, der in allen kleinen Hafenstädtchen dieser Gegend seit Jahren zunahm, Kapital zu schlagen. In den Sommermonaten strömten ganze Busladungen mit Touristen hierher. Sie besichtigten die urtümliche Altstadt und bestaunten die Fischerboote im Hafen. Die Fotoapparate klickten und die Videokameras liefen, bis schließlich die Busse den Ort wieder verließen. Touristen, die hier in Clifbie übernachteten, gab es nur sehr wenige. Das war auch der Grund dafür, dass der sehr schöne Sandstrand, den der Ort besaß, meist nur von den Einheimischen genutzt wurde.

Nach einem kurzen Fußmarsch durch die verwinkelten Gassen erreichten Axel und Thomas den Marktplatz von Clifbie, der den Mittelpunkt und das Herz der Stadt bildete. Hier standen auch die größten und imposantesten Gebäude.

Es gab das Rathaus, welches durch eine wunderschön verzierte Stuckfassade auffiel. Gleich daneben lag das Heimatmuseum. Auf der anderen Marktseite, gegenüber dem Rathaus, befanden sich die beiden größten Gebäude am Platz, das Gemeindehaus und die Polizeistation.

Die zwei jungen Männer gingen direkt darauf zu.

Als Axel die Tür der Polizeistation öffnen wollte, stellte er fest, dass sie verschlossen war. Sogleich las er auf einer, neben der Tür angebrachten Tafel, dass die Station erst ab elf Uhr besetzt sein wird. Er wandte sich wieder von der Tür ab. Ein Blick auf die große Rathausuhr verriet ihm, dass sie noch fast eine Stunde Zeit hatten, um den Beamten etwas über den Vorfall am Strand zu berichten.

Weder Thomas, noch Axel bemerkten, dass sie beobachtet wurden.

Durch ein Fernglas verfolgte ein Augenpaar jede ihrer Bewegungen.

„Wir haben noch eine Stunde Zeit“, stellte Axel fest.

„Das trifft sich gut“, meinte Tommy. „Dann gehen wir doch gleich mal hinüber in das Museum.“

„Was? In das Museum?“

Axel stand eigentlich nicht der Sinn nach einem Museumsbesuch.

„Ich möchte nur jemandem einen Besuch abstatten“, lachte Thomas. Er konnte die Verwunderung seines Freundes verstehen. „Weißt du, Axel, dort ist seit ein paar Tagen ein nettes Mädchen beschäftigt. Sie heißt Lisa Perkins, eine verdammt hübsche Person. Vielleicht kann ich sie dazu überreden, einmal mit mir auszugehen. Nur, viel Zeit werde ich dafür nicht mehr haben, denn Lisas Aufenthalt in Clifbie ist nur von kurzer Dauer.“

„Macht sie hier Urlaub?“

„Nein, der Grund für ihren Aufenthalt in Clifbie ist eine lange Geschichte, an der eigentlich der kleine Leon schuld ist.“

„Der kleine Leon? Du meinst doch nicht etwa den Hund von Tante May.“

„Doch, dieser kleine Terrier ist dafür verantwortlich.“

Axel blickte seinen irischen Freund verwundert an.

„Lisa Perkins arbeitet normalerweise im großen Völkerkundemuseum in Dublin. Sie ist eigens hierhergekommen, um sich mit einem alten Armreif aus grauer Vorzeit zu beschäftigen. Diesen Armreif hatte Leon irgendwo auf Scad ausgegraben.“

Während die zwei Freunde den Marktplatz überquerten, erzählte Tommy alles, was er über diesen Armreif wusste: „Nachdem Leon diesen alten Armreif bereits wochenlang als Spielzeug benutzt hatte, war Frank Higgins, der Leiter des hiesigen Heimatmuseums bei Tante May zu Besuch gewesen. Er war auf das Spielzeug des Hundes aufmerksam geworden und hatte es sich genauer angesehen. Higgins hatte sofort erkannt, dass es sich dabei um ein Relikt aus der Vergangenheit handeln musste. Doch er war nicht in der Lage, es genauer einzuordnen. So etwas hatte er vorher noch nie gesehen. Er hatte das Völkerkundemuseum in Dublin informiert. Daraufhin war Lisa Perkins gekommen. Sie hatte den Armreif begutachtet und war begeistert. Ihrer Meinung nach war es das älteste Stück, dass man je in Europa gefunden hatte.“

Axel und Thomas erreichten das Museum.

„Wo hat denn der Hund den Armreif gefunden?“, fragte Bertram.

„Das weiß keiner, denn der kleine Terrier läuft oft den ganzen Tag alleine auf der Insel herum. Er kann das Teil praktisch überall auf Scad gefunden haben.“

Vor dem Museumseingang blieb Thomas noch einmal stehen und wandte sich seinem Freund zu: „Ehe ich es vergesse, Axel, sage bitte niemanden, woher der Armreif stammt. Frank Higgins musste es auch meiner Tante versprechen.“

„Warum ist das denn so geheim?“

„Tante May möchte nicht, dass es bekannt wird. Sie befürchtet, dass es in die öffentlichen Medien kommen und es dadurch einen Touristenansturm auf Scad geben könnte. Sie hatte schon geträumt, dass Menschenmassen die ganze Insel nach Altertümern umgegraben haben.“

Axel lachte. „Na gut, ich werde schweigen, wie ein Grab.“

Sie betraten das Museum. Gleich die erste Tür führte in das Büro des Museumsleiters Frank Higgins. Dort traten sie ein.

„Guten Morgen, Mr. Higgins“, begrüßte Thomas Winter den Mann, der dort hinter einem großen Schreibtisch saß.

Higgins blickte auf. „Hallo Thomas“, sagte er. Er erhob sich von seinem Stuhl, um seine beiden Besucher zu begrüßen.

Frank Higgins war ein Mann mittleren Alters, der offensichtlich sehr auf ein gepflegtes Äußeres achtete. Seine dunklen Haare waren an den Schläfen schon ergraut. Ein ordentlicher Haarschnitt erweckte den Eindruck, als sei er gerade erst beim Friseur gewesen. Auch sein sehr schmal geschnittener, fast weißer Oberlippenbart hatte etwas ganz seriöses. Ein weißes Hemd mit Krawatte und ein dunkler Anzug mit passender Weste verliehen ihm fast das Aussehen eines typisch englischen Gentlemans.

Thomas Winter stellte ihm seinen Freund vor. „Das ist Axel Bertram.

Axel kommt aus Deutschland.“

Higgins begrüßte Axel freundlich.

„Eigentlich wollte ich Lisa besuchen“, meinte Thomas. „Wo ist sie?“

Frank Higgins schaute mit einem Mal recht skeptisch drein.

„Tja“, sagte er, „wenn ich das wüsste. Ich habe sie seit vorgestern nicht mehr gesehen.“

„Soll das heißen, dass sie schon wieder nach Dublin abgereist ist?“

Thomas wirkte etwas enttäuscht.

„Genau das dachte ich zunächst auch“, meinte Higgins. „Doch so einfach davon zu fahren, ohne sich zu verabschieden, das ist nicht Miss Perkins Art. Vor einer Stunde habe ich in Dublin angerufen. Dort ist sie nicht.“

„Wann haben Sie Lisa denn das letzte Mal gesehen?“

„Vorgestern, als sie das Päckchen mit dem Armreif und den Laborergebnissen aus Dublin bekommen hatte.“

Thomas staunte nicht schlecht, als er das hörte.

„War der Armreif etwa schon in Dublin?“

Frank Higgins nickte. „Ja, Miss Perkins hatte den Reif sofort zur genaueren Untersuchung nach Dublin geschickt. Dort sollte das Alter und die Zusammensetzung der Legierungen des Armreifs festgestellt werden. Insbesondere wollte sie wissen, was es für ein orangefarbener Edelstein war, der den Reif verzierte.“

„Das würde mich auch interessieren“, warf Thomas Winter ein.

Er wandte sich an Axel: „Weißt du, Axel, ich habe den Reif auch gesehen. Daran war ein großer Edelstein befestigt, der eine leuchtendorange Farbe hatte. So ein Stein ist mir noch nie unter die Augen gekommen. Er hatte so einen merkwürdigen Glanz, so, als ob er von innen leuchtete.“