Dionysius - Dieter Ebels - E-Book

Dionysius E-Book

Dieter Ebels

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Beschreibung

Der grausame Fund einer enthaupteten Frau vor der kleinen St. Dionysius-Kapelle stellt Kommissarin Silvia Muisfeld und ihren Kollegen Sven Söhlbach vor ein Rätsel. Als ein weiteres, genauso hingerichtetes Mordopfer gefunden wird, steht schnell fest, dass es der selbe Täter ist. Niemand ahnt, dass der Mörder, ein irrsinniger Psychopath, der jeglichen Bezug zur Realität verloren hat, weitere Hinrichtungen plant. Ein spannender Krimi mit lockerer Unterhaltung und tiefgründigen Gefühlen.

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Seitenzahl: 313

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dienstag, 2.30 Uhr

Dienstag, 8.30 Uhr

Dienstag, 11.00 Uhr

Mittwoch, 8.00 Uhr

Donnerstag, 9.20 Uhr

Donnerstag, 10.15 Uhr

Donnerstag, 11.15 Uhr

Freitag, 8.15 Uhr

Freitag, 13.00 Uhr

Freitag, 18.00 Uhr

Samstag, 9.00 Uhr

Samstag, 14.00 Uhr

Montag, 7.50 Uhr

Montag, 9.00 Uhr

Montag, 14.00 Uhr

Prolog von Barbara Schmitz

Als ich vor 26 Jahren das allererste Buch von Dieter Ebels

„Nu Gorra“ kaufte, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich einmal eine seiner Lektorinnen sein würde.

Das Leben geht manchmal seltsame Wege.

Mittlerweile ist Dieter ein bekannter Buchautor geworden, dessen Facettenreichtum schier unendlich zu sein scheint.

Er bedient viele Genres und schreibt Heimatgeschichten, Bildbände, Schicksalsgeschichten, Humoresken, Kinderbücher und natürlich seine spannenden Krimis, um nur einige zu nennen.

Das Ganze spickt er mit viel Lokalkolorit.

Seine Bücher zeichnen sich stets durch sehr gute Recherchearbeiten und flüssigen, einfühlsamen Schreibstil aus, der nicht nur seinen Leserinnen und Lesern, sondern auch einem Lektoren großes Lesevergnügen bereitet.

Nicht umsonst wurde Dieter Ebels von der Literaturwelt Deutschland zum Autoren des Jahres 2019 gewählt, und gäbe es aktuell nicht die Pandemiesituation, hätte er sich sicherlich diesen Titel auch im Folgejahr gesichert.

Ich freue mich auf noch viele spannende Bücher und wünsche Dieter auch weiterhin viel Erfolg und schriftstellerischen Ideenreichtum.

Barbara Schmitz

Dienstag, 2.30 Uhr

Langsam fuhr das schwarze Auto über die Sermer Straße.

Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und der Mann hinter dem Lenkrad wirkte hochkonzentriert. Er wollte in der Dunkelheit nicht von der schmalen Straße abkommen.

In den letzten drei Nächten war er immer wieder die gleiche Strecke gefahren, vom Duisburger Stadtteil Mündelheim nach Serm. Dabei hatte er die ideale Uhrzeit für sein Vorhaben herausgefunden.

2.30 Uhr, das war die ideale Zeit. Da fuhr weder der Bus der Linie 946, der regelmäßig zwischen den beiden Stadtteilen verkehrte, noch waren andere Autos unterwegs.

Durch Mündelheim war er noch mit Abblendlicht gefahren, doch kaum hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen, hatte er das Licht ausgeschaltet. Auf einer Länge von etwa einem Kilometer führte die Straße nun zwischen ausgedehnten Feldern hindurch.

Der Mann richtete all seine Aufmerksamkeit auf die Straße.

Niemand unterwegs, ging es ihm durch den Kopf. Genau so habe ich es mir vorgestellt.

In der Dunkelheit vor sich erkannte er auf der rechten Straßenseite sein Ziel, die kleine weiße Kapelle.

Er verlangsamte seine Fahrt.

Unmittelbar vor der niedrigen Mauer, welche die Kapelle umgab, fuhr er rechts ran und stellte sein Fahrzeug ab. Er stieg aus und schaute sich um.

Weit und breit war niemand zu sehen.

Der Mann zog den Reißverschluss seiner Jacke nach oben, denn es war kühl. Die Temperaturen in den letzten Oktobertagen lagen nur noch im einstelligen Bereich und nachts fiel das Thermometer fast bis auf den Gefrierpunkt.

Der Himmel über ihm war klar. Er erkannte über sich das große Sternbild des Orions. Eigentlich interessierte er sich nicht für Sternbilder, doch der Name Orion war bei ihm hängen geblieben, weil die alten Ägypter angeblich die drei großen Pyramiden nach diesem Sternbild erschaffen hatten.

Als er das erste Mal nachts die kleine Kapelle besucht hatte, war Vollmond und das Mondlicht hatte die komplette Gegend erhellt. Heute aber war Neumond und es war fast stockdunkel.

Perfekt, dachte er. Niemand wird mich sehen.

Sein Blick fiel auf die Häuser von Serm, die von hier aus nur noch etwas mehr als hundert Meter entfernt lagen.

Weder in der Häusern vom Altgaßweg, noch von denen In der Donk brannte Licht. Genauso war es schon in den letzten Tagen und genauso hatte er es geplant.

Doch heute war etwas anders, als in den letzten Tagen, denn heute würde er seinen perfiden Plan verwirklichen.

Heute würde er die heikle Fracht, die in seinem Kofferraum lag, hier absetzen.

Noch einmal sah er sich um.

Alles friedlich. So soll es sein.

Der Mann begab sich zum Fahrzeugheck und öffnete den Kofferraum. Er beugte sich nach vorne und zog einen, in einer schwarzen Plastikfolie gewickelten Körper heraus.

Oft genug hatte er jeden Handgriff geübt und so legte er sich den verpackten Körper mit viel Geschick über seine rechte Schulter.

Mit schnellen Schritten eilte er zu der kleinen Kapelle.

Direkt vor der Kapellentür legte er den Körper ab. Mit einer flinken Handbewegung löste er die Schnur, die die Plastikfolie um den Körper zusammenhielt. Er nahm den Körper einer Frau aus der Folie, zog ihn zu den beiden Stufen, die links neben der Kapelle nach oben führten und setzte ihn dort ab. Mit geübten Griffen brachte er den schlaffen Leib in eine sitzende Position. Er lehnte den Körper an die Wand der Kapelle, zog die Beine seines Opfers an und legte die toten Hände auf die Knie. Genau diese Stellung hatte er in seiner Garage immer wieder geübt und es war zunächst nicht einfach gewesen, die richtige Position zu finden. Doch er hatte diese Darstellung seines Opfers perfektioniert.

Der Mann stand auf und betrachtete sein Werk.

Genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte, dachte er. Doch nun werde ich es vollenden.

Dabei ging sei Blick zum Hals des Torsos. Der Hals endete abrupt, denn der Kopf fehlte.

Er lächelte.

Perfekt.

Dann nahm er die Plastikfolie auf, faltete sie grob zusammen und begab sich wieder zum Kofferraum des Autos. Nachdem er das Plastik hineingelegt hatte, öffnete er eine weitere Folie, griff hinein und zog den Kopf seines Opfers heraus.

Mit dem Kopf in der Hand ging er wieder zurück zur Kapelle.

Als er den dort sitzenden Körper erreicht hatte, blickte er sich noch einmal nach allen Seiten um.

Wieder erkannte man ein Lächeln auf seinen Lippen.

Perfekt, wiederholte er in seinen Gedanken. Ich bin perfekt.

Nun positionierte er den Kopf auf die Knie seines Opfers, genau zwischen die schlaffen, blassen Hände.

Er machte ein paar Schritte zurück und betrachtete sein grausames Werk.

Genauso sollte es sein.

Er schaute in das Gesicht seines Opfers. Als er sah, dass eine blonde Haarsträhne der toten Frau vor dem rechten Auge hing, schob er diese beiseite.

So kann man dich besser erkennen, dachte er. Du hast es nicht anders verdient. Warum musstest du dich auch in Dinge einmischen, die dich nichts angehen.

Eigentlich warst du in meinem Plan nicht vorgesehen, doch scheinbar sollte dein Einmischen eine Fügung sein.

Durch dich endet die Geschichte so, wie sie in der Legenda aurea überliefert wird. Dort heißt es, dass zum Bekenntnis der Dreifaltigkeit drei Köpfe mit Axthieben abgeschlagen wurden.

Dein Tod war also eine Vorsehung.

Er dachte daran, dass nun in seinem Plan sogar sechs Köpfe abgeschlagen werden.

Der Mann wandte sich ab und ging zu seinem Fahrzeug.

Noch einmal blickte er sich zu seinem grausam zugerichteten Opfer um. In der Dunkelheit waren von hier aus aber keine Details mehr zu erkennen.

Ich bin gespannt, dachte er, wer sie morgen Früh entdeckt. Vielleicht taucht sie ja im Scheinwerferlicht der ersten Autos auf, die hier vorbeifahren oder die Insassen, die im ersten Linienbus sitzen, werden mit ihrem Anblick konfrontiert. Schade, dass ich nicht dabei sein kann, wenn sie morgen gefunden wird. Zu gerne hätte ich gerne die entsetzten Gesichter gesehen.

Wenig später saß er wieder in seinem Auto und fuhr langsam los.

Während er sein Fahrzeug auf die Häuser von Serm zu lenkte, verspürte er ein Gefühl der Befriedigung. Erst als der Wagen über die Dorfstraße zwischen den Häusern rollte, schaltete er das Licht wieder an.

„Nun kann ich mich den nächsten Bestrafungen widmen“, sagte er leise zu sich selbst. „Wie sagt man so schön? Es werden Köpfe rollen.“

* * *

Dienstag, 8.30 Uhr

Der laute Klingelton seines Handys riss Kriminalkommissar Sven Söhlbach aus dem Schlaf.

Scheiße, war sein erster Gedanke.

Es dauerte einen Moment, bis er die Uhrzeit auf seinem Radiowecker erkannte.

Auch wenn er sich nach diesem abrupten Schlafabbruch erst einmal geistig sammeln musste, ahnte er, dass der Anruf dienstlich war.

„Ausgerechnet heute“, sagte er leise zu sich selbst.

Söhlbach hatte gestern die Geburtstagsfeier eines Cousins besucht und er war heute Morgen erst gegen halb Vier nach Hause gekommen.

Er tastete nach seinem Handy und sah auf dem Display sofort, wer ihn da aus den Schlaf gerissen hatte.

„Silvia, was ist los?“, meldete er sich.

Kommissarin Silvia Muisfeld war seine Mitstreiterin im Duisburger Kommissariat für Tötungsdelikte.

„Na, was wohl?“, klang es aus dem Handy. „Ralf hat mich angerufen. Es wurde ein Leichenfund gemeldet.“

Mit Ralf meinte Muisfeld Ralf Meier, den Leiter der Spurensicherung.

„Ralf wollte am Telefon nicht näher darauf eingehen“, erklärte die Kommissarin, „aber er sagte, ich solle auf einiges gefasst sein.“

„Was?“ Söhlbachs Stimme klang immer noch verschlafen.

„Liebste Silvia, hast du vergessen, dass ich heute frei habe?“

„Natürlich nicht. Ich weiß ja, dass du Überstunden abfeierst oder besser gesagt, abfeiern wolltest. Der Chef hat angeordnet, dass du zum Dienst antreten muss, weil keine Leute da sind.“

„Scheiße“, fluchte Sven. „Dann hab ich wohl keine andere Wahl. Was hat es denn mit dem Leichenfund auf sich?“

„Ich kann dir dazu noch nichts sagen, Sven. Ich weiß nur, dass man eine tote Frau vor dem kleinen Kapellchen in Serm gefunden hat. Mach dich fertig. Ich komm dich abholen. Bin schon unterwegs.“

Damit war das Gespräch beendet.

Söhlbach stand auf und reckte sich. Dabei gähnte er herzhaft.

So ein Mist, ging es ihm durch den Kopf.

In dem Moment, in dem er ins Bad gehen wollte, klingelte sein Handy erneut.

Auf dem Display las er den Namen seines Kollegen Andre Waldmeier. Waldmeier arbeitete im gleichen Kommissariat wie Söhlbach.

Was will der denn?, wunderte sich Sven. Er ist doch im Urlaub.

„`n Morgen, Andre“, meldete er sich. „Du, am frühen Morgen? Was gibt´s?“

„Einsatz, Bruce“, hörte er seinen Kollegen sagen. „Diese Idioten haben mich gerade wachgeklingelt. Die haben wohl nicht kapiert, dass ich im Urlaub bin. Aber ich hab mir gedacht, wenn ich jetzt eh schon wach bin, kann ich dir ja Bescheid geben.“

„Ich weiß schon Bescheid, Andre. Eine Tote in Serm.“

„Da wollte ich dich schon mal eher anrufen, als der Chef, doch damit war es wohl nichts.“

„Nicht der Chef, sondern Silvia hat mich angerufen“, erklärte Sven.

„Ach so, na dann haue ich mich wieder aufs Ohr. Viel Spaß, Bruce!“

„Den werde ich haben“, antwortete Söhlbach und beendete das Gespräch.

Daran, dass ihn einige seiner Kollegen spaßeshalber Bruce nannten, hatte er sich schon gewöhnt. Seitdem Sven sich die wenigen noch verbliebenen Kopfhaare abrasiert hatte und nun eine Glatze sein Haupt zierte, meinten einige, er sähe jetzt so aus, wie der Schauspieler Bruce Willis. Sven selbst fand das nicht, denn mit seinen 38 Lebensjahren war er schließlich wesentlich jünger als Bruce Willis. Außerdem war er mit 1,87 cm viel größer als der Schauspieler.

Er begab sich ins Bad und betrachtete sich im Spiegel.

„Du siehst heute richtig scheiße aus“, sagte er zu seinem Spiegelbild. „Man, und ich wollte mich ausschlafen.“

Söhlbach drehte den Wasserhahn auf, ließ beide nebeneinander gehaltene Hände mit kaltem Wasser voll laufen und schaufelte sich die nasse Ladung ins Gesicht.

Dass das Wasser dabei bis auf den gefliesten Boden spritzte, interessierte ihn nicht. Diese Prozedur wiederholte er noch zweimal, um sich danach erneut im Spiegel zu betrachten.

„Siehst immer noch scheiße aus“, murmelte er.

Die kalte Dusche, die er seinem Gesicht verpasst hatte, schien aber ihre Wirkung zu zeigen, denn als er sich wenig später rasierte, fühlte er sich wieder hellwach.

Während er sich anschließend die Zähne putzte, klingelte sein Handy.

Sven sah, dass es seine Kollegin war.

„Ja“, meldete er sich knapp.

„Ich steh´ bei dir vor der Tür“, klang Silvias Stimme aus dem Lautsprecher. „Kommst du?“

„Bin in einer Minute unten.“

Aus der einen Minute waren fünf geworden, als Söhlbach zu der Kommissarin in den Dienstwagen stieg.

Silvia Muisfeld startete den silbernen VW-Passat und fuhr los.

„Du bist jetzt bestimmt stinkig“, sagte sie zu ihrem Kollegen.

„Stinkig ist noch milde ausgedrückt“, gab Söhlbach ihr zu verstehen. „Stinksauer bin ich.“

„Kann ich verstehen, Sven. Wann bist du denn von der Geburtstagsfeier nach Hause gekommen?“

„So gegen halb Vier.“

„Dann hast du ja wenigstens fünf Stunden geschlafen“, meinte Muisfeld.

„Fünf Stunden“, murmelte ihr Kollege. „Eigentlich bin ich im Moment überhaupt nicht diensttauglich.“

„Weil du zu wenig Schlaf hattest?“

„Nee, weil ich mit Sicherheit immer noch zu viel Alkohol im Blut habe.“

Silvia schmunzelte.

„Soll ich den Chef anrufen und ihm sagen, dass du nicht diensttauglich bist?“, schlug sie vor.

Söhlbach winkte ab.

„Wo genau hat man die Leiche gefunden?“, wollte er von ihr wissen.

„Vor der kleinen Kapelle in Serm.“

„Sorry“, sagte Sven, „aber ich weiß nicht, wo in Serm eine Kapelle steht. In den südlichen Stadtteilen kenne ich mich nicht so gut aus.“

„Das Kapellchen steht an der Straße, die von Serm nach Mündelheim führt“, erklärte Silvia.

„Für ein Nordlicht kennst du dich im Süden aber ganz gut aus“, sagte Söhlbach.

Damit meinte er, dass Silvia im Stadtteil Neumühl im Norden der Stadt wohnte.

„Ich kenne diese kleine Kapelle“, sagte Muisfeld, „weil ich früher sehr oft daran vorbeigefahren bin. Eine Freundin von mir hatte damals in Mündelheim gewohnt. Ich war sie oft besuchen. Als die Ausfahrt nach Mündelheim auf der B 288 für eine Zeit gesperrt war, musste ich immer durch Serm fahren, um zu meiner Freundin zu kommen und dieser Weg führte genau an dem Kapellchen vorbei.“

„Und Ralf hat nicht einmal angedeutet, was dort vorgefallen ist?“

„Er hat nur gesagt, dass er mit seiner Spurensicherung schon vor Ort ist und dass es sich um eine getötete Frau handelt, und dann meinte er noch, dass ich mich auf das Schlimmste gefasst machen soll.“

Als der silberne Passat etwa zehn Minuten später durch den Stadtteil Serm rollte, deutete Silvia nach vorne.

„Da hinten“, erklärte sie, „ist die Dorfstraße zu ende. Von dort aus führt die Straße etwa einen Kilometer nur durch Felder bis nach Mündelheim.“

Sie hatten die letzten Häuser noch nicht ganz hinter sich gelassen, da staunte Söhlbach.

„Felder, soweit das Auge reicht“, kommentierte er den Anblick. „Ich wusste nicht, dass es hier so eine ländliche Gegend gibt.“

Sofort fiel ihm auch die kleine, weiße Kapelle auf, die in etwa einhundert Meter Entfernung vor ihnen zu sehen war. Um die Kapelle herum standen zahlreiche Polizeiautos und die Fahrzeuge der Spurensicherung.

Ein uniformierter Polizist kam ihnen entgegen und deutete ihnen an, dass sie in das kleine Sträßchen, welches links an der Kapelle vorbeiführte, einbiegen sollten. Dort stellten die beiden schließlich ihr Auto ab.

Bereits beim Vorbeifahren an der Kapelle hatten sie gesehen, dass die Kollegen den vermeintlichen Tatort mit Tüchern abgehangen hatten. Das wurde meistens gemacht, wenn Außenstehende das Geschehen nicht mit verfolgen sollten oder um neugierige Presseleute abzuhalten.

Silvia Muisfeld hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, denn da Ralf Meier, der Leiter der Spurensicherung, am Telefon nicht näher auf das Mordopfer eingehen wollte, ahnte sie Schlimmes.

Jetzt, wo sie gemeinsam mit ihrem Kollegen auf die kleine Kapelle zuging, wurde das unwohle Gefühl immer stärker.

„Na wenigstens spielt das Wetter mit“, hörte sie Sven sagen. „Blauer Himmel und Sonnenschein, was will man mehr?“

Während sie auf das kleine Gebäude zuhielten, schaute er sich nach allen Seiten um. Das Kapellchen vor ihnen schien in der noch tief stehenden Sonne schneeweiß zu leuchten.

„Na? Ausgeschlafen?“, wurden Muisfeld und Söhlbach von Ralf Meier empfangen, als sie die Kapelle erreicht hatten.

Der Leiter der Spurensicherung schob eines der Tücher, die vor neugierigen Blicken schützen sollten, beiseite und machte eine einladende Handbewegung.

„So etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht vorgekommen“, sagte er. „Da hat sich jemand richtig viel Mühe gegeben. Aber seht selbst.“

Als Silvia und Sven das Mordopfer erblickten, schluckten beide laut hörbar.

Auf den Stufen der Kapelle saß eine Frau, deren abgetrennter Kopf auf ihrem Schoß lag.

„Na, was sagt ihr dazu?“, meinte Ralf Meier.

Als die beiden immer noch sprachlos dastanden, sagte Meier: „Ich weiß, so etwas haben wir hier noch nicht gehabt, aber irgendwann ist immer das erste Mal.“

Söhlbach hatte diesen schrecklichen Anblick anscheinend eher überwunden, als seine Kollegin.

„Kannst du schon irgendetwas dazu sagen, Ralf?“, wollte er von dem Leiter der Spurensicherung wissen.

„Die Frau ist mindestens seit 24 Stunden tot“, antwortete Meier. „Irgendjemand hat die Tote hierher gebracht und sie regelrecht zur Schau gestellt. Wenn ich nicht genau wüsste, dass es hier keine Guillotinen gibt, hätte ich gesagt, dass man sie damit geköpft hat. Der Kopf wurde mit einem schnellen Schnitt ganz glatt vom Rumpf abgetrennt.“

Meier deutete auf die Jacke der Toten.

„Der Täter“, fuhr er fort, „hat sein Opfer erst nach der Tat angekleidet, denn auf der Kleidung ist nirgendwo Blut zu erkennen.“

„Unglaublich“, murmelte Söhlbach.

Seine Kollegin starrte immer noch auf die enthauptete Frau.

Sven wusste, dass Silvia auf den Anblick schrecklich zugerichteter Mordopfer sehr sensibel reagierte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er sie.

Muisfeld nickte.

„Ja, alles in Ordnung.“

Sie wunderte sich über sich selbst. Normalerweise schlugen ihr dermaßen grausame Morde immer auf den Magen, aber dieses Mal war es nicht so. Nirgendwo floss Blut und der Anblick der getöteten Frau wirkte auf sie irgendwie unrealistisch.

Muisfeld hatte sich auch schnell wieder gefangen.

Während sie um das Mordopfer herumging, um es näher zu betrachten, schob sie sich mit beiden Händen ihre schulterlangen, rotbraunen Haare hinter die Ohren.

„Wer hat die Tote denn entdeckt?“, wollte sie von Meier wissen. „Und wann wurde sie entdeckt?“

„Der Mann, der die Tote entdeckt hatte, meldete sich um 8.15 Uhr in der Zentrale“, erklärte Ralf Meier. „Wenn ich es richtig verstanden habe, ist ihm die Tote beim Joggen aufgefallen.“ Er schaute sich suchend um. Seine blonden Haare wirkten im Sonnenlicht noch heller, als sonst. Meier schirmte mit der Hand die Augen ab, um wegen der tiefstehenden Sonne mehr zu sehen. Dann deutete er auf einen Mann im Jogginganzug, der etwas abseits mit zwei Polizisten zusammenstand.

„Da steht er ja“, sagte der Leiter der Spurensicherung.

Mit den Worten: „Dann werden wir ihn doch gleich mal fragen, ob er hier noch etwas Verdächtiges gesehen hat“, begab sich Muisfeld gemeinsam mit ihren Kollegen zu dem Jogger.

Auf halbem Weg blieb Silvia plötzlich stehen.

„Hmm“, meinte sie. „Irgendetwas ist hier anders.“

Sie wandte sich wieder zur Kapelle um.

„Komisch“, murmelte sie.

„Was ist komisch?“, wollte Sven von ihr wissen.

Die Kommissarin schloss für einen Augenblick die Augen.

„Der Baum ist weg“, sagte sie schließlich. „Die Kapelle stand immer im Schatten eines riesigen Baumes.“

„Hier steht aber kein riesiger Baum“, stellt Söhlbach fest.

„Hier steht nur ein kleiner.“

„Als ich damals mit dem Auto an der Kapelle vorbeigefahren bin, stand da ein riesiger Baum. Da bin ich mir ganz sicher.“

Sven zuckte mit den Schultern und meinte: „Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder wurde der Baum abgeholzt oder du hast das mit dem Baum nur geträumt.“

„Der Baum war da“, entgegnete Silvia. „Man hat ihn wohl gefällt.“

„Ist ja auch egal“, sagte Söhlbach. „Lass uns jetzt den Zeugen befragen.“

Ohne noch einmal auf Silvias Baum einzugehen, begab er sich zu dem Mann im Jogginganzug. Seine Kollegin folgte ihm.

„Sie haben also die Tote entdeckt“, sagte er zu dem Mann, nachdem er sich kurz vorgestellt hatte. „Erzählen Sie doch mal, wie es war. Sind Ihnen heute Morgen vielleicht noch andere Personen hier aufgefallen?“

Der etwa 50 Jahre alte Mann im hellblauen Jogginganzug trug eine weiße Baseballkappe.

„Wie es war, als ich sie gefunden habe?“, sagte er. „Nun, lustig war es nicht gerade. Finden Sie mal ´ne Frau ohne Kopf. Ich meine, sie war ja nicht ohne Kopf, denn der lag schließlich auf ihrem Schoß. Na, Sie wissen schon, wie ich es meine. Ich hatte diese Frau schon gesehen, als ich auf die Kapelle zugelaufen bin und dachte, was das für ein übler Halloweenscherz ist, ´ne Puppe ohne Kopf vor die Kapelle zu setzen. Bin vorbeigelaufen, dann aber nach einigen Metern stehengeblieben. Dann bin ich noch mal zurück, weil ich so ein komisches Gefühl hatte. Als ich sie mir dann aus der Nähe angeguckt hatte, war ich immer noch unschlüssig, doch langsam war mir dann klar geworden, dass es keine Puppe ist. Da hab ich sofort die Polizei angerufen.“

„Waren zu diesem Zeitpunkt noch andere hier unterwegs?“

„Es waren hier einige unterwegs“, sagte der Jogger, „doch ich war der einzige, der stehen geblieben ist. Eine junge Frau, die mit dem Fahrrad hier vorbeigefahren war, hatte kurz gestoppt, um die Tote mit dem Handy zu fotografieren. Dann ist sie weitergefahren. Auch einige Autos verlangsamten ihre Fahrt, um sich die Frau anzusehen. Ein paar blieben sogar stehen, ließen das Fenster herunter und schossen ebenfalls ein paar Fotos.

Doch niemand hat sich diese Frau näher angesehen. Es haben mehr als genug Leute die Frau schon vor mir entdeckt. Schließlich war es schon lang genug hell. Ich vermute, sie haben genau wie ich an einen Halloweenscherz gedacht.“

„Unglaublich“, meinte Söhlbach. „Da sitzt eine schrecklich entstellte Frau und niemand hält sie für echt.“

„“Mich wundert es überhaupt nicht“, sagte der Mann im Jogginganzug. „Gehen Sie doch mal durch die Stadt und schauen sich die Vorgärten an. Da sehen Sie viele Gruselgestalten, die von den Leuten zu Halloween aufgestellt wurden. Selbst die Leute im 946er haben nur blöd aus den Fenstern geguckt.“

Söhlbach runzelte die Stirn. „Der 946er? Was ist das?“

„Der Bus“, antwortete der Mann. „Die Linie 946. Als der Bus hier vorbei fuhr, haben die Insassen nur dumm geguckt. Da waren auch Kinder drin. Sie hatten gelacht und mit den Handys Fotos geschossen.“

Nun wandte sich Muisfeld an den Mann: „Ist Ihnen vielleicht, außer den ganzen Leuten, die hier vorbei gekommen waren, noch etwas anderes aufgefallen? Hat sich vielleicht irgendjemand schnell von diesem Ort hier entfernt?“

Der Jogger schüttelte den Kopf.

„Nein, mir ist nichts aufgefallen.“

„Geben Sie bitte unseren Kollegen Ihre Personalien“, sagte Söhlbach und überreichte dem Mann seine Karte.

„Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Sie können dann weiterjoggen.“

„Weiterjoggen?“, wiederholte der Mann Söhlbachs letztes Wort. „Mir ist der Sinn nach Joggen vergangen. Ich werde jetzt sofort nach Hause gehen.“

Er verabschiedete sich kurz und ging in die Richtung der Häuser zurück.

Silvia deutete auf die etwa hundert Meter entfernten Häuser, die den äußeren Rand des Stadtteils Serm bildeten.

„Von dort aus hat man einen freien Blick auf die Kapelle“, stellte sie fest. „Wir sollten die Bewohner mal fragen, ob ihnen heute Morgen etwas aufgefallen ist.“

„Ich gehe davon aus“, sagte Sven, „dass die Frau heute Nacht in der Dunkelheit hier abgelegt wurde. Der Täter wird wissen, dass hier morgens einige Autos und sogar der Bus unterwegs sind.“

Muisfeld nickte.

„Das glaube ich auch, aber es wäre ja möglich, dass heute Nacht ein Anwohner ganz zufällig aus dem Fenster geschaut hat und ihm dabei etwas aufgefallen ist.

Vielleicht hat ja jemand ein Auto bei der Kapelle gesehen.“

„Warum sollte nachts jemand aus dem Fenster gucken?“, meinte Söhlbach. „Nachts steht man mal auf, wenn man pinkeln muss, aber nicht, um aus dem Fenster zu gucken.“

„Und wenn der Weg zum Klo an einem Fenster vorbei führt und man ganz zufällig hinaus blickt?“

„Du hast mich überzeugt, Silvia. Dann lass uns mal die Anwohner befragen. Du arbeitest dich von rechts außen zur Mitte hin vor und ich beginne von der anderen Seite. In Ordnung?“

„In Ordnung.“

Kurze Zeit später hatte Silvia Muisfeld das äußerste Haus erreicht. Ein kurzer Blick auf das Schild mit dem Straßennamen verriet ihr, dass sie sich auf dem Altgaßweg befand.

Bei den ersten drei Häusern klingelte sie vergeblich an, denn es war offensichtlich niemand zuhause. Die Bewohner der nächsten Häuser öffneten die Türen, gaben aber an, dass ihnen nichts aufgefallen war. Natürlich wollten alle sofort wissen, was denn da am Kapellchen vorgefallen war und warum dort so viele Polizeiautos standen. Die Kommissarin gab ihnen aber zu verstehen, dass sie dazu nichts Genaues sagen konnte, weil es sich um laufende Ermittlungen handelte.

Nachdem Muisfeld wieder einmal vergeblich an einem der Häuser angeklingelt hatte und sie schon wieder auf dem Weg zum nächsten Haus war, hörte sie hinter sich eine Stimme:

„Wollten Sie zu mir?“

Ein älterer Herr trat vor die Tür des Hauses, dessen Grundstück sie gerade verlassen hatte.

Silvia wandte sich um und ging zurück.

„Mein Name ist Muisfeld“, sagte sie zu dem Mann und hielt ihren Dienstausweis hoch. „Ich bin von der Polizei und hätte eine Frage an Sie.“

Der Mann stutzte.

„Polizei?“, wunderte er sich. „Ist etwas passiert?“

In dem Moment, als er das sagte, ging sein Blick zufällig in die Richtung der kleinen Kapelle.

„Nanu?“, sagte er in Anbetracht der Polizeifahrzeuge, die dort standen. „Was ist denn da los? Ist es wegen dieser ekeligen Halloweenpuppe?“

„Sie haben die Frau also schon gesehen?“, stellte die Kommissarin fest.

„Die Frau?“ Der Mann wurde mit einem Schlag blass.

„Wollen Sie mir etwa erzählen, dass das gar keine Puppe war?“

Silvia hielt es für richtig, den Mann aufzuklären, denn scheinbar wusste er etwas über die Frau.

„Es war keine Puppe“, sagte sie.

Der Mann setzte sich langsam auf die Treppe vor seiner Haustür.

„Eine echte geköpfte Frau?“, kam es heiser aus seinem Mund.

Muisfeld nickte.

„Ich habe sie heute Morgen schon gesehen“, sagte der Mann. „Ich habe extra mein Fernglas genommen, um sie mir näher zu betrachten, hab´ gedacht, was das doch für ein widerlicher Scherz ist, so etwas zum Halloween vor dem Kapellchen aufzustellen.“

Er wog langsam seinen Kopf hin und her.

„Eine geköpfte Frau“, sagte er leise.

„Wissen Sie noch, wie spät es war, als Sie die Frau entdeckt haben?“, wollte Silvia wissen.

„Nein, nicht genau. Es war kurz nachdem es hell geworden ist. Ich weiß aber, wann sie die Frau dorthin gebracht haben.“

„Was?“, wunderte Silvia sich. „Haben Sie etwa gesehen, wie man die Frau zur Kapelle gebracht hat?“

Der alte Herr schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht direkt. Aber ich habe gesehen, dass heute Nacht jemand am Kapellchen war.“

„Erzählen Sie mal, was genau haben Sie gesehen?“

„Eigentlich habe ich nur das Auto gesehen, das heißt, ganz genau konnte ich es auch nicht sehen, weil es dunkel war. Als ich letzte Nacht noch mal in die Küche gegangen bin, weil ich gestern Abend vergessen hatte, meine Tabletten zu nehmen, habe ich aus dem Fenster geschaut. Draußen war ein wunderschöner Sternenhimmel, den ich mir unbedingt genauer ansehen wollte.

Da habe ich das Licht ausgeschaltet, um die Sterne besser erkennen zu können. Als ich zufällig in Richtung Mündelheim geguckt hatte, erkannte ich, dass dort ein langsam fahrendes Auto ankam. Ich konnte das Auto nicht genau erkennen, weil es ohne Licht fuhr. Am Kapellchen blieb das Auto schließlich stehen. Wie gesagt, es war dunkel und als der Wagen nicht weiter fuhr, dachte ich, dass es wohl ein Liebespaar war, welches sich da heimlich im Auto neben dem Kapellchen vergnügte. Ich bin dann wieder ins Bett gegangen.“

„Können Sie sich daran erinnern, wie spät es da war?“, fragte Silvia.

„Ja. Es war halb Drei.“

„Halb Drei“, wiederholte Muisfeld. „Überlegen Sie bitte noch mal ganz genau. Konnten Sie vielleicht die Farbe des Autos erkennen oder den Fahrzeugtyp“ Der Mann schüttelte erneut den Kopf.

„Tut mir leid, aber ich konnte wirklich nichts erkennen.“

Silvia nahm einen Notizblock aus der Tasche und notierte darauf die Aussage und die Personalien des Mannes.

Schließlich übergab sie ihm ihre Karte und sagte:

„Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an. Es ist möglich, dass man Sie wegen der Zeugenaussage noch einmal befragen möchte.“

Dann verabschiedete sie sich.

„Sagen Sie, Frau Kommissarin“, sprach der Mann sie noch einmal an. „Waren das Islamisten?“

Muisfeld stutzte.

„Islamisten? Wie kommen Sie denn darauf? Ist Ihnen doch noch etwas aufgefallen?“

„Nein, aber Islamisten schneiden ihren Opfern doch auch immer die Köpfe ab. Das haben sie oft im Fernsehen berichtet.“

Silvia Muisfeld zuckte mit den Schultern.

„Wir haben noch keine Anhaltspunkte“, sagte sie. „Wir fangen gerade erst mit den Ermittlungsarbeiten an.“

„Es waren bestimmt Islamisten.“ In der Stimme des alten Herrn klang Angst mit. „Die haben demonstrativ vor einem christlichen Gebäude eine Frau geköpft. Die wollen damit unsere schöne heile Welt zerstören. Genau wie in Frankreich. Da haben sie auf offener Straße einem Lehrer den Kopf abgeschnitten. Das wissen Sie ja wohl, Frau Kommissarin. Oh mein Gott, ein islamistischer Terroranschlag vor unserem Kapellchen.“

„Ja. Natürlich weiß ich das“, antwortete Muisfeld, „aber hier gibt es keinerlei Anhaltspunkte für einen Terroranschlag, wie Sie es ausdrücken.“

Sie blickte den Mann abschätzend an.

„Tun Sie mir einen Gefallen“, sagte sie schließlich.

„Erzählen Sie bloß nirgendwo herum, dass es einen terroristischen Anschlag gab, denn mit Ihren noch unbestätigten Vermutungen könnten Sie die ganze Nachbarschaft in Aufruhr bringen. Bisher gibt es ein Mordopfer und mehr nicht.“

„Hören Sie zu, Frau Kommissarin“, meinte der Alte. „Ich stehe voll hinter Ihnen und hinter der Polizei. Ich bewundere Ihren Beruf und Sie machen bestimmt gute Arbeit. Ich finde, dass man vor der Polizei, die ja Recht und Ordnung vertritt, allergrößten Respekt haben muss, aber ich lasse mir von Ihnen nicht das Recht nehmen, meine Meinung frei zu äußern, denn die Meinungsfreiheit ist ein wichtiger Bestandteil des Grundgesetzes. Aber wem sage ich das, Sie wissen darüber ja bestens Bescheid. Mir kann niemand verbieten, meine Vermutung, dass es sich um einen Terroranschlag handeln könnte, zu äußern.“

Muisfeld war von der Aussage des Mannes für einen Moment beeindruckt, denn er wirkte sehr selbstbewusst und hatte äußerst ruhig und sachlich gesprochen.

„Danke für Ihr Lob für die Polizeiarbeit“, sagte sie.

„Natürlich haben Sie das Recht, Ihre Meinung frei zu äußern. Ich habe Sie nur um den Gefallen gebeten, nichts von Ihrer Vermutung herumzuerzählen. Was Sie erzählen ist aber ganz allein Ihre Sache. Sie machen auf mich einen sehr gebildeten und souveränen Eindruck und deshalb glaube ich, dass Sie meine Bitte verstehen werden.“

Der alte Herr lächelte.

„Frau Kommissarin, ich habe meine Vermutung nur Ihnen gegenüber geäußert. Vielleicht wirkte ich anfänglich etwas aufgebracht. Eine enthauptete Frau vor unserem Kapellchen, nun, so eine Nachricht bekommt man ja nicht jeden Tag am frühen Morgen vor den Kopf geknallt.

Wissen es eigentlich schon die anderen Nachbarn?“

Muisfeld zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich jedenfalls habe noch niemandem etwas von dem Mordopfer erzählt.“

„Dann sollten Sie es den anderen auch nicht erzählen, denn dann würde hier die Gerüchteküche kochen, dann wäre Aufruhr in der Siedlung. Es sind hier längst nicht alle so umsichtig wie ich.“

Muisfeld nickte.

„Ich werde dann mal weitergehen“, sagte sie. „Noch einmal vielen Dank für Ihre Hinweise.“

Sie verließ nachdenklich das Grundstück.

„Übrigens, Frau Kommissarin“, hörte sie den Mann sagen,

„mit Ihnen würde ich gerne mal eine Partie Schach spielen. Sie wären bestimmt eine adäquate Partnerin.“

Silvia drehte sich noch einmal um, lächelte und meinte:

„Für so etwas kann ich leider keine Zeit aufbringen, eben so wenig, wie ich Zeit zum Quatschen habe. Einen schönen Tag noch.“

Als sie die Straße entlang schaute, sah sie Sven Söhlbach, der geradewegs auf sie zuhielt. Ganz offensichtlich hatte er die Häuserreihe auf der anderen Seite schon abgearbeitet.

Silvia ging ihrem Kollegen entgegen.

„Und?“, fragte sie, als sie ihn erreicht hatte. „Gab es bei dir Zeugen, die etwas gesehen haben?“

Die Antwort war ein Kopfschütteln.

„Und bei dir?“, wollte Sven wissen.

„Ein alter Herr hatte letzte Nacht gegen halb Drei ein Auto gesehen, welches neben der Kapelle geparkt hatte. Laut seiner Aussage kam das Fahrzeug ohne Licht aus der Richtung Mündelheim.“

„Hat er auch gesehen, wer aus dem Wagen ausgestiegen ist?“

„Nein. Er sagte, dass er in der Dunkelheit nicht viel erkennen konnte, auch nicht die Fahrzeugmarke oder die Farbe des Wagens.“

„Und wie lange hat das Auto dort gestanden?“

„Das konnte der Mann mir nicht sagen. Er hatte das Fahrzeug zufällig entdeckt, als er aus dem Fenster geguckt hatte; hatte gedacht, dass sich ein Liebespaar darin vergnügt und ist wieder ins Bett gegangen.“

„Halb Drei“, murmelte Sven. „Die Zeit, in der erfahrungsgemäß die meisten Einbrüche stattfinden, weil normale Menschen dann ihre Tiefschlafphase haben und draußen am wenigsten los. Der oder die Täter müssen das ganz genau berechnet haben.“

„Genau daran dachte ich auch schon“, sagte Silvia. „Lass uns zurück zur Kapelle gehen. Vielleicht hat die Spusi ja noch etwas entdeckt und Ralf hat neue Infos für uns.“

Auf halbem Weg zur Kapelle sahen sie, wie der Sarg mit dem Mordopfer in ein Auto geschoben wurde.

„Ich denke“, sagte Sven, „die Spusi ist mit ihrer Arbeit fast fertig.“

Silvia Muisfeld ging mit einem Mal langsamer und blieb schließlich stehen.

„Was ist los?“, wunderte Söhlbach sich und blickte seine Kollegin fragend an.

„Es hört sich jetzt vielleicht merkwürdig an“, antwortete sie, „aber der alte Herr, der heute Nacht das Fahrzeug an der Kapelle beobachtet hatte, hat mich, was die mögliche Tätergruppe angeht, etwas verunsichert.“

„Wie meinst du das?“

„Er meinte, dass es ein islamistischer Anschlag gewesen sein könnte.“

„Islamistisch? Wie kommt er denn da drauf?“

„Weil die Frau enthauptet wurde.“

Söhlbach wirkte nachdenklich.

„Wenn ich ehrlich bin“, sagte er, „wäre ich niemals auf die Idee gekommen, in diese Richtung zu denken, „aber jetzt, wo du das sagst, nun, wir dürfen auf jeden Fall nichts ausschließen.“

Muisfeld atmete tief durch.

„Der alte Herr hatte gemeint, dass eine enthauptete Frau vor einem christlichen Gebäude auf einen islamistischen Terroranschlag hindeutet.“

Sven schüttelte den Kopf.

„Wenn das wirklich so wäre, dann müssten wir sofort den Staatsschutz informieren. In dem Fall wären wir außen vor.“

„Ich hoffe und glaube nicht, dass es eine islamistische Tat war. Islamisten stehen zu ihren Taten und wenn die Frau ein Opfer von radikalen Islamisten wäre, gäbe es am Tatort ein Bekennerschreiben.“

„Die Kapelle ist aber nicht der Tatort. Die Frau wurde hier nur abgelegt“, stellte Sven fest. „Aber vielleicht folgt das Bekennerschreiben noch.“

Sie gingen weiter zur Kapelle.

„Da seid ihr ja wieder“, wurden sie schließlich vom Leiter der Spurensicherung empfangen, als sie das kleine Gebäude erreicht hatten.

„Gibt´s was Neues, Ralf?“, wollte Söhlbach von ihm wissen.

„Und ob es etwas Neues gibt.“

Meier hielt eine Klarsichthülle hoch.

„Das hier“, sagte er, „steckte im Mund des Opfers. Von diesem Zettel schaute kaum erkennbar eine kleine Ecke aus dem Mund der Frau, nun, genauer gesagt, aus dem Mund des Kopfes heraus. Ich habe den Zettel ganz vorsichtig mit einer Pinzette herausgezogen.“

„Ein Bekennerschreiben!“, kam es sofort aus Söhlbachs Mund.

„Was?“, wunderte Meier sich und blickte Sven überrascht an.

„Das hab´ ich jetzt etwas übereifert gesagt“, meinte Söhlbach. „Silvia und ich haben uns gerade darüber unterhalten, dass man aufgrund der Enthauptung auch mit einer islamistischen Tat rechnen könnte.“

„An was ihr zwei nicht so alles denkt“, sagte Meier.

„Und? Was steht auf diesem Zettel?“, wollte Silvia von ihm wissen.

„Keine Ahnung“, gab der Leiter der Spurensicherung zu verstehen. „Das muss erst noch übersetzt werden.“

„Ist das arabisch?“

Ralf Meier schüttelte den Kopf.

„Ich denke, es ist lateinisch.“

„Zeig mal her“, sagte Silvia und nahm die durchsichtige Plastikhülle in die Hand. Dann las sie das, was auf dem länglichen Zettel geschrieben stand, laut vor: „Mulier perfida moritur in nomine Domini.“

Sven nickte. „Ja, das hört sich nach Latein an.“

Muisfeld zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche.

„Dann wollen wir doch mal sehen, was uns der Täter sagen will.“

Sie nahm das Handy, tippte kurz darauf herum und sagte:

„Übersetzung Latein Deutsch.“

Sekunden später gab sie den lateinischen Text ein.

„Oh“, sagte sie verwundert. „Eine verräterische Frau, die im Namen des Herrn stirbt.“

Für einen Augenblick herrschte Stille. Es war, als würden alle über die Übersetzung nachdenken.

„Eine verräterische Frau, die im Namen des Herrn stirbt“, wiederholte Söhlbach schließlich die Worte. „Das hat ganz offensichtlich etwas mit Glauben zu tun. Fragt sich nur, ob sich dieser Glauben auf den Koran oder auf die Bibel bezieht. Der oder die Täter glauben auf jeden Fall daran, im Namen eines Gottes gehandelt zu haben.“

„Wenn ich ehrlich bin“, sagte Ralf Meier, „jetzt, wo ich die Übersetzung kenne, hört sich das eher nach christlichem Glauben an, genauer gesagt, nach katholischem Glauben.

Auch wenn ihr es vielleicht nicht glaubt, aber ich war früher einmal Messdiener und da kommt mir der Spruch in nomine Domini, also im Namen des Herrn, sehr bekannt vor.“

„Da hast du zwar Recht, Ralf“, stimmte Silvia zu, „aber ich glaube kaum, dass es sich bei dem oder die Täter um Männer der Kirche handelt.“

„Das glaube ich auch nicht“, sagte Sven, „aber es muss einen Grund dafür geben, dass dieser Hinweis in lateinischer Sprache verfasst wurde.“

„Ich denke, dass der oder die Täter, gehen wir erst mal von einem Einzeltäter aus, uns mit diesem Hinweis zwei Dinge mitteilen will“, vermutete Muisfeld. „Erstens will er uns mitteilen, dass diese Frau für einen Verrat von ihm bestraft wurde und zweitens lässt er uns wissen, dass er, da er die lateinische Sprache beherrscht, einen gewissen Bildungsstand hat.“

„Kann sein“, sagte Söhlbach, „muss aber nicht. Dass diese Frau als Verräterin bestraft wurde, ist nach diesem Hinweis offensichtlich, aber der Täter braucht keinen hohen Bildungsstand. Er kann strubbeldumm sein. Man braucht nur ein Handy, um jeden Text in eine andere Sprache zu übersetzen.“ Er grinste. „Liebe Kollegin, du hast es gerade auch aus dem Lateinischen übersetzt, ohne einen hohen Bildungsstand zu haben.“

Silvia bewegte ihren Mund, ohne einen Ton zu sagen, doch konnte man von ihren Lippen ganz deutlich das Wort

„Arsch“ ablesen.

Ralf Meier lachte.

„Ich weiß ja“, sagte er, „wie sehr ihr beiden euch liebt. Wie heißt es so schön? Was sich liebt, das neckt sich.“

Niemand ging auf diese Bemerkung ein.

„Habt ihr, außer diesen Zettel, noch irgendwelche Hinweise gefunden?“, wollte Söhlbach von Meier wissen.

„Es sieht so aus“, sagte der Leiter der Spurensicherung,

„dass der Täter sein Opfer zunächst direkt vor der Tür der Kapelle abgelegt hat, denn von dort aus führen leichte Schleifspuren zu den Stufen, auf denen die Tote saß.