Die Cherusker - Fritz Peter Heßberger - E-Book

Die Cherusker E-Book

Fritz Peter Heßberger

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Beschreibung

Ein fiktiver europäischer Staat im Umbruch, die Umwandlung eines totalitären Reiches in ein Land, das von tüchtigen, intelligenten und selbständig denkenden Menschen geführt wird, von Menschen, welche die geistigen Schranken politischer Korrektheit, rassische, religiöse und auch geschlechtsspezifische Vorurteile überwinden. Es sind Menschen, die sich trotz unterschiedlicher Herkunft aufgrund ihrer Bildung und Intelligenz sehr schnell verstehen und gemeinsam zur Gestaltung der Zukunft beitragen.

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Der Autor:

Fritz Peter Heßberger, Jahrgang 1952, geboren in Großwelzheim, heute Karlstein am Main, studierte Physik an der Technischen Hochschule Darmstadt; 1985 Promotion zum Dr. rer. nat.; von 1979 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2018 als wissenschaftlicher Angestellter in einer Großforschungsanlage tätig.

Inhaltsverzeichnis

Die Frau aus der Südsee

Agathe und der Gauvogt

Das Wochenende mit dem General

Sanara – über die Berge

Die Sklavin

Die Handlungen der Erzählungen, wie auch die Namen der in sie eingebunden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Institutionen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Ortsnamen haben mit eventuell existierenden Orten gleichen Namens nichts zu tun.

Die Frau aus der Südsee

Die neuen Provinzen

Der Vierte Sarmatische Krieg hatte dem Cheruskischen Reich den Gewinn zweier Provinzen gebracht. Zufrieden war man in der Regierung damit allerdings nicht so recht. Die Provinzen umfaßten insgesamt etwa neunzigtausend Quadratkilometer, waren eher dünn besiedelt. Die Grenzziehung war nach strategischen Erwägungen erfolgt. Die neuen Gebiete bildeten eine Pufferzone zum Schutz des Altreiches gegen die Sarmaten.

Die nördliche Provinz beseitigte eine Einbuchtung Sarmatiens und verkürzte die Grenzlinie um etwa vierhundert Kilometer. Sie erhielt den Namen 'Pruzzorasien' und grenzte an das Nordostmeer. Von Bedeutung für das Reich waren im Grunde nur die Hafenstädte Poldenburg, Morstadt und Königsburg, von denen letztere die wichtigste war und als Residenz des mittelalterlichen Kaisers Johannes II. eine symbolische Bedeutung besaß. Von hier aus hatte vor Jahrhunderten der Cheruskische Orden die Christianisierung und Erschließung der Ostgebiete begonnen. Nach zwei Jahrhunderten hatte das Awarische Reich dann das Territorium, abgesehen von dem Gebiet um Königsburg, unter seine Herrschaft gebracht. Die Stadt selbst ging hundert Jahre später während einer Schwächeperiode des Reiches an Sarmatien verloren. Der Versuch, sie wieder in das Reich zurückzuholen, führte vor fünfzig Jahren in den Dritten Sarmatischen Krieg. Nach verlustreichen Kämpfen schloß man schließlich aufgrund militärischer Erschöpfung Frieden auf der Grundlage des Status quo. Königsburg blieb unter der Herrschaft der Sarmaten. Durch die Kämpfe in jener Zeit war das Territorium der nunmehrigen Provinz Pruzzorasien größtenteils verwüstet und in der Folgezeit nicht wieder aufgebaut worden. Das Gebiet bestand überwiegend aus Wäldern und Sümpfen, war wirtschaftlich, von den Küstenstädten abgesehen, schon vorher nur wenig entwickelt gewesen, besaß kaum Industrie und war landwirtschaftlich nur zu einen kleinen Teil nutzbar. In der Region um Globowsk gab es allerdings reiche Erzvorkommen an Vanadium, Titan, Mangan und Chrom. Sie stammten von einem großen Meteoriten, welcher vor einigen hundert Millionen Jahren niedergegangen war. Die Stelle konnte man auch heute noch an dem flachen Einschlagkrater erkennen. Dieser besaß einen Durchmesser von etwa zwanzig Kilometern und war von einem ringförmigen Gebirgszug umgeben. Wegen ihrer unzugänglichen Lage in einem großen Sumpfgebiet ließ die Region keine größere Besiedlung zu. Daher wurde das Erz lediglich abgebaut, mittels einer eigens dafür gebauten Eisenbahnlinie abtransportiert und im Innern Sarmatiens verhüttet. Vor Beginn des Krieges lebten in der Provinz etwa zwei Millionen Menschen, etwa zwei Drittel davon an der Küste. Knapp fünfhunderttausend waren Sarmaten, überwiegend Militärangehörige und Verwaltungsbeamte, die nun nach Kriegsende nach Sarmatien zurück gebracht wurden. In den Städten gab es größere cheruskische Minderheiten, während im Landesinneren fast ausschließlich Angehörige kleinerer slawischer Völker lebten, die überwiegend den Cheruskern gegenüber seit Alters her ablehnend gesinnt waren. Lediglich die im Ostteil der Provinz, an der neuen Grenze zu Sarmatien lebenden Pruzzaner, seit Jahrhunderten mit den Sarmaten verfeindet und von ihnen unterdrückt, standen den Cheruskern freundlich gegenüber. Eine Entwicklung der Provinz auf den Standard des Reiches würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und sehr viel Geld kosten. Es ist daher verständlich, daß man in der Regierung über diesen territorialen Zugewinn nicht sehr glücklich war.

Bei der südlichen Provinz, welche den Namen 'Gepidien' erhielt, handelte es sich im wesentlichen um den westlichen Teil der ehemaligen Awarischen Republik. Awaristan war nach der sozialistischen Revolution vor vierzig Jahren und der Machtübernahme der Kommunisten sehr rasch heruntergewirtschaftet worden, nachdem die meisten Betriebe und landwirtschaftlichen Güter enteignet worden waren. Das Land verarmte. Man hatte daher vor knapp fünfzehn Jahren eine sogenannte Wirtschaftsreform eingeleitet, gestattete wieder Privateigentum. Neue Betriebe entstanden, sie brachten aber nur wenigen Wohlstand. Die Masse des Volkes blieb arm. Das führte zu einer zunehmenden Radikalisierung im Land und auch zu einem politischen Umsturz. Der Haß richtete sich vornehmlich gegen die cheruskische Minderheit, welche dank ihrer Tüchtigkeit nach der Reform in der Wirtschaft dominierte. Diese Entwicklungen führten zu zunehmenden politischen Spannungen zwischen dem Cheruskischen Reich und der Awarischen Republik, welche von Sarmatien noch angeheizt wurden. Nachdem durch zahlreiche Grenzverletzungen und Terrorakte in den cheruskischen Grenzprovinzen die Spannungen ein unerträgliches Ausmaß angenommen hatten, war die cheruskische Armee schließlich einmarschiert, was ein Eingreifen Sarmatiens zugunsten der Awaren zur Folge hatte. Der sich daraus entwickelnde Vierte Sarmatische Krieg endete nach etwas mehr als dreieinhalb Jahren mit dem Friedensschluß von Tarunge, in dem die heutige Grenze festgelegt wurde. Sarmatien erhielt als Kompensation für die Abtretung Pruzzorasiens den östlichen, größeren Teil der Awarischen Republik. Die neue cheruskische Provinz 'Gepidien', welche aus Westawaristan und drei östlichen Grenzbezirken Cheruskiens gebildet wurde, umfaßte etwa zweiundfünfzigtausend Quadratkilometer und hatte eine Bevölkerung von etwa fünfeinhalb Millionen. Vier Millionen waren Awaren, etwa sechshunderttausend Cherusker, überwiegend in den westlichen Bezirken ansässig, der Rest verteilte sich auf kleinere Völkerschaften. Diese waren, wegen der Jahrhunderte langen Unterdrückung durch die Awaren, den Cheruskern gegenüber überwiegend positiv eingestellt, während die awarische Mehrheit eher als cheruskerfeindlich einzustufen war. Dieser Sachverhalt zeigte, daß man im Reich auch über die Gewinnung dieser Provinz nicht sehr glücklich war.

Es ist also durchaus richtig zu sagen, die territorialen Erweiterungen erfolgten eher aus militärstrategischen Gründen zur Bildung einer Pufferzone zu Sarmatien hin als mit der Absicht zusätzlichen Lebensraum oder neue Rohstoffquellen zu gewinnen.

Unter diesen Umständen mochte es befremdlich erscheinen, daß die Reichsregierung beschloß, die neuen Provinzen möglichst rasch infrastrukturell und wirtschaftlich auf Reichsniveau zu bringen. Man wollte aber damit die Entstehung eines Unruheherdes im Osten Cheruskiens vermeiden.

Die Asawanen

Im Laufe des letzten Jahrhunderts war die Rassenlehre des Professors Antrup im Cheruskischen Reich zu einer Art Staatsideologie geworden. Sie besagte, daß in alten Zeiten die Götter auf die Erde niedergestiegen seien und durch Verbindung mit Menschentöchtern eine neue Rasse, die Asawanen, hervorgebracht hätten. Der Name ergab sich aus den germanischen Göttergeschlechtern der Asen und der Wanen. Der Lehre entsprechend galt diese neue Rasse als die geistig höchstentwickelte und schöpferischste Rasse der Welt. Und die Cherusker bildeten der Lehre zufolge ihren Kern. Es seien damals aber nicht nur 'gute' Götter, wie Odin, Thor oder Balder auf die Erde niedergestiegen, sondern auch böse, hinterhältige wie Loki. Auch sie hätten neue Menschen gezeugt, die aber nun den schlechten, minderwertigen Teil der Asawanen, die Lokiristen, bildeten. Und deren Ziel sei es, das Gute zu bekämpfen und zu vernichten. Auf diese Weise wurde verständlich gemacht, daß die Cherusker aufgrund der daraus folgenden inneren Zwiste trotz ihrer rassischen Überlegenheit nie in Europa dominant werden konnten. Die Rassenlehre Professor Antrups wurde damals allerdings als unwissenschaftlich angesehen, blieb weitgehend unbeachtet, lediglich die vor achtzig Jahren entstandene Lankardtan-Bewegung nahm sie in ihr Programm auf. Nach deren Machtergreifung und der Errichtung einer totalitären Diktatur, des 'Asawanischen Asgardstaates' einige Jahre nach Ende des Dritten Samatischen Krieg wurde sie dann Staatsideologie. Die neue Staatsführung betrachtete es als ihr vornehmliches Ziel diesen Mißstand zu beseitigen, die Minderwertigen auszumerzen, ein edles Volk heranzuziehen und eine echte Volksgemeinschaft zu schaffen. Wirklich wissenschaftlich begründet war diese Lehre zwar nicht und auch die Ideologen der Bewegung konnten ihr keine wissenschaftlich fundierte Basis geben. Doch war es hier so, wie schon oft in der Geschichte, daß die Machthaber ihren ideologischen Vorstellungen Gesetzeskraft geben und sie im Staat als angeblich wahre Prinzipien durchsetzen konnten. Sie werden dann aber meist nur von eher kleineren, allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung dominierenden Gruppen, getragen, während die Mehrheit des Volkes sie nicht in sich aufnimmt und auch nicht zur Richtschnur ihres Handeln macht. So war der Rassenpolitik der Lankardtan-Bewegung insgesamt kein nennenswerter Erfolg beschieden, was auch durch die geringe Anzahl fremdrassiger Menschen im Herrschaftsgebiet der Cherusker bedingt war. Rassische Diskriminierung betraf daher im wesentlichen Menschen aus den früheren Kolonien und deren Nachkommen, die sich in bescheidener Anzahl im Reich niedergelassen hatten. Auch war deren Behandlung nicht unumstritten, da ein Teil der Männer aus den Kolonien im Dritten Sarmatischen Krieg als Soldaten in der cheruskischen Armee gedient hatten. Und es widersprach dem Ehrgefühl der Militärangehörigen aller Dienstgrade zu akzeptieren, daß diese Kameraden, die mit ihnen Seite an Seite gekämpft hatten, nun als Menschen zweiter Klasse behandelt werden sollten. Hier mußte die Regierung Zugeständnisse machen und zahlreiche Sonderregelungen für ehemalige Soldaten erlassen, da sie auf ein gutes Verhältnis zur Militärführung angewiesen war. Dieser Aspekt der Rassenlehre wurde dann auch bereits nach wenigen Jahren nicht mehr mit der Intensität betrieben wie es in der ersten Zeit nach der Machtübernahme der Fall gewesen war. Sie hatte sich aber im Reich offiziell durchgesetzt und wenn sie auch im Alltag mittlerweile eine eher geringe Rolle spielte, bereitete sie doch in nicht wenigen Fällen einzelnen Menschen erhebliche Schwierigkeiten im täglichen Leben.

So konzentrierte sich die Rassenideologie der Staatsführung auf die Verfolgung der Lokiristen. Diese hatte bisher in der Lehre keine nennenswerte Rolle gespielt; es war lediglich nur der Name für die 'negative' Gruppe innerhalb der Asawanen, die auch nicht näher definiert war. Es gelang den Ideologen der Lankardtan-Bewegung nun auch nicht typische rassische Merkmale für die Lokiristen festzulegen und so konzentrierten sie sich auf charakterliche Eigenschaften und soziale Verhaltensweisen. Das war aber im Grunde genommen nur ein Manöver zur Verschleierung der wahren Absichten. In Wirklichkeit handelte es sich um eine gesellschaftliche Absonderung politisch unliebsamer Personen, beziehungsweise politischer Gegner. Hier spiegelten sich die verschiedenen ideologischen Facetten der Bewegung wieder, antikapitalistische Vorstellungen, insbesondere der Ablehnung global agierender Großkonzerne und Banken, wie auch ihre antiliberalen, antisozialistischen und antiklerikalen Inhalte. Nach Übernahme und Festigung der Macht und einer propagandistischen Vorbereitung begann eine systematische Verfolgung und Liquidierung der Lokiristen, die schon vorher Zug um Zug aus Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft entfernt worden waren. Etwa zwei Millionen Menschen wurden wohl im Zuge der Lokiristenverfolgung ermordet. Die genaue Anzahl der Opfer kennt man nicht. Der Umfang der Liquidationen wurde vor dem Volk so gut es ging vertuscht; sie ließen sich aber nicht völlig geheim halten. Allerdings wagte aus Angst vor Bestrafung niemand offen darüber zu reden.

Im Ausland wurden die Verfolgungen natürlich registriert, führten auch in zahlreichen Ländern zur Verabscheuung des cheruskischen Regimes. Man betrachtete sie aber andererseits auch als innercheruskische Angelegenheit, als Abrechnung einer Art Gangsterbande mit einer anderen, maß ihr daher keine übermäßige Bedeutung bei, zumal das Reich außenpolitisch ohnehin isoliert war, engere politische und wirtschaftliche Beziehungen nur zu kleineren oder international weniger bedeutenden Ländern unterhielt.

Waffenstillstand und Friedensschluß nach dem Dritten Sarmatischen Krieg erfolgten aufgrund militärischer Erschöpfung beider Parteien. Die neue Grenzziehung erfolgte auf der Basis des Frontverlaufs. Dies bedeutete für das Cheruskische Reich einen Gebietsverlust von tausend Quadratkilometern, da die Sarmaten einen schmalen Grenzstreifen besetzt hatten. Dieser Gebietsstreifen war dünn besiedelt. Die Bevölkerung betrug etwa fünfzigtausend, davon lebten etwa dreißigtausend in Karlshaven, der einzig größeren Stadt. Karlshaven besaß nur eine eher regionale Bedeutung als Fischereihafen. Ansonsten war das Gebiet fast ausschließlich landwirtschaftlich genutzt, es hatte allerdings keine ertragreichen Böden, so daß die Viehhaltung überwog. Die Bevölkerung wurde weitgehend ins Reich ausgesiedelt. Obwohl der Gebietsverlust wirtschaftlich wenig bedeutsam war, wog er psychologisch schwer, schuf er doch das Gefühl, den Krieg in Wirklichkeit verloren zu haben. Das Cheruskische Reich mußte die Abtretung anerkennen, da Sarmatien nicht bereit war das Gebiet zu räumen, denn umgekehrt sahen die Sarmaten den Gebietsgewinn als Zeichen des Sieges.

Zu diesem psychologischen Aspekt gesellte sich die desolate wirtschaftliche und finanzielle Lage nach dem Krieg. Auch wenn im Friedensvertrag dem Cheruskischen Reich keine Rüstungsbeschränkungen auferlegt worden waren, so verhinderte die prekäre finanzielle Situation eine militärische Wiederaufrüstung mit modernen Waffen. Die Streitkräfte wurden verkleinert, Luftwaffe und Marine wurden auf niedrigem Ausrüstungsniveau gehalten. Dies führte zu einer politischen Schwächung des Landes im Kreis der Großmächte. Die Westmächte nutzten die Lage aus um sich die cheruskischen Kolonien anzueignen, zwar nicht durch militärische Gewalt, sondern durch politische Erpressung. Offiziell hieß das dann so: das Reich habe sich aufgrund seiner schwierigen finanziellen Situation gezwungen gesehen die Kolonien zu verkaufen. Das wirkte allerdings schon aufgrund des lächerlich geringen Kaufpreises als unglaubwürdig.

Der Lankardtan-Regierung gelang es zur Überraschung vieler, innerhalb weniger Jahre dem nach dem Dritten Sarmatischen Krieg zerrütteten Land ein neues Selbstbewußtsein zu geben, die Wirtschaft anzukurbeln, die Staatsfinanzen zu sanieren, dem Reich wieder den Rang einer europäischen Großmacht zu verschaffen; die gesellschaftliche Spaltung in Adel, Bürgertum und Proletariat wurde überwunden, so daß nun Menschen niederer Herkunft bei entsprechender Tüchtigkeit in höchste Positionen aufsteigen konnten. Insgesamt hatte die Politik der Lankardtan-Bewegung zu einer wirtschaftlichen Blüte des Reiches und zu einem vorher nie dagewesenen Wohlstand aller geführt. Aus diesem Grunde sah die Masse des Volkes auch großzügig über die politischen Verfolgungen und die Untaten des Regimes hinweg.

Der Einfluß der Lankardtan-Bewegung auf die Staatsführung war allerdings nach der Absetzung des Asgardors, wie der offizielle Titel des Diktators lautete, durch eine Gruppe junger Offiziere der Elitetruppen aufgrund militärischer Mißerfolge, die zu einer katastrophalen Niederlage im Vierten Sarmatischen Krieg zu führen drohten, merklich zurückgegangen.

Nach Ende des Krieges galt es nun als dringendste Aufgabe, die fremden Völker in den neugewonnenen Provinzen auf irgendeine Weise in das Reich einzubinden. Die radikalen Kräfte innerhalb der noch immer mächtigen Lankardtan-Bewegung hatten für eine Vertreibung oder gar Eliminierung der Fremdvölker plädiert, sich aber nicht durchsetzen können, da die neue Regierung unter Führung eines 'Reichsvogtes' durch solche Maßnahmen nicht das mühsam erworbene Ansehen des Reiches in der Welt zerstören wollte. Es fanden nun, von der Öffentlichkeit nur wenig bemerkt, zahlreiche, eher geheime Konferenzen und Besprechungen statt, in denen nach einem Konzept für die politische und gesellschaftliche Entwicklung in den neuen Provinzen gesucht wurde. Hinsichtlich der Rassenlehre, die man zwar nicht nicht mehr wirklich anwenden wollte, aber auch noch nicht völlig aufgeben konnte, entwickelte Professor Seberg, in Rassenfragen die höchste Autorität im Reich, ein Konzept, das er in einem Vortrag der Regierung darlegte. Er führte an, daß ja selbst die Asawanen aufgrund des 'Lokiristen-Anteils', wie er es nannte, nie eine homogene Rasse dargestellt hätten. So gebe es zwar eine mittlere Rassenqualität, aber auch große Ausläufer zu höherer und niedrigerer Qualität, was eben durch die Beimischung von 'Loki-Genen', wie auch durch Mischung sonstiger verschiedener genetischer Elemente und Zufälligkeiten bei der Evolution bewirkt worden sei. Dadurch weise die rassische Qualität der Cherusker eine breite Verteilung auf, was sich sowohl in der Existenz einer kleinen Gruppe genialer Menschen, wie auch in der Existenz eines asozialen Bodensatzes innerhalb der Gesellschaft zeige. Bei anderen Rassen verhalte es sich ähnlich. Er verwies dabei auch auf die unbestreitbare Vermischung von Asawanen mit Ostvölkern hin. Das bedeute aber, daß auch innerhalb der Fremdrassen breite Verteilungen hinsichtlich der Rassenqualität vorhanden seien, so daß es auch in sogenannten minderwertigen Rassen Menschen gebe, die durchaus höherwertiger seien als die asozialen Elemente innerhalb der Asawanen, sogar auch einzelne, die höherwertiger seien als der Durchschnitt der Asawanen. Was nun die weitere Entwicklung im Osten betreffe, so gelte es, diesen hochwertigen Anteil zu erfassen und in die cheruskische Volksgemeinschaft aufzunehmen. Dies sei ein Gewinn für die Zukunft. Man dürfe dabei aber nicht nur an die rassische Qualität denken, sondern auch an die Einstellung der Individuen den Cheruskern gegenüber. Rassisch hochwertige Angehörige von Fremdvölkern seien eine Gefahr, wenn sie den Cheruskern gegenüber feindlich gesinnt sind.

Diese Thesen stießen insbesondere beim Reichsvogt, der seit der Entmachtung des Asgardors Ende des dritten Kriegsjahres die oberste Regierungsgewalt innehatte, auf offene Ohren. Er war ohnehin nie ein Anhänger der offiziellen Rassenlehre gewesen, sah in den Vorschlägen nun die Möglichkeit, die alte Lehre durch Uminterpretation de facto abzuschaffen ohne sie zunächst offiziell aufzuheben. Mochten auch noch die alten Vorstellungen in zahlreichen Köpfen im Lande herumgeistern, in den Schulen wurden sie nun nicht mehr gelehrt und die auf ihr basierenden Gesetze hatte er bereits teilweise aufgehoben. Darüber hinaus schienen die neuen Vorstellungen auch der Welt gegenüber vertretbar. Ein Minister äußerte sich dahingehend, man könne nun auch strenge Maßnahmen glaubhaft damit begründen, daß man eine friedliche Ordnung im Osten nur dann schaffen könne, wenn man die kooperativen Kräfte fördert, gleichzeitig aber die destruktiven Elemente eliminiert.

Es wurde daher der Beschluß gefaßt, eine strenge Überprüfung der fremdvölkischen Bewohner der Ostgebiete durchzuführen und sie in verschiedene Kategorien einzuteilen: die Kategorien 'A' und 'B' sollten die Wertvollsten umfassen, diejenigen, die in die Volksgemeinschaft aufgenommen werden können; die Kategorien 'C' und 'D' sollten die Normalen sein, die man unbehelligt lassen sollte, sofern sie den Cheruskern gegenüber nicht feindlich auftreten würden, wobei in 'C' wesentlich Autochthone eingeordnet werden sollten, in 'D' Personen mit unklarer Herkunft beziehungsweise Menschen, die aufgrund negativer Einstellung gegenüber dem Cheruskertum nicht für die Kategorien 'A', 'B' und 'C' in Frage kamen, aber keine offene Feindseligkeit gegen das Cheruskertum an den Tag legten; die Kategorie 'E' sollte die eher unterentwickelten, die Kategorie 'F' die Minderwertigen, die Asozialen und die Feinde einschließen, die besonderer Behandlung bis hin zur Eliminierung bedurften.

Es wurde nun ein Programm erstellt, wie diese Prüfungen durchzuführen seien.

Maria Duschwili

Maria Duschwili war in der Firma von Hans Ehrenburg beschäftigt, einem Angehörigen der cheruskischen Minderheit in der Awarischen Republik. Er hatte nach der Wirtschaftsliberalisierung eine Firma gegründet und war zu Wohlstand gekommen. Während eines Urlaubs in der Südsee lernte er fünf Jahre vor Kriegsbeginn Maria kennen, die in der Rezeption des Hotels arbeitete, in dem er abgestiegen war. Maria galt als 'ehrlose' Frau; sie war von ihrer Familie ausgestoßen worden, da sie sich geweigert hatte, den Mann, den man für sie ausgesucht hatte, zu heiraten und sich statt dessen mit einem anderen verband. Diese Verbindung ging nach wenigen Jahren in die Brüche, Maria verließ ihre Heimat und fand schließlich auf einer entfernten Insel in einem Hotel Arbeit. Hans machte sie zu seiner Geliebten, holte sie dann bald zu sich nach Awaristan und beschäftigte sie dort in seiner Firma in der Buchhaltung. Mit der Zeit stieg sie zur Leiterin der Versandbuchhaltung auf. Hans war zwar verheiratet, hatte sich aber bereits bevor er Maria kennenlernte von seiner Frau Hanna getrennt. Scheiden ließ er sich nicht, da seine Frau Anteile an der Firma besaß. Hanna behandelte die Neue zunächst feindlich. Hanna war aber nicht nur berechnend und intelligent, sondern auch gefühlsbetont. Sie erkannte bald Marias Fähigkeiten und auch ihre Bescheidenheit. Nachdem sich nun die erste Eifersucht gelegt hatte, entwickelte sie sogar ein freundschaftliches, wenn auch distanziertes Verhältnis zu ihr. Sie drückte dies in ihrem Freundeskreis dahingehend aus, 'es sei besser, daß er sich mit einer bescheidenen Exotin vergnüge, als daß er mit einem Awarenflittchen das Vermögen der Firma verschleudere'. Maria rechnete ihr andererseits die Bezeichnung 'Exotin' hoch an, hielt sie für angebrachter und weniger diskriminierend als die Bezeichnung 'Negerin', die ihr andere gaben. Das Verhältnis zwischen ihr und Hans muß als gut bezeichnet werden. Hans empfand ehrliche Liebe zu ihr. Allerdings stieß sie in Hansens Bekanntenkreis weitgehend auf Distanzierung; so blieb sie allein. Das störte sie wenig, da sie es gewohnt war, Außenseiterin zu sein. Sie nutzte die Zeit zum Lesen und um sich mit der cheruskischen Kultur eingehend vertraut zu machen. Die Sprache erlernte sie schon als Kind. Das Reich hatte einst die Inselgruppe, auf der sie geboren war, als 'Schutzgebiet' gewonnen und ihr Großvater diente noch in der Schutztruppe. Er war voller Hochachtung gegenüber den Cheruskern und war auch mit ihrer Kultur, zumindest in Grundzügen, vertraut. Das Reich hatte dann nach Ende des Dritten Sarmatischen Krieges, als es geschwächt und in Finanznöten war, das Schutzgebiet gegen eine 'Entschädigungszahlung' an die Amerikanische Republik abgetreten. Aber viele Insulaner mochten die neuen Herren nicht, sehnten die Rückkehr der Cherusker herbei; viele benutzten, zum Unmut der Amerikaner, auch noch die cheruskische Sprache.

Selbstverständlich erlernte Maria in ihrer neuen Umgebung auch rasch die Sprache der Awaren, deren Kenntnis im Geschäft wie auch im täglichen Leben unumgänglich war.

Dann erfolgte der Umsturz in Awaristan, der auch eine drastische Verschlechterung der Beziehung zum Cheruskischen Reich mit sich brachte und schließlich in den Vierten Sarmatischen Krieg mündete. Dessen Beginn war mit gräßlichen Pogromen an der cheruskischen Minderheit verbunden. Hans wurde ermordet, Hanna floh, wie viele andere auch, nach Westen. Die Firma existierte praktisch nicht mehr. Maria, die unbehelligt blieb, hielt zunächst aus. Bald wurde ihr aber klar, daß ihre Lage immer unerträglicher wurde, sie hier keine Zukunft mehr hatte. Sie machte sich auch auf den Weg nach Westen. In einer Bäckerei in einem kleinen Städtchen nahe der Grenze zu Cheruskien fand sie schließlich Unterschlupf. Die Besitzerin, eine Angehörige der surdischen Minderheit in Awaristan, behandelte sie freundlich und Maria fühlte sich wohl. Unglücklicherweise starb die Bäckerin aber kurz nach dem Waffenstillstand und ihr Sohn, ein Nichtsnutz, der schon vorher ein Auge auf Maria geworfen hatte, aber abgeblitzt war, versuchte erneut sein Glück, wurde abermals abgewiesen. Er warf Maria hinaus. Obdachlos trieb sie sich nun mehrere Tage durch die Stadt. Durchnäßt, frierend und hungrig meldete sie sich schließlich bei den cheruskischen Behörden, die schon vor längerer Zeit die Verwaltung übernommen hatten. Sie wurde in ein Frauen – Flüchtlingslager nahe Plochricz, dem Verwaltungszentrum der Provinz Gepidien, gebracht. Die Bewohner waren ausschließlich Angehörige völkischer Minderheiten aus dem Ostteil der ehemaligen Awarischen Republik, die nicht unter der Herrschaft der Sarmaten leben wollten. Unterbringung und Behandlung dort waren weder gut noch schlecht. Sie wurden mit den Nötigsten versorgt, mehr aber nicht. Nach einigem Wochen begann dann die rassische Begutachtung. Zunächst wurden Fragebögen verteilt, die auszufüllen waren, dann folgte eine medizinische Untersuchung. Einige Tage später begann dann die 'Rassenkontrolle', wie man sie nannte. Die Frauen wurden hierzu gruppenweise, etwa fünfzig pro Tag, morgens nach dem Appell zu einem Amtsgebäude gebracht. Bereits am Vorabend wies man sie an, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und in einem Raum im Verwaltungsgebäude gut leserlich beschriftet zu deponieren, da sie voraussichtlich nicht mehr ins Lager zurückkehren würden. Man riet ihnen jedoch, Wertsachen und persönliche Dokumente mit zur Begutachtung zu nehmen. Für Marias geringen Besitz reichte ein Rucksack mittlerer Größe, den sie mit sich führte als sie an die Reihe kam.

Im Amtsgebäude angelangt, mußten sie dann in einem größeren Raum Platz nehmen, sich ausziehen. Büstenhalter und Höschen durften sie anbehalten. Maria bündelte ihre Kleider, schnallte dann das Bündel auf ihren Rucksack, der ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Dann wurde eine nach der anderen aufgerufen und in das Nebenzimmer bestellt. Die meisten kehrten bald zurück, durften sich wieder anziehen, den Raum aber nicht verlassen, vielmehr angewiesen auf weitere Anordnungen zu warten. Es gab natürlich Fragen. Viel konnte Maria nicht erfahren, da die Frauen Dialekte der Minderheiten in Awaristan sprachen, die sie nicht verstand. Aus dem wenigen ergab sich lediglich, daß in dem Raum ein 'Rasseninspektor' an einem Schreibtisch sitze, der sie aufforderte sich völlig nackt auszuziehen. Dieser habe sie dann mehr oder weniger intensiv angeschaut, bei wenigen sei er sogar aufgestanden, zu ihnen gegangen und habe sie betastet und dann zurückgeschickt. Eine Dolmetscherin sei auch anwesend, da die meisten die cheruskische Sprache nicht verstanden. Einige hatten sich geweigert sich auszuziehen; der Rasseninspektor habe das gelassen hingenommen, sie aber ohne weitere Worte wieder zurückgeschickt. Was mit denen, die nicht wiedergekommen waren, geschehen war, wußte keine zu sagen. Endlich wurde auch Maria aufgerufen. Sie nahm ihren kleinen Rucksack, ging ins Zimmer. Es spielte sich so ab, wie berichtet worden war. Sie zögerte allerdings sich völlig auszuziehen, worauf der Rasseninspektor nur sagte, es sei ein schwerer Fehler sich zu weigern, sie würde sich damit nur selbst schaden. Er sagte dies nicht barsch, sondern freundlich, fast wohlwollend. Das verwirrte sie etwas, sie wurde unsicher. Und nicht zuletzt die freundlich gesprochenen Worte ließen sie schließen, daß es vielleicht doch besser sei die Anordnung zu befolgen. Sie legte Höschen und Büstenhalter ab. Zu ihrer Verwunderung blickte sie der Mann dann nur flüchtig an, lächelte wohlwollend, gebot ihr sich wieder anzuziehen und nach Zimmer 3 zu gehen, es sei die dritte Tür in dem Gang hinter der linken Eingangstür. Sie war durch die rechte Tür hereingekommen. Maria verließ den Raum, zog sich draußen wieder vollständig an und lief zu Zimmer 3. Auf das seltsame Verhalten des Inspektors konnte sie sich keinen Reim machen. Warum hatte sie sich ausziehen müssen, warum hatte er ihr sogar gesagt, es sei ein Fehler sich zu weigern, wenn er sie danach noch nicht einmal richtig angesehen hatte? Und was hatte das wohlwollende Lächeln zu bedeuten?

Sie klopfte an, trat ein, nachdem von drinnen ein Laut erschollen war, der nach 'Herein' geklungen hatte. Der Raum besaß etwa die Größe des Warteraums, war aber mit bequemen Sesseln und Sofas ausgestattet, während es im Warteraum nur harte Stühle gab. Es saßen hier so an die zehn Frauen herum; alle waren mit ihr zur Begutachtung gekommen, aber nicht mehr in den Warteraum zurückgekehrt. Eine fremde Frau, offenbar eine Art Wärterin begrüßte sie freundlich.

„Guten Tag. Sie müssen hier einige Zeit warten, bis Sie wieder aufgerufen werden. Machen Sie es sich mittlerweile bequem. Da drüben auf dem Tisch steht eine Kaffeemaschine, daneben ein Kühlschrank. Darin finden Sie Mineralwasser, verschiedene Säfte und belegte Brötchen. Bedienen Sie sich nach Belieben, sicher sind Sie hungrig und durstig. Die Tür rechts hinten führt in ein Badezimmer. Dort können Sie duschen. Körperpflegemittel und Handtücher finden sie in dem Schrank, ebenso auch frische Kleider.“ Maria war etwas verwirrt über diese eher zuvorkommend wirkende Behandlung wie auch über die Anrede 'Sie'. Eine Dusche und frische Kleider hatte sie nötig. Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren nicht die besten gewesen; duschen konnte man nur einmal pro Woche, ansonsten stand nur kaltes Wasser zur Verfügung. Einen Wechsel der Unterwäsche gab es auch nur einmal in der Woche, der letzte lag fünf Tage zurück. Die Oberkleidung trug sie nunmehr seit drei Wochen. Sie duftete daher auch entsprechend. Aber das war im Lager bei allen der Fall. Also begab sie sich als erstes in das Badezimmer, nahm eine Körperreinigung vor, legte frische Kleider an. Es waren feine, hochwertige Sachen, keine Lagerkluft. Sie ging in das Zimmer zurück, nahm sich einen Kaffee und ein belegtes Brötchen, setzte sich in einen freien Sessel, aß und trank. Dann schaute sie sich im Raum um. In einem Wandregal standen mehrere Bücher. Sie ging hin, schaute sie sich an. Fast alle waren in cheruskischer Sprache geschrieben. Sie nahm sich eines, holte sich einen Saft aus dem Kühlschrank, ließ sich dann wieder in ihrem Sessel nieder und begann zu lesen. Die anderen Frauen unterhielten sich leise, in den örtlichen Minderheitendialekten, die sie nicht verstand. Cheruskisch sprachen nur wenige und auf Fragen in awarischer Sprache antworteten sie nicht, obwohl sie diese mit Sicherheit verstanden. Das war nicht neu. Diese Dialekte waren auch im Flüchtlingslager gesprochen worden. Sie hatte daher auch dort wenig Kontakt zu anderen Insassinnen gefunden, da kaum eine der cheruskischen Sprache mächtig war und fast alle sich weigerten awarisch zu sprechen. Gab es auch einen Grund sich mit den Frauen zu unterhalten? Eigentlich nicht. Wahrscheinlich wußten sie auch nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Und sie würde es vermutlich ohnehin bald erfahren, da die Wärterin gesagt hatte, sie würden wieder aufgerufen. Dann würde man ihnen sicherlich eine Erklärung geben. Ihr war nur aufgefallen, daß alle Frauen auffallend hübsch und gutaussehend waren. Pickte man also die Schönheiten heraus um sie dann in irgendwelche Bordelle zu verfrachten? In diese Überlegung paßte allerdings nicht so ganz, daß einige zwar recht jung waren, mindestens die Hälfte aber älter als sie, größtenteils über vierzig. Und für Bordelle sucht man schließlich keine älteren Frauen aus. Das Warten und die Ungewißheit zehrten aber an den Nerven. Maria las daher recht unkonzentriert, gab das Lesen nach einiger Zeit wieder auf, blickte sich erneut um. Eine Tür führte nach draußen, vermutlich in einen Garten. Sie fragte die Wärterin, ob es erlaubt sei nach draußen zu gehen. Diese bejahte. Maria trat durch die Tür, gelangte tatsächlich in einen Garten. Die Sonne schien, es war angenehm warm. Sie durchstreifte ihn, gelangte dann an eine Tür, die zu einer Straße führte. Die Tür war nicht verschlossen. Maria öffnete sie, trat hinaus, schaute sich um.

„Prinzipiell“, dachte sie, „könnte ich jetzt wohl davonlaufen. Aber, wo soll ich hin?“

Doch dann erblickte sie nicht weit entfernt zwei cheruskische Soldaten, die auf einer Bank herumlümmelten und rauchten.

„Wachen!“ schoß es ihr durch den Kopf.

Als sie Maria erblickten, rief ihr einer zu:

„Du willst wohl abhauen?“

„Und wenn?“ fragte sie zurück.

„Wir hindern dich nicht“, war die Antwort.

„Wieso? Sollt ihr uns nicht bewachen?“

„Nein, euch nicht.“

„Ihr würdet mich also nicht aufhalten, wenn ich versuchte wegzulaufen?“

„Nein“, war die Antwort, „das ist uns nicht befohlen worden. Wir sind die Leibwächter des Vogtes. Außerdem haben wir frei solange unser Chef da drin ist. Das wäre auch die Sache des Amtssicherheitsdienstes. Aber da wärst du schön blöde. Zwei haben es heute schon getan. Das war ihr Pech. Sie haben sich alles versaut. Sie kommen nicht weit und kommen dann in ein Straflager. Das hat uns zumindest der Leutnant vom Amtssicherheitsdienst gesagt.“

„Und was haben sie sich damit versaut?“

„Na, ihre Zukunft.“

„Ihre Zukunft in einem Bordell?“

Die Soldaten lachten.

„Bordell? Weib, du bist ganz schön doof. Du weißt wohl gar nicht, was hier abgeht?“

„Nein, das weiß ich nicht. Aber ich will ja auch gar nicht weg. Ich weiß ja auch gar nicht, wo ich hin sollte.“

„Ist auch besser so.“

Maria ging in den Garten zurück, spazierte noch kurze Zeit umher, suchte dann wieder das Wartezimmer auf, setzte sich in ihren Sessel und versuchte weiterzulesen, konnte es aber nicht so richtig, da ihr die Worte der Soldaten nachhingen. Offenbar erwartete sie nichts schlechtes. Aber was? Unterdessen waren noch zwei weitere Frauen hereingekommen.

Nach gut zwei Stunden wurden sie aufgefordert sich in ein Besprechungszimmer zu begeben, das mit bequemen Sesseln ausgestattet war. Ein Mann mittleren Alters erwartete sie. Neben ihm saß die Dolmetscherin.

„Guten Tag, meine Damen“, begann er, „ich begrüße Sie recht herzlich. Mein Name ist Peter Berger. Ich bin der Vogt für das 'Verkehrswesen in den Neuen Provinzen'.“

Die Frauen blickten den Mann verdutzt an. Der 'Vogt für das Verkehrswesen in den Neuen Provinzen', was hatte dies zu bedeuten? Berger bemerkte die verstörten Blicke, lächelte.

„Keine Sorge, Sie werden gleich alles erfahren. Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie so lange warten ließ. Nun, ich wollte Ihre Akten kurz überfliegen, bevor ich Sie empfing. Und dafür habe ich mir eine halbe Stunde Zeit genommen. Ursprünglich sollte ja auch der Oberbürgermeister Ihnen das Ergebnis Ihrer Begutachtung mitteilen, doch leider wurde er durch ein dringendes Amtsgeschäft kurzfristig verhindert und so bat er mich, ich bin heute zufällig zu Besprechungen hier, ihn zu vertreten, da er die Angelegenheit nicht einem untergeordneten Beamten überlassen wollte.“

Er pausierte kurz, gab der Dolmetscherin Gelegenheit zu übersetzen.

Maria wunderte sich. Was war an der Mitteilung so wichtig, daß man sie nicht einem rangniedrigen Beamten überlassen wollte?

Als die Dolmetscherin geendet hatte, fuhr der Vogt fort.

„Meine Damen, ich kann Sie nur beglückwünschen. Ihre Begutachtung ist hervorragend ausgefallen. Sie wurden alle in die Kategorie 'A' eingestuft. Was das genau bedeutet werden Sie morgen erfahren. Ich möchte Ihnen jetzt keine lange Erklärung zumuten, Sie sind sicherlich alle von dem langen Warten in Ungewißheit erschöpft, zumindest psychisch. Ich möchte Ihnen fürs erste daher lediglich mitteilen, daß Sie erhebliche Privilegien genießen werden. Von mir erhalten Sie jetzt nur Ihre Ausweise und einen Umschlag mit zweihundert Talern zum Bestreiten notwendiger, kurzfristiger Ausgaben. Dann wird Sie ein Bus zu Ihrer Unterkunft bringen. Ihr Gepäck, soweit Sie es im Lager deponiert haben, werden Sie dort vorfinden. Sie werden dann morgen nach dem Frühstück alles weitere erfahren.“

Er überreichte den Frauen nach und nach die Ausweise und einen Umschlag mit dem Geld. Sie verließen sie den dann Raum. Schließlich war nur noch Maria anwesend. Berger blickte sie freundlich an.

„Meine Hochachtung; Sie hatten die exzellenteste Begutachtung, besser geht es kaum. Ich möchte Ihnen daher auch ein besonderes Angebot unterbreiten. Das wird aber ein bißchen Zeit in Anspruch nehmen und ich will die anderen nicht zu lange warten lassen. Ich bitte Sie daher, sich um halb sieben an der Eingangstür ihrer Unterkunft bereit zu halten. Ich werde Sie dort abholen.“

Er verabschiedete sich.

Der Bus brachte die Frauen zu einem recht nett wirkenden Hotel am Rande der Stadt. Dort erhielten sie ihre Zimmer zugewiesen. Es waren Einzelzimmer; sie wirkten sehr ordentlich, sauber, gut möbliert, verfügten über ein Bad und eine Toilette, sogar ein Fernsehapparat war vorhanden. Das war also die 'Unterkunft'. Maria wunderte sich über den Komfort. Welch ein Schritt vom Massenlager, in dem sie noch die letzte Nacht verbracht hatte, zu diesem hübschen Hotelzimmer!

Kurz vor halb sieben begab sie sich zum Hoteleingang. Berger fuhr in einem Wagen mit Chauffeur vor. Er hatte sich um etwa fünf Minuten verspätet, entschuldigte sich dafür und bat Maria einzusteigen.

„Wohin fahren wir?“ fragte sie.

„Ins Amt“, war die Antwort.

Sie fuhren aus der Stadt hinaus zu einer weitläufigen Anlage, die vor dem Krieg wohl eine Feriensiedlung für Reiche gewesen war. Nach Passieren der Wachen am Zugangstor, fuhren sie weiter zum Hauptgebäude. Dort hielt der Wagen an, sie stiegen aus, traten in das Gebäude ein, begaben sich in den Keller, in dem sich ein Entspannungsbereich, bestehend aus Schwimmbad, einer Sporthalle, einer Sauna und verschiedenen mit Sportgeräten ausgestattete Räume befanden. Der Mann führte sie in einen Umkleideraum, begann dort sich zu entkleiden, bedeutete Maria das gleiche zu tun, was ihr etwas merkwürdig vorkam. Als sie zögerte meinte er nur:

„Stellen Sie sich nicht so an.“

Sie fühlte sich dem Mann irgendwie ausgeliefert, gehorchte.

„Wir gehen erst einmal in die Sauna, ich brauche das heute besonders zur Entspannung am Abend“, sprach er.

Maria folgte ihm; sie hatte zwar schon von Saunen gehört, in dem Hotel in der Südsee gab es auch eine, aber sie hatte noch nie eine aufgesucht.

„Ich hoffe, es bekommt Ihnen“, meinte er.

Der Raum war leer, sie setzten sich.

„Wissen Sie, bei uns Cheruskern pflegen Frauen und Männer einen sehr ungezwungenen Umgang miteinander. Da gibt es keine falsche Scham. Halten Sie das aber bitte nicht für Zügellosigkeit. Im Gegenteil, wir achten einander. Niemand wird versuchen Ihnen zu nahe zu kommen, absichtlich körperlichen Kontakt suchen, Sie zu betatschen oder gar Ihnen zweideutige Angebote machen. Wir grüßen aber auch einander, sind oft bestrebt ein paar Worte zu wechseln. Halten Sie das bitte nicht für eine Belästigung. Und nehmen Sie es uns nicht für übel, daß Sie heute Nachmittag aufgefordert wurden, sich völlig auszuziehen. Das gehörte zum Test; um ihre Figur zu beurteilen, hätten Höschen und Büstenhalter nicht gestört.“

„Welchem Test?“

„Ich will das jetzt nicht im Detail ausführen, Sie erfahren das ohnehin alles noch. Aber wir wollten damit feststellen, ob Sie zu uns passen.“

Maria schaute ihn fragend an.

„Ein merkwürdiger Test.“

„Längere Geschichte, das erkläre ich Ihnen nachher beim Essen. Entspannen Sie sich erst einmal. Sie haben sicherlich einen recht verwirrenden Tag hinter sich.“

Maria wunderte sich, stellte aber keine Fragen. Nach der Sauna suchten sie noch kurz das Schwimmbad auf; mehrere Männer und Frauen, alle nackt, tummelten sich dort. Badekleidung war hier offenbar nicht üblich. Sie verhielten sich so, wie Berger gesagt hatte; sie grüßten, einige sagten ein paar unverbindliche Worte, ansonsten kümmerten sie sich nicht um sie.

Nach etwa einer Stunde gingen sie in den Umkleideraum zurück zogen sich an, begaben sich in das Restaurant im Erdgeschoß des Baus, nahmen an einem freien Tisch Platz. Eine Bedienung brachte die Speisekarte, fragte nach den Getränkewünschen. Sie bestellten. Während sie aufs Essen warteten, begann Berger mit seinen Erklärungen.

„Zunächst möchte ich mich einmal vorstellen. Ich heiße Peter Berger, bin der Vogt für das Verkehrswesen in den Neuen Provinzen. Das wissen Sie ja bereits. Ich bin erst seit wenigen Wochen im Amt, habe die Aufgabe, die Straßen und die Eisenbahnlinien hier wieder auf Vordermann zu bringen, beziehungsweise, sie in einen Zustand zu versetzen, der dem Reichsstandard entspricht. Und dann sind auch noch neue Trassen zu planen und zu bauen. Von Beruf bin ich Straßenbauingenieur, war aber auch Kriegsteilnehmer, zuletzt im Rang eines Majors. Und jetzt zu Ihnen. Sie wurden, wie ich vorhin schon erwähnte, in die Kategorie 'A' eingestuft. Das bedeutet, daß Sie rechtlich den Reichsbürgern gleichgestellt sind, Sie gewisse Privilegien besitzen und in einem Jahr die volle Reichsbürgerschaft erhalten, wenn dann keine schwerwiegenden Einwände dagegen sprechen. Das wären zum Beispiel, wenn sie kriminell würden oder sich dem Reich gegenüber feindlich verhielten, das heißt, sich terroristischen oder umstürzlerischen Gruppierungen anschließen würden oder auf sonstige Art und Weise gegen das Reich, seine Institutionen, unsere Gesellschaftsordnung oder unsere Kultur hetzen oder agieren würden.“

„Das habe ich nicht vor“, entgegnete Maria, „ich möchte nur in Frieden leben.“

„Das ist gut“, antwortete der Vogt, „also, als in Kategorie 'A' Eingestufte haben Sie nach einem 'Bewährungsjahr' oder auch 'Pflichtjahr' nicht nur Anspruch auf die Reichsbürgerschaft, freien Wohnortswahl, freie Berufswahl und alle sozialen Leistungen, sondern auch auf eine Berufsausbildung oder ein Studium Ihrer Wahl, die natürlich vom Reich finanziert werden, falls Sie das wünschen. Üblicherweise unterteilt sich das 'Pflichtjahr' in zwei Abschnitte, ein halbes Jahr Intensivkurs zum Erlernen unserer Sprache und ein halbes Jahr 'Praktikum', wie ich das einmal nennen möchte. Bei Ihnen entfällt das erste, da sie cheruskisch perfekt in Wort und Schrift beherrschen, wie aus dem Fragebogen erkennbar war; Sie verfügen aber auch sonst über eine überdurchschnittliche Bildung. Ich habe mich daher entschlossen, Ihnen die Stelle meiner Assistentin anzubieten. Das sogenannte Praktikum entfällt für Sie damit dann auch. Technische Detailkenntnisse brauchen Sie hierfür nicht, eher organisatorisches Talent. Aber das haben Sie ja. Die Verwaltungsstrukturen hier befinden sich noch im Aufbau, manches geht noch durcheinander, vielfach sind noch Kompetenzen und Verantwortlichkeiten unklar und nicht gegeneinander abgegrenzt. Hier muß noch Ordnung geschaffen werden. Keine leichte Aufgabe, aber ich traue es Ihnen zu. Sie brauchen aber nicht sofort zuzusagen. Und selbst wenn Sie ablehnen, bedeutet das für Sie keinen Nachteil. Dann finden wir etwas anderes.“

Maria war vollkommen überrascht; das hatte sie am wenigsten erwartet, den unmittelbaren Aufstieg von einem namenlosen Flüchtling in die Führungsriege der Provinz. Was war der Preis hierfür? Der Vogt hatte keine Andeutungen gemacht, aus denen sich auf etwas schließen ließ.

„Morgen gebe ich Ihnen Antwort“, sagte sie nur.

„Sie werden sich auch an gewisse Andersartigkeiten im Umgang der Cherusker untereinander gewöhnen müssen. Einen kleinen Einblick haben Sie ja vorhin schon bekommen. Bei uns gibt es keine künstliche Geschlechtertrennung; Männer und Frauen werden gleich behandelt, von wenigen Ausnahmen, dem Militärdienst, zum Beispiel, abgesehen. Es gibt daher auch keine Scheu der Geschlechter voreinander, wir verhüllen uns nicht, Nacktheit ist etwas natürliches; das war auch der Grund für die Aufforderung heute Nachmittag. Wir wollten lediglich sehen, wie Sie reagieren. Natürlich gibt es da auch Grenzen. Sie dürfen aber nicht denken, daß daraus Zügellosigkeit folgt. Die Achtung vor der anderen Person ist Grundsatz unserer Erziehung. Das heißt, selbst wenn wir uns nackt begegnen, so hat das keine sexuellen Anspielungen, 'Anmache' oder Belästigungen zur Folge, das widerspräche dem Prinzip der Achtung und des natürlichen Umgangs. Verfehlungen diesbezüglich werden bestraft. Kein Mann wird Sie daher im Schwimmbad oder sonst wo belästigen. Verhalten Sie sich daher auch 'natürlich'.“

Das Essen wurde serviert, danach unterhielten sie sich noch eine Weile, Maria mußte hauptsächlich von 'sich' erzählen. Dann brachte sie der Chauffeur zum Hotel zurück, sagte ihr beim Abschied, er werde sie am nächsten Morgen um acht Uhr abholen.

Maria begab sich auf ihr Zimmer. Es fiel ihr schwer einzuschlafen. Zu viele Eindrücke waren an diesem Tag auf sie niedergeprasselt. Zu viele Gedanken bewegten sie. Am Ende entschloß sie sich die Stellung anzunehmen.

Erster Besuch im Amt

Kurz nach acht Uhr wurde sie von einem Chauffeur abgeholt und ins 'Amt' gebracht. Der Vogt erwartete sie schon. Er grüßte freundlich, bat sie sich zu setzen. Dann fragte er:

„Haben Sie sich entschieden?“

„Ja“, antwortete Maria, „ich nehme Ihr Angebot an.“

„Das ist schön, es freut mich. Ehrlich gesagt, ich war mir nicht sicher ob Sie zusagen würden. Ich denke aber, wir werden gut zusammenarbeiten. Ihr Amtsantritt hat aber keine große Eile. Sie müssen sicher auch noch einige private Angelegenheiten erledigen und sich erst einmal einrichten. Wir werden Ihnen hier in der Anlage eine Zweizimmerwohnung zur Verfügung stellen. Das ist aber kein Zwang. Später können Sie sich natürlich auch eine andere Wohnung nehmen. Allerdings muß ich Ihnen sagen, Wohnraum ist hier in der Stadt knapp und es wird noch einige Zeit dauern bis sich die Situation verbessert. Außerdem sind einige Stadtteile im Moment noch unsicher. Die Anlage hier ist geschützt. Es ist also besser, wenn Sie vorerst hier wohnen.“

Maria bedankte sich.

„Zunächst müssen wir natürlich Ihre Personalien aufnehmen und einen Arbeitsvertrag ausstellen. Sie haben hier den Rang einer leitenden Angestellten. Ich habe schon alles in die Wege geleitet. Gehen Sie daher zunächst einmal in die Personalabteilung Zimmer sieben zu Frau Rachor. Sie ist bereits informiert, erwartet Sie schon. Ihr Dienstantritt ist nächsten Montag. Bis dahin haben sie weitgehend frei. Sie müssen sich lediglich für eventuelle Rückfragen zur Verfügung halten. Sie haben doch sicher auch eine kleine Erholung nötig.“

Maria verabschiedete sich, suchte die Personalabteilung auf. Die Sachbearbeiterin, Frau Rachor, empfing sie freundlich.

„Guten Morgen“, grüßte Maria beim Eintreten. Frau Rachor erwiderte den Gruß.

„Im Groben wissen Sie sicherlich schon, was ansteht. Zunächst müssen Sie einen Personalbogen ausfüllen. Ich helfe Ihnen dabei falls notwendig. Auch sonst stehe ich Ihnen zur Verfügung. Kommen Sie daher ruhig vorbei, wenn Sie noch Fragen oder Schwierigkeiten haben.“

Frau Rachor reichte ihr das Formular. Name, Vorname, Geburtsdatum, Wohnort.

„Letzteres trage ich ein. Ich kenne Ihre neue Adresse bereits. Die Wohnung ist schon bereitgestellt.“

Letzter Wohnort. Maria trug die Adresse der Bäckerin ein.

Nationalität.

„Warum sind Sie eigentlich nicht in Ihre Heimat zurückgekehrt?“ fragte Frau Rachor.

„Heimat? Das ist ein fremdes Wort für mich. Für mein Volk bin ich eine ehrlose Frau. Nicht, daß ich etwas Schlimmes getan hätte. Ich habe mich lediglich geweigert, den Mann zu heiraten, der für mich bestimmt war, da ich einen anderen liebte. Das war ein schwerer Verstoß gegen die Gepflogenheiten. Meine Familie hat mich daher verstoßen. Ich zog mit dem Mann zusammen. Anfangs waren wir auch ganz glücklich. Aber nach zwei Jahren ging die Verbindung in die Brüche. Dann gab es für mich kein Bleiben mehr. Ich ging in die Fremde, arbeitete in der Rezeption eines Hotels, lernte dort Hans kennen, der mich zu sich in die Awarische Republik holte. Als die Unruhen begannen dachte ich nicht daran wegzugehen. Hans war auch der Meinung, das würde sich bald wieder legen. Leider hatte er Unrecht. Als er ermordet wurde, war der Krieg schon im Gange. Ich hatte zwar noch meinen Paß, aber eine Ausreise war nicht möglich. Es gab keine regulären Flugverbindungen ins Ausland mehr. Außerdem hatte ich auch kein Geld, denn mein Konto war schon gesperrt; ich hatte zwar noch den Schmuck, den ich hätte verkaufen können. Aber was nutzt das, wenn man nicht mehr wegkommt?“

„Aber die Ausländer in Awaristan wurden doch evakuiert.“

„Tja, das hört sich gut an, die Praxis sah jedoch anders aus. Die Italiener, Iberer und Türken hatte ihre diplomatischen Vertretungen, die sich für sie einsetzten und die Evakuierung organisierten. Ich hatte niemanden. Vor dem Krieg gab es zwar einen Konsul, der hatte sich aber bald nach Beginn der Kampfhandlungen abgesetzt. Und die anderen nahmen mich nicht mit. Sie hätten kaum Platz für ihre eigenen Leute, sagten sie. Ich schlug mich nach Westen durch. Nach Sarmatien wollte ich nicht. Es hieß, sie würden die Flüchtlinge in ein Arbeitslager stecken. Davor hatte ich Angst. Die Grenze zum Cheruskischen Reich war geschlossen. Dieser Weg war also versperrt. Ich versuchte nach Süden nach Madjarien zu gelangen. Doch die ließen mich nicht ins Land. Ich übertrat die Grenze illegal. Sie griffen mich auf, brachten mich nach Awaristan zurück, drohten, mich zu erschießen, wenn sie mich ein zweites Mal erwischten. Ich schlug mich dann durch die Linien, schließlich fand ich bei einer Bäckerin Unterschlupf. Die Stadt war bereits von den Cheruskern eingenommen und stand unter Militärverwaltung. Es war ruhig dort, keine Kämpfe. Und so beschloß ich, das Ende des Krieges in dem Ort abzuwarten.“

Die Sachbearbeiterin hatte geduldig zugehört.

„So ausführlich hätten Sie mir das gar nicht erzählen müssen. Es war ja auch nur eine persönliche Frage, pure Neugier, kein Verhör. Es spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr.“

Krankenversicherung, Rentenversicherung.

„Ich habe noch meine Ausweise.“

Maria kramte sie aus ihrer Brieftasche hervor, zeigte sie Frau Rachor. „Die gelten hier zwar nicht mehr, aber gut, daß sie diese noch haben. Sie werden umgeschrieben, Sie erhalten neue Ausweise. Ihre Rentenversicherungsnummer brauche ich allerdings. Die Zeit wird Ihnen gutgeschrieben.“

Zeugnisse. Maria hatte keine.

„Das macht nichts“, meinte die Sachbearbeiterin, „es spielt auch keine Rolle. Sie sind ja Kategorie 'A'.“

Dann fragte sie nach Marias Vermögensverhältnissen.

„Ich wohnte bei meinem Freund, hatte daher keine eigenen Möbel, keinen Hausrat. Ein Auto hatte ich auch nicht, ich habe auch gar keinen Führerschein. Es bleiben also nur noch die Kleider, der Schmuck und das Bankkonto. Den Schmuck nahm ich mit, mußte allerdings einen Teil davon verkaufen. Den Rest habe ich noch. An Kleidern besitze ich nur das, was ich auf dem Leib trage. Ich hatte aber einiges gespart, ein Bankkonto und ein Sparbuch.“

„Haben Sie darüber Unterlagen?“

„Ja“, antwortete Maria, „soll ich sie Ihnen zeigen?“

„Gerne.“

Maria kramte ihre Bankkarte und ihr Sparbuch hervor, reichte sie der Sachbearbeiterin. Die schaute sie an, lächelte.

„Das ist gut“, meinte sie, „Awarische Genossenschaftsbank, die ist jetzt unter unserer Verwaltung. Das können wir nachprüfen. Ich brauche nur die Kontonummern, Bankkarte und Sparbuch können Sie behalten. Übrigens, unsere Regierung hat beschlossen, na ja, um ihr Ansehen in der Welt zu fördern, die Konten der Ausländer in Awaristan freizugeben und das Geld auszubezahlen. Und noch sind Sie ja Ausländerin, offiziell jedenfalls. Sie werden ihr Geld bekommen, es wird allerdings ein bißchen dauern.“

Maria freute sich. Sie hatte immerhin an die 100 000 awarische Dinar zusammengespart, vor dem Krieg. Das waren ungefähr 30 000 cheruskische Taler.

„Und in der Zwischenzeit müssen Sie sich auch keine Sorgen machen“, fuhr Frau Rachor fort, „als Angehörige der Kategorie 'A' erhalten sie ohnehin ein Startgeld von 10 000 Talern. Das Geld wird Ihnen gutgeschrieben, sobald Sie hier ein Konto eröffnet haben. Gehen sie zur Cheruskischen Volksbank, dann geht es am schnellsten.“

„Wird das mit meinen Ersparnissen verrechnet?“ fragte Maria vorsichtig.

„Nein, da brauchen sie keine Bedenken zu haben. Wir sind doch nicht kleinlich. Die Cheruskische Volksbank hat übrigens eine Geschäftsstelle im Erdgeschoß. Gehen Sie nachher am besten gleich dort hin. Das Geld ist im Prinzip angewiesen und wird Ihnen, wie schon gesagt, sofort nach Eröffnung des Kontos gutgeschrieben. Heute Nachmittag können Sie bereits darüber verfügen.“

Sie schwieg kurz, machte einige Notizen. Dann fuhr sie fort:

„Sie sagten, Sie hätten keinen Führerschein. Den brauchen Sie natürlich. Sie müssen allerdings zu einen Fahrschule ins Altreich gehen. Hier gibt es noch keine geeigneten. Ich werde das veranlassen, gebe Ihnen dann Bescheid. So, und hier sind die Schlüssel zu Ihrer Wohnung. Quittieren Sie bitte den Empfang. Sie liegt im Heinrichsweg; ich gebe Ihnen einen Plan, damit Sie sich zurechtfinden. Haben Sie sonst noch Fragen?“

„Im Moment nicht.“

„Gut, dann wäre es das für heute. Ihr Arbeitsvertrag ist morgen, spätestens übermorgen fertig. Kommen Sie bitte am Freitag Vormittag zum Unterschreiben vorbei. Und sollten Sie doch noch Fragen haben, so stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung, außer am Wochenende natürlich.“

Maria bedankte sich, wollte schon gehen, doch die Sachbearbeiterin hielt sie zurück.

„Ach, eines habe ich noch vergessen. Hier in der Anlage, ganz in der Nähe gibt es ein Einkaufszentrum. Dort erhalten Sie, was Sie brauchen. Die Auswahl an Kleidung ist allerdings dürftig. Fahren Sie zum Kleiderkauf daher am besten nach Waldenberg. Das ist nur zwanzig Kilometer entfernt und es gibt eine regelmäßige Busverbindung. Ich drucke Ihnen noch schnell einen Fahrplan aus.“

Maria nahm den Fahrplan in Empfang, bedankte sich noch einmal herzlich und verließ das Büro. Sie ging anschließend zur Bank. Die Kontoeröffnungsformalitäten waren rasch erledigt und nach kurzer Wartezeit erhielt sie eine Bankkarte mit Geheimnummer. Dann reichte ihr der Angestellte ein Schreiben.

„Das ist die Bestätigung über die Gutschrift des Startgeldes. Quittieren Sie bitte den Empfang.“

Maria tat es. Dann verließ sie die Bankgeschäftsstelle. Sie fühlte sich wohl: eine Wohnung, Startgeld, eine Anstellung. Was wollte sie mehr?

Sie ging ins Einkaufzentrum, kaufte ein paar Lebensmittel zum Mittagessen, begab sich anschließend zu ihrer neuen Wohnung. Sie lag im ersten Stock, verfügte über einen Balkon, von dem aus sie weit in die Landschaft blicken konnte. Sie war vollständig möbliert, bestand aus einem Schlafzimmer, einem Wohn – Eßzimmer, einer gut ausgestatteten Küche, einem Badezimmer. Eine Waschmaschine war vorhanden, ein Bügelbrett, ein Bügeleisen, Reinigungsutensilien, Bettwäsche, Handtücher, auch ein Fernsehapparat und ein Telefon. Maria ruhte sich erst einmal ein bißchen aus, bereitete sich dann ein Mittagessen zu, aß.

Dann begab sie sich zu einem Bankautomaten, überprüfte ihr Konto. Das Geld war tatsächlich bereits gutgeschrieben. Anschließend suchte sie noch einmal das Einkaufszentrum auf, kaufte Lebensmittel, Getränke, Hygieneartikel, einige Handtücher, Unterwäsche, einen neuen, dunkelblauen Rucksack, denn der alte war schon ziemlich zerschlissen, fand schließlich auch noch eine hübsche, beige Jacke. Die Auswahl an sonstiger Kleidung war in der Tat nicht allzu groß, sie kaufte daher nur das Nötigste, eine Bluse, eine Hose, da sie sich erst einmal am nächsten Tag in Waldenberg umschauen wollte. Das Bargeld reichte natürlich nicht aus, aber sie konnte mit der neuen Bankkarte bezahlen. Am Nachmittag unternahm sie einen längeren Spaziergang, blieb aber in der Nähe der Anlage.

Am Abend suchte sie die Sauna und das Schwimmbad auf; sie hatte heute weniger Scheu als am Vortag, genoß den Aufenthalt. Obwohl mehr Betrieb war als gestern, man grüßte, aber niemand sprach sie näher an, abgesehen von einer Frau, die ein paar Worte mit ihr wechselte. Niemand unternahm Anstalten sie zu belästigen. Und sie hatte auch nicht den Eindruck, als würde man über sie tuscheln. Man nahm, sozusagen, ihren Besuch als selbstverständlich hin. Den Vogt traf sie nicht an, sie sah ihn auch nicht später im Restaurant, wo sie zu Abend aß.

Anschließend kehrte sie in ihre Wohnung zurück, setzte sich in einen Sessel, blätterte in der Zeitschrift, die sie aus dem Einkaufszentrum mitgenommen hatte, trank dabei zwei Gläser Wein, legte sich dann schlafen. Es war die erste Nacht in der neuen Wohnung, der neuen Heimat. Sie schlief gut.

Der erste Besuch in Waldenberg

Maria nahm den Neun-Uhr-Bus nach Waldenberg. Es war ein sonniger Morgen, ein milder Tag kündigte sich an, ideal zum Flanieren und Einkaufen. Obwohl die Entfernung nur ungefähr zwanzig Kilometer betrug, dauerte die Fahrt wegen der schlechten Straßenverhältnisse in der neuen Provinz und eines kurzen Aufenthaltes an der ehemaligen Reichsgrenze fast eine dreiviertel Stunde. Der Bus hielt auf dem Bahnhofsvorplatz an, man stieg aus. Maria wußte nicht, wo sich geeignete Geschäfte befanden, lief daher aufs Geradewohl in Richtung Zentrum. An einer Straßenkreuzung, wurde sie von hinten angesprochen als sie an einer roten Ampel wartete.

„Ausweiskontrolle“, tönte es barsch.

Maria drehte sich um, erblickte einen Polizisten. Sie zog ihren Ausweis hervor, reichte ihn dem Mann. Der musterte ihn mißtrauisch.

„Komm mit aufs Revier“, sagte er unfreundlich.

„Warum?“ fragte sie zurück.

„Wir müssen da etwas klären“, war die Antwort.

„Was denn?“

„Das wird sich zeigen.“

Notgedrungen folgte Maria dem Mann.

„Die Negerin hat einen Ausweis der Kategorie 'A'. Das ist nicht nur verdächtig, das ist bereits suspekt“, erklärte die Streifenpolizist dem Wachhabenden mit wichtiger Miene.

„Ich bin keine Negerin“, protestierte Maria.

„Halt den Mund“, fuhr sie der Streifenpolizist an.

Der Wachhabende erwies sich als freundlicher.

„Geben Sie mir bitte den Ausweis“, meinte er.

Maria reichte ihn dem Mann. Der nahm ihn, steckte ihn in ein Kartenlesegerät, tippte etwas auf der Tastatur ein, wartete einen Moment. Dann blickte er abwechselt auf den Bildschirm vor sich und auf Maria, runzelte dabei die Stirn.

„Ich brauche noch Ihre Fingerabdrücke. Legen Sie bitte die Zeigefinger in die vorgesehenen Öffnungen im Lesegerät hier auf dem Pult.“

Maria gehorchte. Der Wachhabende wartete einen Augenblick, tippte dann wieder etwas ein, meinte schließlich.

„Kein Zweifel, sie ist es; das gleiche Gesicht. Und die Fingerabdrücke sind auch identisch.“

„Was ist los?“ fragte der Streifenpolizist verunsichert.

„Maria Duschwili, Kategorie 'A'“, war die Antwort, „die Klassifizierung ist sogar vom Vogt für das Verkehrswesen in den Neuen Provinzen unterzeichnet und vom Gauvogt, unserem Provinzgouverneur, beglaubigt; nicht bloß von kleinen Beamten.“

Er gab Maria den Ausweis zurück.

„Entschuldigen Sie, aber die Zeiten sind unsicher; es war lange Krieg und die Region ist noch nicht völlig befriedet. Da muß man vorsichtig sein. Und unsere Streifenbeamten sind da oft etwas zu diensteifrig“, meinte er freundlich. Maria aber hatte den Eindruck, daß er anders sprach als er dachte.

„Möchten Sie einen Kaffee?“ sagte er dann noch freundlicher; es klang aber so, als wolle er ihr Wohlwollen gewinnen. Maria hatte eigentlich kein Verlangen nach einem Kaffee, aber eine innere Stimme sagte ihr, daß sie das Angebot annehmen solle. Sie setzte sich dann auf die Bank in der Ecke, begann zu trinken. Nach kurzer Zeit nahm der Wachhabende ein Mikrophon in die Hand und sprach mit gedämpfter Stimme. Maria konnte ihn aber trotzdem verstehen.

„An alle Streifen; betrifft eine dunkelhäutige Frau, Größe etwa ein Meter fünfundsechzig, hübsch, schlank, lockiges schwarzes Haar, Alter etwa dreißig. Sie trägt eine blaue Jeanshose, eine hellblaue Bluse und eine beige Jacke. Außerdem hat sie einen dunkelblauen Rucksack bei sich. Sie heißt Maria Duschwili und besitzt einen Ausweis der Kategorie 'A'. Wir haben das überprüft und die Sache ist in Ordnung. Bitte die Frau nicht kontrollieren. Das könnte sonst vielleicht Ärger geben.“

Maria mußte unwillkürlich lachen. Der Wachhabende wurde verlegen.

„Na ja“, sagte er dann, „Sie sind eben eine ungewöhnliche Erscheinung.“

„Sie meinen wohl eher, daß es für Sie kaum zu verstehen ist, daß eine 'Negerin' über einen Ausweis der Kategorie 'A' verfügt und dies auch noch von höchster Stelle beglaubigt ist“, gab Maria leicht spöttisch zurück.

Der Streifenpolizist wollte etwas bemerken, doch der Wachhabende gebot ihm zu schweigen.

„Wir wollen doch keinen Ärger bekommen.“

Maria trank aus, verließ dann das Revier; sie ließ sich Zeit, schlenderte fast drei Stunden durch die Stadt, suchte zwischendurch ein Café auf, bevor sie mir den Einkäufen begann. Man behelligte sie nicht mehr. Die Passanten grüßten überwiegend freundlich, beachteten sie sonst nicht weiter, kaum jemand drehte sich nach ihr um und starrte ihr nach, so wie man einer exotischen Erscheinung nachstarrt. Einige Männer schauten ihr zwar nach; sie machten aber eher den Eindruck, daß Maria ihnen gefiel. So außergewöhnlich konnte also ihre Erscheinung doch nicht sein. Auch in den Geschäften hatte sie den Eindruck, daß es niemand verwunderte, daß eine dunkelhäutige Frau Kleidung kaufte. Es gab viel anzuprobieren und auszusuchen. Allmählich füllte sich der Rucksack, er wurde bald zu klein. Voll bepackt, mit mehren Einkaufstüten in den Händen und prallem Rucksack begab sie sich schließlich zum Bahnhofsvorplatz und fuhr mit den Sechs-Uhr-Bus zurück. Sie legte die Tüten und den Rucksack im Wohnzimmer ab, hatte keine Lust zum Auspacken. Sie war zu müde um noch ins Restaurant zu gehen, aß eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank, las hinterher noch etwa eine Stunde bei einem Glas Wein, legte sich dann schlafen.

Wochenende

Am Freitag Morgen, kurz nach neun Uhr, suchte sie die Personalsachbearbeiterin auf.

„Es gibt Neuigkeiten“, erklärte Frau Rachor, „Ihre Konten bei der Awarischen Genossenschaftsbank wurden überprüft. Es ist alles in Ordnung. Ihr Geld wird in den nächsten Tagen auf Ihr neues Konto überwiesen. Der Arbeitsvertrag liegt auch vor. Sie können unterschreiben.“