Zwischen Phantasie und Realität - Fritz Peter Heßberger - E-Book

Zwischen Phantasie und Realität E-Book

Fritz Peter Heßberger

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Beschreibung

Phantasie und Realität - Situationen und Lebensumstände, wie sie sind, sein könnten oder sein müssten: Die phantastische Verwandlung eines Malerpinsels in eine Frau, die zu Begebenheiten führt, welche einen Mann mittleren Alters an seinem Verstand zweifeln lässt. Der Traum eines alten Mannes von einer Jugendliebe, die nie existierte und ihre Folgen. Eine merkwürdige Bekanntschaft in einem Regionalzug in Südwestdeutschland und ihre Folgen oder auch 'Nichtfolgen'. Die 'Abenteuer' eines älteren Mannes während eines einsamen Sommers, seine Eindrücke und Ansichten über seine Mitmenschen und sich selbst, sowie seine vergebliche Suche nach der 'wahren' Liebe. Die ungewöhnliche Liebesgeschichte eines Deutschen und einer Südseeinsulanerin, eingerahmt in die gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland. Die Begegnung eines mächtigen Grafen mit einer elenden Gefangenen, deren Wert und wahre Größe, die trotz aller erlittener Demütigungen noch in ihr steckt, er rasch erkennt. Er empfindet eine tiefe Liebe zu ihr, die sie an anfänglichem Zögern erwidert und sie zum Wohle des Landes zur Herrin aufsteigen lässt.

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Der Autor:

Fritz Peter Heßberger, Jahrgang 1952, geboren in Großwelzheim, heute Karlstein am Main, studierte Physik an der Technischen Hochschule Darmstadt; 1985 Promotion zum Dr. rer. nat.; von 1979 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2018 als wissenschaftlicher Angestellter in einer Großforschungsanlage tätig.

Umschlagphoto: der Hahnenkamm aus Blickrichtung Seligenstadt F.P. Heßberger, Privatarchiv

Inhalt

Evelyn

Erinnerungen an Carola

Die Frau im Zug

Der Sommer ohne Karin

Südseeliebe

Die Perserin

Evelyn

Denken Sie bitte nicht, daß ich spinne. Zugegeben, meine Geschichte klingt äußerst unwahrscheinlich, geradezu grotesk, aber Sie müssen wissen, daß ich ein sehr kritischer Mensch bin und nicht an übernatürliche Begebenheiten glaube. Dennoch mußte ich feststellen, daß es Geschehnisse gibt, die sich unserem, zumindest meinem, Verstand entziehen. Ich versichere Ihnen, ich habe alles nachgeprüft und gründlich durchdacht. Wenden Sie daher nicht ein, ich hätte alles nur im Alkoholrausch geträumt oder gar mehrere geistige Aussetzer gehabt. Nein, nein, was ich erlebt habe ist wahr, genau so, wie ich es schildere und nicht anders.

Die zu berichtenden Geschehnisse ereigneten sich im letzten Spätsommer, genau gesagt, in der zweiten und dritten Septemberwoche. Ich hielt mich in dieser Zeit – die näheren Umstände spielen hier keine Rolle – aus dienstlichen Gründen in der Stadt K. auf. Ich hatte das Hotelzimmer entgegen meiner sonstigen Gewohnheit schon im voraus gebucht und war daher unangenehm überrascht, als ich bei meiner Ankunft feststellen mußte, daß im Hause umfangreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden. Es war weniger der penetrante Farbengeruch, der mich störte, sondern vielmehr die Tatsache, daß es sich bei den Malern um eine überaus unordentliche Truppe handelte, die überall ihre Gerätschaften herumstehen ließ, auch nach Feierabend. Ein Marsch durch die Flure, das Gebäude war schon älter und daher recht verwinkelt, kam einem Slalomlauf gleich. Ständig mußte ich irgendwelchen Leitern, Podesten, Farbtöpfen und Eimern ausweichen. Um gerecht zu sein muß ich allerdings betonen, daß ich ansonsten mit meiner Wahl zufrieden sein konnte. Das Personal war zuvorkommend, die Zimmer sauber, gemütlich eingerichtet, und das angeschlossene Restaurant bot eine ausgezeichnete Speisekarte. Deshalb unterließ ich es auch mir ein anderes Domizil zu suchen oder mich wegen dieser Unannehmlichkeiten zu beschweren.

Am zweiten Abend unterlief mir dann trotz aller Vorsicht ein kleines Mißgeschick. Ich hatte beim Abendessen einen Zeitgenossen namens Hans kennengelernt und mit ihm bis gegen Mitternacht gezecht. Ich war also nicht mehr ganz nüchtern als ich zu meinem Zimmer aufbrach. Unterwegs passierte es: ich stolperte über einen Eimer. Der kippte um und sein Inhalt, einige Pinsel verschiedener Größe, kullerte heraus und verstreute sich auf dem Fußboden. Dies allein wäre weiter nicht schlimm gewesen, aber der Eimer war zudem zu einem guten Drittel mit einer schmutzig – grauen Brühe gefüllt, die sich nun auf den Teppich ergoß, wo sie allerdings rasch aufgesaugt wurde, so daß nach wenigen Sekunden nur noch ein großer, unansehnlicher Fleck an meinen Unfall erinnerte. Da ich mich wegen der Schlamperei der Maler für den Schaden nicht verantwortlich fühlte, beschloß ich, die umherliegenden Pinsel schnellstens zusammenzuraffen, in den Eimer zurückzustellen, um dann ungesehen zu verschwinden. Bei meiner Arbeit fiel mir jedoch ein breiter Flachpinsel auf. Ich nahm ihn in die Hand und hatte plötzlich eine Idee, die ich heute meiner Alkohollaune zuschreibe. Ich zog den Kugelschreiber aus der Jackentasche und malte eine Frau auf den Stiel. Da ich kein großer Zeichner bin, gelang die Figur natürlich nicht sehr gut, sie ähnelte eher einem Strichweibchen. Verstehen Sie bitte den Ausdruck nicht falsch und stellen Sie keine Assoziation zu ‚Strichmädchen‘ her, so ist das nicht gemeint. Ich war, wie bereits angedeutet, allerdings nicht mehr bei ganz klarem Verstand und so gefiel mir mein Kunstwerk trotzdem recht gut. Ich überlegte, welcher Name zu der Hübschen auf dem Pinselstiel wohl am besten passen würde und entschied mich nach kurzer Zeit für Evelyn. Fragen Sie mich bitte nicht, warum ich gerade diesen Namen auswählte. Ich weiß es nicht, es muß wohl höhere Eingebung gewesen sein, zumal ich damals auch gar keine Frau kannte, die Evelyn hieß und für die ich irgendwelche Sympathie empfunden hätte. Ich betrachtete Evelyn noch eine Weile, redete mit ihr, stellte sie schließlich in den Eimer zurück, begab mich auf mein Zimmer und legte mich schlafen.

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Frühstücksraum, begegnete ich einem Maler, der mit dem Evelyn – Pinsel gerade einen Türrahmen strich. Das Bild störte ihn offenbar keineswegs, denn er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, das Gekritzel abzuwischen.

Am Abend traf ich mich wieder mit Hans zum Essen und Trinken. Obwohl ich mir vorgenommen hatte mich heute Abend etwas zurückzuhalten, da mir das gestrige Gelage doch einige Magenprobleme bereitet hatte, die mich den ganzen Tag über quälten, zechten wir noch heftiger als am Abend zuvor. Irgendwann fiel mir mein Kunstwerk ein und ich erzählte Hans davon. Er wurde neugierig, wollte es sehen. Ich wandte zwar ein, der Maler habe es sicherlich mittlerweile bei der abendlichen Pinselreinigung abgewischt, doch Hans ließ sich nicht beirren. Wir suchten also den besagten Eimer und, in der Tat, die Zeichnung auf dem Pinsel war noch vorhanden, völlig unbeschädigt, was mich ein bißchen wunderte. Hans betrachtete sie lange.

„Ein hübsches Mäuschen“, bemerkte er schließlich heiter, „wir sollten es zum Leben erwecken.“

„Ja“, witzelte ich zurück, „vielleicht können wir ihr eine Seele einhauchen.“

„Versuch es“, riet er mir.

Ich nahm den Pinsel in die Hand und blies das Bild vorsichtig an. Nichts rührte sich. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Hans schüttelte den Kopf.

„Nein, so geht das nicht. Gib ihn mir und laß es mich einmal probieren.“

Er griff in die Hosentasche und holte ein Stück Eierschale hervor.

„Na ja, ich war heute Morgen beim Frühstück noch nicht ganz wach, da habe ich es mir eben aus Versehen eingesteckt“, erklärte er, meinen erstaunten Blick kommentierend.

Er strich mit der Kante dreimal über eine gewisse Körperstelle. Zu meinem Entsetzen begann das Bild zu wachsen und Augenblicke später stand eine hübsche, zierliche Frau mit lockigem, schwarzem Haar vor uns. Ich schaute sie mit großen Augen an.

„He Fritz, was ist mit dir los? Geht es dir nicht gut? Du starrst mich ja an als wäre ich ein Geist!“ sagte sie mit freundlicher Stimme.

Sie lächelte mir sanft zu, Hans grinste. Nach einer Weile fuhr sie fort:

„Tut mir leid, daß ich heute Abend nicht mit euch essen konnte, aber die Besprechung hat sehr lange gedauert. Morgen klappt es bestimmt. Ich bin auch sehr müde und gehe jetzt gleich schlafen. Gute Nacht.“

Sie ging weiter.

„Das ist eine gute Idee“, meinte Hans und verabschiedete sich ebenfalls.

Ich blieb zurück, halb betäubt. Nein, das konnte doch nicht wahr sein. Ich mußte geträumt haben. Ich blickte zum Eimer hin. Der Pinsel fehlte jedenfalls. Vielleicht hatte Hans ihn auch in Gedanken mitgenommen, sicherlich würde er ihn gleich zurückbringen. Ich wartete noch eine Weile, doch er kam nicht. Offenbar hatte er keine Lust mehr und würde ihn morgen früh zurücklegen.

Schließlich ging ich in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Es fiel mir schwer, klare Gedanken zu fassen, schon wegen der Wirkung des Alkohols. Ich merkte, daß ich leicht zitterte. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und mir die Ereignisse der letzten halben Stunde ins Gedächtnis zurückzurufen. Nein, ich hatte mit Sicherheit nicht geträumt. Die Frau war wirklich da gewesen. Aber warum redete sie mich an als sei ich ein alter Freund und woher wußte sie meinen Namen? Vielleicht, mutmaßte ich, war sie eine Bekannte oder Kollegin von Hans und der hatte ihr von mir erzählt. Ich kannte ihn ja erst einen Tag, wußte kaum etwas über ihn. Möglicherweise hatte sie mich gestern Abend mit ihm zusammen gesehen, war aber aus irgendwelchen Gründen nicht an unseren Tisch herangetreten. Ich hatte sie zweifelsohne nicht bemerkt, war ja auch etwas betrunken gewesen. Und vorhin? Ich hatte mich offenbar so intensiv mit der Pinselzeichnung beschäftigt, daß ich ihr Erscheinen nicht wahrnahm. Je länger ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien mir diese Deutung im Vergleich zur Annahme eines lebendig gewordenen Bildes. Letzte Zweifel konnten zwar nicht ausgeräumt werden, aber langsam beruhigte ich mich wieder und schlief bald ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte fiel mir sogleich der Pinsel ein. Ich schaute nach. Er steckte friedlich in seinem Eimer. Aha, Hans hatte ihn doch noch zurückgebracht. Im Speisesaal hielt ich nach der Frau Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Auch Hans erschien nicht. Vielleicht hatten sie bereits gefrühstückt. Im Laufe des Tages erfaßte mich allerdings eine sonderbare Unruhe. Obwohl die Geschichte erklärbar schien, nagten immer stärkere Zweifel an meiner Seele. Irgend etwas stimmte hier nicht.

Bevor ich daher am Abend das Restaurant aufsuchte, schaute ich noch einmal nach dem Pinsel. Er fehlte. Hans erwartete mich bereits. Die Frau saß mit ihm zusammen am Tisch. Ich gesellte mich zu ihnen und betrachtete die Frau eingehend; sie hieß tatsächlich Evelyn. Sie hatte wunderbare, dunkle, träumerische Augen, war ausgesprochen schön und attraktiv, wirkte zudem noch sehr jugendlich, auch wenn sich bereits die ersten Spuren des Alterns an ihr bemerkbar machten. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Später, viel später, warf ich mir manchmal vor, es unterlassen zu haben, beide direkt auf die Geschehnisse am Abend zuvor anzusprechen. Der Verlauf der Unterhaltung bot mir jedoch keine Gelegenheit, entsprechende Fragen einfließen zu lassen und direkt ‚mit der Tür ins Haus fallen‘ wollte ich auch nicht. Darüber hinaus gewann ich auch aus ihren Reden nach und nach den Eindruck, daß sie sich, entgegen meiner früheren Vermutung, tatsächlich erst seit sehr kurzer Zeit kannten, also keine alten Freunde oder Kollegen sein konnten. Die Sache mit dem Pinselbild anzusprechen wagte ich auch nicht, ich hatte Angst mich zu blamieren. Evelyn erwies sich immer mehr als äußerst angenehme Gesellschaft. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, sie gehörte keineswegs zu den Frauen, die einen schellen Flirt oder gar ein weitergehendes Abenteuer suchen, im Gegenteil, sie blieb in dieser Beziehung sehr zurückhaltend. Ihre offene Freundlichkeit sowie ihr Witz bei unseren Unterhaltungen ließen auch bei mir, obwohl ich eine zunehmende Sympathie für sie empfand, keine diesbezüglichen Gedanken aufkommen. Derartige Annäherungsversuche, dessen bin ich sicher, hätten, zumindest in diesem frühen Stadium, letztlich nur ein Zerbrechen der sich anbahnenden kameradschaftlichen Beziehung bedeutet. Ein Rätsel blieb sie mir trotzdem, sie verwirrte mich. Ihre Art zu lachen, zu sprechen, ihr Charme ließen mich immer wieder bezweifeln, daß sie möglicherweise nur eine lebendig gewordene Strichzeichnung war. Ich wollte ihr Geheimnis unbedingt ergründen. Eine günstige Gelegenheit für einen ersten Schritt ergab sich meiner Ansicht nach als wir aufbrachen. War sie wirklich ein echter Mensch, so mußte sie zwangsläufig hier im Hotel ein Zimmer haben, sagte ich mir, und das würde leicht herauszufinden sein, ich brauchte sie nur zu begleiten. Gegen elf Uhr löste sich die Runde auf, wir gingen nach oben, ich an ihrer Seite. Hans blieb zwei bis drei Schritte zurück.

„Fritz, gib mir bitte Feuer!“ erschallte es plötzlich hinter mir. Ich drehte mich um, Hans hielt eine Zigarette in der Hand. Ich blieb stehen, kramte mein Feuerzeug aus der Hosentasche hervor und zündete die Zigarette an. Dieser Vorgang dauerte nur einige Augenblicke. Als ich mich jedoch wieder Evelyn zuwandte, war sie bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Ich eile ihr nach, konnte sie aber nirgends mehr entdecken. Ich überlegte: sie konnte in eines der Zimmer hineingegangen sein, die Treppe nach oben gelaufen oder mittlerweile auch den Fahrstuhl benutzt haben. Es erschien aussichtslos, sie noch einmal anzutreffen, außerdem wäre es auch lächerlich gewesen, jetzt noch im Hotel herumzurennen um nach ihr zu suchen. Ich verabschiedete mich von Hans, suchte aber nicht gleich mein Zimmer auf, sondern schaute erst einmal nach dem Eimer und entdeckte darin den Pinsel. Später, bereits im Bett liegend, überdachte ich den Vorgang noch einmal und wurde die Vermutung nicht los, Hans habe mich vorhin mit der Zigarette absichtlich abgelenkt.

Am nächsten Nachmittag, es war Freitag und die Maler hatten ihre Arbeit schon früher beendet, ruhte der Pinsel friedlich an seinem Platz.

„Evelyn ist übers Wochenende nach Hause gefahren um nach ihrer Tochter zu sehen. Hat sie mir gesagt“, erklärte mir Hans beim Abendessen, obwohl ich ihn noch gar nicht nach ihr gefragt hatte.

„Evelyn hat eine Tochter?“ ich blickte ihn lange fragend an. Hans grinste.

„Aber sie ist doch nur eine Zeichnung!“ platzte es schließlich aus mir heraus.

„Vielleicht ist ihre Tochter auch nur eine Zeichnung. Alles ist möglich“, erwiderte er spöttisch.

„Zeichnung besucht Zeichnung“, entgegnete ich ärgerlich, „du willst mich wohl auf den Arm nehmen.“

Doch Hans grinste nur. Ich bohrte weiter, erhielt aber nur ironische Antworten. Was trieb der Kerl nur für ein Spiel mit mir? Ich hatte gute Lust zu gehen.

„Ach, nimm doch alles nicht so ernst, mach dir lieber Gedanken um deine Arbeit oder trinke einen“, meinte er schließlich lachend, „ich weiß doch auch nicht mehr als du.“

Ich glaubte ihm nicht und argwöhnte, daß der letzte Satz nur eine Ausrede war, um mich abzulenken. Er ließ sich aber auf keine weiteren Diskussionen in dieser Sache ein.

Am Samstag Morgen hatte ich noch einige Angelegenheiten zu erledigen, dann genoß ich das Wochenende. Hans sah ich nur wenig, er gab vor, sehr beschäftigt zu sein. Ich glaube aber, auch dies war nur eine Ausrede; vielmehr wollte er während Evelyns Abwesenheit nicht alleine mit mir zusammen sein, um unangenehmen Fragen aus dem Wege zu gehen, die ich in ihrer Gegenwart, schon aus Rücksicht ihr gegenüber, wohl kaum stellen würde. Da war nichts zu machen. Sollte ich jetzt mißmutig sein? Nein, bei herrlich warmem Wetter schaute ich mir die Stadt gründlicher an. Ab und zu sah ich nach dem Pinsel, der stets friedlich in seinem Eimer ruhte. Ich markierte sogar seine Position, mußte aber feststellen, daß er sich nicht von seinem Fleck rührte – bis Montag Morgen.

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, daß ich sogar einmal den Trick mit der Eierschale probierte – er funktionierte nicht.

Beim Frühstück traf ich Hans. Er teilte mir mit, daß er die nächsten beiden Tage äußerst beschäftigt sei und auch abends keine Zeit hätte. Das war mir im Grunde nicht unlieb, denn so konnte ich alleine mit Evelyn sein und vielleicht eher hinter ihr Geheimnis kommen – falls sie wieder auftauchte.

Und in der Tat, sie erschien. Ich lud sie ins Kino ein. Süß sah sie aus, wie sie zurückgelehnt, eher im Sessel liegend als sitzend, den Film auf sich einwirken ließ – ja, so muß man es wohl ausdrücken. Ich glaube, ich schaute länger zu ihr hin als auf die Leinwand. Es machte mir Spaß, ihr Minenspiel zu beobachten, wenn sie an lustigen Stellen lächelte, bei gefährlichen Szenen ängstlich blickte, sich erschrocken die Ohren zuhielt, wenn es beim Szenenwechsel urplötzlich laut wurde. Einmal, die Flüchtlinge, sie waren schon halb verhungert, fanden in der schneebedeckten tibetanischen Steppe ein totes Pferd und zerteilten es, hielt sie sich entsetzt beide Hände schützend vor die Augen, als ein blutiges Stück Fleisch in Großformat gezeigt wurde. Nein, ich konnte mir bei einer Zeichnung auf einem Malerpinsel keine solche Gefühlsbewegungen vorstellen! Sie mußte eine echte Frau sein!

Am Dienstag Abend unternahmen wir einen Stadtbummel und kehrten anschließend in ein kleines, gemütliches Lokal ein. Ich begann, über mich zu erzählen, einige Jugenderinnerungen im wesentlichen. Natürlich geschah dies in der Absicht, im Gegenzug näheres über sie zu erfahren. Auch sie berichtete manches, ich erfuhr unter anderem, daß sie seit Jahren verwitwet war, eine achtzehnjährige Tochter hatte, eine kleine Kosmetikfirma vertrat, deren Namen sie allerdings ebenso wenig verriet wie ihren eigenen Nachnamen, und in einer kleinen Stadt in Süddeutschland lebte. Wie diese hieß erfuhr ich natürlich auch nicht. Diese Angaben – Sie werden es sicherlich bereits vermuten – waren so unpräzise, daß sie für spätere Nachforschungen unbrauchbar waren. Sie verstand es aber so geschickt und liebenswürdig nähere Auskünfte zu vermeiden, daß es fast als Beleidigung erschienen wäre, weiterführende Fragen zu stellen. Deshalb unterließ ich es auch zu meinem tiefsten Bedauern, denn ich hatte sie mittlerweile so lieb gewonnen, daß ich auch nach meiner Abreise aus K. gerne mit ihr in Verbindung geblieben wäre.

Bei aller Mühe gelang es mir ebenfalls nicht, ihre Zimmernummer zu erfahren. Geschickt lenkte sie mich bei unserer Rückkehr jedes Mal im geeigneten Augenblick ab, so daß sie unbemerkt verschwinden konnte.

Ebenso wenig Erfolg hatten meine Anstrengungen – und dies wäre in meinen Augen der entscheidende Beweis gewesen - sie und den Pinsel gleichzeitig zu sehen. Zwar versuchte ich mehrmals, sie ‚zufällig‘ an dem besagten Eimer vorbeizuführen, jedoch, die Falle ahnend, gelang es ihr mit List und Charme, mich stets rechtzeitig auf einen anderen Weg zu lotsen. Dies allerdings verstärkte mein Mißtrauen und ich lag an jenen beiden Abenden noch lange wach und überlegte, wie ich dennoch zum Ziel gelangen könne. Die Malerarbeiten im Hotel näherten sich ihrem Ende. Bei meiner Rückkehr am späten Mittwoch Nachmittag bemerkte ich, daß die Handwerker ihre Utensilien bereits zusammengepackt und auf einen Pritschenlieferwagen geladen hatten, der gerade wegfuhr als ich ankam. Zum Glück erschien im selben Moment auch Hans.

„Du hast doch ein Auto! Schnell, wir müssen dem Lieferwagen hinterher!“

„Warum?“

„Frag nicht, hol das Auto! Schnell!“ Hans gehorchte. Sekunden später brausten wir davon. Der Lieferwagen fuhr gemächlich dahin, so daß wir ihm ohne Schwierigkeiten folgen konnten. Unterwegs erklärte ich aufgeregt Hans die Umstände.

„Wir müssen unbedingt den Pinsel bekommen!“ ermahnte ich ihn. Beim Passieren eines Schlaglochs neben einer Straßenbaustelle kippte der Eimer um, rollte zurück und stürzte schließlich, da die hintere Ladeklappe des Lieferwagens nicht geschlossen war, auf die Straße. Der Pinsel, nebst dem anderen Inhalt, kullerte heraus und verschwand in einer Vertiefung.

„Stopp!“ brüllte ich, sprang aus dem Auto sobald es anhielt und rannte in die Baustelle. Der Pinsel war, wie ich rasch erkannte, in einen Kanalschacht gefallen und lag nun zur Hälfte in der Abwasserbrühe. Ohne zu zögern kletterte ich hinab – zu spät. Die Strömung hatte den Pinsel mittlerweile losgerissen und in die Kanalröhre geschwemmt. Enttäuscht stieg ich wieder nach oben.

„Was machen Sie denn hier?“ fauchte mich eine Stimme barsch an. Ich blickte hoch und gewahrte einen Mann in einem blauen Drillichanzug – offenbar ein Kanalarbeiter.

„Ich suche einen Malerpinsel,“ antwortete ich, während ich aus dem Schacht herauskroch.

„So?“ entgegnete der Mann.

„Es war ein ganz besonderer Pinsel“, sagte ich verlegen.

Der Kanalarbeiter blickte Hans, der zwar etwas abseits stand, aber dennoch erkennbar dazugehörte, und mich abwechselnd mißtrauisch an: zwei Männer mittleren Alters, in Anzug, mit Krawatte, die in einem Kanalschacht einen Malerpinsel suchen – das mußte ihm schon merkwürdig vorkommen. Ich schwieg betreten, Hans dagegen erwiderte geistesgegenwärtig:

„Sehen Sie, die Sache ist so: unser ältester Bruder hat ein Malergeschäft. Er wird morgen fünfzig und wir wollen ihm zum Geburtstag einen vergoldeten Malerpinsel mit aufgedruckten Glückwunsch schenken. Unglücklicherweise ist meinem kleinen Bruder“, er zeigte dabei auf mich, „ausgerechnet hier der Pinsel entglitten und in diesen Schacht gestürzt. Jetzt ist er weg. Abgesehen vom finanziellen Schaden, er war schließlich nicht billig, bekommen wir heute Abend wohl kaum noch Ersatz und morgen ist der Geburtstag. Verstehen Sie das Problem?“

Der Kanalarbeiter nickte: „Wenn das so ist, dann kommen Sie mit. Ich kenne mich hier aus. Vielleicht erwischen wir ihn noch am übernächsten Kontrollschacht.“

Rasch bestiegen wir seinen dreirädrigen Motorkarren – ich mußte auf der Ladefläche Platz nehmen – und fuhren los. Nach einigen hundert Metern hielten wir an. Noch während der Kanalarbeiter die Straße absperrte, sprang ich vom Karren herunter und öffnete mit den beiden Haken, die ich auf der Ladefläche gefunden hatte, den Schachtdeckel. Gerade eben schwamm eine kleine Plastikpuppe vorüber. Rasch stieg ich in den Schacht.

„Der Pinsel! Zu spät!“ schrie Hans, kaum daß ich halb unten war. Mit einem Satz sprang ich aus dem Schacht heraus und legte geschwind den Deckel wieder auf.

„Schnell! Aufgesessen!“ kommandierte der Kanalarbeiter, „vielleicht erwischen wir ihn noch an der Einmündung in den Hauptkanal. Das ist die letzte Chance.“

Der Schacht an der Einmündung erwies als geräumiger. Ich kletterte hinunter.

„Paß auf, die Puppe! Gleich muß der Pinsel kommen!“ rief mir Hans zu.

Gebannt starrte ich auf die seitliche Röhre. Endlich erschien ein schwarzer Wuschelkopf, dem ein zierlicher Frauenkörper folgte – Evelyn. Sie war völlig durchnäßt und furchtbar schmutzig. Sie zitterte am ganzen Leib. Ich half ihr sich aufzurichten und drückte sie fest an mich. Dann brachte ich sie nach oben. Der Kanalarbeiter starrte uns entsetzt an.

„Wie kommt die denn dahin?“ stammelte er.

Hans grinste: „Danke für die Hilfe.“

Wir liefen davon.

„Ja, aber der Pinsel!“ rief uns der Mann noch nach.

„Vergessen Sie den Pinsel!“ lachte Hans zurück.

Wir erreichten das Auto und hüllten Evelyn in eine Decke, die sich im Kofferraum fand. So brachten wir sie ins Hotel zurück.

„Kümmere dich um sie, während ich neue Kleider kaufe“, ordnete Hans an.

Ich nahm Evelyn mit auf mein Zimmer. Sie hatte sich inzwischen schon wieder einigermaßen beruhigt.

„Dusche erst einmal. Und hier sind einige Sachen von mir. Zieh sie an bis Hans dir neue bringt.“

Evelyn verschwand im Bad. Ich setzte mich derweil auf den Fußboden. Erst jetzt merkte ich, daß meine Kleider ebenfalls durchnäßt waren und fürchterlich stanken; außerdem fühlte ich mich ziemlich müde. Ich zündete eine Zigarette an und blies den Rauch genüßlich in Richtung Zimmerdecke.

„Das war knapp!“ murmelte ich ein paarmal vor mich hin. Mehr konnte ich vorläufig nicht denken oder sagen.

Als Evelyn fertig war, duschte ich. Hinterher setzten wir uns aufs Sofa und warteten auf Hans. Ich fühlte mich jetzt wieder frischer, konnte klarer denken. Jetzt war die Gelegenheit günstig, hinter ihr

Geheimnis zu kommen.

„Sag mal, wie bist du eigentlich in dieses Kanalrohr gekommen?“ fragte ich sie vorsichtig.

Sie überlegte eine Weile.

„Das war so“, sagte sie endlich., „ich lief über die Straße. Plötzlich tauchte ein Auto auf. Ich sprang erschrocken zur Seite und stürzte in einen Schacht. Ich muß wohl in Panik gewesen sein oder unter Schock gestanden haben, jedenfalls glaubte ich, daß mich das Auto noch immer verfolgt; deshalb kroch ich in die Röhre. Ich weiß nicht, wie lange ich da entlang gekrochen bin. Irgendwann kam ich wieder zu mir und erkannte meine Lage: in einer engen Röhre, halb in stinkendem Wasser; ich fror, bekam kaum Luft und es war völlig dunkel. Ich hatte furchtbare Angst zu sterben. Umdrehen konnte ich mich nicht, also bin ich weitergekrochen, in der schwachen Hoffnung, irgendwann wieder ans Tageslicht zu kommen. Dann bemerkte ich weit vor mir einen hellen Schimmer. So schnell ich konnte kroch ich weiter – ja, und dann warst du da. Was hast du eigentlich da unten gesucht?“

Ich war noch genauso schlau wie vorher, aber diese Frage bot mir eine letzte Chance, ihr auf die Sprünge zu helfen.

„Ich suchte einen Pinsel, er war uns an der Baustelle in den Schacht gefallen.“

Evelyn lachte laut: „Einen Pinsel? Und deswegen macht ihr so einen Aufstand!“

Ich schwieg. Bald darauf kehrte Hans zurück. Nachdem Evelyn sich umgezogen hatte schlug er vor:

„Auf diesen Schreck hin müssen wir gehörig feiern. Außerdem, dies ist mein letzter Abend hier. Ich reise morgen in aller Frühe ab. Ich werde um zehn Uhr in unserer Zentrale in München erwartet.“

Es wurde ein lustiger Abend. Wir tranken viel. Irgendwann verabschiedete sich Hans:

„Ich muß noch ein paar Stunden schlafen.“

Evelyn war mittlerweile ziemlich betrunken.

„Du kannst in meinem Bett schlafen, ich übernachte auf dem Sofa“, sagte ich nicht ohne Hintergedanken. Evelyn willigte ein. Wenn meine Vermutung stimmte, müßte morgen früh zwangsläufig der Pinsel in meinem Bett liegen.

Ich erwachte früh, schaute sofort nach. Evelyn war nicht mehr da. Ich befühlte das Bettzeug, es war bereits kalt. Vorsichtig hob ich die Decke hoch, in der Erwartung den Pinsel zu finden. Doch das Bett war leer. Ich räumte es aus: keine Spur von dem Pinsel. Verwirrt saß ich eine Weile da, starrte auf das Bett und überlegte.

Auch auf die Gefahr hin Sie zu langweilen, muß ich meine folgenden Unternehmungen etwas ausführlicher schildern, damit Sie sehen, daß ich wirklich nichts unversucht gelassen habe, diese doch äußerst rätselhafte Situation zu erhellen.

„Vielleicht hat sie heimlich das Zimmer verlassen oder sich vor der Umwandlung irgendwo versteckt“, dachte ich endlich und beschloß, gezielt vorzugehen. Zunächst untersuchte ich die Tür, sie war verschlossen, von innen. Der Schlüssel steckte.

„Sie könnte auch durch das Fenster geklettert sein“, fiel mir ein. Auch dies erschien auf den ersten Blick unwahrscheinlich, das Fenster war gekippt, wie gestern Abend. Sie konnte sich unmöglich durch den engen Spalt gezwängt haben. Nicht auszuschließen war jedoch, daß sie sich vor der Umwandlung so am Fenster aufgestellt hatte, daß sie hinterher als Pinsel in den Hof hinunterfallen mußte. Es war noch dunkel und daher unwahrscheinlich, daß irgend jemand mittlerweile zufällig den Pinsel gefunden und mitgenommen hatte. Es sei denn, die Sache war abgesprochen und Hans hatte ihn aufgelesen. Ich ärgerte mich nun, gestern Abend an diese Möglichkeit nicht gedacht und das Fenster nicht geschlossen zu haben. Ich mußte das sofort überprüfen, dabei aber sicherstellen, daß sie, falls sie noch nicht umgewandelt war und sich irgendwo versteckte, während meiner Abwesenheit das Zimmer heimlich verließ oder, im anderen Falle, jemand den Pinsel holte. Ich verschloß das Fenster und brachte einige Klebstreifen zwischen Flügel und Rahmen an, deren Positionen ich zudem mit einem Filzschreiber markierte. Dann band ich einen dünnen Faden um die Türklinke und befestigte das andere Ende von außen so am inneren Türrahmen, daß der Faden möglichst gespannt war und die Reißzwecke möglichst weit vom Türspalt entfernt saß. Selbstverständlich vergaß ich auch nicht, die Stelle, an der der Faden am Dorn festgeknotet war zu markieren. Dann eilte ich in den Hof, fand aber keinen Pinsel. Die Markierungen erwiesen sich alle noch als unversehrt als ich ins Zimmer zurückkehrte. Vorsichtshalber überprüfte ich noch den Türrahmen auf Einstichlöcher, denn sollte jemand die Reißzwecke entfernt und nach Verlassen des Zimmers wieder aufgesteckt haben, hätte er wohl kaum das alte Einstichloch wieder getroffen. Auch hier war das Ergebnis negativ.

Dann durchsuchte ich systematisch Zimmer und Bad, entdeckte aber hierbei lediglich, daß Evelyns schmutzige Kleider fehlten, sie selbst oder den Pinsel fand ich nicht. Ich konnte letzteren unmöglich übersehen haben, er war ja nicht gerade klein.

Ich setzte mich eine Weile hin und überlegte, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte. Dann durchwühlte ich das Zimmer erneut: vergeblich – keine Evelyn, kein Pinsel.

Etwas ratlos ging ich zum Frühstück. Hinterher faßte ich mir ein Herz, begab mich zur Empfangsdame.

„Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte sagen, in welchem Zimmer meine Bekannte wohnt? Ich kenne allerdings nur ihren Vornamen – Evelyn.“

Die Empfangsdame lächelte: „Das ist kein Problem. Unser Haus ist ja nicht so groß und Evelyn ist ja auch kein allzu häufiger Name. Einen Moment, das haben wir gleich.“

Sie schaute in ihrer Liste nach.

„Aha, hier ist es: Evelyn Rothwohl, Zimmer 217; übrigens, die einzige Evelyn, die wir in den letzten Wochen hier hatten.“

Ich bedankte mich. Leicht nervös lief ich die Treppe hoch und klopfte an. Die Tür wurde geöffnet und ich erblickte eine große, kräftige, blonde Dame, etwa fünfzig Jahre alt.

„Sind Sie Frau Evelyn Rothwohl?“ fragte ich vorsichtig.

„Ja, was wollen Sie von mir?“

„Ach, nichts“, entgegnete ich unsicher, „ich suche lediglich eine Bekannte. Ich habe mich wohl in der Türe geirrt.“

Sie lächelte über meine Ausrede, schüttelte dabei leicht den Kopf.

„Das kann passieren“, meinte sie zweideutig, „Sie haben gestern Abend auch ziemlich gefeiert.“

Woher wußte sie das?

„Waren wir zu laut?“ fragte ich erstaunt.

„Ach nein, es war auszuhalten.“

Es war mittlerweile schon gegen neun Uhr, ich mußte jetzt dringend meine Termine wahrnehmen und hatte wirklich keine Zeit mehr, mir in dieser Sache Gedanken zu machen. Es kostete mich allerdings schon einige Mühe, meine Aufgaben ordentlich zu erledigen, zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher. Eigentlich wollte ich nach Erledigung der restlichen geschäftlichen Angelegenheiten am Nachmittag zurück nach Hause fahren, aber nun beschloß ich, doch noch einen Tag zu bleiben. Evelyn war stets erst nach Feierabend erschienen, vielleicht würde sie auch heute wiederkommen. Andererseits richtete sich mein Verdacht immer mehr auf Hans. Vermutlich handelte es sich um ein abgekartetes Spiel der beiden. Vielleicht war Evelyn auch nur sein Geschöpf. Sie hatte sich sicherlich nach der Umwandlung aus dem Fenster fallen lassen und Hans hatte den Pinsel aufgehoben und mitgenommen. Zwei Begebenheiten fielen mir ein, denen ich gestern keine Beachtung geschenkt hatte.

Da war einmal die Tatsache, daß Evelyn bei mir geduscht hatte. Warum hatte sie nicht ihr eigenes Badezimmer benutzt? Nach einigen Überlegungen erschien dieser Umstand allerdings erklärbar; möglicherweise hatte sie noch unter Schock gestanden und sich einfach von mir führen lassen. Und ich hatte sie auf mein Zimmer gebracht, war gar nicht auf die Idee gekommen, sie nach ihrer Zimmernummer zu fragen.

Schwerer wog allerdings der Umstand, daß Hans sofort neue Kleider besorgt hatte. Wenn Evelyn längere Zeit in dem Hotel gewohnt hätte, was noch immer meinen Überlegungen zugrunde lag, obwohl es eigentlich den Aussagen der Empfangsdame widersprach, und ich kannte Evelyn mittlerweile eine gute Woche, mußte sie ja auch Reservekleidung dabei haben. Es hätte genügt, Ersatzwäsche aus ihrem Zimmer zu besorgen; jedenfalls bestand kein Grund, neue Sachen zu kaufen. Aber Hans wußte, daß sie neue Kleider brauchte, denn, soweit ich mich erinnerte, hatte Evelyn ihn nicht einmal um diesen Dienst gebeten.

Ich hoffe, Sie sind durch all diese Widersprüchlichkeiten, die Sie gerade lesen mußten, nicht so verwirrt wie ich es an jenem frühen Nachmittag war.

Meine einzige Schlußfolgerung lautete: Hans muß mir das erklären! Glücklicherweise hatte er mir seine Telefonnummer hinterlassen. Ich rief ihn an. Eine Dame meldete sich.

„Ich möchte gerne Herrn Hans Diemer sprechen“, äußerte ich freundlich meinen Wunsch.

„Einen Hans Diemer gibt es in unserer Firma nicht“, antwortete sie.

Ich war überrascht, ließ mir die Nummer bestätigen. Sie stimmte.

„Aber ich war doch die letzten Tage mit ihm in K. zusammen“, wandte ich ein.

„Das ist sowieso nicht möglich“, erwiderte die Dame, „seit über zwei Monaten war keiner unserer Mitarbeiter mehr in K.“

Ich entschuldigte mich und legte auf. Auch das noch, Hans hatte mich angelogen. Aber irgendwie paßte alles zusammen. Ich fragte auch noch einmal bei der Hotelrezeption nach. Auch hier hatte er die betreffende Firma und die gleiche Telefonnummer angegeben. Das überraschte mich nun nicht mehr.

Ungeduldig fieberte ich dem Abend entgegen. Ich weiß, es war verrückt, aber ich hoffte dennoch, daß Evelyn wieder auftauchen würde. Aber sie erschien nicht. Obwohl es im Grunde genommen sinnlos war, durchstreifte ich mehrmals das Hotel und die nächste Umgebung.

Keine Spur. Weder von Evelyn noch von dem Pinsel.

Ich überlegte, was ich noch tun könnte. Mir fiel aber nichts ein. Ich entschied daher, daß es wohl das beste sei, die Sache auf sich zu beruhen lassen, zumal ich durch die beiden auch keinen eigentlichen Schaden erlitten hatte, zumindest keinen materiellen.

Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Früh am nächsten Morgen begab ich mich zum Bahnhof und nahm den erstbesten Zug zurück in meine Heimatstadt.

Unterwegs dachte ich noch lange über Evelyn, Hans und die Ereignisse der letzten Tage nach.

Welchen Sinn hatte das Spiel, das da mit mir getrieben wurde?

Komödie oder Lehrstück?

Wer waren die beiden eigentlich?

Einfache Schwindler? Gaukler? Magier? Gott?

Oder vielleicht lediglich das Abbild meiner eigenen Seele?

Ich werde es wohl nie erfahren!

Erinnerungen an Carola

Das Leben ist nur ein Folge unerfüllter Sehnsüchte.

Das Todeslied

Der 15. Januar 2017 schien ein ganz normaler Sonntag zu werden. Als ich morgens erwachte rechnete ich nicht damit, daß sich am späten Nachmittag etwas ereignen könnte, das meinen Seelenfrieden nachhaltig störte und letztlich auch mein Leben veränderte. Es war ein sonniger, aber kalter Wintermorgen. Ich hatte mir vorgenommen, in der Gegend um den Otzberg eine kleine Wanderung zu unternehmen und fuhr daher kurz nach elf nach Lengfeld, stellte dort mein Auto ab, marschierte los. Details bezüglich der Tour erspare ich mir, da sie für den weiteren Verlauf der Ereignisse keine Rolle spielen. Kurz nach fünf Uhr kehrte ich dann zurück und trat die Heimfahrt an. Unterwegs hörte ich Musik. Das war nichts ungewöhnliches. Ich höre mir beim Autofahren so der Reihe nach meine CDs an. Diesmal war es eine 'Oldie-CD', die ich vor mehr als zehn Jahren gekauft hatte. Irgendwann erklang das Lied 'Seasons in the sun' von Terry Jacks, welches im Frühjahr 1974 ein 'Riesenhit' war. Es ist das Lied eines Sterbenden, der sich von der Welt verabschiedet, von seinem Freund, seinem Vater, seiner Freundin, das Todeslied. Ich habe es im Laufe der letzten Jahre öfters gehört und mir war dabei auch stets jene lang zurückliegende Begegnung eingefallen, aber es hatte bisher nie eine so intensive und nachhaltige Wirkung auf mich ausgeübt wie an diesem Spätnachmittag. Ich sah immer klarer jene hübsche und schlanke junge Frau mit den dunkelroten Haaren vor mir, die an der Musikbox stand und inbrünstig diesem Lied lauschte. Und dabei war an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, daß das Lied ihr eigenes Lebensgefühl widerspiegelte. Diese Erinnerung beunruhigte mich, schränkte meine Konzentrationsfähigkeit ein und so war ich froh, als ich endlich wohlbehalten zuhause ankam. Ich kochte mir einen Espresso, schnitt ein Stück von dem noch vorhandenen Christstollen ab, setzte mich dann in meinem Wohn – Arbeitszimmer aufs Sofa und begann nachzudenken.

Die älteste Erinnerung an die Frau datiert in das Frühjahr 1969.

Es war im April oder Mai. Damals existierte auf dem Gelände eines Hotels in Großwelzheim ein Pavillon, im dem eine Spielhalle eingerichtet war, die wir als Jugendliche als 'Spielhölle' bezeichneten. Sie bestand etwa zwei Jahre, von 1968 bis 1970, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht. Der Pavillon wurde dann später jahrelang als Ausstellungsraum für italienische Keramik genutzt. Details kann ich aber nicht angeben, da mich das nicht interessiert hat. Der Pavillon steht heute noch. In ihm wird derzeit irgendwelche Trödlerware aufbewahrt soweit ich das erkennen kann.

Ich besuchte in dieser Zeit die Spielhalle recht häufig, meistens zusammen mit einem Freund, meistens abends, manchmal auch am Sonntag Nachmittag. Ich erinnere mich noch an einen Flipperautomaten, ein Tischfußballspiel, einen Billardtisch und eine Musikbox. An jenem Abend hielten sich zwei Mädchen im Pavillon auf als wir ankamen. Ich schätzte sie damals so auf dreizehn bis vierzehn Jahre. Sie alberten herum. Eine von ihnen, diejenige, die mich mehr beeindruckte, war hübsch, schlank, hatte braune, lange Haare. Ich hatte aber kein großes Interesse sie kennenzulernen, denn wir wollten Tischfußball spielen. Sie alberten auch ausgelassen herum, was wir als kindisch empfanden und wir hielten sie daher auch für dumme Gänse, als Freundin sowieso zu jung. Die beiden waren aber ausgelassen und hörten sich ständig das Lied 'Dizzy' von Tommy Roe an, das damals in den Hitparaden ganz oben stand. Es war ein seichter Song. Meine Lieblingslieder in dieser Zeit waren 'Man of the World' von Fleetwood Mac, 'Afterglow of your Love' von den Small Faces und 'Pinball Wizard' von The Who. Ich erwähne das jetzt nur um den Unterschied hervorzuheben. Santana, Jethro Tull, Led Zeppelin waren damals in der deutschen Provinz noch unbekannt. Daß ihnen so etwas gefiel, sprach auch gegen die beiden Mädchen.

Die nächste Begegnung datiert in das Ende meiner Militärzeit oder zu Beginn meines Studiums, also in den Herbst 1972, Oktober oder November; das genaue Datum ist mir nicht in Erinnerung. Den Ort weiß ich noch; es war in unserer lokalen Diskothek. Es war wohl sonntags am Abend, da ich an anderen Tagen nie dort hinging. Beim ersten Mal war sie auch alleine. Sie saß zusammen mit einem alten Freund und dessen Freundin an einem Tisch. Sie war mittlerweile etwa siebzehn Jahre alt und noch hübscher geworden. Sie war schlank, hatte noch immer braunes, langes Haar und dunkle Augen. Sie gefiel mir. Ich erfuhr nun, daß sie aus einem Nachbarort, aus Kahl stammte, erfuhr auch ihren Namen, ich weiß ihn aber nicht mehr. Wir tanzten zwar einmal miteinander, aber näheren Kontakt zu ihr fand ich nicht. Sie hatte auch einen Freund, er hieß Christian, wie ich später erfuhr. Ich sah sie in den folgenden Wochen noch einige Male, verlor sie dann aus den Augen.

Im März 1974 sah ich sie dann wieder. Ich war damals schon mit meiner späteren Frau befreundet und wir waren an einem Sonntag Nachmittag nach einem Spaziergang oder einer Ausflugsfahrt in eine Gaststätte in Dettingen eingekehrt. Sie hieß 'Mainlust', glaube ich. Das Gebäude und auch die Tankstelle daneben existieren heute nicht mehr. Die Werkstatthalle steht noch, wird auch genutzt. Auf dem Gelände befindet sich eine Firma, welche Autos aufbereitet oder repariert. So genau weiß ich das nicht. Auf der gegenüberliegenden Seite der B8 liegt ein Lebensmittelmarkt.

Die junge Frau war auch anwesend, soweit ich mich erinnere aber nicht allein, mit einer Freundin zusammen. Sie wirkte völlig verändert; sie hatte ihre Haare dunkelrot gefärbt, erschien nun viel älter, sah auch etwas 'verbraucht' aus. Mir kam es vor, als nehme sie Drogen; sie schien aber zu dem Zeitpunkt nicht unter Drogeneinfluß zu stehen; sie wirkte traurig, deprimiert, melancholisch. Die meiste Zeit hielt sie sich in der Nähe der Musikbox auf, wählte ständig das Lied 'Seasons in the Sun', das sie sich intensiv anhörte, so, als würde das Lied ihr Leben, ihre gegenwärtige Lebenssituation widerspiegeln. Das berührte mich etwas, da sich darin eine gewisse Todessehnsucht zeigte.

Einige Zeit später, ich weiß nicht mehr, ob es wenige Wochen oder wenige Monate waren, ich bin mir aber sicher, es war spätestens im Frühsommer, also noch vor Juli, erfuhr ich dann, daß sie Selbstmord begangen hatte.

Das schockierte mich damals etwas, da sie mir sympathisch war, ich sie 'mochte'. Aber es gab natürlich keine Beziehung zwischen uns, und somit, mittlerweile war ich ja anderweilig liiert, war ich nicht im Spiel, hatte keine Möglichkeit gehabt einzugreifen.

Aber es ist doch so: viele Menschen brauchen eine Stütze, einen Halt wenn sie in Not sind. Haben sie das nicht, dann fallen sie in die Tiefe.

Das erinnerte mich an eine Begebenheit im Spätsommer letzten Jahres. Ich unternahm sonntags eine Fahrradtour, machte dann in Obernburg in einer Eisdiele Rast. Etwa zur gleichen Zeit wie ich erschien ein 'Pärchen'. Sie machten allerdings nicht den Eindruck, als würden sie wirklich zusammengehören. Der Mann war ziemlich dick, voller Tattoos, machte auf Anhieb nicht so den ganz sympathischen Eindruck. Die Frau wirkte etwas seltsam; irgendwie konnte sie nicht richtig gehen, ihre Bewegungen wirkten unkoordiniert, sie hatte Verletzungen im Gesicht und an den Armen, machte auf mich zunächst den Eindruck als sei sie betrunken oder stehe unter Drogen. Sie nahmen an einem Nebentisch Platz, unterhielten sich leise, ich konnte kaum etwas verstehen. Der Mann, den ich auf Anhieb eher als grob und ungehobelt eingeschätzt hatte, verhielt sich gegenüber der Frau sehr fürsorglich. Nach und nach gewann ich den Eindruck, daß sie weder betrunken war noch Drogen genommen hatte, sondern unter Schock stand. Die Verletzungen im Gesicht und an den Armen rührten wohl daher, daß sie offensichtlich von ihrem Partner, Freund oder Mann, mißhandelt worden und nun irgendwie verzweifelt war. Und ihr Begleiter, ich weiß nicht, ob es ein Freund oder auch ihr Bruder war, tröstete sie und versuchte sie wieder aufzubauen. Nachdem sie ihr Eis gegessen hatten, gingen sie wieder und ich weiß nicht, ob seine Bemühungen auf Dauer erfolgreich waren.

Diese Begebenheit fiel mir an diesem Abend auf der Heimfahrt im Zusammenhang mit der jungen Frau ein. Sie hatte damals vermutlich keinen Freund, der sie stützte. Und so ging ein wertvolles, junges Leben verloren.

Träume

Ich war müde geworden, erhob mich, bereitete mein Abendessen zu. Ich trank noch eine Flasche Bier, legte mich dann schlafen.

Sie schlief noch als ich erwachte. Wir lagen eng aneinander geschmiegt und ich spürte die Wärme ihres Körpers, die in mir immer ein gewisses Wohlbefinden erzeugte. Ich hätte sie gerne gestreichelt, fürchtete aber, sie dadurch aufzuwecken, unterließ es daher, betrachtete sie nur. Mehr als vierzig Jahre waren wir nun zusammen. Ich dachte nach. Es hatte sicherlich Tage gegeben, an denen unser Zusammenleben weniger harmonisch verlaufen war, aber es waren sicherlich nur sehr wenige Tage gewesen. Sie war mein Glück. Sie schlief noch, atmete ruhig. Ich betrachtete ihr Gesicht, das trotz der aufkommenden Falten noch immer hübsch war; ihr Haar war nicht mehr so lang, mittlerweile ergraut, was sie nicht akzeptierte. Sie färbte es, gelegentlich sogar dunkelrot. Das sah nicht unbedingt passend aus, es erinnerte mich aber an den Anfang unserer Liebe. Sie war ein wundervoller Mensch, den ich gegen nichts in der Welt eingetauscht hätte. Ich kannte ja auch keine Alternative. Sie war die einzige Frau, zu der ich in meinem Leben eine intensive Beziehung unterhalten hatte. Ich hatte daher auch keinen Vergleich mit anderen Frauen. Ich faßte das allerdings nicht als Nachteil auf. Wer hätte mir im Leben mehr bieten können als sie? Gibt es eine Steigerung von Glücklichsein? Irgendwann schlug sie die Augen auf.

„Du bist schon wach?“

Ich nahm sie in den Arm, küßte sie.

„Ja, schon eine Weile, aber ich wollte dich nicht stören.“

„Das war lieb von dir. Ich habe gerade so schön geträumt. Weißt du noch als wir das erste Mal zusammen im Theater waren? Es war das gleiche Stück wie gestern Abend.“

„Das war kein Zufall. Ich habe es so ausgewählt. Es ist nun ziemlich genau vierzig Jahre her, ein Jubiläum sozusagen.“

„Ich erinnere mich noch gut daran. Wir saßen hinterher noch lange in einer Kneipe zusammen, diskutierten über das Stück. Das heißt, eigentlich erzählten wir uns unsere Eindrücke. Dann fuhren wir zu mir, meine Eltern waren nicht zuhause. Wir schliefen zusammen, liebten uns. Ich glaube, es war die erste Nacht, die wir in meinem Zimmer zusammen verbrachten. Von den Urlaubsreisen einmal abgesehen.“

„Ich glaube auch, es war die erste Nacht.“

„Komisch, gestern Abend war es irgendwie ähnlich. Wir waren ja hinterher auch noch einmal in einer Gaststätte, unterhielten uns über das Stück, verglichen die gestrige Aufführung mit der vor vierzig Jahren so gut es ging. An viele Einzelheiten konnten wir uns natürlich nicht mehr erinnern. Und dann verbrachten wir die Nacht zusammen und liebten uns. Im Unterschied zu damals allerdings im eigenen Haus. Es war schön.“

„Dinge kehren immer wieder; vielleicht muß man sie auch wiederkehren lassen um die Erinnerungen aufzufrischen. Mehr als vierzig Jahre sind wir jetzt schon zusammen, und jeder Tag, an dem Mißstimmung zwischen uns herrschte, war ein verlorener Tag. Ich liebe dich eben, habe dich immer geliebt, auch wenn wir uns manchmal stritten.“

„Das kam aber nicht sehr oft vor. Ich habe dich auch immer geliebt.“