Die Geschichte von Wilhelm Andere - Tarius Toxditis - E-Book

Die Geschichte von Wilhelm Andere E-Book

Tarius Toxditis

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Beschreibung

Wilhelm Andere wird als sechzehntes und jüngstes Kind einer Bergarbeiter - Familie geboren. Kaum laufen gelernt, wird er in die Tiefen eines Stollen gesteckt. Mit einem Kind gerechten Pickel ausgestattet, hat er tagtäglich aus einem Massiv Kohlebrocken zu hauen. Zu den Strapazen setzen ihm die brutalen Peitschenhiebe des Oberschichtführers von Friedrich zu. Im Alter von fünfzehn ist Wilhelm am ständigen Röcheln und Blut spucken, die Krankensalbung ihm bereits zuteil geworden, als ihn Reimi, sein bester Kumpel, aus dem Haus zerrt. Die Beiden schleppen sich bis nach Rotterdam durch, wo sie ein freundlicher, englischer Frachtkapitän an Bord nimmt. Von Johnny, dem Steuermann erlernt Wilhelm das ABC der Navigation. Der ewig kränkelnde Bergarbeiter - Jungen wandelt sich binnen weniger Jahre zum Bären von einem Mann, dessen Statur am Ende an einen eineinhalbfachen Gewehrschrank erinnert. Die sieben Meere werden zu seinem Zuhause, auf die er eine beachtliche Karriere einschlägt; sogar das Kapitänspatent wird erworben. Nach vielen, vielen Jahren wird von einem seiner Schiffe der Anker auch mal wieder vor Hamburg ausgeworfen. Nicht lange dauert es dagegen, bis ihm mit Marie eine seiner Lieblingsdirnen nahelegt, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Wilhelm lässt sich daraufhin weder lumpen noch will er sich der Verantwortung entziehen. Kurzerhand beschließt er, die Seefahrt an den Nagel zu hängen. Bei einer Reederei in den Docks findet er einen stupiden Schreibjob. Doch bevor er ihn überhaupt antreten kann, kommt ihm sein kaiserlicher Namensvetter zuvor. indem er Soldaten aussendet; der Erste Weltkrieg hat begonnen. Schwer verwundet humpelt Wilhelm nach vier Jahren zurück nach Hamburg, wo er Marie im Sterbebett vorfindet. Nach ihrem Tod entscheidet sich der Dank einer üppigen Seemanns - Pension finanziell Unabhängige an den Ort seiner Wiege zurückzukehren. Mit Söhnchen Heinrich an der Hand hat er dort festzustellen, dass sein Elternhaus längst schon von seiner Schwester Isabella übernommen und bewohnt wird. Im Keller entdeckt er ein von ihm seit seiner Kindheit verstecktes Kästchen wieder. Er wird verzaubert. Daraufhin beschließt er, ein Bankhaus zu gründen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mutiert es sehr rasch zu einem florierenden Unternehmen, und übersteht sogar Drittes Reich und Zweiten Weltkrieg nahezu schadlos. Vom Wirtschaftswunder dann auch noch profitierend, ist der Gealterte des Lebens müßig geworden. Von einem auf den nächsten Tag taucht er unter. Zähneknirschend übernimmt der inzwischen auch nicht mehr ganz junge Heinrich die Bankgeschäfte, die ihm Zeit seines Lebens zuwider sind. Irgendwann findet man ihn zusammengesackt hinter seinem Schreibtisch. Der Führungsstab fällt nun an dessen Sohn Hansi, der wohl mit einer goldenen Nase auf die Welt geraten ist. Auf jeden Fall entwickelt unter dessen Regie das zwar erfolgsverwöhnte, aber eigentlich immer noch sehr provinzielle Bankhaus sich zu einem übermächtigen Weltkonzern der Superlative. Mit Jasmine erwartet zudem seiner Verkaufsleiterinnen ein Kind von ihm. Noch vor der Geburt wird geheiratet. Außerdem ziehen sie in ein Schloss der Superlative....

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INHALTSVERZEICHNIS

Wichtige Akteure

Kleines Vorwort von der Geisterhand

Die Geschichte von Wilhelm Andere

Die Reise nach Tinkel.

Engelein, Engelein, schwebe weiter!

Der Alte am Zaun.

Ein goldenes Herz

Die Privatlehrerin

Zwei Herren am Fluss

Lena

Fußball.

Der Alte im Flur

Nilpferdland.

Theater

Der Alte am Zaun II

BLÄTTER 497 – 500 (Hey, warum klinkst du aus)

Alle Akteure

Heute unter anderem dabei

Geisterhand  unsichtbare Erscheinung (zuständig für dasVorwort)

ßilberling Zaubermünze, Erzähler

Tissie Andere Billionärstochter

Engelin Lysiane Schweberin auf einer Wolke

Jürgen Anders Lehramtsanwärter

Emma Tisch Küchenhilfe

Wilhelm Andere Seefahrer, Bankier

Bernti Kummer Lehramtsanwärter

Hugo Bauklotz Minimonster

Tobie Muck Clauhenthaler Grundschüler

Engelin Lysiane Wetter – Azubi

Pfarrer Kühnert Stadtpfarrer

Lena Waldbewohnerin, Hexe

Jasmine Andere Schlossverwalterin, Mutter von Tissie Andere.

Heinrich Andere Bankier, Sohn von Wilhelm

Abraham Antiquitätenhändler

Charlie Bermuda Liftboy, Sänger einer Band

Franz Eule einer der vier Eulen und Uhus

Grasender Carlos Fußballspieler

Klara Meichelbeck Erzieherin, Küchenchefin

Bö Braunbär

Hansi Andere  Multi - Billionär

Quak – Quak Chauffeur

Franz Uhu einer der vier Eulen und Uhus

Kleines Vorwort von der Geisterhand

Hallo, werter Gast, da bin ich wieder. Beziehungsweise Gästin – ach, ja. Und es ist mir ein außerordentliches Vergnügen, sie hier an diesem Ort und an dieser Stelle begrüßen zu dürfen – beziehungsweise eine außerordentliche Plaisir,

Ich selbst bin die Geisterhand, bin unsichtbar und sehr gewandt – durchaus, durchaus. Normalerweise liege ich auf meiner guten, alten Lauer. Irgendwo vor oder einer Bank. Und ich werde auch gleich wieder zurückkehren – ach, was für eine Plaisir, kann ich nur sagen.

Zuvor habe ich die Ehre, Ihnen die Geschichte von Wilhelm Andere zu präsentieren – von Wilhelm und seiner entzückenden Urenkelin Tissie. Ach, wirklich eine Plaisir, natürlich, selbstverständlich, ganz klar Ach, und was aus ihnen wohl geworden ist? Nach all den Jahren?

Die Geschichte entstammt ist Teil des Werks „Hugo Bauklotz – Ein Zaun“. Damals nach ihrer Entdeckung ist sie dem ßilberling zu teil geworden. Will damit gesagt worden sein, er wurde mit ihrer Schilderung beauftragt. Und eine kleine Zaubermünze er ist, der kleine ßilberling, Ach, was nur aus Ihnen geworden ist. Manches liegt aber wirklich verdammt lange zurück.

Ach, ja, genau - und im nun Vorliegenden haben wir die originale Erzählung aus dem Hauptwerk übernommen. So wie sie der vom ßilberling wiedergegeben hatte – ach, wie lange manches doch wirklich zurückliegt.

So, das, war´s dann aber auch schon wieder von mir. Zurückziehen werde ich mich nun. Auf meine gute alte Lauer. Nicht ohne Ihnen nun viel Vergnügen zu wünschen mit Wilhelm, mit Tissie und mit dem ßilberling. Plaisir

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Geisterhand

Die Geschichte von Wilhelm Andere

ßilberling Hach, dann will ich mal anfangen. Ja, ja, der gute alte Wilhelm –  zunächst nur das jüngste beziehungsweise sechzehnte Kind einer stinknormalen Bergarbeiterfamilie. Am Freitag, dem ersten April des Jahres 1881 wurde das Licht der Welt erblickt. Allzu viel hatte er davon allerdings zunächst nicht, aber auch rein gar nichts, befördert worden in die Tiefen der Kohlengruben, sobald er auch nur ansatzweise kriechen und krabbeln konnte. 

Kriechen und Krabbeln war gutgesagt, Kriechen und Krabbeln, eigentlich mehr wie ein passendes Stichwort. Und das von morgens bis abends, in den engen Stollen nämlich, und zumeist hatte er mit den für die winzigen Finger viel zu großen Pickel Brocken und Gestein aus massivsten Wänden zu hauen. Blutblasen und Schürfungen, Blessuren aller Art an allen möglichen und unmöglichen Körperpartien an dem stets für sein Alter viel zu klein geratenen Kerl, zudem wurde dem völlig aus farbloser und hoffnungslos verschmutzter Haut und Knochen Bestehenden von der Arbeitspeitsche des Oberschichtführers Friedel von Friedrich zugesetzt. Dabei spielte es beileibe keine Rolle, ob es sich um ein etwaiges Nachlassen des Arbeitstempos handelte, beziehungsweise Arbeitspensums, oder um Erschöpfungserscheinungen im Allgemeinen, schlicht und ergreifend, welche hin und wieder durch ein gelegentliches Einnicken Ausdruck verliehen wurde. Nicht selten entglitt der Pickel den kaputten Kinderhänden, doch bei all den größeren und kleineren Verfehlungen war ihm das Pflichtgefühl von Friedel von Friedrich gewiss. Mehr wie das, der Schwung mit der Peitsche wurde stets mit Worten des Aufforderns begleitet. Wurde am Ende nicht schließlich vorausgegangen? Vorbildlich? Mit gutem Beispiel?

Friedel von Friedrich  Beweg endlich deinen faulen Arsch – oder brauchst du mal wieder eine Extraeinladung!

ßilberling Wenn man gerade in solchen Fällen in Wilhelms hoffnungslos verdrecktem Gesicht überhaupt noch was erkennen konnte, war‘ s ein verlegenes, beinahe schon peinlich berührtes Lächeln.  Die Hiebe wurden ertragen mit einem leisen, leichten Winseln, halbwegs zumindest, kurzem Schlucken, schmerzhaft war es für Ihn zu allem besonders, wenn er mit den von geplatzten Blasen übersäten Handflächen den Stil seines Pickels wieder zu umklammern hatte. 

Zu Wilhelms Vater, der in einen der Nebenschächte es immerhin zum Hauptschichtführer gebracht hatte, pflegte Friedel von Friedrich ein durchaus kollegiales, freundschaftliches Verhältnis, durchaus, durchaus, was Wilhelm, dem kleinen Jungen alles andere wie zu Gute kam. Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, beileibe, oft schüttete von Friedrich beim gemeinsamen Feierabendschoppen sein Herz aus, über den faulen Knirps, demzufolge Wilhelm auch noch vom väterlichen Ledergürtel gemaßregelt wurde.

Doch irgendwann hatte der viel zu Schmächtige den viel zu vielen Strapazen Tribut zu zollen, so dass er bereits im zarten Alter von sechs von Stadtpfarrer Kühnert gesalbt wurde. Doch gegen alle Erwartungen erholte er sich, von ärztlichen Prognosen ganz zu schweigen, und für wenige Wochen hatte wohl zum ersten Mal in seinem Leben das von der Mutter liebevoll gesäuberte Gesicht so etwas wie Farbe erfahren. Erleichtert konnte er nach dieser Phase der Genesung und Erholung zurück in den Schacht geschickt werden. Und natürlich begrüßte auch Friedel von Friedrich die Wiederkehr freudig, selbst Wilhelms Pickel lag noch immer an der haargenau gleichen Stelle im Stollen, wo er etliche Zeit zuvor Blut und Staub ausgespuckt hatte.

Doch die erste Schicht nach der Unterbrechung war alsbald mit neuerlichen Verzögerungen verbunden. In der Tat klopfte Wilhelm minutenlang auf einer einzigen Stelle des Massivs vor ihm, ohne das irgendwas nur bröckelte. Bis sich endlich dann doch kleine Sprünge bildeten, kleine Risse, so dass er am Ende auf das Ursächliche der Unnachgiebigkeit stieß. Kleinste Kohleteile fielen nun aus der Wand, bis etwas mehr und mehr hervorschimmerte: ein Blechkästchen war es.

Wilhelm Andere  Oh!

ßilberling Noch bevor Wilhelm ein weiteres Mal mit der Wimper zucken konnte, oder mit was Anderem, spürte er von Friedrichs Peitsche auf dem eigentlich endlich einmal einigermaßen ausgeheilten, kleinen Rücken.  

Friedel von Friedrich  Wilhelm, du faules Miststück, genügt es nicht, dass du dich wochenlang gedrückt hast! 

ßilberling Völlig ungeachtet vom Oberschichtführer oder einem jeglichen anderen gelang es Wilhelm, das Kästchen aus den Arbeitstiefen des Arbeitsschachts bis in die Keller des elterlichen Bergarbeiterhauses zu schmuggeln, wo es hinter einem lockeren Ziegel zwischen zwei Regalen versteckt werden konnte. Sehr gut sogar, kaum emporgestiegen aus dem Keller wurde er vom Vater über einen geschmackvoll verarbeiteten Stuhl gelegt, um das kindliche Gesäß nach allen Lederregeln der Gürtelkunst zu verdreschen, nach Strich und Faden wohlgemerkt, galt es nicht immerhin, die Trödelei bei der Arbeit zu tadeln? Und das gleich am ersten Tag nach der nahezu absoluten Gesundung, und von welchem einer wie der von Friedrich aufopfernd zu berichten wusste? Vater Andere drosch während dem Akt des Ahndens so sehr ein, so dass der Stuhl samt kleinen Knaben an Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Wilhelm kroch hinterher auf allen Vieren, freilich mit einem leicht ins Verlegene neigende Grinsen, freilich, freilich, ein Winseln, ein klein wenig, und fing an zu piepen. Etwas was sich beileibe nicht zum aller ersten Mal abspielte, wenn er windelweich geprügelt worden war. Nicht mehr wie ein Anflug kindlicher Anmut, dazu auch noch in väterlicher Gegenwart, dem dies allerdings genauso viel berührte wie ein irgendwo in China umgefallener Reisbeutel. Wahlweise Mongolei oder Thailand, doch Wilhelm gelang es, sich aufzurappeln. Dann breitete er die Ärmchen aus, und fing an – gleichsam wie ein Vogel – auf – und ab zu schwirren. Oder ein Flugzeug. 

Wilhelm Andere Piep! Piep! Piep!

ßilberling So wie immer verließ der Vater genervt den Raum, so wie immer, nicht ohne das Zuknallen der Türe zu vergessen. Etwas total anderes hatte es freilich mit dem Kästchen auf sich, und in welchem Wilhelm von nun an seine persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte: ein halbes DutzendGlasmurmeln, die schimmerten, sobald sie nur ein klein wenig gegen das Licht gehalten wurden; dreischäbige, abgenutzte Würfel sowie die Reststummel einiger Buntstifte. Wesentlicher Bestandteil seiner Sammlung drei zusammengefaltete Zeichnungen, und auf einer hatte er einen übergroßen blauen Vogel gestrichelt, den er einfach nur „Piep“ nannte. Sowie ein orangefarbener Fisch, der einfach nur „Blubb“ hieß. 

Die anderen beiden Bilder hatte er geschenkt bekommen, eine davon von Reimi, seinem Freund, doch handelt es sich hierbei um nicht mehr wie ein hoffnungslos krakeliges Kindergekrakel. Ein wildes in Grün gehaltenes Meer aus Strichen, rauf und runter, hin und her, nicht mehr. Auf einem uralten, hoffnungslos verschrammten Schemel gehockt beschaute Wilhelm das dritte der Bilder, stundenlang, das er von Paula, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft gekriegt hatte. Die Paula mochte er sehr, und sie ihn, auf einem Tisch war ein übergroßer Apfel dargestellt. Eingerahmt von zwei Stühlen, auf einem saß sie selbst, auf dem anderen er. Und während Wilhelm das Bild betrachtete, betrachtete und betrachtete, immer wieder betrachtete, immer und immer wieder, träumte er mit offenen Augen, wie es werden hätte werden können. Wenn sie groß genug und dann heiraten hätten können. Was für ihn so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Und alles, was er in der Grube verdiente, würde er dann immer nur ihr geben, so dass sie immer genügend zu essen hätte.

Nichtsdestotrotz gedieh Wilhelm weiter kärglich heran, und mit fünfzehn spuckte er Staub und Blut wie nie zuvor. Und wieder Mal war es Stadtpfarrer Kühnert, der sich bis vor das Krankenbett begab, in welchem im Laufe der Jahre zwei seiner Brüder auf durchaus vergleichbare Art und Weise eingegangen waren. Zu nachtschlafender Zeit hatte sich Reimi dann bis zu Wilhelm herangeschlichen, ihn aus dem Haus geschleppt, an einem kleinen Fenster gegenüber war Paulas Silhouette zu erkennen.

In kurzer Zeit hatten sich die Beiden bis nach Rotterdam durchgeschlagen, wo sie vom liebenswürdigen Frachtkapitän Henry Toshack an Bord genommen wurden. Übelkeit waren kein Ausdruck, eine nach der anderen, die ersten Stunden auf See verbrachte Wilhelm mehr an der Reling denn in der Kombüse, wo ihm im Gegensatz zur Grube wenigstens die einen oder anderen Sonnenstrahlen gewiss waren. Beim tagtäglichen Kartoffel schälen. Beziehungsweise Gemüse putzen – hach!

Abends an Deck jedoch schaute er sehnsüchtig in die Weiten des Atlantiks, entfernte man sich doch mehr und mehr von der Heimat, Stunde für Stunde, ganz traurig blickte er zu den hell erleuchteten Sternen am Firmament auf, und spätestens dann konnten Tränen nicht mehr zurückgehalten werden, wenn Johnny, der Steuermann, die Ziehharmonika zur Hand genommen hatte.

Johnny, der Steuermann  My Bonnie!

ßilberling Und Johnny war es unterm Strich auch, von dem Wilhelm das Binden von Seemannsknoten erlernte, ganz zu schweigen von den einen oder anderen Geheimnissen der Navigation, dass Teilen von Tabak und Rum nicht zu vergessen. Zudem wurden ihm und Reimi sogar etwas Schreiben und Lesen beigebracht; ach, was sag ich überhaupt, in den darauffolgenden Jahren entwickelte sich aus dem ewig kränkelnden, stets viel zu blassen Bergarbeiterjungen Wilhelm der Seebär von einem Mann, dessen Gestalt durchaus mit den eines eineinhalbfachen Gewehrschrankes hätte verglichen werden können. Das große und kleine Einmaleins der Seefahrerei angeeignet, jawohl, vom  ABC ganz zu schweigen. Fleiß und Ausdauer waren kein Ausdruck, Zielstrebigkeit und unbändiger Ehrgeiz und Wille, eine Seemanns - Sprosse nach der anderen wurde erklommen, und so war es schließlich alles andere wie ein Wunder, als ihn eines Tages und nach nur wenigen Jahren auf hoher See das Kapitänspatent verliehen wurde. Ja, und längst waren es die sieben Meere, die ihm zur Heimat geworden waren, und stets eilte ihm sein Ruf voraus, in den Häfen überall auf der Welt, in den Kneipen an den Docks, wo in den seltensten Fällen die Nächte einsam verbracht wurden, ganz im Gegenteil. Zu Shantys spielte er mit der Ziehharmonika auf, und etwas Besonderes war es für Wilhelm Anderer, als nach etlicher Zeit auch mal wieder vor Hamburg der Anker von einen seiner Schiffe geworfen wurde. 

Ja, ja, viele, viele Jahre waren ins Land gegangen, als tatsächlich mal wieder hanseatischer Boden betreten wurde, und sogleich suchte er die von Marie - eine seiner Lieblingsdirnen - betriebene Hafenkneipe auf.  Und umso größer die Wiedersehensfreude, umso kleinlauter stahl Wilhelm Andere am nächsten Morgen sich von ihrer Bettkante hinfort, um sich an den Docks von einem Fischkutter bis nach Liverpool überbringen zu lassen.

Nachdem man sich vor mittlerweile über einem Jahrzehnt aus den Augen verloren hatte, sahen er und Johnny sich zum ersten Mal wieder. In einem Pub versanken die beiden Seeleute in Nostalgischem. Bei Tabak und Rum.

Johnny, der Steuermann  Weißt du noch? Damals, im Hafen von Rotterdam?

ßilberling Von Johnny erfuhr Wilhelm zum Beispiel auch, dass Toshack sein Kapitänsamt längst an den Nagel gehängt und sich zur Ruhe gesetzt hatte.  In den darauffolgenden Tagen und Wochen war kein Lokal vor ihnen sicher, mit oder ohne Ziehharmonika, kein Pub, mit oder ohne Dirnen auf dem Schoß, bis Wilhelm irgendwann dann doch zurück nach Hamburg hatte müssen. An den Docks dort wurde sein nächstes Schiff, welches er nach Buenos Aires überführen sollte, bereits tüchtig beladen.  Doch in der Lieblingskneipe eröffnet ihm Marie andere Umstände, in welchen sie sich befand. 

Marie  Ach, Wilhelm. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!“

ßilberling Etwas, was für Wilhelm Andere völlig außer Frage stand. Hoch und heilig versprach er es, er war sowieso nicht unbedingt einer gewesen, der sich von einer jeglichen Verantwortung gedrückt hätte. Und das womöglich auch noch hemmungslos, zudem konnte er locker auf über die Meeresjahre üppig Zurückgelegtes zurückgreifen, um Marie ausreichend Unterstützung zu gewähren – Marie und dem künftigen Kind. Die total unerwarteten Vatervorfreuden hatten in dem Seebären Glücksgefühle der ganzen Art und Weise ausgelöst, so wie er davon in seinem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatte. Zudem mochte er die Marie auch noch, am selben Tag, an welchem er es von ihr erfuhr, gab er bei der Reederei den Kapitänsauftrag nach Argentinien zurück. Schweren Herzens, denn zu sehr war er Seefahrer gewesen – hach. Auf der anderen Seite, mit Leib und Seele, seinem exzellenten Ruf hatte er es schließlich zu verdanken, beziehungsweise außerordentliche Beliebtheit, dass innerhalb der Reederei niemand so richtig böse mit ihm war. Beziehungsweise nachtragend, ganz im Gegenteil, jawohl, auf viel Verständnis stieß er für das persönliche ernst nehmen väterlicher Pflichten. 

Mitarbeiter der Reederei  Ach, Herr Andere, wenn nur alle Väter so wären!

ßilberling Ja, ja, jawohl, so war er wirklich, Bewunderung, die ihm entgegen schnappte, und so gewährten sie ihm einen kleinen, stupiden Schreibtischjob in einem der Büros an den Docks. Für die Archivierung von ausrangierten Frachtbriefen und anderen Kram, auf dem Standesamt fungierte Johnny als Trauzeuge. Freilich, freilich, wer sonst auch, und natürlich nutzte man die Gelegenheit für die Nächte zum Tage machen ausgiebig. Und Marie sollte sich mehr wie einmal beschwert haben, weil Wilhelm mehr Zeit mit Johnny verbrachte. Am Stammtisch ihrer Hafenkneipe. Anstatt mit ihr im schmucken Zweizimmerappartement. Die sich oberhalb des Lokales befand, und Wilhelm Andere großzügig und nach Maries Wünschen mit funkelnagelneuen Eichenmöbeln ausstatten ließ. Zum neuen Job kam es allerdings zunächst nicht, denn kaum, dass sich Wilhelm nach Johnnys Verabschiedung aus Hamburg zu Marie zurückbegeben hatte, wedelte sie ein frisch eingetrudeltes Schreiben unter die Nase. Vom Kreiswehrersatzamt wohlgemerkt, denn die Zeit war heran gebrochen, in welcher sein kaiserlicher Namensvetter am Aussenden von Soldaten gewesen war. Natürlich wurde Wilhelm Andere zur Marine herangezogen, selbstverständlich, selbstverständlich, bei einen der ersten Ausritte auf dem nun militärischen Seeweg wurde man von einem englischen Kriegsschiff beschossen. Die Restbestände der Mannschaft irrten tagelang in einem hoffnungslos überladenen Rettungsboot umher, bis sie von einem deutschen Kreuzer aufgefischt werden konnten. Der schwer am Bein verwundete Wilhelm Andere wäre um Haaresbreite verblutet, von irgendeinem Lazarett hinkte er etliche Monate später zurück in den Krieg, wo er von nun an in einer Schreibstube irgendwo an der Westfront dienen durfte. 

Im Spätherbst des Jahres 1918 dann hinkte Wilhelm Andere dann wieder zurück nach Hamburg. Dort begab er sich zunächst an die Docks, um nach all den Kriegsjahren endlich wieder Seeluft atmen zu können, frei nach dem Motto „Seebär bleibt doch Seebär, selbst wenn man an der Westfront irgendwo in Frankreich am Versauern war – mehr oder minder“. Während der Zeit der Waffengänge war es ihm nicht einmal vergönnt gewesen, beziehungsweise gelungen, nach Hause zu kehren. Nicht ein einziges Mal, umso verzückter war Wilhelm Anderer, als er zum ersten Male sein im Kinderbett friedlich schlummerndes Söhnchen Heinrich in Augenschein nehmen konnte. Hingegen schwer erkrankt war Marie, am ständigen Husten, am Röcheln, eine Woche vor Heiligabend fand die Beisetzung statt. Noch am Grabe wurde geschluchzt.

Maries Mutter Das arme Kind – was wird jetzt nur aus ihm!“

ßilberling Bedingt durch Maries Erkrankung war das Lokal unter ihr schon vor etlicher Zeit geschlossen worden, völlig unabhängig von solchen Dingen, beziehungsweise anderen zückte er noch am Abend nach der Beerdigung, und nachdem er Heinrich zu Bette gebracht hatte, die Feder. Und unmittelbar nach den Festtagen erhielt er Antwort, von seiner Schwester Isabella nämlich, und der invalide Wilhelm, der Dank einer üppigen Seemanns - Pension mehr wie ausgesorgt hatte, seine Ersparnisse nicht zu vergessen, zögerte nicht eine Minute, packte die Koffer, nahm das Söhnchen an die Hand, und zerrte es bis zum Bahnhof. Ein gutes Vierteljahrhundert war nun wohl inzwischen verstrichen, als er mit Reimi Reißaus nahm von daheim, ein gutes Vierteljahrhundert, und mit jeder der ihm ehemals so vertrauten Fassade wurde ihm dann schummriger zumute. Und die Knie butterweich und butterweicher, als sich endlich sein Elternhaus vor ihm auftat. Auf der Schwelle warteten bereits vier oder fünf der Schwestern samt Ehemännern und einer nicht unerheblichen Schar von Kindern unterschiedlichster Größe, und nicht nur Isabella, die Älteste von ihnen, war am offenen Schluchzen. 

Isabella  Sieh da, der kleine Wilhelm – ach, da bist du ja endlich wieder!

ßilberling So dass sie sich nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Armen lagen, die Schwäger, Neffen und Nichten nicht zu vergessen. Isabella, die gemeinsam mit ihrem Mann das Haus hielt, überließen Wilhelm wieder das alte Jungenzimmer, welches während der Kindheit mit den Brüdern geteilt wurde; und sogar für Heinrich hatte sie ein Bettchen gerichtet. 

Die anderen Schwestern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft, von den Brüdern lebte nicht ein einziger mehr. Am zweiten Tag des neuen Jahres begab sich Wilhelm dann allein hinter einem kleinen Kirchhof in ihrer Gegend. Einen Küster am Zipfel erwischt, veranlasste der ehemalige Seebär Wilhelm Andere noch am selben Tage, die schlichten Holzkreuze auf dem Grab seiner Eltern gegen einen marmornen Gedenkstein auszutauschen.

Bereits wenige Wochen nach der Rückkehr an dem Orte seiner Wiege war Wilhelm Andere allerdings des Müßiggangs überdrüssig geworden. Mehr wie das, am Gehstock hinkte er durch die engen Straßen und Gassen seiner Heimat, doch sehnte er sich längst zurück nach den Hafenkneipen. Beziehungsweise der guten, alten Seeluft. Abends wurde ihm indes bei einem guten Glas Rotwein von Isabellas Ehemann in durchaus endlosen Monologen die Vorzüge der Russischen Revolution vorgekaut. In allen noch so langweiligen Einzelheiten wohlgemerkt, und nahezu jedes Mal, wenn er ihr altes Jungenzimmer betrat, hielt er vor dem Kinderbettchen inne: der kleine Heinrich, und wie friedlich er schlummerte. Wilhelm fühlte Glück so nahe wie noch nie zuvor in seinem Leben

Doch ob gelangweilt oder nicht, irgendwie verging die Zeit dann doch, und Ostern rückte bereits heran, als Isabella ihren wiedergewonnenen Bruder einmal bat, Kartoffeln aus dem Keller zu holen. Ja, und es war tatsächlich das erste Mal seit der Wiederkehr, dass er herabstieg. Mit Feuchtigkeit im Knopfloch rückte er jenen lockeren Ziegel beiseite, das Kästchen schien seit der Flucht vor jenen zweieinhalb Jahrzehnten von einem jeglichen Kellerschmutz verschont geblieben zu sein. Und scheinbar total unberührt geblieben, und noch größer wurde das Staunen von Wilhelm Andere nach dem langsamen Öffnen: die Stifte, die Murmeln, die Würfel – alles unverändert. Lediglich die Zeichnungen hatten an Vergilbung zugenommen, beim Auseinanderfalten von Paulas Zeichnung hätte es Wilhelm beinahe das Herz zerrissen. Isabella hatte unlängst von Paulas Wegzug erzählt, bereits vor dem Kriege. Und was aus ihr schließlich geworden war, wusste eigentlich niemand. Ein Nachbar hatte gemeint, sie wäre im Kloster gelandet, die Zeichnung war indes doch sehr verblasst. Fast genauso wie Piep und Blubb, und umso mehr wunderte sich Wilhelm Andere über das Kindergekrakelte von Reimi, denn das Papier war blütenweiß und glänzte, so als ob es erst gestern dem Kästchen zugeführt worden wäre. Und auch die Farben der grünen Striche, von oben nach unten, hin und her, waren voller und kräftiger denn je. Dem Wilhelm Andere aber war es so, als ob ein winzig kleines vierblättriges Kleeblatt zu ihm empor schwirrte. Von den grünen Strichen der Zeichnung, eines, zwei, drei, die vielen, vielen grünen Striche, immer mehr, Kleeblätter, immer mehr, vier, acht, sechzehn, immer mehr, zwanzig, fünfzig, hundert, mehr, mehr. Gegen Abend wurde er von Isabellas Poltern an der Kartoffelkiste geweckt.

Isabella „Oh, Wilhelm, kleiner, kleiner Wilhelm. Dass man dich nicht einmal zum Kartoffel holen schicken kann.

ßilberling Am darauffolgenden Morgen packte Wilhelm Andere die Koffer. 

Die Reise nach Tinkel.

ßilberling Obwohl der naserümpfende Schalterbedienstete am Bahnhof aus einem hoffnungslos verstaubten Karton einen hoffnungslos zerfledderten Atlas hervor gezückt hatte, wollte es trotzdem dauern, bis er fündig geworden war. Schließlich konnte er dann aber doch noch einen Preis für Wilhelms Fahrkarte berechnen, frei nach dem Motto „muss nicht wirklich alles seine Ordnung haben, sogar bei der Bahn?“ 

Wilhelm Andere musste mindestens dreimal umsteigen, bis endlich Tinkel erreicht worden war. Am Bahnhof dort konnte die Reise mit einer Droschke fortgesetzt werden. Bald schon hatten sie die kleine Stadt hinter sich gelassen, mit all den Straßen und all den Häusern, nein, über Stock ging‘ s nun, über Stock und Stein. Beziehungsweise über Berg und Tal, bis sie schließlich am Platz vor dem Marktbrunnen des Dorfes Clauhenthal vorfuhren: „Au revoir, Monsieur.“

Noch hörte er das klappernde Galoppieren, eine kühle Böe wehte über den Platz, aus irgendeiner der Gassen das hallende Bellen eines Hundes, aus einer anderen ein verloren wirkendes Krähen. Ein Baby schrie und ein Heuwagen quietschte langsam an ihm vorbei, der mit einem Strohhut bedeckte Kopf des Bauern darauf neigte nach unten, beziehungsweise vorne, und ob der vielleicht sogar ein kleines Nickerchen abhielt? Nein, einen solchen Eindruck konnte man sich nicht erwehren. Aber rein gar nicht; Gerüche stiegen in die Nase, Gerüche von Mist und Dung, vermischt mit dem von würziger Landluft; vor einer Haustür kleine, mit Murmeln spielende Kinder, vor einem Laden ein paar tratschende Bäuerinnen. Dumpf die Glocke des Kirchturms zur zwölften Stunde schlug, wie freundlich in der kleinen Dorfpension ihm der Zimmerschlüssel überlassen wurde.

Lommel Zu Buderus  Herzlich Willkommen. Und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.

ßilberling  Abend für Abend lachte er mit, wenn am Stammtisch die Clauhenthaler Bauern einem Witz nach dem anderen zum Besten gaben; von einem von ihnen erfuhr Wilhelm sogar, dass eines der schmucken Häuser am Rande des Dorfes freistand. Gleich am nächsten Morgen machte Wilhelm im Rathaus seine Aufwartung. 

Bürgermeister Wagner  Ich kann nur davon abraten. Die Clauhenthaler sind sehr eigenwillig.

ßilberling Natürlich wunderte es Wilhelm sehr, warum ausgerechnet ihr Bürgermeister so etwas über sie erzählte, denn hatte er sie nicht anders kennengelernt? Total anders wohlgemerkt, das Aufnehmen in ihrer Mitte, nein, dies war doch nun wirklich das totale Gegenteil von dem, was Bürgermeister Wagner meinte. Oder hatte der sich lediglich in einem kleinen Dorfscherz geübt? In einem nicht sonderlich guten freilich, aber auf jeden Fall ließ Wilhelm sich von seinem Entschluss nicht mehr abbringen. Mit den Rechten und Freizügigkeiten der zur damaligen Zeit frisch gegründeten Republik warf er ein zusätzliches Argument in die Waagschale, so dass ihm am Ende dann doch noch die Schlüssel für das freie Haus entgegengeschleudert wurden. 

Bürgermeister Wagner  Na gut, von mir aus, an mir soll‘ s nicht liegen. Aber Sie werden es noch bereuen.

ßilberling Am ersten Abend, nachdem er Heinrich, sein Söhnchen, nachgeholt hatte, war er tief bewegt, als er auf das Bettchen des Kinderzimmers blickte. Ach, wie friedlich der Kleine doch schlummerte, kurzerhand suchte er den Stammtisch in der Pension auf. Nicht ohne die Ziehharmonika zu vergessen haben. Aus den guten alten Seemannstagen wohlgemerkt, kaum dass er Platz genommen hatte an ihrem Stammtisch, stimmte er an. 

Wilhelm Andere  Seemann, oh alter Seemann!!

ßilberling Vom Pensionswirt höchstpersönlich wurde er auf die Straße geprügelt, die Ziehharmonika hinterher geschleudert. 

Lommel Zu Buderus So ein jämmerliches Gedudel hat uns gerade noch gefehlt.

ßilberling Und nicht nur die dadurch demolierte Ziehharmonika war es, die mehr wie eine Schramme abgekriegt hatte. Am darauffolgenden Morgen füllte der Händler Bischof, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, den Einkaufskorb des einstigen Seefahrers, wortlos wurde das Wechselgeld auf den Teller geklimpert; am Nachmittag wartete er dann zu einem Gespräch im Dorfpfarramt auf. 

Pfarrer Windik  Die Leute hier sind am Anfang ein klein wenig misstrauisch, aber ich denke, das wird sich noch legen, Gut Ding braucht sein Weilchen, und hier in Clauhenthal ticken die Uhren nun mal ein klein wenig anders,

ßilberling Mehr angetan wie von den Worten des Pfarrers war Wilhelm von der blutjungen Haushälterin, die Kaffee und Apfelkuchen auftrug. Mit Streuselauflage wohlgemerkt. 

Unwesentlich besser erging es Heinrich, der in Clauhenthal eingeschult worden war. Von Anfang an war das schmächtige, dünne Bürschchen den Anfeindungen und Hänseleien der Dorfkinder ausgesetzt. Insofern sie ihn nicht gerade nach Strich und Faden verprügelten, stopften sie ihn Dinge wie Dreck oder tote Frösche in den Mund. Selten gab es einen Tag, an welchem er nicht mit zerrissenen Kleidungsstücken nach Hause kam. Oder mit blutiger Nase, einmal gar stürzten sie sich wie wie von wilden Hornissen Gestochene auf ihn, rissen ihm die Kleider vom Leib und zerrten ihn bis vor das Mädchenhäuschen. Und ihr Gelächter wurde freilich nicht minderer, als Carola daraus erschien. Dem vor Angst, Scham und Kälte gleichermaßen zitternden Heinrich wurde sanft und zärtlich durchs Gesicht gestrichen.

Carola  Sind die alle so gemein zu dir?

Die Anderen  Ha, ha, dann willst du den Gartenzwerg vielleicht auch noch heiraten!!

ßilberling An der Hand führte Carola Heinrich an der Meute vorbei, stieß einen von ihnen zur Seite. Nahezu am Zerreißen war Wilhelms Innerstes, als er am Abend im Bettchen die traurigen Augen seines sichtlich geschundenen Kindes betrachtete. Ach, dabei schlummerte es doch so friedlich, und natürlich hatte Wilhelm es längst bereut, in dieses gottverdammte Nest gezogen zu sein. In einem an Isabella gesendeten Brief kündigte er eine schnellstmögliche Rückkehr an. Und nur wenige Tage später war er schon beim Besorgen des Reiseproviants. Beim Metzger Gaimer, welcher gerade, als Wilhelm eintrat, in einem Gespräch mit dem Kupferschmied Vogel vertieft war. Ganz offenkundig war dem so, oder hätte man dies besser als Monolog, in welchem Vogel lediglich eine Rolle als Kopf nickenden Zuhörers, zur Verfügung stand, bezeichnen sollen, 

Metzger Gaimer  Dieser Abraham – wenn ich den in die Finger kriege. Dann breche ich dem den Hals.“

ßilberling Mit Abraham meinte Gaimer einen Antiquitätenhändler in Tinkel. Bei dem er eine wertvolle Kuckucksuhr erstanden hatte. 

Metzger Gaimer  Für ein Apfel und ein Ei, ein echtes Schnäppchen. Aber kaum, nachdem ich sie aufgehängt habe, da war sie auch schon wieder kaputt. Aber das war es ja noch nicht.

Kupferschmied Vogel Nein? Nicht?“

Metzger Gaimer  Nein, denn jetzt verlangt dieser Kerl fürs Reparieren das Dreifache - das Dreifache des Kaufpreises wohlgemerkt.

Kupferschmied Vogel  Wucher würd ich sagen, der reinste Wucher – unfassbar!“

Wilhelm Andere  Auf unseren Schiffen habe ich öfters Uhren repariert.

Metzger Gaimer   Ach, halten Sie doch einfach die Klappe. Oder merken Sie nicht, dass ich gerade mit jemand spreche –  ach, warum verschwinden sie nicht einfach?

ßilberling Am Abend dann stand Gaimer vor Wilhelms Tür. Mit der Kuckucksuhr unterm Arm. 

Metzger Gaimer  Viel geben dafür kann ich Ihnen aber nicht.

ßilberling Gaimer staunte nicht schlecht, als er am darauffolgenden Tag vor seinem Haus das Ticken vernahm, und als sich das Türchen öffnete, fiel er Wilhelm um den Hals. Buchstäblich wohlgemerkt, und um sich wenigstens halbwegs erkenntlich zu zeigen, lud Gaimer ihn zu einem kleinen Umtrunk ein, am Stammtisch von Zu Buderus, und zu vorgerückter Spätabendstunde torkelten die beiden durch die engen Gassen von Clauhenthal. Arm in Arm, mit einem eiskalten Wickel auf der Stirn öffnete ein hoffnungslos verkaterter Wilhelm am nächsten Morgen die Tür. 

Mit einem defekten Weimarer - Republik - Radio unterm Arm war es eine der Bäuerinnen. Am frühen Nachmittag machte er sich mit dem nun wieder funktionierenden Gerät auf zu ihrem Hof, von allen Seiten wurde ihm freundlich zugenickt, Und sie schwenkten ihre Hüte, das Knirschen des durchgebrochenen Eises war förmlich zu spüren. Bis unter die Fingernägel, als mit einem Korb unterm Arm die hübsche Haushälterin des Pfarrers entgegenlief. Ja, es waren Glücksgefühle der ganz besonderen Art und Weise, die er in dieser Art und Weise schon lange nicht mehr erfahren hatte. Der Verlust von Marie lag nun doch schon etliche Zeit zurück - na ja. Und von den Hafendirnen von früher ganz zu schweigen – aber gleich dreimal wohlgemerkt. Nahezu überwältigt war er, als sie eine Einladung von ihm annahm.

Wilhelm Andere  Am Samstagabend? Bei mir?

ßilberling Mit dem Radio schwang er sich endlich bis zum Hof vor, wo offenbar die Gunst der Stunde genutzt wurde, als Wilhelm Andere in den Traktorverschlag geführt wurde. 

Bauer Lahmen  Wenn Sie sich ihn mal ansehen würden. Er läuft seit Jahren nicht mehr.

ßilberling Ein Auftrag, der nahezu eine komplette Woche beanspruchte. Wilhelm schraubte das rostige Gefährt nach allen Regeln der Künste auseinander, tauschte defekte Teile aus, bis er dann schließlich beziehungsweise endlich die letzte Mutter wieder angezogen hatte. Und als der Bauer nach dem Zünden des Motors endlich wieder das gute alte Rattern vernahm, nach langer Zeit wohlgemerkt, das Tuckern nicht zu vergessen, drückte er Dank und Zufriedenheit mit dem Überlassen eines mit vielerlei Produkten von ihm gefüllten Präsentkorbes aus. 

Vom schlagartig verbesserten Ruf des Vaters profitierte natürlich auch Heinrich. Merklich ließen die Gemeinheiten gegenüber ihm nach, die Hänseleien, zudem hatte er mit Carola eine Freundin und Spielkameradin gewonnen, zum ersten Mal in seinem noch so jungen Leben. Mit welcher er nahezu jeden Nachmittag verbrachte. Nicht schlecht staunte Wilhelm, als er einmal den Beiden beim gemeinsamen Zeichnen über die Schulter schaute: sie hatten nämlich auf einem Blatt Papier einen übergroßen blauen Vogel gemalt, dazu einen orangenen Fisch – gemeinsam wie gesagt.

Endlich war auch der Samstag mit dem verabredeten Abendrendezvous herangerückt. Um ein wenig Zusatzromantik erzeugen zu können, wollte Wilhelm noch ein paar stimmungsvolle Kerzen bei Händler Bischof erstehen, als er auf dem Weg dorthin die Clauhenthaler Dorfbewohner erspähte. Aufgebracht vor dem Pfarrhaus schrien sie wild und empört

Clauhenthaler Dorfbewohner  So etwas können wir bei uns nicht gebrauchen. Eine Schande! Ein Skandal! Raus mit ihr! Raus mit ihr!“

ßilberling Im gebührenden Abstand verfolgte Wilhelm Andere nun das Geschehen. Wieso spielten sich die Bäuerinnen und Bauern wie von Hornissen Gestochene auf? Total außer Rand und Band, doch was Wilhelm nicht wusste, nicht wissen konnte, ist das, was sich am Morgen desselben Tages abgespielt hatte. Es war nämlich so, dass der Pfarrer Windik eine mehr wie unangenehme Flauheit im Magen verspürte, die er auf ein von ihm zuvor eingenommenes Fischmahl zurückführte. Ganz eindeutig, andererseits war es ihm unter solchen Umständen nicht möglich gewesen, den Religionsunterricht in der Clauhenthaler Dorfschule abzuhalten. Allerdings fiel ihm nichts Besseres ein, wie seine junge Haushälterin in die Schule zu schicken – als Stellvertreterin für ihn. Was das Unterrichten der Kleinen betraf; dort schlug sie dann die Bibel auf, um aus der Schöpfungsgeschichte vorzulesen. Vom ersten bis zum letzten Tag, von A bis Z, wenn man so wollte, immerhin, wäre man fast geneigt zu denken. 

Junge Haushälterin  Gleich ob Mensch, Pflanze, Tier – alles ist von dem ein und demselben Gott erschaffen.

Carola  Na ich weiß nicht.

Junge Haushälterin  Aber warum denn nicht?

Carola  Neulich hat eine von unseren Kühen ein Kalb zur Welt gebracht.

Junge Haushälterin  Ein sehr schönes Beispiel, wie ich finde.

Hannes  Wieso – hat Gott das Kalb etwa auch noch erschaffen?

Junge Haushälterin  Genauso ist es.

Carola  Nein, das ist gar nicht wahr. Sondern ein paar Monate zuvor ist ein Stier in den Stall zur Kuh gebracht worden.

Hannes  Also das versteh ich auch nicht. Ich meine, wenn doch Gott alle erschaffen haben soll.

Junge Haushälterin  Weil es so ist.

Hannes  Und wozu hat man dann den Stier zur Kuh in den Stall gezerrt?

Carola  Ach herrje, ist doch ganz einfach. Das ist genau wie bei einer Frau. Die kriegt nämlich auch immer erst dann ein Kind, wenn sie mit einem Mann zusammen war.

Hannes  Aber das hat doch alles nichts mit Gott zu tun – oder war der etwa auch im Stall?“

ßilberling Die junge Haushälterin klappte die Bibel zu. Was folgte, war ein Aufklärungsunterricht für die Kleinen. Schlichtweg mit jedem Satz von ihr wurden die Augen größer, mit jedem Wort. Die Ohren nicht zu vergessen, gebannt waren sie, wie sie in allen möglichen und unmöglichen Einzelheiten den Geschlechtsakt umschrieb, aus welchem letztlich das Leben entstand.  Zusätzlich pfefferte sie mit bunter Farbkreide Zeichnungen an die Tafel, die die Fortpflanzungsorgane darstellten. Beziehungsweise darstellen sollten, einschließlich Bezeichnungen, und von Penis war gleichermaßen die Rede wie von Scheide oder Glied oder Vagina. Und so weiter und so fort, bis sie endlich die Kreide abgelegt hatte. 

Die junge Haushälterin Doch hinter all dem steht Gott, er ist Ursprung allen Lebens. Und die Art und Weise, wie er immer wieder neues Leben entstehen lässt, ist ein weiteres Zeichen für seine unendliche Güte. Denn es ist die Liebe allein, die dies möglich macht. Die umso schöner ist, umso besser man sich mit dem Anderen versteht. Das ist nämlich neben den Gefühlen das Wichtigste zwischen zwei Menschen.

ßilberling Noch war die junge Haushälterin beim Zusammenräumen ihrer Sachen, nachdem die Kinder nach Beendigung des Unterrichts das Klassenzimmer verlassen hatten. Als der Kupferschmied Vogel hineinstürzte. 

Kupferschmied Vogel  Gerade ist meine Tochter nach Hause gekommen. Und hat mir von Ihrem Unterricht erzählt.

ßilberling Hoch errötet war kein Ausdruck, von Zorn und Wut ganz zu schweigen. 

Kupferschmied Vogel  Erst unsere Kinder versauen! Und dann schmieren Sie die ganzen Schweinereien auch noch an die Tafel!

ßilberling Etwas, was nicht ohne Konsequenzen hätte bleiben können. Sogleich wollte sich Vogel beim Pfarrer beschweren! Über die ganzen Schweinereien, und nicht allzu lang dauerte es, bis sich die Meute schließlich vor dem Pfarrhaus versammelt hatte. Und auch dauerte es nicht allzu lang, bis die junge Haushälterin hinausgestoßen wurde. Von Windik persönlich, so dass sie neben Schmährufen ihren Tritten und Schlägen ausgesetzt war. Spalier war kein Ausdruck, mit einem schlichten Koffer stolperte sie zwischen ihnen durch, und es wurden ihr Steine nachgeworfen, solange bis sie auf der Dorfstraße, auf welcher sie hinfort eilte, nicht mehr zu sehen war. 

Mit hängendem Kopf schlich Wilhelm heim, eine rote Rose lag im Kinderbett neben Heinrichs Kopfkissen, die ihm Carola geschenkt hatte. Die brachte am darauffolgenden Tag ihr zerfleddertes Märchenbuch vorbei. Während die beiden Kinder den Tag draußen verbrachten, befreite Wilhelm das Buch von einem jeglichen Schmutzfleck, ordnete die Seiten, und band es neu. Zum Schluss unterzog er es einer kleinen Prüfung, ob es denn nun auch wieder benutzbar wäre. Vorsichtig blätterte er die Seiten um, mit dem Ergebnis seiner Mühen war er zufrieden. Mehr wie das, die Märchen allesamt bunt bebildert, und sie kündeten von längst vergangenen, wunderschönen Zeiten, bis Wilhelm ins Stutzen geriet. Eine der Seiten schien allerdings nicht so recht in Carolas Märchenbuch zu passen. Nahezu wie aus heiterem Himmel, und es war ihm ein Rätsel, wieso sie ihm beim Binden nicht aufgefallen war. Die Seite, die sich darin verirrt hatte, war blütenweiß, versehen mit einer Bilanz, mit Aktiva und Passiva und dem ganzen Kram, mit Eigenkapital und Fremdkapital, Zahlen und einer Buchhalter - Nase gar, frei nach dem Motto „wer das in einem Märchenbuch je vermutet hätte“. Die schwarze Tinte glitzerte und funkelte, so dass man hätte meinen können, dass die Seite gerade frisch beschrieben worden war. In einem der nächsten ihm nun zur Verfügung stehenden Momente schwirrte von dem Papier eine winzige schwarze Ziffer empor, von der schwarzen Buchhalter - Nase wohlgemerkt, eine zweite Ziffer, eine dritte, und dann immer mehr, immer mehr, null bis neun, eine vierte Ziffer, eine fünfte, immer mehr, immer mehr, zehn, zwanzig, wie viele denn noch, schwirrend, Hunderte, wirrend, Tausende, irrend, und immer noch mehr, mehr, mehr.

Kurz nach dem Anbrechen der Abenddämmerung zog Carola, die sich daraufhin artig bedankte, ihr Märchenbuch unter Wilhelms Kopf hervor. Ihren Eltern übergab er die Obhut für Heinrich. Frei nach dem Motto „denn wenn einer eine Reise tut“. Ja, mit Wohlgefühlen wurde er erfasst, als sich endlich mal wieder eine Küste vor ihm auftat, vom Schwelgen in allzu Nostalgischem ganz zu schweigen. Und welche Erinnerungen erst wachgerüttelt wurden, als er nach einem guten Viertel Jahrhundert zum ersten Mal wieder den Kumpel aus längst vergangenen Kindheitstagen wiedersah.

Im Gegensatz zu Wilhelm hatte sich Reimi frühzeitig aus der Seefahrerei zurückgezogen, um nicht zu sagen, sehr frühzeitig. Stattdessen hatte er es in den Staaten zu etwas gebracht – durchaus, durchaus. Einen auf Eigentümer einer riesigen Ranch nämlich, irgendwo in Texas, und er wusste höchstwahrscheinlich selbst nicht genau, wie viele Rinder er zu seinem Besitz zählen durfte. Und natürlich war auch Reimi, als Wilhelm vor seinem Augenmerk trat, gerührt. Viel hockten die in die Jahre Geratenen zusammen, Und vieles wollte erzählt werden.

Reimi  Weißt du noch? Damals? In Rotterdam?

ßilberling Nach einigen Wochen reiste Wilhelm dann wieder zurück nach Tinkel, mit einem nicht unbeträchtlichen Kredit, dem er dem guten, alten Freund abgeschwatzt hatte. Beziehungsweise nach Clauhenthal, wo er sogleich bei einem kopfschüttelnden Bürgermeister Wagner ein leerstehendes Häuschen anmietete. In der Dorfmitte, ausgerechnet neben der Clauhenthaler Filiale der Tinkler Kreiskasse. 

Bürgermeister Wagner  Wir haben doch schon eine Bank hier, Herr Andere. Mit Ihrem Vorhaben werden Sie kein Glück haben.

ßilberling Zur Einweihung nur ein paar Wochen später war zwar nahezu sämtliche Bewohner von Clauhenthal erschienen, zu Wurstbroten, Käsehäppchen und Sekt, was allerdings nicht einen von Ihnen dazu bewegte, bei Wilhelm Andere ein Konto zu eröffnen. Wieso denn auch, schließlich waren sie seit Jahren mit dem Service der Tinkler Kreiskasse zufrieden gewesen. Zwar war die kleine Filiale in Clauhenthal in der Tat nur an drei Nachmittagen geöffnet. Für maximal drei Stunden jeweils, was für Ihre Ansprüche und Bedürfnisse ausreichend war. Wie die auch immer gewesen sein mochten, und so saß Wilhelm Andere in den ersten Tagen und Wochen allein hinter dem Schalter seiner neugegründeten Bank. Nein, nicht ein einziges Mal wurde er reflektiert, und eigentlich erschien es nur eine Frage der Zeit, wann er sein total unrentables Bankhaus wieder schließen würde, denn die Verluste waren kein Ausdruck. Beileibe nicht, immerhin war für Miete und Beleuchtung aufzukommen, von so manchen anderen Fixkosten ganz zu schweigen. 

Längst in Gedanken auf dem Weg zu Bürgermeister Wagner, um die Schlüssel wieder abzugeben, die Auflösung des Mietvertrages nicht zu vergessen, als beinahe schon auf wundersame Weise doch noch jemand in die neue Bank eintrat. Freilich war‘ s kein Geringerer wie der Clauhenthaler Bäckermeister Fleischer, der vorzügliche sein Leid vorzutragen verstand.

Fleischer  Mein in die Jahre gekommener Ofen. Auch mein Brotschieber taugt nicht mehr allzu viel. Die in der Tinkler Kreiskasse haben mir zwar einen Kredit in Aussicht gestellt. Nur das mit der Auszahlung ist so 'ne Sache. Wissen Sie, die verzögert und verzögert sich. Weil sie das noch absprechen müssen haben die gesagt. Mit der Zentrale in Tinkel, ist halt so ''ne Sache, wissen Sie.

ßilberling Für Wilhelm war es endlich die Chance, auf die er gewartet hatte – seit Anbeginn wohlgemerkt. Blitzzuck wurden die von Fleischer benötigten finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, und bereits vierzehn Tage später konnte er in seiner total frisch renovierten Backstube die ersten Brötchen aus einem nagelneuen Ofen schieben, Noch mehr geriet der Bäckermeister in Verzückung über Wilhelms präzise und seriöse Abwicklung des ihm zur Verfügung gestellten Kredites, was sowohl die mit akkuraten Raten ermöglichte Rückzahlung betraf als auch dem günstigen Zins. Und nicht lange dauerte es nun mehr, bis einer der Clauhenthaler Bauern ein Konto bei ihm eröffnete, frei nach dem Motto „wenn das Eis erst einmal gebrochen ist.“ Und nach einem weiteren Monat gab es nicht mehr einen unter ihnen, der nicht zu seiner Kundschaft zählte, eine sehr baldige Folge war die Schließung der Tinkler Filiale von nebenan. Dessen Aushilfskassierer wurde von Wilhelm Andere einfach übernommen, die ständig steigenden und steigenden Einlagen gestattete immer umfangreichere Kreditvolumen zu vergeben. Die Schulden bei Reimi waren selbstverständlich längst getilgt, als auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger aus Tinkel nach Clauhenthal kamen, Wegen eines Kredits oder um ein Konto bei ihm zu eröffnen, und schließlich zog Wilhelm Andere nach Tinkel, wo er für sich und Heinrich eine schmucke Stadtrandvilla erwerben konnte. Zum einen, zum anderen fand er unter dem Dach eines zufälligerweise leerstehenden Geschäftsgebäudes in der Tinkler Innenstadt ausreichend Platz und Raum für sein stetig wachsendes und wachsendes Bankhaus. Vor allem das Finanzieren städtischer Bauprojekte spielten dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg zusätzlich in die Karten, und letztlich reifte seine Bank auch in Tinkel zu einer mehr wie ernstzunehmende Konkurrenz für die seit kleinen Ewigkeiten bestehende Kreiskasse heran. So dass es auch hierfür nur eine Frage der Zeit war, wann die ihre Türen zu schließen hatte. Und natürlich wurden auch in Tinkel nahezu sämtliche Mitarbeiter vom Bankhaus Andere übernommen. Im schmuck eingerichteten Bankdirektorium brütete ab der Mittagszeit an einem Seitentisch Heinrich über Hausaufgaben, die - so gewann zumindest der Junge selbst mehr und mehr den Eindruck  -  mehr und mehr wurden. Von Tag zu Tag, vor allem, seitdem er Schüler des Tinkler Stadtgymnasiums war – etwas, was seinen Vater natürlich mit besonderen Stolz erfüllte. Zweifellos, der Kontakt nach Clauhenthal und zu Carola war mit dem Wegzug total abgebrochen worden. Frei nach dem Motto „aus den Augen, aus dem - na ja, Sie wissen schon.“ 

Auch in den nächsten Jahren blieb Wilhelm Andere der Erfolg treu, selbst als sich die politische Wetterlage veränderten. Nachdem vor dem Tinkler Rathaus Hakenkreuzfahnen gehisst worden waren, traute man ihn und seiner Bank das Mitfinanzieren von in verschiedenen Tinkler Manufakturen zu fertigende Rüstungsartikel an. Für Wilhelm Andere ein weiteres, bombensicheres Geschäft, wenn man so wollte, im wahrsten Sinn, bei dem man sich nie die Finger hätte verbrennen können. Nie und nimmer, und kurz vor Einsetzen des Krieges wurde Wilhelm Andere von einem guten, alten Bekannten aus der guten, alten Clauhenthaler Zeit aufgesucht.

Metzger Gaimer  Endlich - sie haben ihn.

ßilberling Gemeint war natürlich der Antiquitätenhändler Abraham.  Und zur Feier des Tages hatte der Metzgermeister die Kuckucksuhr dabei – uralt und wunderschön. 

Metzger Gaimer  Ab heute gehört Sie dir. 

ßilberling Seither tickte die Uhr gegenüber an der Wand seines Büros. Hingegen mit einem blauen Auge kam Wilhelm Andere nach dem Kriege davon. Vor dem Tinkler Entnazifierungs- Kommitee – mit einem dunkelblauen wohlgemerkt. Zwar konnte das Engagement – das finanzielle Engagement – für die Tinkler Munitionsfabriken vorgeworfen werden, doch wurde ihm die Nichtmitgliedschaft in der Partei zu Gute gehalten. Und kurz nach der Währungsreform wurde die Wiederzulassung seines Bankhauses genehmigt, und schon kurze Zeit später wurde kräftig am Tinkler Wiederaufbau profitiert. Beziehungsweise Wirtschaftswunder, und zwar total, ja, sein Bankhaus erfuhr nun eine Blüte, wie er selbst in den Expansionsjahren nach der Gründung nicht erlebt hatte. Zum totalen Glück war auch Heinrich, der die Kriegszeit zunächst an der Westfront verbrachte, und dann in englischer Kriegsgefangenschaft, unbeschadet heimgekehrt. Und um das Erbe für sein Bankhaus endgültig abzusichern, ließ Wilhelm seinen Sohn Betriebs – und Volkswirtschaft studieren. Erfolgreich wohlgemerkt, sehr erfolgreich, mit glänzendem Abschluss, und nur weitere wenige Jahre später hockte Heinrich am selben Schreibtisch, an dem er einstmals über tonnenschwere Hausaufgaben brütete. Mehr und mehr wurde er in die Geschäftswelt des Vaters eingeweiht, der immer lauter über einen Rückzug von der vordersten Front nachdachte, und immer öfter sprach er davon, noch einmal die sieben Weltmeere bereisen zu wollen. Ja, davon hatte er geträumt, und dies mehr wie den einen oder anderen Tag. 

Zu den wesentlichen Bestandteilen des Banklebens gehörten selbstverständlich das regelmäßige Teilnehmen an öffentlichen Veranstaltungen, beziehungsweise gesellschaftliche, wie Tanzbälle zum Beispiel, oder Empfänge, nicht nur zur Knüpfung und Pflege geschäftlicher Kontakte und Beziehungen, aber das natürlich auch. Und immer mehr schienen solche Ereignisse gerade für Heinrich, der immer häufiger mitgenommen worden war, geradezu rosige Aussichten in Aussicht zu stellen. Zumal viele der honorigen Gäste heiratsfähige Töchter im Geleit hatten. Alles eine Frage der Zeit, umso überraschter war der inzwischen gealterte Wilhelm, als der inzwischen auch schon ganz hübsch gereifte Heinrich eines Tages mit der Argentinierin Molina aufwartete. Mitten in seinem Büro, erspäht und kennen gelernt bei einer Revue - Show in einem Tinkler Tanzlokal mit einem eher anrüchigen Ruf, um es mal höflich zu formulieren. Wo er sofort von Feuer und Flamme erfasst worden war, ja, Feuer und Flamme, im wahrsten Sinn des Wortes, und zwar nicht zu knapp, Wilhelm indes schockiert, im höchsten Maß, passte diese schwarzhaarige Tingel – Tangel – Tänzerin mit einem geradezu provokativ tiefen Dekolleté doch nicht so recht in das seriöse Rampenlicht der seriösen Bankenwelt. Nicht nur aus diesem hatte Wilhelm sich ein solides Mädchen aus der Tinkler High Society erwünscht. Doch so verschnupft der alte Wilhelm an jenem Morgen ob des Anblicks von Molina auch war, und das auch noch inmitten seines Büros, so sehr machte Heinrich Nägel mit Köpfen, indem er seinen Vater vor vollendeten Tatsachen stellte. Am darauffolgenden Vormittag donnerte er eine vom Tinkler Standesbeamten rechtsgültig unterzeichnete Heiratsurkunde auf den väterlichen Schreibtisch. Beziehungsweise rechtskräftig, und von den ganzen Bankgeschäften, die ihm Zeit seines Lebens anwiderten, wollte sich Heinrich zurückziehen – und zwar zu hundert Prozent.

Um passende Autoschlüssel aus der Schublade seines Vaters zu holen, freilich für das Hineinfahren in die große weite Tingel – Tangel - Welt, wartete Heinrich am nächsten Morgen dann ein letztes Mal im Büro der Bankzentrale auf. Statt dem Vater fand er jedoch den Tinkler Stadtnotar Knöll vor, der ihn umgehend und ohne mit der Wimper zu zucken von Verfügungen des Alten in Kenntnis setzte. Der hätte nämlich über Nacht sämtliche Zelte abgebrochen, von sämtlichen sieben Sachen gepackt haben ganz zu schweigen, und war zu einer Weltreise aufgebrochen. Sämtliche Anteile des nach wie vor florierenden Bankhauses einschließlich der Geschäftsleitung hatte er zuvor und ausdrücklich Heinrich überschreiben lassen“.

Heinrich Andere  Kommt nicht in die Tüte – ich verkaufe den ganzen Kram einfach!

ßilberling Er hätte doch ganz andere Pläne. Pläne und Ziele, mit Molina, zu mehr wie frommen Wunschdenken sollte es allerdings nicht kommen. Denn ein Bankhaus mal ebenso schnell zu verkaufen – unter oder über den Tisch – erwies sich alles andere wie leicht. Und in der von Heinrich erhofften Eile, der in der Tat keine Zeit verlieren wollte, fehlte es sowieso an potentiellen Interessenten. Beziehungsweise ausreichend finanzkräftige. Somit schob Heinrich die Reise mit Molina auf, zähneknirschend wohlgemerkt, und nahm das Bankzepter in die Hand. Für eine angedachte Übergangszeit, in der dann vielleicht doch noch jemand fürs Übernehmen hätte gefunden werden können. Und von nun saß er auch nicht mehr an seinem alten Hausaufgaben – Schreibtisch, sondern an dem großen seines abtrünnig gewordenen Vaters. Und welcher abtrünnig blieb, beziehungsweise verschollen, alle hierfür polizeilich und auch von eigens engagierten Privatdetektiven in Gang gesetzten Suchaktionen waren lediglich von Erfolglosigkeit gezeichnet. 

Molina selbst hielt sich so gut wie gar nicht im Bankhaus bei Heinrich auf, es sei denn, sie benötigte etwas für ihre Haushalts– beziehungsweise Shopping - Kasse. Gerüchten, nach welchen sie mehr Zeit in Cafés und Kneipen verbrachte als in der schmucken Stadtvilla, die ebenfalls vom Vater überschrieben worden war, schenkte Heinrich weniger Bedeutung und Beachtung. Freilich aus Zeitmangel, freilich, freilich, doch umso mehr wurde er vor vollendeten Tatsachen gestellt, als er einmal nach Feierabend auf seinem Nachttisch im heimischen Schlafzimmer einen Brief von ihr vorfand. Und dass sie ihn nie richtig geliebt hätte, hatte Molina geschrieben. Mit einem Zirkus, der für ein paar Tage in Tinkel gastiert hätte, wäre sie mitgezogen. Heinrich indes ließ den Brief zu Boden fallen, aus dem Zimmer nebenan waren die Stimmen ihrer beiden Kinder zu hören. Dies waren Ladina und Hansi, für die ein Mädchen zu engagieren war. Mit Klara Meichelbeck kam dann eine voll ausgebildete, waschechte Kindergärtnerin in ihr Haus. Darauf folgend wurde sie für die beiden Kleinen wohl viel mehr wie eine hervorragende Erzieherin.

In den nächsten Jahren nun aber verbarrikadierte sich Heinrich mehr und mehr hinterm Schreibtisch in seinem Büro, brütete über Ordner und Akten, Bilanzen und Aktien, Kontoführungen und Kreditprüfungen. Lang waren die Tage, kurz die Nächte, und die uralte Kuckucksuhr gegenüber tickte und tickte in einem fort. Monat für Monat, Jahr für Jahr, die Zeit für Heinrich, schneller, immer schneller, die Intervalle des kleinen Vogels hinter dem Türchen, schneller und immer schneller. Und nicht nur unter der Belegschaft des Bankhauses wurde ob des schlechter und schlechter werdenden Gesundheitszustandes des Überarbeitenden gemunkelt. Schlechter, immer schlechter, nein, Ruhe war etwas, was Heinrich sich nie gönnte, mit allerlei Tabletten gelang es sich halbwegs, aufrecht zu halten, die permanente Farblosigkeit in seinem Gesicht nicht zu vergessen, so dass man nie so recht wusste, ob man überhaupt noch mit einem noch Lebenden sprach. Wenn man ihm gegenübersaß, und an einem Morgen war es dann so weit, eine Sekretärin fand ihn beim Hereintragen der Morgenakten zusammengesackt hinter seinem Schreibtisch vor. Und noch vor der Beerdigung für Heinrich hatte Hansi die Hebel der Geschäftsleitung in die Hände genommen. Mehr wie provisorisch, und unmittelbar nach der Testamentseröffnung ließ sich Ladina von ihm ihre Anteile auszahlen, zog nach Amsterdam, wo sie bald schon einen arrivierten Kunsthändler heiratete.