Die Präsidentin - Dieter Kühn - E-Book

Die Präsidentin E-Book

Dieter Kühn

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Beschreibung

Eine Gaunerkomödie, ein Wirtschaftskrimi, die Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau: Dieter Kühn porträtiert die geniale Hochstaplerin Marthe Hanau, die sich im Paris der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Finanzimperium erschwindelte – eine Wirtschaftskriminelle ersten Ranges. Durch Manipulation von Aktienkursen, die Gründung von Scheinfirmen und windige Abschreibungen erschuf sie ein gigantisches Finanz- und Zeitungsimperium, betrog Tausende von Kleinanlegern, vermischte Geschäft und Politik – Kühns biographischer Roman ist von fortwährender Aktualität.

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Dieter Kühn

Die Präsidentin

Roman eines Verbrechens

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Marthe Hanau, Gründerin und Direktorin eines Zeitungs- und Finanzkonzerns! So präsentiert sie sich auf der Fotografie, die neben mir auf dem Arbeitstisch liegt: robuster Oberkörper, mächtiger Schädel, die Bubikopffrisur der zwanziger Jahre, ihr Blick fest aufs Kameraobjektiv gerichtet. Ich sehe hinter ihr Holztäfelung, sehe vor ihr einen Schreibtisch, die Platte blank, Papierblock und Tintenlöscher gespiegelt, Rosen in einem Glaskelch und tatsächlich eine Sektflasche in einem (bestimmt silbernen) Eiskübel: Statussymbol! Sie stützt den rechten Ellbogen auf die Tischkante, hält den Telefonhörer an ihr rechtes Ohr, Kopf etwas schräg, ihr Mund freilich geschlossen; so schaut sie den Betrachter an: Madame Hanau.

Als Erstes wäre zu erzählen, wie sie an diesen Schreibtisch kam, wie sie in der Wirtschaft aktiv wurde. Oder müsste ich schon vorher ansetzen, beispielsweise bei ihrem Geburtsdatum? Das erklärt nicht ihre späteren Börsenmanipulationen, soll ich es deshalb fortlassen? Andererseits: Marthe Hanau ist Koordinationsfigur dieses Buchs, da müsste ich wenigstens ein paar biographische Informationen bringen.

Also doch anfangen bei ihrer Geburt – aber dann weiter in raschen Sprüngen! Ihr Geburtsort ist Paris, das Geburtsjahr 1886. Und wer es noch genauer wissen will, der soll auch den Geburtstag haben: der erste Januar. Und ihre soziale Herkunft – könnte das nicht wichtig sein? Ist sie etwa Tochter eines Fabrikanten, gehört damit zu einer der Gruppen, aus denen ›führende Persönlichkeiten‹ des Wirtschaftslebens hervorgehen? Oder kommt sie aus sozialen Verhältnissen, die ihr solch einen Vorsprung nicht geben? Ja, ihre Eltern sind Kaufleute, kleine Kaufleute – ein Wäschegeschäft am Boulevard de Clichy.

Die Mutter fleißig, sparsam, strebsam, der Vater hingegen hat teils keine rechte Lust mehr zu geschäftlicher Aktivität, teils kann er auch nicht mehr aktiv sein: dieser offenbar ansehnliche, lustige Elsässer, der gerne trinkt, erzählt, Musik macht, soll eine Krankheit haben, die als »geheim« bezeichnet wird in der prüde tuschelnden Gesellschaft, und diese Krankheit hat ihn schon ziemlich bewegungsunfähig gemacht. Bei ihm sitzt Marthe-Marie gerne, um zu klönen; die verkniffene Energie der Mutter findet bei ihnen keinen Beifall.

Wenn man mit kleinen und engen Verhältnissen nicht zufrieden ist, so will man höher hinaus – das will auch Marthe. Unbedingt möchte sie auf das Konservatorium, möchte Pianistin werden. Der Vater findet das wohl richtig, die Mutter hingegen hält das für Mumpitz, für Firlefanz, die Tochter soll erst mal anständig das Arbeiten lernen, und zwar im eignen Geschäft.

Mutter Lucie hat das Sagen im Hause Hanau, also muss Marthe im Wäschegeschäft arbeiten: Baby-Grundausstattungen verpacken, Aussteuer-Wäsche verpacken, Baby-Grundausstattungen verpacken, Aussteuer-Wäsche verpacken, das wiederholt sich. Das führt nicht weiter. Marthe aber will weiter, will höher hinaus, das ist ja wohl das Recht der einzigen Tochter. Und so entwickelt Marthe schon früh einen Lebensstil, der Mutter Lucie überhaupt nicht gefallen will: eigenwillige Kleidung, Besuch von Lokalen, Rauchen in der Öffentlichkeit, ein Freund mit Auto. Das ist damals, kurz nach der Jahrhundertwende, noch etwas ganz Besonderes. Marthe will in diesem Auto nicht bloß mitgenommen werden, sie will es selbst steuern, der reiche Freund erlaubt es: Marthe am Lenkrad, sicher eine der ersten Frauen in Frankreich.

Hier ist mehr Beziehung zum Auto als zum jungen Mann: bereits auf den ersten Seiten des Buchs werde ich berichten, vielleicht sogar erzählen müssen, dass Marthe früh schon Freundschaft mit Mädchen vorzieht. Beispielsweise lernt sie in einem Urlaub eine Musikerin kennen, es wird ein unvergesslich schöner Urlaub, man schreibt sich danach Briefe, unter poetischem Kennwort auf der Post abzuholen, und die misstrauische, auf geordnete und normale Verhältnisse bedachte Mutter schaut heimlich in die nicht schlau genug versteckten Briefe, liest daraus hah! ein abnormes Verhältnis ab, schreit, heult, droht, setzt einen bösen Schlusspunkt. Aber Marthe findet bald Trost bei einer Verkäuferin des Wäschegeschäfts, Mutter Lucie erwischt die beiden auch mal, wahrscheinlich hinter einem Wäscheregal, und wieder gibt es Geschrei und Tränen und Drohungen, wieder einmal wird ein Verhältnis abrupt beendet, die Verkäuferin fliegt raus. Ob ich diesen Abschnitt des Lebensromans in meinem Roman nachschreiben werde? Oder soll ich diese Phase mit ein paar Andeutungen überspringen und ich erzähle gleich von Lazare Bloch, den sie zweiundzwanzigjährig kennen lernt, und er ist dreißig?

Lazare Bloch ist für dieses Buch sehr wichtig, er kann gar nicht früh genug eingeführt werden: gemeinsam mit ihm führt sie alle großen Transaktionen durch, Gründung und Aufbau der Zeitung, der diversen Aktiengesellschaften. Dass Bloch als hässlich gilt, ist leicht zu erfahren: sein grobes Gesicht, seine zu große Nase. Über seinen sehr viel wichtigeren Beruf aber gibt es widersprechende Aussagen: mal ist er Ingenieur, mal Kammgarn-Vertreter, mal Finanzmakler. Wenn mir das so gleichrangig angeboten wird, entscheide ich mich natürlich für den dritten Beruf: die Börsenmanöver, die er später mit Marthe durchführt, setzen Kenntnisse auf dem Kapitalmarkt voraus. Und so lasse ich ihn Mitgliedern des gehobenen Bürgertums Anteile anbieten, beispielsweise an einer neu gegründeten Kabelfabrik in Lyon. Dabei könnte er suggestive Vorstellungen entwickeln über die Aussichten der Elektrobranche insgesamt: Die Zukunft wird dem Strom gehören, ständig zunehmende Elektrifizierung, eines Tages wird Frankreich, wird Europa über ein dichtes Netz von Stromleitungen versorgt – und das heißt: wachsender Bedarf an Kabeln, wachsende Produktion von Kabeln, wachsende Gewinne hier.

Diesen Bloch will Marthe heiraten. Sicher werden dabei Absprachen getroffen: Kein bürgerlich hausbackenes Verhältnis bitte, keine Kinder, und so weiter. Von diesen wäschegeschäftsschädigenden Verabredungen wird Mutter Lucie nichts ahnen. Aber auch sonst wird ihr dieser Lazare Bloch kaum gefallen, dem man unsolide Lebensverhältnisse nachsagt und sogar eine verderbliche Spielleidenschaft. Aber immerhin, er ist ein Mann, endlich, da will Mutter Lucie auch diese Nachteile in Kauf nehmen. So findet denn die Hochzeit statt.

Wahrscheinlich werden dem Paar zu diesem Festtag ganze Stapel von Bettwäsche, Babywäsche, Leibwäsche geschenkt. Wichtiger ist ihnen eine Erbschaft, die Marthe nun ausgezahlt wird. Ein offenbar höherer Betrag – die beiden aber scheinen das Geld rasch durchzubringen, vor allem beim Spiel: Marthe und Lazare spielen gern Baccara, Poker, Roulette.

Nach ungefähr zwei Jahren trennen sie sich wieder, lassen sich aber offiziell noch nicht scheiden – das geschieht erst zehn Jahre später, 1920. Aber auch dann werden sie weiterhin zusammenarbeiten, sehr intensiv. Hier sind die beiderseitigen Beziehungen zu Frauen kein Hindernis: Lazare heiratet nochmal, zeugt das erste seiner vielen Kinder, und Marthe bindet sich an Delphine, die gleich einen mannweiblichen Vornamen erhält: Josèphe. Diese Tochter eines reichen Juweliers hat viel Geld, ist ebenso wie Marthe an lukrativem Geschäft interessiert, die beiden beschließen, eine Fabrik für Kosmetika zu gründen, in Lilas. Lazare Bloch wird hinzugezogen, er kümmert sich vor allem um das Technische.

Spätestens hier werde ich von dieser biographischen Basis abspringen: Wie ein lesbisches Paar eine Kosmetikfabrik gründet und leitet, das würde sicherlich allerhand Schreib- und Lesestoff liefern, aber davon lasse ich mich nicht verleiten. Wichtiger als die Beziehung dieser jungen Frauen ist für mich nun die Gründung einer Fabrik in jener Vorkriegszeit: Was könnten hier Marthe und Lazare für ihre späteren Transaktionen lernen?

 

Nach dieser Leerzeile setze ich neu an. Dass Lazare bei der Firmengründung mitgewirkt hat, motiviert für den folgenden Entwurf seine noch sehr viel entschiedenere Mitarbeit. Delphine wird so lange beurlaubt, ich kann sie hier nicht brauchen.

Der Roman wird also wohl an diesem Punkt erzählend ansetzen: Wie Marthe auf den Einfall kommt, eine Kosmetikfabrik zu gründen. Das kann so beginnen: Marthe schraubt ein Döschen mit Gesichtscreme auf, steckt den Zeigefinger rein, beriecht ihn, schaut gar nicht zufrieden aus; Marthe spricht mit anderen Frauen über Körperpflege, Schönheitspflege; Marthe tupft eine Flüssigkeit auf ihren Handrücken, beschnuppert ihn, hält die Hand unter den Wasserhahn; Marthe lässt eine Frau an einer aufgeschraubten Cremedose riechen, beide versuchen zu beschreiben, was sie riechen, was sie nicht riechen, was sie gern riechen möchten.

Und dann eine Besprechung mit Lazare, in einem Restaurant oder Café. Einleitend fragt sie wohl, ob es zurzeit wirklich so günstig wäre, eine Fabrik zu gründen – man lese und höre das jedenfalls des Öfteren.

Lazare wird das bestätigen, verweist dabei aber auf Unterschiede in den Produktionsbranchen.

Darauf kann Marthe fragen: Wenn es in einigen Branchen derzeit so aussichtsreich sei, ein Unternehmen zu gründen, warum verkauft er da eigentlich nur Anteile und macht nicht gleich selbst eine Fabrik auf?

Lazare wird erst mal gar nichts dazu sagen, wird kauen oder schlürfen. Dann mag er anmerken, er sei Finanzmakler und kein Unternehmer.

Aber wenn die Lage im Allgemeinen so günstig ist für Unternehmer, wird Marthe insistieren, warum nicht gleich Unternehmer werden?

Lazare wird antworten, sie dürfe hier nicht so scharf trennen: er besitzt wahrscheinlich selbst Anteile bei den Kabelwerken, ist also in gewisser Weise Mitunternehmer.

Darauf wird Marthe erneut die Frage wiederholen, warum er nicht richtiger Unternehmer werden will.

Ob er vielleicht noch eine Kabelfabrik gründen soll, wird er gegenfragen.

Das wird sie nicht gemeint haben: es muss nicht unbedingt die Elektrobranche sein.

Lazare wird knapp fragen: Was sonst? Marthe berichtet: sie hat sich seit einiger Zeit umgeschaut, umgehört, ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Marktlage sehr günstig ist für neue Kosmetika.

Nun wird Lazare erklären, auf diesem Sektor werde bestimmt genug produziert.

Dies mag Marthe bestätigen, aber das sei alles nicht das Richtige. Sie hat mit vielen Frauen gesprochen, nicht bloß aus dem Bekanntenkreis: gute Produkte, richtig präsentiert, hätten hier enorme Chancen. Es würde derzeit kaum Spaß machen, diese Töpfchen und Fläschchen zu öffnen: meist nur der übliche Geruch, sonst nichts. Frauen würden Cremes und Lotionen aber nicht bloß kaufen, um Schönheitspflege zu betreiben, hier geschehe mehr. Dieses Mehr lasse sich nur schwer bestimmen: es sei etwas wie die Erwartung einer nicht bloß äußerlichen Veränderung. Und dies müsse verkauft werden!

Lazare werden diese Ausführungen nicht präzis genug erscheinen: auf solcher Basis lasse sich kein Unternehmen gründen. Da bleibe er lieber in der Elektrobranche: die habe Zukunft, die sich berechnen lasse.

Dazu Marthe: In der kosmetischen Branche sei auch Zukunft, sehr viel Zukunft, und zwar gerade, weil diese Zukunft sich nicht so genau vorausberechnen lasse.

Lazare mag das paradox erscheinen. Er wird mit betonter Nüchternheit fragen, erstens, was hergestellt und zweitens, wie es vertrieben werden soll. Bevor das nicht klar sei, hätte es kaum Zweck, länger darüber zu reden.

Darauf wird Marthe erklären, sie werde das nochmal durchdenken, werde es möglichst präzis formulieren. Sie sei aber jetzt schon völlig sicher, dass hier gute Chancen seien, sehr gute Chancen.

 

Marthe wird Lazare in der nächsten Besprechung sagen, dass sich viele Frauen ihrer Umgebung langweilen, sie wollen Besonderes erleben. Diesen Wunsch müsse man mit jedem Cremetopf, mit jeder Lotionsflasche verkaufen. Schon, wenn Frauen die neuen Gefäße sehen, sie öffnen, muss es sie aus dem Gewohnten herauslocken, herausreißen: Abenteuer! Dies müsse man verkaufen: Abenteuer! Hochgerissen werden in einen Sattel, womöglich in einen orientalischen Sattel, und kaum ist man entführt, kommt ein andrer dahergaloppiert, orientalisch bunt gekleidet, der will die Frau gleichfalls haben, schon kämpfen sie mit blitzenden Krummschwertern, wie in Büchern, die ihre Bekannten lesen, die Marthe ebenfalls gelesen hat, und ein Orientale wird halbiert, der andre kriegt die Frau: so etwas ließe sich verkaufen! Dabei müsse die Creme oder Lotion in ihrer Zusammensetzung so neuartig gar nicht sein; wichtig wäre vor allem das verlockende Leitbild, sichtbar gemacht durch einen guten Reklamezeichner. Überzeugt das Lazare? Ich nehme an.

Marthe wird mit einem Zeichner Entwürfe besprechen: immer schwungvoller der orientalische Reiter, der eine Frau hochreißt auf den Pferderücken. Das wird durchvariiert, bis der Schwung kaum noch zu steigern ist. Die Zeichnungen dann koloriert. Im Vordergrund dazugemalt das Produkt, das noch nicht produziert wird, in dieser Phase aber sicher schon einen Namen hat, ich schlage vor: »L’Orient«.

Lazare Bloch sieht nun Erfolgschancen, hilft bei der Gründung einer Kosmetikfabrik. Sicher beginnen sie vorsichtig disponierend mit wenigen Arbeitern in einem kleinen, erweiterungsfähigen Fabrikationsraum. Fünf, sechs Arbeitskräfte können bereits eine große Zahl von Cremetöpfchen und Lotionsfläschchen füllen. Bei erfolgreicher Verkaufskonzeption steigt die Produktion: noch mehr Hände und Geräte, die duftenden Brei anrühren, duftendes Wasser abfüllen, Etikette aufkleben mit frauenraubenden Reitern. Der Fabrikationsraum wird erweitert.

Bestimmt entwickelt Marthe nun neue Verkaufsideen, die Produktion soll weiterhin gesteigert werden. Marthe Bloch also nachdenkend: Will eigentlich jede Frau geraubt sein? Wird es nicht Frauen geben, die weder im Tagtraum noch im Nachttraum auf ein Pferd gerissen werden wollen, entführt in ein zwar buntes, aber unbestimmtes Abenteuer hinter dem Horizont? »L’Orient« – lässt diese Markenbezeichnung nicht auch andere Vorstellungen zu? Beispielsweise: Gärten, duftende Gärten, die berühmten duftenden Gärten mit Blumenbeeten, zwischen denen man auf- und abschreitet, selbstverständlich schlank, zartgliedrig? Solch einen Gartenorient lässt Marthe eventuell als Nächstes entwerfen von ihrem Zeichner, der sich bewährt hat, oder von einem neuen Zeichner mit neuen Ideen. Auch dies ein Orient, der sich verkaufen lässt: neue Duftnote in die Creme, in die Lotion, neue Behälterform, neues Etikett, das der Werbegrafik in Zeitungen und Journalen entspricht. Erhöhte Umsätze, der Fabrikationsraum wiederum erweitert; etwa ein Dutzend Arbeiter könnte pro Tag schon eine Menge Töpfchen und Fläschchen füllen, zuschrauben, etikettieren, verpacken.

Weitere verkaufsfördernde Formen des Orients? Hier könnte Marthe an den Geist denken, der aus der entkorkten Flasche hochwächst, hinauf bis an die Wolkengrenze, und das Problem besteht im Märchen darin, wie man ihn wieder in das Gefäß reinlockt; könnte man diesen bösen Geist nicht in einen schönen Geist verwandeln? Und der Mann, der im Märchen vor Angst in die Knie gegangen ist, dieser Mann kniet nun freiwillig, Arme ausgebreitet, Handflächen hochgedreht, Kopf im Nacken, denn aus der Flasche, aus dem Gefäß schwebt hoch die Vision einer sehr schönen Frau? Und das Gefäß, aus dem sie wächst, gleicht dem Gefäß, auf das dieses Bild als Etikett geklebt wird?

Ist dieses Konzept erst einmal entwickelt, durch den Zeichner fixiert, so ist rasch eine neue Duftkomponente produziert: Marthe wird sehr genau wissen, dass es in dieser Branche wichtiger ist, Vorstellungen, Erwartungen, Träume zu verkaufen als Wirkstoffe. Möglichst viele Frauen müssen sich vom Werbebild des orientalisch bunten Reiters mitreißen lassen, müssen sich in die orientalisch üppigen Gärten der Reklamebilder versetzen wollen, müssen sich aufsteigen sehen aus orientalischem Zaubergefäß, und tief unten werden sie bewundert – Marthe und Lazare verkaufen Träume, und sie verkaufen gut. Die Zahl der Arbeiter steigt wiederum, so nehme ich an. Sicherlich wird auch die Verkaufsorganisation ausgebaut: schicken Marthe und Lazare Vertreter nach Lyon, nach Bordeaux, nach Lille, nach Caën, nach Marseille, und die empfehlen dort Geschäftsinhabern den Verkauf der neuen Produkte, bieten Gewinnmargen an, die erheblich höher liegen als bei Konkurrenzunternehmen?

Plötzlich wird die Fabrik geschlossen: der Weltkrieg! Da müssen Arbeiter an die Front, Arbeiterinnen in die Rüstungsindustrie.

2

In einem der vorwiegend journalistischen Berichte über Marthe Hanau lese ich, dass sie im Krieg eine Erfindung macht: sie erfährt, dass die braven Poilus infolge Kampfeinwirkungen die Suppe oft kalt auslöffeln müssen, vorn in den Schützengräben, Schützenlöchern, und das erweckt ihr Mitgefühl, erweckt zugleich ihren Erfindungsgeist, sie kommt auf die Idee, dass hier ein Kranz von Harzkügelchen hilfreich wäre: um das Kochgeschirr geschlungen und angezündet, macht er die Suppe warm und erfreut den abgekämpften Soldaten zugleich durch angenehmen Duft.

Wäre so etwas nicht Unterhaltungsromanfutter? Da würde denn erzählt, wie solch eine Harzkügelchenkettenfabrik gegründet wird, wie Umsätze steigen, Gewinne wachsen, aber wichtiger, so könnte betont werden, sei doch die Verbindung von gesundem Verdienststreben und sozialem Empfinden – was auch typisch sein werde für die spätere Hanau.

Solch ein Roman würde kaum darauf verzichten, in diesem Punkt partnerschaftliche Entsprechung zu Lazare Bloch herauszustellen. Der will nämlich auch etwas für die Front tun, erfindet die »tube du soldat«: sie enthält eine Kompaktmischung von Kaffee und Rum, geeignet, »die Kampfkraft unserer tapferen Soldaten zu stimulieren«. Nach einiger Zeit müssen die Justizbehörden freilich, aufgrund einer anonymen Anzeige, feststellen, dass der Inhalt nicht ganz der Aufschrift entspricht, es ist weniger Kaffee enthalten als gedruckt steht, auch am Rum spart Lazare; er kommt vor Gericht, muss gestehen, dass sich »ein Fehler in der Dosierung« eingeschlichen habe, wird zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die Strafe aber setzt man zur Bewährung aus.

Nun ist Marthe wieder dran! Sie erfindet die »Verzauberte Schüssel«. Durch einen nicht näher beschriebenen Trick täuscht dieser Topf wohl eine Portion vor, die in den mageren Kriegsjahren wenigstens die Augen sättigt – oder dient der Topf direktem Verkaufsbetrug? Jedenfalls, wegen Lebensmittelschwindels soll Marthe ins Kittchen kommen, fällt aber gerade noch rechtzeitig unter die Amnestie des Siegesjahres 1918.

Über diesen Harzkugelkranzundschüsselkram werde ich im Roman nichts schreiben, das erscheint mir zu banal. Wer sich auf so etwas einlässt, käme auch nicht daran vorbei zu erzählen, wie Marthe als Mann verkleidet in die Pariser Börse eindringt, die nur Männern vorbehalten ist, nach alter Tradition.

So ein Episödchen würde mit einer Massage beginnen, wie es überliefert oder als Überlieferung erfunden ist, die Masseuse knetet und walkt das üppige Fleisch der breitschultrigen Marthe, und die erfährt nun, dass bei der Suez-Aktiengesellschaft eine Entscheidung gefallen ist, irgendwas mit Obligationen, meint die Masseuse, die das von einer Kundin gehört hat, der Bekannten einer Frau eines Anwalts, der für die Suez-Gesellschaft arbeitet. Marthe erkennt sofort, dass sich mit solch einer noch nicht allgemein bekannten Nachricht an der Börse Geld machen lässt, sie springt auf, läuft mit wogendem Busen zum Telefon, erkurbelt Induktionsstrom, ruft Lazare an: zu jener Zeit ist das Anrufen tatsächlich noch ein Rufen in ein dichtes Knacken und Rauschen. Nachdem sie sich mit Lazare abgesprochen hat, ruft sie, jeweils vorher kurbelnd, auch Freunde an, ihr breites Gesäß vor Entschlossenheit zusammengekniffen, sie gibt Kauf- und Verkaufshinweise, lässt sich dann beim Ankleiden helfen, bei Männerkleidung braucht sie Hilfe, und rasch die Fahrt zur Börse, dabei ließe sich durch fiktive Blicke aus dem Taxifenster ein bisschen Paris der zwanziger Jahre sichtbar machen, schließlich stapft sie die Börsenstufen hinauf, betritt den Börsensaal, deckt sich mit Suez-Aktien ein, deren Kurs bald darauf steigt, macht den Sack zu. Diese Episode könnte abgeschlossen werden mit ihrem bekannten Triumphgelächter, das guttural kräftig gewesen sein soll.

Doch darüber wird im späteren Roman nichts stehen! Selbst wenn Zeugen aus jener Zeit an meinem Arbeitstisch aufmarschierten, greisenhaft gekrümmt die Masseuse persönlich oder eine damals noch jüngere Freundin der Masseuse oder deren Tochter, und sie berichteten glaubhaft, ja beglaubigt, dass Marthe tatsächlich einmal als kleiner bärtiger Mann in die Börse ging, dort Suez-Aktien kaufte und bald darauf Kursgewinne realisierte – selbst dann würde ich es im gegenwärtigen Vorbereitungs- und Entwurfsstadium bloß zur Kenntnis nehmen, würde es nicht ausführen im Roman: das ist mir zu albern, comprenez-vous, das ist Unterhaltungsroman, deshalb wische ich euch Zeugen mit der Schreibhand weg, von links nach rechts auf diesem Papier, lasse eine Leerzeile frei, setze neu an.

 

Und hier, kurz wenigstens, hole ich einige biographische Angaben nach, als Ausgangsbasis weiterer Entwürfe.

Lazare übernahm 1915 von seiner Partnerin das Gebäude der ehemaligen Kosmetikfabrik, wollte hier Kriegsproviant produzieren, Marthe ließ sich von ihm auszahlen, kaufte für das Geld als Erstes ein Auto, Marke Torpedo, Modell 1914, raste herum, kollidierte ziemlich bald mit einem Militärfahrzeug, wurde bewusstlos ins Krankenhaus Malmaison eingeliefert, schwere Gehirnerschütterung. Während des Aufenthalts im Krankenhaus wurde sie von einem jungen Arzt zusätzlich nach der damals noch berüchtigten freudschen Methode behandelt, mit ihrem Einverständnis: Marthes Innenleben interessiert mich hier freilich nur wenig, psychologische Motivationen können in diesem Buch höchstens zweitrangig sein.

Während des Krieges dann half Marthe in Lazaretten aus, wie das in der bürgerlichen Schicht jener Zeit üblich war. Auch zog sie mit anderen Frauen Wohltätigkeitsbasare auf. Kurz: sie ist rührig.

Nach dem Krieg nun kehrt Josèphe aus New York zurück, die beiden Frauen ziehen zwar nicht in eine gemeinsame Wohnung, sind aber bei jeder Gelegenheit beisammen. Und wieder investiert Josèphe Geld, diesmal in ein Unternehmen von Lazare Bloch, das vorläufig nicht so recht florieren will: das Comptoir Textile du Nord, Grossist von Textilien.

Mit Recht fordert Josèphe, dass Marthe sich endlich von Lazare scheiden lässt – das geschieht denn auch, Marthe hört wieder auf ihren Mädchennamen. Die guten Beziehungen zu Lazare werden von dieser offiziellen Trennung nicht beeinflusst: soll er seine Frau, seine Freundinnen haben, sein uneheliches Kind, seine wachsende Schar ehelicher Kinder – Marthe und Lazare verstehen sich sehr gut im geschäftlichen Bereich, muntern sich wechselseitig auf mit Ideen, Plänen, Aktionen.

Zu Beginn der zwanziger Jahre wird Marthe aktiv auf dem Börsenmarkt. Ihre Spezialität ist das »Animieren« von Aktienkursen: als »animateur« bietet sie ihre Dienste kleineren oder neuen Aktiengesellschaften an, will deren Kurse hochkitzeln, hochtreiben. Das scheint ihr auch zu gelingen, ihre geschäftliche Basis erweitert sich, sie gründet nach einiger Zeit das Groupement Technique de Gérance Financière, sinngemäß zu übersetzen als »Arbeitsgemeinschaft für Portefeuille-Verwaltung«. Diese Interessenverbindung soll, nach einer Proklamation der Hanau, »die Isolierten vereinigen«, soll »die Sparer zusammenschließen zum Zweck der gewinnbringenden Verteilung der Erträge, die professionelle Finanzleute dadurch erzielen, dass sie mit allen Trümpfen in der Hand im Auftrag der Kunden spekulieren«. Dieses Unternehmen, mit Sitz zuerst in der Rue Marivaux, ist zu Beginn personell noch bescheiden besetzt, die Einzahlungen und Umsätze aber scheinen rasch zu wachsen.

Mit den Erfolgen nehmen die geschäftlichen Kontakte zu; schließlich lernt Marthe Hanau einen bekannten und wichtigen Mann kennen, Léonard Rosenthal, genannt »Perlenkönig«, Träger des Ordens der Ehrenlegion, Verfasser des Buchs Wir werden reich sein! Und er ist sehr reich, importiert mit seinem Bruder Perlen aus Indien, exportiert sie wiederum in alle Regionen der Welt. In Perlen, in Edelsteinen sieht er zwar die sichersten Anlagewerte seit der Römerzeit, doch er spekuliert auch gern mit Aktien. Besonders zukunftsreich erscheint ihm die Erdölbranche. Er besitzt das Aktienpaket von Pétroles de Madagascar und hätte gern, dass ihr Kurs tüchtig steigt. Mit den Vorrechten des Großaktionärs hat er bereits einen neuen Mann in den Vorstand lanciert: Charles Bertrand, Bürgermeister, Mitglied der Deputiertenkammer, hoher Verbandsfunktionär. Bertrand nun hat vorgeschlagen, zur Aufwertung dieser Aktiengesellschaft ein positives Gutachten erstellen zu lassen von einer möglichst angesehenen Persönlichkeit, und die findet man in Graf Maurice-Bernard de Courville, fünfzehn Jahre Technischer Direktor des Rüstungskonzerns Schneider-Creusot, Mitbegründer der rechtskonservativen Tageszeitung Action Française, hoher Mitarbeiter im Marineministerium während des Krieges, Offizier der Ehrenlegion, Vorstandsmitglied verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften: eine prachtvolle Repräsentationsfigur.

Auf diese beiden Herren setzt Rosenthal große Hoffnungen, will aber zusätzlich einen Börsenspezialisten heranziehen; ihm wird Marthe Hanau empfohlen, Direktorin des Groupement Technique de Gérance Financière. Er nimmt Kontakt mit ihr auf, ist beeindruckt von ihrem Ideenreichtum, von ihrer Energie, will sie mit seinen neuen Partnern bekannt machen, ein Diner im Maxim wird verabredet.

Ich nehme an, man kommt hier rasch zur Sache. Von einem positiven Bericht eines so angesehenen Mannes wie Courville wird Marthe sicher viel halten, wird aber hinweisen auf die Notwendigkeit einer möglichst breiten Publizität, dann erst wäre eine positive Auswirkung auf den Kurs der Pétroles de Madagascar möglich. Denn nur über die Presse – das sieht Marthe Hanau ganz klar – lassen sich Aktienkurse erfolgreich beeinflussen: je mehr Zeitungen man mit entsprechenden Nachrichten versorgen kann, desto wirkungsvoller. Nur wird man einkalkulieren müssen, dass es hier andere, womöglich gegenläufige Interessen und Optionen geben wird – die Wirtschaftsseiten und Finanzblätter abhängig von den jeweiligen Besitzern, die ihrerseits bestimmte Interessen haben, denen das Publikationsorgan dienen soll. So wird Marthe Hanau zu dem Schluss kommen, dass man Aktien am besten animieren oder stimulieren kann durch ein Presseorgan, über das man ausschließlich selbst verfügt.

 

Mit diesem Stichwort springe ich wieder ab von der biographischen Basis, will entwerfen, wie eine Wirtschaftszeitung aufgebaut werden kann.

Sehr wahrscheinlich hat Marthe Hanau schon vor diesem Treffen an die Gründung oder Leitung einer Wirtschaftszeitung gedacht, hat sich hier umgehört, und eines Tages erhält sie, vielleicht telefonisch, einen wichtigen Hinweis: eine neue Finanzzeitung, La Gazette du Franc, ist kurz nach ihrer Gründung in finanzielle Schwierigkeiten geraten, soll verkauft werden. Marthe fragt als Erstes nach Eigentümer, Herausgeber, Chefredakteur, notiert Namen, die ich weder suchen noch erfinden muss, die sind hier unwichtig. Wie viel konnte Anfang 1925 eine fast bankrotte Zeitung kosten? Viel wird es nicht gewesen sein.

Die Hanau bedankt sich für die Informationen, verspricht wohl noch keine Prämie für den Hinweis, will vorerst das Ergebnis der Verhandlungen abwarten – deshalb höchstens eine Andeutung: Wir sprechen uns nochmal in dieser Sache, vorerst besten Dank!

Danach wird sie wohl Lazare Bloch anrufen, ihn zu sich bitten, und sie bespricht mit ihm den geplanten Kauf dieser Zeitung, überlegt, wie man ihr Ansehen erhöhen, ihre Auflage steigern kann. Wichtig, entscheidend wichtig wird ein guter Chefredakteur sein – am besten ein Wirtschaftsjournalist. Es werden verschiedene Namen erwogen, man einigt sich schließlich auf einen Kandidaten: ein Mann, der sich bereits ›ausgewiesen‹ hat, etwa durch eine Broschüre, in die Marthe und Lazare gleich mal reinschauen. Ist der Eindruck positiv, so werden sie den Mann einladen.

Bei seinem Vorstellungsbesuch werden die Hanau und ihr Bloch sehr genau beobachten, wie sich der Kandidat verhält. Schneidet er auf, spielt er den Bescheidenen? Spricht er weitschweifig oder knapp? Was hat er bisher gemacht, wie denkt er politisch? Die Hanau macht während der Unterredung Notizen, um einige seiner Aussagen zu überprüfen – er soll ruhig sehen, dass sie skeptisch ist. Sie lässt ihn wohl auch von seiner Familie sprechen: wird er sentimental? Sie lässt ihn eventuell noch erzählen, was er in seiner Freizeit so treibt: redet er gern von sich oder sagt er bloß das Nötigste?

Nur bei positivem Gesamteindruck wird die Hanau von ihrem Plan sprechen, selbstverständlich ganz allgemein, ohne den Namen der Zeitung zu nennen.

Ist der Kandidat wief, und ein Redakteur der Hanau muss wief sein, so weiß er schon, um welche Zeitung es sich handelt, nennt die Gazette beim Namen.

Die Hanau wird nun fragen, was die bisherige Redaktion seiner Meinung nach falsch gemacht hat.

Redet der Kandidat pauschal von Auswirkungen der allgemeinen Krisensituation nach dem Krieg? Oder geht er ins Detail, verweist auf antiquierten Umbruch, auf trocken belehrende Schreibweise?

In diesem Fall wird ihn die Hanau oder wird ihn Bloch fragen, wie man diese heruntergewirtschaftete Zeitung wieder hochkriegen könnte; falls er auch hierzu Konkretes sagen kann, so sind seine Aussichten günstig.

Marthe Hanau wird ihn dann eventuell zu einem Abendessen einladen, in ein führendes Restaurant: wie verhält er sich hier? Auch nach größerem Alkoholkonsum? Trumpft er auf, wird er larmoyant? Bleibt er in Form, so lässt sie eventuell Freunde kommen, ein Ehepaar: wie führt sich der Kandidat vor der ihm unbekannten Frau auf, vor deren Mann? Etwa als künftiger Redakteur, der alles umkrempeln wird, überhaupt ein Pfundskerl ist? Oder horcht er den Mann aus nach seiner Tätigkeit, bringt ihn so weit, dass er Einzelheiten berichtet? Auch das wird für die Hanau, wird für ihre Zeitung wichtig sein.

Wenn man, sagen wir, bis gegen 2 Uhr früh zusammengesessen, reichlich gespeist, noch reichlicher getrunken hat, so wird sie den Kandidaten möglicherweise bitten, sie am nächsten Morgen um zehn nochmal zu besuchen und ihr einen ersten Stufenplan vorzulegen. So kann sie testen, ob er auch nach alkoholreichem Abend am nächsten Morgen fit ist. Erfüllt er auch diesbezüglich ihre Erwartungen, so wird sie ihm ein Gehalt anbieten, das höher liegt als seine bisherigen Bezüge.

Oder aber sie schmeißt plötzlich alles um, folgt doch nicht solchen Auswahlkriterien (die mir ein Fachbuch nahe legt), will sich mehr auf ihren Riecher verlassen, auf ihr Fingerspitzengefühl, und da scheint dieser Kandidat doch nicht ganz der rechte Mann zu sein, auch wenn er eigentlich alle Vorbedingungen erfüllt? Genau kann sie nicht erklären, weshalb sie ihn nicht einstellen möchte, es ist letztlich nur ein Gefühl, das gegen ihn spricht – kurz, sie mag ihn nicht so recht.

Sucht sie nun weiter? Oder ist das gar nicht mehr nötig, weil der rechte Mann schon mit ihr am Tisch sitzt, im Maxim, beim Gespräch über die mögliche Neugründung einer Finanz- und Wirtschaftszeitung? Dieser Charles Bertrand zum Beispiel, besitzt er nicht einige sehr günstige Voraussetzungen? Er ist erstens Bürgermeister, zweitens Mitglied der Deputiertenkammer, drittens Generalsekretär der UNC, der Union Nationale des Combattants, des größten Kriegsteilnehmer-Verbandes: eine konservative, nationalistische, politisch stark rechtslastige Organisation – »Ordnung und Ehre für Frankreich« lautet eine ihrer Parolen.

Wenn solch ein Repräsentant seinen Verbandsmitgliedern geschäftliche Empfehlungen gibt, so werden sie ihm gewiss folgen. Falls Bertrand sich lieber nicht durch allzu direkte Hinweise exponieren möchte, so dürfte es schon genügend positive Auswirkungen haben für das Ansehen der Zeitung, wenn dieser Mann als Chefredakteur verantwortlich zeichnet.

Charles Bertrand als Chefredakteur der neuen Gazette du Franc: müsste sich in dieser Phase des geplanten Romans sein Name nicht mit der Beschreibung seiner Person verbinden? Und man sieht Bertrand beispielsweise an einem Bleistift kauen, und das nicht zufällig, sondern: zu jeder Gelegenheit, bei der ich ihn reden oder agieren lasse, stecke ich ihm einen Bleistift zwischen die Zähne? Und Bertrand bestätigt sich, bestätigt uns seine Identität dadurch, dass er regelmäßig Bleistift kaut, frische Bleistifte, von denen Lack absplittert, weil er die Backenzähne oder Eckzähne tief ins weiche Bleistiftholz schlägt? Da bräuchte man als Erzähler bald nur noch irgendwo einen Bleistift hinzulegen, das stumpfe Ende weich gekaut, schon weiß die Leserschaft: Bertrand war hier.

Und wie sieht der Kopf aus, der zu diesem Bleistiftkauer passt? Über der Mund- und Bleistiftöffnung lässt sich ein Schnurrbart anbringen, der beispielsweise schmal ist: so könnte man einer anderen Person des Buchs einen breiteren, buschigen Schnurrbart zuschreiben, schon hat man zwei Kennzeichen. Die Nase mag breit sein, oder sie hat einen schmalen, noch dazu gehöckerten Grat. Die Nasenlöcher entsprechend eng, schlitzförmig oder ausgeweitet durch Popeln von Kindheit an, und die blähen sich, wenn Bertrand einer Sache auf der Spur ist.

Die Augen dagegen können verhangen sein, die Lider weit herabgezogen, fast bis an die Pupillen, lange Wimpern noch dazu. Und die Augenbrauen? Die können buschig sein, und Bertrand bürstet sie noch dazu gegen den Strich.

Was ließe sich noch beschreiben? Die Ohren, richtig, die Ohren! An die lassen sich große, fleischige Läppchen hängen. Und die Lippen haben auch so was dick sinnlich Hängendes. Na, steht der Mann jetzt?

 

Eine Hanau wird einen deutlichen Neubeginn markieren wollen: neues Redaktionsteam in neuen Redaktionsräumen. Sicher gibt sie Annoncen auf, unter Chiffre, besichtigt angebotene Räumlichkeiten: misst mit großen Schritten, dreht an Lichtschaltern, fühlt Wände ab nach Feuchtigkeit, öffnet Fenster, schaut und horcht hinaus.

Schließlich mag ihr eine Villa angeboten werden in einer Villenstraße: Grün, Kindermädchen, Autos. Auch diesmal Messschritte, Fensteröffnen, Drehen an Lichtschaltern, Öffnen von Wasserhähnen, Abfühlen von Wänden. Aber das wäre hier wohl nur zeremoniell: solch ein Angebot wird ihren Erwartungen entsprechen. Die Miete für diese Villa wird hoch sein, aber Umgebung und Räume der Redaktion sollen ja nun repräsentativ wirken.

Sicher wird neu tapeziert, werden die Türen gestrichen, dazu kleine Änderungen. Eine Hanau kontrolliert solche Arbeiten. Wehe, die Tapete wirft eine Falte: runter mit der Tapetenbahn! Wehe, es sind Bläschen im Türweiß: da schreit sie, ihre Stimme verstärkt in den halligen Räumen. Arbeiten die Handwerker zuverlässig, kann sie einige Flaschen Rotwein mitbringen, aber erst gegen Abend, damit die Arbeit nicht beeinträchtigt wird.